Lane, Harlan (1993) – Modelle von Gehörlosigkeit

Harlan Lane
Modelle von Gehörlosigkeit*
"Heutzutage gibt es insbesondere zwei vorherrschende Modelle von
Gehö rlosigkeit, d ie sich im Wettstreit um d ie Schicksalsentwicklung
Gehörloser befinden. Eines interpretiert "deaf" als ei ne Kategorie von
Behinderung; d as andere interpretiert "deaf" als Kennzeichnung ei nes
M itglieds e iner sprachlichen Minderhei t. Es wird zunehmend zur Gewohn hei t, "Deaf" groß zu sch reiben, wenn es sich a uf dieses zweite
M odell bezieht. "
Diskussion ganz einfach dadurch vom
Tisch wischen, daß im Deutschen eine
dem Englischen entsprechende Groß-/
Kleinschreibung nicht möglich ist spätestens wenn es sich wie im f olgenden j edoch um eine Übersetzung aus
dem Englischen handelt, ist das Problem wiederum präsent!
Deshalb haben wir uns bei dieser
Übersetzung dazu entschlossen, die Unterscheidung typographisch wiederzugeben: "Deaf' = "GEHÖRLOS" und
"deaf' = "gehörlos". Hierdurch möchten wir auch im deutschsprachigen
Raum unter GEHÖRLOSEN, gehörlosen und hörenden Leserinnen eine Diskussion dieser Frage anregen .
•••
Vorbemerkung der Redaktion
Ulrich Hase hat in seinem Bericht über
den 11 . Weltkongreß des Weltverbandes der Gehörlosen (WFD ) / 991 in Tokio darüber berichtet, daß während der
Generalversammlung des WFD eine
völlig neue Satzung verabschiedet worden sei (vgl. DZ 17191, S. 374), die u.a.
folgenden Beschluß beinhalte:
Die Begriffe Gehörlos (Deaf) und Gebärdensprache (Sign Language) sollen zukünftig in der englischen Sprache aufgewertet und daher groß geschrieben werden. (ebd.)
Das großgeschriebene "D" (Deaf) ist in
der englischsprachigen Fachliteratur
*
Der Originalbe itrag trägt den Titel: Constructions of Deafness. Übersetzung aus
dem Englischen: Trixi Flügel. Einschübe
der Übersetzerio sind durch eckige Klammem markiert .
DZ 25/93
unterschiedlicher Disziplinen mittlerweile immer häufiger anzutreffen, wobei es jedoch nicht zu einer generellen
Groß schreibung (gehörlos= Deaf) gekommen ist, sondern dem "D" wurde ein
"d" (gehörlos= deaf) gegenübergestellt.
Diese orthographisch umgesetzte,
inhaltliche Unterscheidung übernimmt
auch Harlan Lane im nachfolgenden
Beitrag, ohne hierbei auf die Diskussion einzugehen, die diesbezüglich inzwischen mancherorts eingesetzt hat.
Jens Heftmann zitiert in der letzten Ausgabe des ZEICHENs (vgl. SCHON GEHÖRT - UNERHÖRT, DZ 24193, S.
257) eine hörende Leserin, diefolgende
Frage stellt:
Wer wird mit dem D geadelt? Wer dmj
sich daw rechnen? Wer dm f sich zur Deaj
community zählen, wer befindet darüber?
Nun ließe sich bezogen auf den deutschen Sprachraum eine diesbezügliche
Zu sozialen Problemen werden Modelle errichtet
Der gesunde Menschenverstand sagt
uns, daß unsere Gesellschaft von zahlreichen sozialen Problemen bedrängt wird:
Kriminalität, Verbrechen, Drogensucht,
Kindesmißhandlung, Armut, Gewalt in
der Familie, sexue lle Probleme, Alkoholismus und Behinderungen - um nur einige zu nennen. Ein kurzer historischer
Überblick über vier solcher Probleme
führt zu einer erstaunlichen Schlußfolgerung.
Das soziale Problem Alkoholismus
besteht offensichtlich aus folgenden Tatsachen: Es gibt einen bestimmten Bevölkerungsanteil, der unter Alkoholmißbrauch leidet. Diese Kranken brauchen
speziell ausgebildete Helfe r- z.B. Bera-
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Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
iiW;'·G:Jg.JI,,!311~i·lb11~1·l~;J:Ja,,3~131!i,t!;l
ter in Sachen Alkoholismus, Psychologen und Psychiater. Sie brauchen spezielle Einrichtungen wie Entziehungsanstalten, und spezielle Organisationen
wie die Anonymen Alkoholiker. Dieses
Verständnis von Alkoholismus ist noch
nicht einmal 50 Jahre alt. Erinnern Sie
sich daran, daß die Enthaltsamkeitsbewegung des vorigen Jahrhunderts exzessives Trinken nicht als Krankheit, sondern als freien Willensakt ansah. Die Lösung des Problems bestand darin, den
Verkaufvon Alkohol zu verbieten. Einige Gruppen befürworteten die Prohibition und setzten sich auf das hohe Roß
der Moral; andere Gruppen fühlten sich
dazu berechtigt, das Gesetz zu brechen.
Es gab damals spezielle Einrichtungen
zur Unterbringung und Behandlung vieler Problemgruppen - geisteskranker
Menschen z. B.- aber nicht für Leute, die
zu viel tranken. Erst in neuerer Zeit hat
sich der Konsens entwickelt, daß exzessives Trinken eine Krankhei t "ist" -eher
ein Fall individuellen Leidens als einer
für politische Debatten. Infolge dieses
neuen Modells des Alkoholproblems
gab es einen offensichtlichen Bedarf an
medizinischer Forschung. Jetzt werden
riesige Geldsummen in die Untersuchung des Alkoholismus investiert und
es haben sich große Behandlungseinrichtungen mit Übergangsunterkünften,
Krankenhausstationen, ambulanten Patienten und spezialisierten Krankenhäusern etabliert. 1
Kindesmißhandlung wurde in den
50er Jahren als Problem entdeckt. Zunächst begannen Radiologen und Kinderärzte damit, Hinweise darauf, daß Eltern ihre Kinder schlugen, anzuprangern. Das Children's Bureau und die
Medien nahmen sich der Sache an (es ist
immer noch ein Thema, das in Fernsehen
und Zeitungen sehr präsent ist) und
machten die Öffentlichkeit auf dieses soziale Problem aufmerksam. Während
der folgenden zehn Jahre erließen die
Bundesstaaten Gesetze, die zur Meldung
von Kindesmißhandlungen verpflichteten und Strafen vorsahen. Natürlich begannen Eltern nicht erst in den 50er Jahren damit, ihre Kinder zu schlagen. Aber
in diesem Jahrzehnt bildete sich der
Konsens, daß hier ein Problem existiere,
welches Gesetze, spezielle Wohlfahrtsbeamte und die Bereitstellung eines
Budgets erfordere. Im vorigen Jahrhundert waren die Hauptprobleme im Zusammenhang mit Kindem Armut und
Kinderarbeit - ein völlig anderes und
viel politischeres Modell zum Problem
unzulässiger Behandlung von Kindem .2
Geistige Behinderung wurde zunächst als Gefahr für die Öffentlichkeit
dargestellt, die soziale Maßnahmen wie
die Isolation dieser Gruppe in Anstalten
und die Sterilisation ihrer Mitglieder zur
Vermeidung der Fortpflanzung erforderte. Später wurde das Problem geistiger Behinderung stattdessen als ein Problem individueller Personen gesehen,
von denen die meisten gebildet oder beschult werden konnten, und die spezielle
Wohlfahrtseinrichtungen benötigten. In
letzter Zeit werden geistig behinderte
Menschen als Minderheit dargestellt,
deren Mitglieder in vielen Fällen unnötig unter solchen Wohlfahrtseinrichtungen gelitten haben, die sie unwissentlich
an den Normen der weißen Mittelklasse
maßen und als minderwertig einstuften. 3
Lange Zeit war das vorherrschende
Modell von Homosexualität, wie das
von Alkoholismus, ein moralisches:
Männer und Frauen trafen sündhafte
Entscheidungen; das Problem "gehörte"
der Kirche. Später gab die Psychiatrie
I) Diese Erörterung folgt Gusfield, J.: Deviance in the Welfare State: The alcoholism profession and the entitlements of stigma. ln: Lewis, M. (ed.): Research in social problems and public
policy. Vol. 2 (S. 1-20). Greenwich CT: JAI press 1982, S. 8ff.
