Evang.-ref. Kirchgemeinde St. Gallen C Predigt am Flüchtlingssonntag über 1. Mose 28,10-15: Jakobs Traum auf der Flucht St. Laurenzen, 21. Juni 2015; von Pfr. Stefan Lippuner Lesung: 1. Mose 27,41-45 und 28,10-17 Esau konnte es Jakob nicht vergessen, dass er ihn um den väterlichen Segen gebracht hatte. Er dachte: "Mein Vater lebt nicht mehr lange. Wenn die Trauerzeit vorüber ist, werde ich meinen Bruder Jakob umbringen." Rebekka wurde zugetragen, dass ihr älterer Sohn Esau solche Reden führte. Da liess sie Jakob, den jüngeren Sohn, rufen und sagte zu ihm: "Dein Bruder Esau will sich an dir rächen und dich umbringen. Darum hör auf mich, mein Sohn! Flieh nach Haran zu meinem Bruder Laban! Bleib einige Zeit dort, bis sich der Zorn deines Bruders gelegt hat, bis er dir nicht mehr so böse ist und nicht mehr daran denkt, was du ihm angetan hast. Ich werde dir Nachricht schicken, wenn du wieder zurückkehren kannst." Jakob machte sich auf den Weg von Beerscheba nach Haran. Er kam an einen Platz und übernachtete dort, weil die Sonne gerade untergegangen war. Hinter seinen Kopf legte er einen der grossen Steine, die dort umherlagen. Während er schlief, sah er im Traum eine breite Treppe, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Engel stiegen auf ihr zum Himmel hinauf, andere kamen zur Erde herunter. Der Herr selbst stand ganz dicht bei Jakob und sagte zu ihm: "Ich bin der Herr, der Gott deiner Vorfahren Abraham und Isaak. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Sie werden so unzählbar sein wie der Staub auf der Erde und sich nach allen Seiten ausbreiten, nach West und Ost, nach Nord und Süd. Am Verhalten zu dir und deinen Nachkommen wird sich für alle Menschen Glück und Segen entscheiden. Ich werde dir beistehen. Ich beschütze dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder in dieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe." Jakob erwachte aus dem Schlaf und rief: "Wahrhaftig, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!" Er war ganz erschrocken und sagte: "Man muss sich dieser Stätte in Ehrfurcht nähern. Hier ist wirklich das Haus Gottes, das Tor des Himmels!" Liebe Gemeinde. Jakob ist auf der Flucht. Er muss fort von zu Hause, weil er an Leib und Leben bedroht wird: Sein Bruder Esau will ihn umbringen. Gut, man kann sagen, er sei selber schuld daran. Er hat sich ja wirklich gemein und hinterlistig verhalten gegenüber seinem Bruder: Zuerst hat er ihm das Erstgeburtsrecht für ein Butterbrot bzw. für ein Linsengericht abgekauft. Dann (und das wiegt noch schwerer) hat er seinen Bruder um den Segen des Vaters betrogen und hat dazu sogar den Vater selber hintergangen. Er war wirklich ein hinterhältiger Betrüger, wie es bereits sein Name 'Jakob' sagt, der genau so übersetzt werden kann: 'hinterlistiger Betrüger'. Und wir können sehr gut nachvollziehen, dass Esau eine gewaltige Wut auf Jakob hatte. 2 Darum ist er jetzt auf der Flucht und befindet sich in der gleichen Situation wie Millionen andere Menschen heutzutage, die aus diversen Gründen ihre Heimat verlassen mussten und auf der Flucht sind ‒ und im Unterschied zu Jakob meist ohne eigenes Verschulden: Menschen die an Leib und Leben bedroht sind, die z.B. in Syrien und Irak vor dem Terror des IS oder anderer kriegerischen Gruppierungen flüchten; Menschen, die sich z.B. in Eritrea vor dem unmenschlichen Zwangsregime in Sicherheit bringen wollen; Menschen, die einer Volksgruppe, einer politischen Partei, einer religiösen Gemeinschaft angehören, die von der Regierung oder anderen Gruppierungen verfolgt wird; Menschen, die in ihrer Heimat kein Auskommen und keine Lebensperspektiven mehr haben und darum keinen anderen Weg mehr sehen, als diese Heimat zu verlassen und an einen Ort zu fliehen, wo sie Schutz und ein besseres Leben zu finden hoffen. Ich glaube, diejenigen, die noch nie in einer solchen Situation waren, die noch nie auf der Flucht waren (und ich vermute, das sind die meisten von uns), wir können dies gar nicht richtig nachempfinden, wie es ist, wie es einem geht, was man fühlt. Aber wir wollen doch wenigstens versuchen, uns die Lage dieser Menschen ein bisschen vorzustellen, und zwar gerade am konkreten Beispiel von Jakob. Für die Flucht musste Jakob alles zurücklassen, alles, was er besass; nur das Allernötigstes konnte er mitnehmen, so viel, wie er gerade tragen konnte. Und das ist hart. Er, der offensichtlich immer etwas verwöhnt war und die Bequemlichkeit liebte, muss jetzt sogar auf dem Boden mit nur einem Stein als Kopfkissen schlafen. Noch härter aber ist, dass Jakob nun allein ist. Vorher war er immer eingebettet in seine Familie, besonders zur Mutter hatte er eine enge Beziehung. Alle diese Beziehungen musste er zurücklassen, er ist jetzt ganz allein, mutterseelenallein. Jakob ist heimatlos geworden, denn zurück in die Heimat, zu seiner Familie kann er (zumindest vorderhand) nicht mehr. Aber auch das Ziel seiner Flucht ist für ihn noch sehr vage: Er soll zur Familie seines Onkels gehen, hatte die Mutter gesagt; aber wen kennt er schon von dieser Familie, die weit weg in einem fremden Land wohnt? Und der Weg dorthin ist voller Gefahren. Ich denke, dass Jakob grosse Angst hatte, nicht nur vor seinem Bruder Esau hinter ihm, auch vor dem, was vor ihm lag. Und was hatte er schon für eine Zukunft, da er alles, was er sich in der Heimat aufgebaut hatte, zurücklassen musste? – So ist Jakob am Tiefpunkt seines Lebens angelangt auf dieser Flucht. Doch gerade an diesem Tiefpunkt hat Jakob ein entscheidendes Erlebnis: Er hat einen Traum; keinen gewöhnlichen Traum, sondern einen Traum, in dem ihm Gott begegnet und ihm eine grossartige Zukunftsverheissung gibt: "Ich werde dir beistehen. Ich bewahre dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder in dieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich." – Gewaltig! Diesem jungen Mann auf der Flucht, der in der Fremde ist, der allein ist, ihm verspricht Gott, dass er immer bei ihm sein werde, dass er ihm helfen werde und ihm eine grosse Zukunft geben werde. Und ich glaube, dass diese Verheissung nicht nur damals für Jakob galt, sondern dass Gott jedem Menschen, der auf der Flucht sein muss, der in der Fremde sein muss, seine Nähe zusagt. So wie es im Psalm 146 heisst, den ich am Anfang des Gottesdienstes zitiert habe: "Gott richtet die Gebeugten auf, er behütet die Fremdlinge" [Psalm 146, 8-9]. Gott ist denen, die in Not sind, nahe; auch wenn sie es nicht immer bewusst spüren, auch wenn die Not oft weiter besteht, aber Gott, der Herr, ist da. Er verliert keinen Menschen aus den Augen. Das ist Gottes Zusage. Warum das so ist, das zeigt uns der Traum, den Jakob da träumt. Er sieht im Traum eine Leiter oder Treppe von der Erde bis zum Himmel hinauf, und auf dieser Treppe steigen Engel hinab und hinauf. Diese Treppe ist also die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen der Dimension Gottes und der Welt der Menschen. Die Engel, die Boten Gottes steigen auf die Erde herab; die himmlische, göttliche Welt kommt so in die irdische, menschliche Welt hinein. Gott, der Schöpfer und Herr von Himmel und Erde, bleibt nicht irgendwo unbeteiligt in fernen Sphären, sondern er kommt herab zu uns Menschen. Die Erde wird verbunden mit dem Himmel; Gott kommt uns Menschen nahe. 3 Das ist Sinn dieser Treppe oder Leiter, die Jakob im Traum sieht und die ihm so die barmherzige Nähe Gottes zusagt. Und in diesem Sinn verstanden weist diese Jakobsleiter oder Himmelstreppe noch weit über das hinaus, was Jakob damals erlebte. Sie ist ein Bild oder Vorzeichen, ein Vorschatten für etwas Grösseres, das noch kommen sollte: nämlich für Jesus Christus. Denn Jesus Christus ist auch, und zwar in vollkommener