2) Gusfield, J.: Constructing the ownership of social problems: fun and profit in the welfare
state. In: Social Problems 36 ( 1989), 431-441. S. 436.
3) Carrier, J.: Special Education and the explanation of pupil perforrnance. In: Disabiliry,
Handicap and Society 5 (1990), 2 11 - 226. S. 214.
4) Siehe den historischen Bericht in Conrad, P. & Schneider, J.: Deviance and medicalization:
from badness to sickness. Columbus: Merill 1980.
5) Gusfield, J.: On the side: practical action and social constructivism in social problems theory.
In: Schneider, J. & Kitsuse, J. (eds.): Studies in the sociology of social problems. Rutgers:
Ablex 1984, S. 31- 53. S. 38.
ihm ein neues Modell: es "war" eine
Krankheit, die Psychiater behandeln
konnten. In derdritten Phase werden Homosexuelle als Minderheit dargestellt.
Sie beanspruchen den g leichen Schutz
wie alle anderen Gruppen, die aufgrund
geburtsmäßiger Umstände diskriminiert
werden, wie z.B. Schwarze oder Frauen.4
Soziale Probleme sind anscheinend
zum Teil das, was wir aus ihnen machen;
sie "liegen [nicht einfach) auf der Straße,
um von Passanten entdeckt zu werden. "5
Die Weise, in der eine Gesellschaft Alkoholismus oder Kindesmißhandlung
oder geistige Behinderung oder Homosexualität versteht, bestimmt ganz genau, was diese Etiketten bedeuten, wie
große Gruppen vo n Menschen behandelt
werden, und welchen Problemen sie begegnen. Auch von Gehörlosigkeit gibt es
viele Modelle; sie ändern sich von Ort zu
Ort und Zeit zu Zeit. Wo es im vorigen
Jahrhundert viele Gehörlose in kleinen
Gemeinschaften gab (z.B. auf Martha's
Yineyard, wie auch in Henniker, New
Hampshire), wurde Gehörlosigkeit anscheinend nicht als e in Problem angesehen, das besondere Eingriffe erfordert
hätte. Die meisten Amerikaner hatten
aber zu dieser Zeit ein ganz anderes Modell von Gehörlosigkeit: Es handelte
sich um ein Leiden, das einzelne Familienangehörige befiel und innerhalb der
Familie behandelt werden mußte. Thomas Gallaudet und Laurent Clerc sahen
sich vor die große Herausforderung gestellt, die bundesstaatliche Gesetzgebung und reiche Amerikaner von einem
ganz anderen Modell zu überzeugen, das
sie in Europa kennengelernt hatten: Gehörlosigkeit war kein individuelles, sondern ein soziales Problem, Gehörlose
mußten zusammengebracht werden, um
unterrichtet werden zu können, man
brauchte spezielle "Institute". Heutzutage gibt es insbesondere zwei vorherrschende Modelle von Gehörlosigkeit,
die sich im Wettstreit um die Schicksalsentwicklung Gehö rloser befinden. Eines
interpretiert "deaf' als eine Kategorie
von Behinderung; das andere interpretiert "deaf' als Kennzeichnung eines
Mitglieds einer sprachlichen Minderheit. Es wird zunehmend zur Gewohnheit, "Deaf' groß zu schreiben, wenn es
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Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
ii, ;i·f31!g.:l,,!31l~!.Jt,ti§i•l~;JIIJ••:lt!:Jill,ll;l
sich auf dieses zweite Modell bezieht.
Dieser Praxis werde ich mich im folgenden anschließen.
Behinderung versus sprachliche Minderheit
Mit jedem der beiden vorherrschenden
Modelle von Gehörlosigkeit sind zahlreiche Organisationen verbunden. Zu
den nationalen amerikanischen Verbänden, die hauptsächlich mit Gehörlosigkeit als Behinderung assoziiert sind, gehören die A.G . Bell Association (4.500
Mitglieder), die American Speech-Language Hearing Association (40.000),
die American Association of LateDeafened Adults (1.300), Self Help for
the Hard of Hearing ( 13.000), die American Academy of Otolaryngology,
Head and Neck Surgery (5.600) und die
National Hearing Aid Society (4.000).
Zu den nationalen Verbänden, die hauptsächlich mit dem Modell von GEHÖRLOSEN als sprachlicher Minderheit assoziiert sind, gehören die National Association of the Deaf (20.000), die Registry of Interpreters for the Deaj
(2.700) und die National Fraternot Sociery of the Deaf(l3.000). 6
Der Kampf zwischen einigen der
Gruppen, die einem dieser beiden Modelle anhängen, zieht sich durch die
Jahrhunderte hin; teilweise, weil es für
die meisten Betroffenen kein einfaches
Kriterium gibt, sie als Angehörige der einen oder anderen Position zu identifizieren. Beide Modelle haben eine Kernklientel. Niemand wird den Anspruch
hörender Erwachsener anfechten, die
durch Krankheit oder Alter ertaubten,
daß sie behindert, aber keine Mitglieder
der GEHÖRLOSENgemeinschaft seien.
Auf der anderen Seite hat noch nie jemand GEHÖRLOSE Eltern kritisiert,
wenn diese darauf bestehen, ihr GEHÖRLOSES Kind besitze ein ausgeprägtes sprachliches und kulturelles Erbe. Allgemein gefaßt können wir feststellen, daß spätes Ertauben und leichte
Hörschädigung eher mit dem Defizitmodell von Gehörlosigkeit assoziiert werden, während frühe und vollständige Gehörlosigkeit die gänzliche Organisation
von Sprache, Kulturund Gedanken eines
Menschen um VisuaJität herum beinhaltet und eher mit dem Minderheitenmodell assoziiert wird.
Beim Defizitmodell wird Gehörlosigkeit mit dem Fehlen von Gehör, Stille, individuellem Leiden, persönlicher
Unfähigkeit und Leistungen beim Überwinden großer Hindernisse verbunden.
Beim Minderheitenmodell wird Gehörlosigkeit mit einer einzigartigen Sprache, Geschichte, Kultur, sozialen Gruppe und einer Reihe gesellschaftlicher Institutionen assoziiert. Jedes Modell hat
seine Archetypen -eine Person, die ideal
in diese Interpretation paßt und alle oder
sehr viele Eigenschaften besitzt, die dieses Modell voraussetzt. Zwei Archetypen für diese beiden Modelle, Behinderung und sprachliche Minderheit, wurden uns kürzlich in der Fernsehsendung
"Sixty Minutes" Seite an Seite präsentiert. Auf der einen Seite war die siebenjährige Caitlin Parton, durch Hörverlust
vollständig kommunikationsbehindert,
aber durch Technologie und die hingebungsvollen Bemühungen der Experten
in der Lage, sich der Normalität anzunähern, nach der sie sich sehnt. Auf der an-
6) Geschätzte Mitgliederzahlen aus: Van Cleve, J. (ed.): The Gallaudet encyc/opedia of deaj
people and deafness. New York: McGraw-Hill 1987- für alle Gruppen außer der Nati:Jna/
Hearing Aid Society, der National Association of the Deaf und der Association of Lote
Deafened Adults. Diese wurden Burek, D.M. (ed.): Encyc/opedia of associations. Detroit:
Gate Research 1993 entnommen. Die geschätzte Mitgliederzahl für Self Help for the Hard oj
Hearing wurde von dieser Organisation zur Verfügung gestellt.