Weise, die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Jesus Christus ist Gott, der Sohn Gottes. Er war im Himmel und ist vom Himmel auf die Erde herabgestiegen. Er wurde vom himmlischen Vater zu den Menschen gesandt, ja er wurde selber ein Mensch. In Jesus Christus hat sich der grosse, allmächtige, ewige Gott total erniedrigt und hat sich aufs Innigste mit uns Menschen verbunden, indem er selber ein Mensch wurde. So ist die Person von Jesus Christus die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Und in Jesus Christus nahm Gott wirklich das ganze Menschsein auf sich, mit allem, was dazu gehört, nicht nur die schönen Seiten, sondern gerade auch die Not, das Elend und die Leiden des menschlichen Lebens. Jesus musste schon als kleines Kind erfahren, was es heisst, auf der Flucht zu sein, als seine Eltern mit ihm nach Ägypten fliehen mussten, weil Herodes ihm nach dem Leben trachtete. Jesus war selber ein Flüchtling. – Später als Erwachsener musste er erfahren, wie er missverstanden wurde, abgelehnt wurde, wie ihm die Leute wieder nach dem Leben trachteten, wie ihm Ungerechtigkeiten widerfuhren, wie er sogar von seinen engsten Freunden verlassen wurde und wie er schliesslich als eigentlich Unschuldiger auf grausame Weise umgebracht wurde. All das hat Jesus Christus, der Mensch gewordene Gott durchgemacht. Darum können wir sagen, dass in Jesus Christus Gott selber das Elend und Leiden der Menschen, die Not der ganzen Welt nicht nur gesehen, sondern auf sich selber genommen hat, am eigenen Leib erfahren hat. Und darum ist Gott, ist Jesus Christus, der Sohn Gottes, allen Menschen, die leiden, nahe: dem Jakob damals auf der Flucht, allen anderen Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, die irgendwo in der Fremde sein müssen, und überhaupt allen Menschen, die irgendwie in Not sind. Gott ist bei ihnen, Gott ist bei uns. Jesus Christus kennt das menschliche Leiden, und er leidet mit. Er kann und er will helfen. Das ist das Evangelium, die frohe Botschaft gerade am heutigen Flüchtlingssonntag. Etwas Weiteres kommt nun aber noch dazu, das wir allerdings nicht mehr in der Geschichte von Jakob finden. Zur Zusage gehört nämlich auch eine Aufforderung: Jesus Christus, der Mensch gewordene, leidgeprüfte Gottessohn, hat sich so sehr mit den Notleidenden dieser Welt identifiziert, dass er einmal sagte: "Was ihr einem meiner geringsten Brüder geholfen habt, das habt ihr für mich getan." [Matthäus 25,40] – Das bedeutet: Wer einem Menschen, der irgendwie in Not ist, beisteht, hilft, der begegnet in ihm Jesus Christus, der begegnet damit Gott selber. Ich meine, auch das sollten wir uns gerade am Flüchtlingssonntag bewusst vor Augen halten. Als Christen haben wir nicht nur den Auftrag, dem leidenden Mitmenschen, dem Flüchtling die gute Botschaft der Nähe Gottes zu sagen, sondern auch, in ihm Jesus Christus selber zu sehen und ihm darum entsprechend zu begegnen. Kein einfacher Auftrag, ich weiss, aber doch ein sehr wichtiger. Strecken wir uns deshalb danach aus, von Gottes Menschenliebe und Barmherzigkeit erfüllt zu werden, immer wieder neu, damit auch wir den Notleidenden, den Fremdlingen, den Hilfesuchenden mit Menschenliebe und Barmherzigkeit begegnen und beistehen können. Halten wir uns zum Schluss nochmals diesen Traum von Jakob vor Augen, diese Treppe oder Leiter vom Himmel zur Erde, diese Verbindung zwischen der göttlichen und der menschlichen Welt. Sie will uns die Zuversicht und Gewissheit geben: Gott kommt auch jedem von uns nahe, in jeder Lebenssituation, in der wir uns befinden, und ganz besonders wenn wir es schwer haben, wenn wir in Not sind. Denn durch Jesus Christus haben wir einen menschenfreundlichen Gott, der sich mit uns Menschen verbindet und der sich über uns Menschen gnädig erbarmt. – Das ist Evangelium! AMEN
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