7) Sixty Minutes: Caitlin's story. 8. November 1992. Contact, das Nachrichtenblatt des
Cochlear lmplant Club lmernational berichtet (3/ 199 1, vol. 6) über Caitlin Partons Aussage
vor Senats- und Abgeordnetenhaus-Komitees zur Bewilligung von Geldem für Arbeits-, Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- und verwandte Einrichtungen, und stellt fest: "Caitlin wurde im
Alter von zweieinhalb Jahren am New York University Medical Center implantiert." Das Blatt
berichtet weiter, daß sich ihre Eltern im Januar 1988 zu der Operation entschlossen hätten , nur
sechs Monate nachdem Caitlin "von einer Meningitis mit schwersten Hörbehinderungen
zurückgelassen" worden war. S. 8.
deren Seite war Roslyn Rosen, aus einer
großen Familie von GEHÖRLOSEN
stammend,
ASL-Muttersprachlerin,
stolz auf ihren Status als Mitglied einer
sprachlichen Minderheit; sie bestand
darauf, daß sie das Leben und die Umwelt vollständig wahrnehme und keinerlei Wunsch verspüre, anders zu sein.7
Wie Experten auf die Modelle Einfluß
nehmen
Jedes der vorherrschenden Modelle von
Gehörlosigkeit hat seine Archetypen,
aber ein großer Teil der Betroffenen lebt
in einer Grauzone dazwischen, und die
für jedes Modell eintretenden Organisationen kämpfen um diese Grauzone. [hr
wirtschaftliches Überleben hängt von ihrem Erfolg in diesem Wettbewerb ab. Es
ist also keine bloß akademische Frage,
welches Modell eines sozialen Problems
sich durchsetzt. Es gibt einen Wissenskanon in Verbindung mit Modell A und
einen ganz anderen Kanon für Modell B.
Die Theorien und Fakten, die zu Modell
A gehören, wurden von den Experten
studiert, die sich mit dem sozialen Problem befassen, sie sind die Grundlage ihrer Sonderausbildung und Fachabschlüsse und tragen daher zu ihrem
Selbstwertgefühl bei. Sie werden dazu
benutzt, sich Respekt bei Klienten zu
verschaffen, staatliche Gelder zu erhalten, den eigenen Status in einer Bruderschaft von Experten zu sichern; sie dienen als Legitimation für die alltäglichen
Aktivitäten der Experten. Experten prüfen Studenten auf der Basis dieses Wissenskanons, sie stellen Zertifikate aus
und gliedern sich aufgrundihrer Kompetenz in diesem Kanon in die gesetzlichen
und gesellschaftlichen Normen ein. Wer
sagt, daß A ein falsches Modell sei, ist
natürlich nicht gern gesehen. Mehr noch,
schon wer sagt, daß A ein Modell sei, ist
nicht gern gesehen, denn das impliziert,
daß es auch ein anderes Modell geben
könnte oder gibt, sagen wirB, das besser
ist. Die Verfechter jedes Modells wollen
nicht, daß ihr Modell als Modell betrachtet wird; sie bestehen im Gegenteil darauf, daß sie lediglich den Zustand der
Welt widerspiegeln.
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Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
SPRACHPOUßK UND MINDERHEITENKULTUR
Diese "troubled-persons industries", um es mit den Worten des Soziologen Joseph Gusfield zu sagen,
spenden den Leuten, die als bedürftig definiert werden, Wohltätigkeit. 8
Diese Industrien haben sich in den letzten Jahrzehnten auf gigantische Wei e
vermehrt. 9 Die vom Defizitmodell der
Gehörlosigkeit genährten Expertendienstleistungen werden von einigen Organisatoren in Schulen und Ausbildungsprogrammen ausgeführt, von Beratung - und Rehabilitationsexperten,
Lehrern, Dolmetschern, Audiologen,
Sprachtherapeuten, Otologen, Psychologen, Psychiatern , Bibliothekaren, Forschern, Sozialarbeitern und Spezialisten
für Hörgeräte. Alle die e Leute und die
Einrichtungen, denen sie vorstehen, ihre
Kliniken, Operationssäle, Laboratorien,
Klassenzimmer, Büros und Läden, verdanken ihre Existenz der als Defizit gesehenen Gehörlosigkeit. Gusfield zitiert
die Geschichte von den amerikanischen
Missionaren, die sich auf Hawaii niederließen. Sie gingen hin, um Gutes zu tun.
Sie blieben und taten sich gütlich. 10
Fachleute der "troubled-per ons industries" dienen nicht nur ihrer Klientel ,
sondern auch sich selbst, und sind aktiv
daran beteiligt, ihre Aktivitäten zu sichern und auszuweiten. Diese Selbstbeförderung wird von einem echten Glauben an ihr ausschließliches Modell des
sozialen Problems und ihre Fähigkeit, e
zu lindern, getragen. Einige ihrer Werbemaßnahmen sind deutlich zu erkennen; beispielsweise be chäftigen ie
Lobbyisten, um die Einführung von Gesetzen zu fördern, die ihre Dienstleistungen erfordern und bezahlen. Andere
Maßnahmen sind subtiler; beispielsweise hat das strukturelle Verhältnis zwischen dem Anbieter der Dienstleistung
und dem Klienten oft zur Folge, daß der
Klient entmachtet und eine Abhängigkeit behauptet wird.
Lehren, die wir aus Dienstleistungen
für Blinde ziehen können
Die Bereitstellung von Dienstleistungen
für Blinde zeigt einige der Fallgruben
auf, die sich durch die Professionalisierung eines sozialen Problems ergeben.
Blindenwerkstätten haben große Budgets, liefern hohe Einkommen für sehende Manager und haben einen nationalen
Verband als Lobby für ihre Interessen.
Die Blinden ehen die behüteten Werkstätten aber in der Regel als Sackgasse,
die in eine permanente Abhängigkeit
führt. Der Herausgeber der Zeitschrift
Braille Monitor sagt, daß das Wort "Experte" unter Blinden ein Schimpfwort
sei, "ein bitteres Wort des Spotts und der
Desillusion." 11 EinLeuchtturm für Blinde wurde in dieser Zeitschrift dafür zur
Rechenschaft gezogen, daß es eine Gehalt skalafür blinde Angestellte gab und
eine höhere für sehende Angestellte, die
die gleiche Arbeit verrichteten. Zudem
wurden die blinden Angestellten unter
Mindesttarif bezahlt. 12 Die Blindenverbände distanzierten sich vom National
8) Gusfield , J.: Constructing the owner hip of sociaJ problern : fun and profit in the welfare
tate. In: Social Problems 36 ( 1989), 431-441. S. 432.
9) Albrecht, G.L.: The disability business: Rehabilitation in America. Newbury Park CA:
Sage 1992.
10) Gusfield , J.: Constructing the ownership of social problems: fun and profit in the welfare
state. In: Social Problems 36 ( 1989), 431-441 .
II ) Vaughan, C.E.: The social basis of conflict between blind people and agents of rehabilitation. In: Disability, Handicap and Society 6,3 (1991 ), 203-217. S. 206-207.
12) 8rail/e Monitor. Blind workers claim wages exploitative. In: 8rail/e Monitor 6 ( 1989), 322.
13) 8rail/e Monitor. NAC - unfair to the blind. In: 8rail/e Monitor 2 (1973), 127- 128.
Vaughan, C.E.: The sociaJ basis of conflict between blind people and agents of rehabilitation. In:
Disability, Handicap and Society 6,3 (1991 ), 203- 217. S. 210. Jemigan, K.: Partial victory in
the NAC battle - and the beat goes on. ln: 8raille Monitor Jan. (1973), 1- 3.
14) Zitiert in: Vaughan, C.E.: The social basis ofconflict between blind people and agents ofrehabilitation. In: DHS 6,3 ( 1991 ), 203- 217. S. 209.
15) Olson, C.: Paper barriers. In: Journal of Visual lmpairment and 8/indness ( 1981 ),
337-339. S. 338.
16) Kenneth Jemigan , zitiert in: Olson, C.: Blindness can be reduced to an inconvenience. In:
Journal ofVisuallmpairment and 8lindness II ( 1977), 408-409. S. 408.
Accreditation Council f or Agencies
Serving the Blind and Visually Handicapped (NAC), weil diese Organisation
versuchte, blinde Men chen unter Vormundschaft zu halten, sich weigerte,
blinde Zeugen zu hören und Blinde im
Vorstand nur pro forma vertreten waren.
Der Council erwiderte, daß sie auch die
Bedürfnisse der Agenturen und Experten zu bedenken hätten, nicht nur die der
Blinden. Jahrzehntelang standen Blinde
als Protestposten vor den Jahrestagungen des NAC. 13
Eine Konferenz, die zur Definition
des Berufsbilds eines Mobilitätstrainers
für Blinde zusammengetreten war, kam
zu dem Schluß, daß zum Erlernen dieser
Kunst ein höherer Universitätsabschluß
nötig sei, und daß
das Lehren von Mobilität eher eine Aufgabe für eine sehende denn für eine blinde
Person [sei]. 14
Dieser Ansatz wurde natürlich von den
blinden Konsumenten angegriffen. Zunächst forderte die American Association ofWorkers with the Blind normales
Sehvermögen für eine Zertifizierung;
darm sah man dies als Diskriminierung,
als Verstoß gegen Paragraph 504 des
Rehabilitation Act von 1973. Also wurden die Kriterien geändert. Um in das
Ausbildungsprogramm aufgenommen
zu werden, muß der Student in der Lage
sein, den Kollisionsweg eines blinden
Menschen mit Hindernissen einzuschätzen, die beinahe einen Häuserblock entfernt sind. Es stellt sich heraus, daß die
Fähigkeiten, die für den Mobilitätsunterricht angeblich grundlegend sind, ganz
zufällig normales Sehvermögen erfordern. Man braucht nicht zu erwähnen,
daß Blinde seit Jahrhunderten anderen
Blinden beigebracht haben, wie man
sich in der Umwelt bewegt. 15
Menschen, die mit Blinden arbeiten, erachten Blindheit als furchtbare
persönliche Tragödie, obwohl die Blinden selbst das meistens nicht tun. Wie
der Präsident der National Association
of the Blind sagte:
Wir ehenunser Leben nicht ... als tragisch
oder schrecklich an, und weder mas enweise Fachjargon noch hergeholte Theorien können uns dazu bringen. 16
Wie der Soziologe R.A. Scott in seiner
319
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
iiij;f.!31!g.JI,,!311$i•lttl§i•l;;JI!3,,3$1311i,ll;l
klassischen Monographie The M ak ing
ofB/ind M en [Wie Blinde gemacht werden] erklärt, glauben die sehenden Experten, daß die einzige Hoffnung eines
Blinden zur Lösung seiner Probleme sei,
sich ihren langfristigen Programmen
psychologischer Unterstützung und
Ausbildung anzuvertrauen. Um Erfolg
zu haben -soerfahrt der Blinde - , muß er
seine Ansichten über Blindheit ändern,
vor allem seine Ansicht, daß er im Grunde völlig in Ordnung sei und lediglich ein
oder zwei Dienstleistungen in Anspruch
nehmen müsse. Der kooperative Klient
ist derjenige, der gerne alle Dienstleistungen annimmt, die ihm angeboten
werden; der unkooperative Klient ist
derjenige, der nicht erkennt, wie groß
und zahlreich seine Bedürfnisse sind, der
widerspricht. Die "tro ubled-persons industries" stellen auf diese Weise das normale Verhältnis zwischen Bedürfnis und
Dienstleistung auf den Kopf: Dienstleistungen entwickeln sich nicht nur, um
Bedürfnisse zu erfüllen; die Klienten
müssen erkennen, daß sie die von den
Experten angebotenen Dienstleistungen
brauchen. Scott merkt an, daß man sich
leicht über die Realität dieser speziellen
Bedürfnisse täuschen kann. Es gibt immer ein paar blinde Klienten, die diesen
Glauben an das grundlegende Bedürfnis
nach professionellen Dienstleistungen
zuverlässig stützen werden. Diese blinden Menschen sind, vielleicht schon seit
ihrer Kindheit, in das Blindheitsmodell
der Experten hinein sozialisiert worden.
Sie bestätigen, daß B Iinde die Bedürfnisse haben, von denen die Agenturen sagen, daß sie sie haben. 17
Genauso ist es mit der Gehörlosigkeit. ln vielen Teilen der Welt, die Vereinigten Staaten eingeschlossen, sind
Gehörlose größtenteils aus den Rängen
der Experten, die gehörlose Kinder betreuen, ausgeschlossen. In vielen Staaten
muß man sich ganz zufällig erst für den
Unterricht hörender Kinder qualifizieren, bevor man Gehörlosenlehrer werden kann, und Gehörlose sind als Lehrer
für hörende Kinder ausgeschlossen. ln
anderen Staaten ist es hinsichtlich der
Unterrichtung gehörloser Kinder ganz
zufällig so, daß die Kandidaten, die dazu
fähig wären, mit den Kindern zu kommunizieren, vo n der Unterrichtung ausgeschlossen sind, weil sie hierzu ohne
Dolmetscher eine in kompliziertem Englisch abgefaßte Prüfung ablegen müssen. Und genau wie bei den Dienstleistungen für Blinde bestehen viele der
Berufsgruppen, die mit dem De fizitmodell von Gehörlosigkeit verbunden sind,
darauf, daß die Lage des gehörlosen Kindes verzweifelt sei- so verzweifelt, daß
die Experten eine operative Implantation
gefolgt vo n rigoroser, jahrzehntelanger
Sprach- und Hörtherapie empfehlen.
Der erfolgreiche Einsatz eines CochleaImplantats in der alltäglichen Verständigung erfordert eine vorherige Kenntnis
der Lautsprache, 18 die nur ein Kind von
17) Scott, R.A.: Themaking ofblind men. New Brunswick, NJ: Transaction. 198 1. S. 77, 104.
18) Staller, S.S., Beiter, A.L., Brimacombe, J .A. , Mecklenburg, D.J. & Amdt, P.: Pediatric performance with the Nucleus 22-channel cochlear implant system. In: American Journal ofOtology 12 ( 199 1) (suppt.), 126- 136. Das Alter, in dem der Hörverlust erfolgte, war der beste Anhaltspunkt für Prognosen überdas Abschneiden in Worte rkennungstests. 53 Kinde r, die keinerlei Fähigkeit dafür aufw iesen, mit ihren Cochlea-lmplantaten Wörter zu erkennen, ertaubten im
Durchschnitt mit I ,5 Jahren; für die 27 Kinder, die zumindest e inige Wörte r erkannten, lag das
Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Ertaubung bei 5,3 Jahre n.
19) Dr. Thomas Allen, Direktor des Gal/audet University Center for Assessment and Demographie Studies ste llte mir Daten über das Ertaubungsalter aus der Übersicht über
hörbellinderte Kinder und Jugendliche flir 199 1/92 zur Verfügung. 9 1% der vollständig gehörlosen Kinder ertaubten vor Vollendung des 2. Lebensjahrs, und 97% vor Vollendung des 3. Lebensjahrs. Dr. Allens Unterstützung wird dankend anerkannt.
20) T ucker, I. & Nolan, M.: Educationa/ audio/ogy. London: Croom He lm 1984. Zitiert in:
Gregory, S. & Hartley, G.M. (eds.): Constructing deafness. London: Pinte r 199 1. S. 97.
2 1) ebd.
22) Oliver, M.: The politics of disablement. New York NY: St. Martin's Press 1990. S. 78.
23) Lynas, W.: lntegrating the handicapped into ordinary schools: A study of hearing-impaired pupils. London: Croom Helm 1986. Zitiert in: Gregory, S. & Hartley, G.M. (eds.): Constructing deafness. London: Pinter 199 1. S. 155.
zehn Kandidaten besitzt; 19 das hat die Experten aber nicht davon abgehalten, auch
unter den anderen 90% zu werben, denn
es ist fraglich, ob die Cochlea-ImplantatIndustrie überleben, geschweige denn
florieren könnte, wenn sie ihre Dienstleistungen und Geräte nur an die Kernklientel des Defizitmodells verkaufte.
Wie bei den Dienstleistungen für
Blinde strebt die "troubled-persons industry" die totale Anpassung des Klienten
an das zugrundeliegende Modell von Gehörlosigkeit als Behinderung an. In den
Worten eines Audiologie-Lehrbuchs:
Man hat es nicht einfach mit e inem behinderten Kind zu tun, sondern mit einer be20
hinderten Familie.
Der Text sagt weiter:
Dieses Konzept, daß das 'ganze Kind' das
Kind mit Hörgerät ist, werden Eltern vielleicht erst allmählich verarbeiten und vollständig akzeptieren.
Die Experten wollen so früh wie möglich
in das Leben dieser Familie eingreifen
und versuchen, "einen Service zur Sättigung der Bedürfnisse" bereitzustellen.2 1
Die Kriterien für Behinderung, als
objektiv dargestellt, sind in Wirklichkeit
den Interessen der Industrie angepaßt. 22
Audiologische Kriterien entscheiden
darüber, welche Kinder Sonderschulen
zugewiesen werden, also muß der Audiologe konsultiert werden. ln den meisten Ländern der Erde sind Audiologie
und Sonderschule eng verbunden; die
Aufgabe der Sonderschule ist es, so gut
wie möglich zu erreichen, was Audiologie und Otologie nicht erreichen konnten
-die Behinderung des Kindes zu minimieren. Wie ein Audiologe schreibt:
Erziehung und Bildung können Gehörlosigkeit nicht he ilen; sie können nur ihre
schlimmsten Auswirkungen lindem .23
Die Eltern haben meistens nur wenig
Mitspracherecht bei der richtigen schulischen Zuo rdnung ihres Kindes; und es
gibt auch keinerlei funktio nelle Tests,
wieviel das Kind in verschiedenen Unterrichtsforrnen verstehen kann. Stattdessen herrschen audiologische Kriterien vor, obwohl sie nur einen geringen
Prognosewert haben. Beispielsweise unterscheiden sich die akademischen Leistungen von Kindern, die als "severely
hearing-impaired" eingestuft werden,
3 20
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
liQ;f.$3ilk·''''':'''t'·'Klltl·l=~;J:J a,,atl:i'''''';'
kaum von denen als "profoundly hearing-impaired" klassifizierter Kinder. 24
Die Forschung hat gezeigt, daß einige als
"profoundly hearing-impaired" eingestufte Kinder Wörter und Sätze verstehen können, während andere nicht einmal Geräusche wahrnehmen. 25 Ebenso
stellt Scott fest, daß die offizielle Definition von Blindheit
auf einer bedeutungslosen Abgrenzung unter den schwer Sehbehinderten beruht. 26
Wie Gehörlose zu Behinderten gemacht werden
Eine Familie, die von der "troubled-persons industry" für Hörbehinderungen
mit dem "Service zur Bedürfnissättigung" versorgt worden ist, wird dazu
beitragen, das gehörlose Kind dazu zu
sozialisieren, seine Bedürfnisse denen
der Industrie anzupassen. Ein neueres
Handbuch für Eltern Cochlea-implantierter Kinder stellt fest:
Die Eltern sollten eine Hauptrolle dabei
übernehmen, ihrem Kind bei der Gewöhnung an das Implantat zu helfen. Sie müssen die Verantwortung für die Wartung des
Implantats übernehmen, dafür, daß das
Kind den Apparat richtig trägt, und sie müssen sicherstellen, daß sowohl zu Hause als
auch in der Schule Lautsprachstimulation
stattfindet. 27
Das Kind sollte das Gerät außer beim
Schlafen ständig tragen. 28
Letztendlich sollte das Kind das Implantat als Teil seiner selbst betrachten, wie
seine Ohren oder Hände. Das Handbuch
berichtet enthusiastisch, wie ein implantiertes Schulkind auf die Aufforderung,
ein Selbstportrait zu zeichnen, auch den
Sprachprozessor und das Sendemikrophon mit großer Detailgenauigkeit
zeichnete:
Dieses Selbstbildnis demonstrierte das positive Selbstbild des Kindes und seine Akzeptanz des Coch lea-Implantats. 29
Das Defizitmodell wird für das gehörlose Kind schon früh durch die Mediziner
und später durch die Sonderschule und
Wohlfahrtsbürokratie legitimiert. Wenn
das Kind auf eine Sonderschule geschickt wird und klobige Hörgeräte tragen muß, wird seine Sozialisation in die
Rolle eines behinderten Menschen gefördert. Das Kind lernt in persönlichen
Begegnungen mit Therapeuten und Lehrern, an der Förderung einer Sicht seiner
selbst als behindert mitzuarbeiten. Lehrer erklären große Anzahlen dieser gehörlosen Kinder für emotional gestört
oder lernbehindert.30 Nachdem das gehörlose Kind erst einmal auf diese Weise
als mehrfach behindert abgestempelt ist,
wird es anders behandelt- beispielsweise wird es in einem weniger anspruchsvollen Schulungsprogramm unterge-
24) Allen, T.E.: Patterns of academic achievement among hearing-impaired students: 1974 and
1983. In: Schildroth, A.N. & Karchmer, M.A. (eds.): Deaf children in America. San Diegeo
CA: College-Hili 1986, S. 161-206. S. 20 1.
25) Osberger, M.J. , Maso, M. & Sam, L.K.: Speech intelligibility of children with cochlear implants, tactile aids, or hearing aids. In: Journal of Speech and Hearing Research 36 ( 1993),
186--203.
26) Scott, R.A.: Themakingof blind men. New Brunswick, NJ: Transaction. 1981, S. 42.
27) Tye-Murray, N.: Coch/ear implants and chi/dren: a handbookfor parents, teachers and
speech professionals. Washington DC: A.G. Bell Association 1992, S. xvi.
28) ebd., S. 18.
29) Tye-Murray, N.: Coch/ear implants and children: a handbookfor parents, teachers and
speech professionals. Washington DC: A.G. Bell Association 1992. S. 20.
30) Siehe die Erörterung in Lane, H.: The mask ofbenevo/ence: Disabfing the deafcommuniry.
New York: Alfred Knopf 1992, S. 6 1. [Anm. d. Red .: Dieses Buch wird in deutscher Übersetzung im Frühjahr 1994 im Signum-Verlag Harnburg erscheinen.]
31) Jones , L. & Pullen, G.: 'Inside we are all equal': A European social policy survey of people
who are deaf. In: Barton, L. (ed.): Disability and dependency. Bristol PA: Tay1or & Francis
Fa1mer Press 1989, S. 127- 137. S. 137.
32) Dant, T. & Gregory, S. : Unit 8. The social construction of deafness. In: Open University
(eds.): lssues in deafness. Walton Hall, Mi lton Keynes, England 199 1. S. 14.
33) Bienvenu, MJ.: Disability. TBC News, 13. April 1989.
34) Finkelstein, V.: 'We' arenot disabled, 'you' are. In: Gregory, S. & Hartley, G.M. (eds.): Constructing deafness. London: Pinter 1991, S. 265-27 1.
bracht, in dem es weniger lernt, so daß
der "Stempel" sich selbst bestätigt. Im
Grunde wird der Gehörlose als Behinderter erst durch die "troubled-persons
industry" erschaffen.
GEHÖRLOSE als sprachliche Minderheit
Vom Standpunkt der Kulturen der GEHÖRLOSENgemeinschaften aus gesehen ist Gehörlosigkeit keine Behinderung.31 Der britische GEHÖRLOSENführer Paddy Ladd formulierte es so:
Wir wünschen uns, daß unser Recht, als
sprachliche Minderheit zu existieren, anerkannt wird .... Uns als behindert abzustempeln, zeigt die Unfähigkeit zu begreifen,
daß wir innerhalb unserer eigenen Gemeinschaft in keiner Weise behindert sind. 32
Dieamerikanische GEHÖRLOSENführerin MJ Bienvenu fragt:
Wem nützt es, wenn wir versuchen, mit Behindertengruppen zusammenzuarbeiten?
.. . Wie können wir für die offizielle Anerkennung von ASL kämpfen und gleichzeitig zulassen, als 'kommunikationsgestört' zu gelten?
Und sie schließt:
Wir sind stolz auf unsere Sprache, unsere
Kultur und unsere Traditionen. Behindert
sind wir nicht! 33
Dennoch haben viele aus der Bewegung
für Behindertenrechte und sogar einige
GEHÖRLOSENführer sich mit den Experten zusammengetan, um das Defizitmodell von Gehörlosigkeit voranzutreiben. Zur Verteidigung dieses Modells
brachte ein führender Vertreter der Behinderten, Vic Finkelstein, folgende Argumentation vor: Diskriminierte Minderheiten wie Schwarze würden sich
weigern, das, was sie anders macht, operativ beheben zu lassen. Dies gelte aber
nichtfürBehinderte -sie würden füreine
solche Operation stimmen, genau wie,
so behaupteter, dieGEHÖRLOSEN; also seien GEHÖRLOSE behindert.34 Anscheinend irrt sich Finkeistein ganz gewaltig in bezug auf die Wahl, die die
meisten Mitglieder der amerikanischen
GEHÖRLOSENgemeinschaft treffen
würden. In einer Umfrage unter GEHÖRLOSEN Erwachsenen wurde die
321
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
i1~·f.ijJ!g.);,,Jjlltl•it,jl:i•l=;Ji!j,,j~131!itll;l
Frage gestellt, ob sie sich gerne operieren lassen würden, um hören zu können.
Mehr als acht von zehn lehnten ab. 35 Finkeistein gibt zu, daß viele GEHÖRLOSE
die Bezeichnung "behindert" ablehnen,
aber er behauptet, daß sie nicht aufrichtig seien. Sie erkennen, daß sie behindert
sind, so sagt er, aber sie wollten nichts
mit der Bezeichnung "behindert" zu tun
haben, weil ihr ein soziales Stigma anhinge.
In Finkeisteins Modell von Gehörlosigkeit fehlt natürlich das, was das
Kernstück des Modells einer sprachlichen Minderheit ausmacht: die GEHÖRLOSENkultur. Finkeistein weiß,
daß Behinderung in verschiedenen Gesellschaften verschieden interpretiert
wird. Er erkennt aber nicht, daß die GEHÖRLOSENgemeinschaft eine eigenständige Kultur hat und daß- kaum verwunderlich - Gehörlosigkeit in dieser
Kultur anders gesehen wird als in der
Kultur der Hörenden. Es gibt keinen
Grund anzunehmen, daß Paddy Ladd
und MJ Bienvenu nicht aufrichtig wären,
wenn sie erklären, daß GEHÖRLOSE
nicht behindert seien. Im Gegenteil: Da
beide führende Personen in der GEHÖRLOSENgemeinschaft und von der
GEHÖRLOSENkultur durchdrungen
sind, bringen sie das Modell von Gehörlosigkeit vor, das aus dieser Kultur erwächst. Mr. Finkeistein wäre diesem
ganz anderen Modell vielleicht auf die
Spur gekommen, wenn er beobachtet
hätte, wie sich verschiedene Gruppen
bezeichnen lassen wollen: Behindertengruppen sind Bezeichnungen wie "behindert" oder "motorisch gestört" oder
"sehbehindert" vielleicht zuwider, aber
die GEHÖRLOSENgemeinschaft nimmt
die Bezeichnung "GEHÖRLOS" bereitwillig an. Es war die "troubled-persons
industry" für Gehörlosigkeit, die die Bezeichnung "hörbehindert" ["hearing-impaired"] erfand und verbreitete. 36
Eine andere Strategie, die zur Herabsetzung des Minderheitenmodells verfolgt wurde, ist das Anführen von Unterschieden zwischen der ASL verwendenden Gemeinschaft und anderen sprachlichen Minderheiten. Sicher gibt es Unterschiede. Beispielsweise können GEHÖRLOSE Englisch nicht so leicht als
Zweitsprache erwerben wie andere Minderheiten. GEHÖRLOSE Kinder der
zweiten und dritten Generation haben es
genauso schwer wie ihre Vorfahren,
Eng lisch zu lernen, aber Immigrantenkinder der zweiten und dritten Generation lernen Englisch oft schon, bevor sie
in die Schule kommen. Die Sprache der
GEHÖRLOSENgemeinschaft wird meistens nicht von Generation zu Generation weitergegeben, sondern gewöhnlich
durch Gleichaltrige oder Freunde vermittelt. Normalerweise beherrschen GEHÖRLOSE ihre Muttersprache erst im
Schulalter fließend. GEHÖRLOSE leben verstreuter als viele sprachliche
Minderheiten. Die Verfügbarkeil von
Dolmetschern ist für GEHRÖLOSE
noch lebenswichtigerals fürv ieleandere
sprachliche Minderheiten, weil es so wenig GEHÖRLOSE Anwälte, Ärzte,
Steuerberater usw. g ibt. Nur wenige GEHÖRLOSE haben in unserer Gesellschaft öffentliche Ämter mit hohem
Status inne (z. B. im Gegensatz zu Hispaniern), und dies hat die Legitimation der
Verwendung von ASL behindert. 37 Allerdings haben viele, vielleicht alle
sprachlichen Minderheiten markante
Merkmale, die sie absondern: Mitg lieder
derchinesisch-amerikanischen Gemeinschaft heiraten immer häufiger außerhalb ihrer sprachlichen Minderheit, aber
35) Evans, J.W.: Thoughts on the psyehosoeial implieations of eochlear implantation in ehildren. In: Owens, E. & Kessler, D. (eds.): Cochlear implants in young deafchildren . Boston MA:
Little, Brown, S. 307-3 14.
36) Castle, 0 .: Employment bridges eultures. In: DeafAmerican40 ( 1990), 19-2 1. Ross, M. &
Calvert, D.R.: Semanlies of deafness. In: Volta Review 69 ( 1967), 644-649. Wilson, G.B. ,
Ross, M. & Calvert , D.R.: An experimental study ofthe semanti es of deafness. In: Volta Review
76 (1974), 408-414.
37) Parratt, D. & Tipping, 8 .: The state, social work and deafness. In: Gregory, S . & Hartley,
G.M. (eds.): Construcling deafness. London: Pinter 199 1, S. 247-252. Kyle, J. : Deafpeople
and minority groups in the UK. In: Gregory, S. & Hartley, G.M. (eds.): C011Siruc1ing deafness.
London: Pinter 199 1. S. 272- 277.
bei ASL-Muttersprachlern ist das selten.
Viele Sprachen der amerikanischen Urbevölkerung sind im Aussterben begriffen oder bereits verschwunden. Für ASL
trifft das nicht zu, und es ist unwahrscheinlich, daß diese Sprache jemals
aussterben wird. Spanischsprachige
Amerikaner bilden eine so mannigfaltige Gruppe, daß man vielleicht gar nicht
von einer hispanischen Gemeinschaft in
den Vereinigten Staaten sprechen kann.
Weder dieneuere Strategie, die Besonderheiten der ASL-sprechenden Minderheit anzuführen, noch die ältere, ASL
selbst schlecht zu machen, versprechen
große Erfolge dabei, das Minderheitenmodell für Gehörlose in Mißkredit zu
bringen.
Auf das Minderheitenmodell umstei·
gen
Angenommen, unsere Gesellschaft nähme ein Defizitmodell von Gehörlosigkeit für die meisten spät ertaubten Kinder und Erwachsenen und ein Minderheitenmodell für die meisten anderen
GEHÖRLOSEN an, was würde sich ändern?
1. Ein Modellwechsel hätte eine Veränderung der legitimen Autoritäten für das
soziale Problem zur Folge. In vielen Bereichen, wie dem Bildungsbereich, wären die Autoritäten dann u.a. GEHÖRLOSE Erwachsene, Linguisten und Soziologen. Es gäbe viel mehr Anbieter
von Dienstleistungen, die der Minderheit angehören: GEHÖRLOSE Lehrer,
Pflegeeltern und Adoptiveltern, lnformationsvermittler, Sozialarbeiter, Berater. Von den nicht GEHÖRLOSEN Anbietern von Dienstleistungen würde erwartet, daß sie die Sprache, Geschichte
und Ku ltur der sprachlichen Minderheit
der GEHÖRLOSEN kennen.
2. Der Modellwechsel hätte eine Veränderung der Verhaltenserwartungen zur
Folge. Man würde von GEHÖRLOSEN
erwarten, daß sie ASL verwenden und
einen Dolmetscher zur Verfügung haben, schlechtes Sprechen würde als unpassend angesehen.
3. Der Modellwechsel könnte den rechtlichen Status der sozialen Problemgrup-
322
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
iiA·J.!3:!g.,,,,,3''t'·tt,ti§i·l~ü:i3••:~'3't''''''
pe ändern. Die meisten GEHÖRLOSEN
würden gemäß der gegenwärtigen Gesetzgebung für Behinderte keine Behinderungsbeihilfen oder -dienstleistungen
mehr beanspruchen. Die Dienstleistungen, auf die die GEHÖRLOSE Minderheit zur Wahrung der Gleichstellung vor
dem Gesetz einen Anspruch hätte, würden durch andere Gesetze und Bürokratien gewährleistet werden. GEHÖRLOSE würden einen größeren Schutz gegen
Diskriminierung im Arbeitsleben gemäß
der zivilrechtliehen Gesetze und Regelungen erhalten. Der Bilingual Education Act würde Gelder zur Verbesserung
der GEHÖRLOSENpädagogik verfügbar machen.
4. Ein Modellwechsel ändert die Arena,
in der Identifikation und Definition stattfinden. Durch das Defizitmodell wird
Gehörlosigkeit zum medizinischen Problem erklärt, und in der audiologischen
Praxis definiert. Beim Minderheitenmodell wird Gehörlosigkeit als soziale Unterscheidung gesehen und durch die
"peer group" definiert.
5. Ein Modellwechsel hätte eine Veränderung der Interventionsarten zur Folge.
Das GEHÖRLOSE Kind würde nicht
wegen seiner Gehörlosigkeit operiert,
sondern mit anderen GEHÖRLOSEN
Kindem und GEHÖRLOSEN Erwachsenen zusammengebracht. Das Defizitmodell stellt hörende Eltern vor das Problem: Was kann man tun, um das Defizit
meines Kindes zu verringern? Das Minderheitenmodell stellt sie vor die Herausforderung, sicherzustellen, daß ihr
Kind Sprach- und Rollenvorbilder aus
der Minderheit hat. 38
Hindernisse, die einem Wechsel im
Wege stehen
Die Hindernisse, die einer Ablösung des
Defizitmodells von Gehörlosigkeit
durch ein Minderheitenmodell für einen
Großteil der betroffenen Menschen im
Wege stehen, sind entmutigend. Zunächst einmal finden Menschen, die mit
Gehörlosigkeit nur wenig vertraut sind,
das Defizitmodell selbstverständlich
und das Minderheitenmodell schwer zu
begreifen. Wie ich in The Mask ofBenevolence [Die Maske der Wohltätigkeit]39 argumentiert habe, stellt sich der
Durchschnittsbürger, den man zum
Nachdenken über Gehörlosigkeit anregt,
zunächst sich selbst ohne Gehö r vor was natürlich hieße, behindert, aber
nicht GEHÖRLOS zu sein. Die Gesetzgeber können das Defizitmodell leicht
verstehen, nicht aber das Minderheitenmodell. In Reaktion auf die Gallaudet
Revolution, die das Minderheitenmodell
unterstützte, erließ der Kongreß ein Gesetz-keines, das ASLoderdie GEHÖRLOSENgemeinschaftals Minderheit anerkannt hätte, sondern ein Gesetz zur
Einrichtung eines medizinischen Forschungsinstituts, das sich mit Gehörlosigkeit als Behinderung befassen sollte.
Die gleiche Tendenz, das Defizitmodell
unkritisch zu akzeptieren, führte "Sixty
Minutes" dazu, ein Kind aus den neun
Prozent der Implantats-Kandidaten, die
nach dem Englischerwerb ertaubten, zu
präsentieren, statt e ines aus den 9 1 Prozent, die sich nicht mit der englischsprachigen Mehrheit identifizieren. Nicht
nur derInterviewerEd Bradley fand das
Defizitmodellleichter zu begreifen, sondern die Produzenten dachten sicherlich
auch, daß es ihren Millionen von Zuschauern genauso ergehen würde. Soziale Probleme sind ein Lieblingsthema der
Medien, aber sie werden fast immer als
private Schwierigkeiten dargestellt Gehörlosigkeit bildet da keine Ausnahme-, weil das unterhaltsamere Sendungen ergibt.
Die "troubled-persons industry" für
Gehörlosigkeit - das, was ich in The
Mask of Benevolence als das "audist
establishment" bezeichne - widersetzt
sich heftig allen Versuchen, ihr Modell
von Gehörlosigkeit abzulösen. Die Poli-
38) Ausgehend von der Erörterung in Hawcroft, L. : Block 2, unit 7. Whose welfare? In: Open
University: l ssues in Deafness. Walton Ha ll , Milton Keynes, England 1991 . S. 32-33.
39) Lane, H.: The mask of benevolence: Disabfing the deaf community. New York: A lfred
Knopf 1992.
40) Oliver, M.: Multispecialist and multidisciplinary - a recipe for confusion? 'Too many cooks
spoi\ the b roth'. ln: Disabiliry, Handicap and Sociery 6 ( 1991), 65-68.
tik dieser extrem aufs Hören ausgerichteten Personen besagt, daß ASL eine Art
primitiver Prothese sei, ein Ausweg aus
der durch die Behinderung der Gehörlosen verursachten Kommunikationssackgasse. Personen, die extrem aufs Hören
ausgerichtet sind, kontrollieren LehrerAusbildungsprogramme, Forschungsmöglichkeiten an den Universitäten, den
Gutachterprozeß für staatliche Gelder,
die Präsentat ionen bei Fachkonferenzen
und die Veröffentlichungen in Fachzeitschri ften; sie kontrollieren die Beförderungen und über die Beförderungen die
Gehälter. Sie haben bevorzugten Zugang zu den Medien und den gesetzgebenden Gremien, wenn es um Gehörlosigkeit geht. Obwohl ihnen die Glaubwürdigkeit, die die GEHÖRLOSEN
selbst haben, abgeht, haben sie doch
Fachzertifikate und können fließend
Englisch sprechen und schreiben, so daß
es für Gesetzgeber, Politiker und Medien
einfac her ist, sich an sie zu wenden.
Wenn eine "troubled-persons industry" soziale Probleme als privates Leiden darstellt, das durch sie behandelt
werden kann, dann schützt sie ihr Modell, indem sie den Anschein eines sozialen Themas beseitigt, über das es vielleicht politische Auseinandersetzungen
geben könnte. So hat z.B. die World
Hea/th Organization Soziales vermedizinisiert und individualisiert; Dienstleistungen basieren auf einer individualisierten Sicht von Behinderung und werden von Experten der Behinderten-Industrie entworfen.40 Das National Institute on Deafness and Other Communication Disorders proklamiert schon in
seinem Namen das Defizitmodell, das es
verbreiten will. Die American SpeechLanguage Hearing Association hat z.B.
die Macht, Graduiertenprogramme zur
Ausbildung von Experten, die mit GEHÖ RLOSEN arbeiten, offiziell anzuerkennen. Ein Programm, das zu weit vom
Defizitmodell abweicht, könnte seine
Akkreditierung verlieren; ohne Akkreditierung würden die Studenten kein Zertifikat erhalten; ohne die Aussicht auf ein
Zertifikat würde sich niemand fü r diesen
Ausbildungskurs einschreiben.
Einige der g rößten Hindernisse, die
einer b reiteren Anerkennung des Min-
323
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
Ci;;I·J31iij•l l,,!311§i•lt1!:1·l~;JI!3,,ffi~13111,1J;I
derheitenmodells im Wege stehen, kommen von Mitgliedern dieser Minderheit
selbst. Viele Mitglieder dieser Minderheit wurden von Experten (und Eltern)
teilweise dazu sozialisiert, die Behindertenrolle anzunehmen. Einige GEHÖRLOSE nehmen das Defizitmodell bereitwillig an und unterminieren so die Bemühungen anderer GEHÖRLOSER, es
zu diskred itieren. Schlimmer noch ist,
daß den GEHÖRLOSEN viele Möglichkeiten (z.B. der Zugang zu Dolmetschern) nur unter der Bedingung gewährt werden, daß sie das von anderen
stammende Defizitmodell annehmen.
Dieser "double bind"- nimm unser Modell deines Lebens an oder gib deinen
Anspruch auf eine Existenz als gleichberechtigter Bürger auf - ist eine starke
Form von Unterdrückung. So kam es,
daß viele Mitglieder der GEHÖRLOSENgemeinschaft den Americans with
Disabilities Act [Gesetz für behinderte
Amerikaner] mit seinen Vorkehrungen
für Gehörlose unterstützten, wobei sie
die ganze Zeit glaubten, daß sie nicht behindert seien, aber der Behauptung, daß
sie es seien, Glaubwürdigkeit verliehen.
In einem ähnlichen "double bind" stellen
GEHÖRLOSE Erwachsene fest, daß sie
die vorherrschenden Ansichten über Rehabilitation, Sonderschulen usw. gutheißen müssen, wenn sie in die Berufsgruppen zur Versorgung GEHÖRLOSER
eintreten möchten.
Innerhalb der GEHÖRLOSENgemeinschaft kommt noch ein weiteres
Hindernis auf, das einer Verbreitung des
Minderheitenmodells im Wege steht. Es
hat ironischerweise mit der Form zu tun,
in der ein Großteil des politischen Aktivismus GEHÖRLOSER stattfindet.
Schon seit den ersten GEHÖRLOSENkongressen, die als Antwort auf den
Mailänder Kongreß organisiert wurden,
sind die politischen GEHÖRLOSENführeT vor einem Publikum gleichgesinnterGEHÖRLOSER aufgetreten, um
ihre Wut zu äußern - und predigten so
vor den Bekehrten. Schriftliche Dokumente - Positionspapiere, Artikel und
Kongreßberichte - wurden in ähnlicher
Weise hauptsächlich an die GEHÖRLOSENgemeinschaft gerichtel und hauptsächlich von ihr gelesen. Dies steht ech-
ten Reformen im Wege, weil es Anstrengung erfordert, die Illusion vermittelt,
daß bedeutsame Aktionen geschehen
seien, und trotzdem nur wenig ändert, da
die GEHÖRLOSEN selbst nicht für die
Verbreitung des Defizitmodells verantwortlich sind und nur wenige direkten
Einfluß auf eine Änderung seines Geltungsbereichs haben. Zugegebenermaßen hat das Predigen vor den Bekehrten
seinen Wert-es kann neue Ideen hervorbringen und baut Solidarität und Engagement auf. Die Befürworterdes Defizitmodells tun dasselbe; Konferenzen
über Implantation im Kindesalter haben
für mich als Beobachter die Atmosphäre
religiöser Erneuerung. Aber welcher
Teil der Schlacht ist gewonnen, wenn ein
politischer GEHÖRLOSENführer von
einem GEHÖRLOSEN Publikum begeisterten Applaus erhält?
Die Vertreter des Minderheitenmodells sind weiterhin benachteiligt, weil
es nur wenig automatische kulturelle
Übertragung ihrer Ansichten gibt. Die
überzeugendsten Anwälte GEHÖRLOSER Kinder, ihre Eltern, müssen Generation für Generation über das ihren Intuitionen entgegenstehende Minderheitenmodell unterrichtet werden, weil die
meisten weder selbst GEHÖRLOS sind,
noch GEHÖRLOSE Eltern hatten.
Veränderungen herbeiführen
Trotz aller Hindernisse gibt es starke gesellschaftliche Kräfte, die die Bemühungen der GEHÖRLOSENgemeinschaft
um die Verbreitung des Minderheitenmodells unterstützen. Der von der Linguistik, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Anthropologie (um nur vier
Disziplinen zu nennen) verarbeitete
Wissenskorpus über GEHÖRLOSENgemeinschaften hat die politischen GEHÖRLOSENführer, bürokratische Entscheidungen und die Gesetzgebung beeinfluß!. Die Bürgerrechtsbewegung hat
dem Glauben, daß Minderheiten sich
selbst definieren und Minderheitenführer ein entscheidendes Mitspracherecht
in der Behandlung von Minderheitsbelangen haben sollten, großen Auftrieb
gegeben. Zudem ist die Tatsache, daß es
dem augenblicklich vorherrschenden
Defizitmodell nicht gelingt, fähigere gehörlose Kinder hervorzubringen, sowohl
den Experten als auch der Öffentlichkeit
peinlich und fördert Veränderungen.
Außerdem werden GEHÖRLOSE Kjnder GEHÖRLOSER Eltern häufig in einem gewissen Grade durch ihren frühen
Sprach- und Kulturerwerb innerhalb der
GEHÖRLOSENgemeinschaft vom Defizitmodell abgeschottet. Diese ASLMuttersprachler haben wichtige Verbündete in der GEHÖRLOSENgemeinschaft, unter hörenden Kindem GEHÖRLOSER Eltern und unter unbeeinflußten hörenden Experten. Die Gallaudet Revolution hat das Defizitmodell
nicht in großem Ausmaß geändert, aber
sie führte zu Angriffen gegen dieses Modell. Beispielsweise geht eine wachsende Anzahl von Schulen dazu über, sich
bei der Planung, in Lehrplänen, bei der
Auswahl von Lehrern und der Ausbildung vom Minderheitenmodellleiten zu
lassen.
Zahlreiche Organisationen haben
ausgiebige Mühen und viel Geld in die
Verbreitung des Defizitmodells gesteckt. Was kann die National Association of the Deaf(NAD) tun, um das MIDderheitenmodell zu verbreiten? Die
Deaf American-Monographienserie ist
ein wichtiger Schritt, weil sie ein Forum
für landesweite politische Diskussion
bietet. Dieser Diskussion hat bisher allerdings noch ein Brennpunkt gefehlt.
Außer einem Forum braucht dje NAD
ein klares politisches Programm und einen Plan zu dessen Durchsetzung. So ein
Programm könnte, illustrationshalber,
den Aufbau eines größeren Bewußtseins
fürden Unterschied zwischen Hörbehinderung und ku ltureller GEHÖRLOSIGKEIT enthalten; größere Anerkennung
von ASL; Beseitigung oder Reduzierung
von Sprachbarrieren; Verbesserung einer kulturell einfü hlsamen mediziillschen Versorgung. Ich weiß von keinem
Ort, an dem ein solches Programm klar
formuliert wäre - vorausgesetzte Prioritäten, Durchführung, ein Zeitplan. Wenn
diese Dinge veröffentlicht würden,
könnten sie den nötigen Brennpunkt für
die Debatte abgeben. Kommentare zu
Programm und Plan würden herausge-
324
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
l]ij;t.!311=·''··'3'1~!.Jl.ii~!.l=;Jil ä··3~131!iti!;l
fordert, und ebenso Widerlegungen dieser Kommentare in den folgenden Ausgaben. Solche Programme, Pläne und
Debatten werden durch die Wissenschaft untermauert. Ein G raduiertenprogramm in Staatsverwaltung oder Polito-
logie, das sich mit der GEHÖRLOSENgemeinschaft und der Verbreitung des
Minderheitenmodells befaßt, ist eine
wichtige Quelle der Unterstützung, die
aufgebaut werden muß.
Henriette Himmelreich
Einige Überlegungen zur
Bedeutung der Gehörlosigkeit
der Patientin und der Hörfähigkeit der Therapeutin in psychotherapeutischen Behandlungen
Ergänzte Fassung eines Vortrags* anläßlich der 3. Internationalen
Arbeitstagung "Rehabilitation Schwerhöriger, Ertaubter und Gehörloser" vom 22.4.-26.4. 1993 in Bad Berleburg .
Da die psychotherapeutische Behandlung von Patienten, seien sie hörend oder
gehörlos, ausschließlich durch Sprache
geschieht, liegt die Vermutung nahe, daß
der unterschiedliche Hö rstatus von Pa-
*
Die Orig inalfassung des Vortrags ist unter
dem Titel Einige Überlegungen zur Bedeuttmg der Gehörlosigkeit der Patientin und
der Hötfähigkeit der Therapeutin abgedruckt in: R ichtberg, W./Yerch, K. (Hg.):
Hilfen für Hörgeschädigte. Medizinische
und psychosoziale Aspekte der Bewältigung
von Schwerhörigkeit, Taubheit. Gehörlosigkeit und Tinnitus. Sankt Aug ustin: Academia Verlag 1993, S. 93- 98.
Der Abd ruck in Das Zeichen erfolgt mit
freundl icher Genehmig ung des Verlags und
der Herausgeber.
DZ 25/93
tientin und Therapeutin sich auf die Behandlung auswirkt. Ob und wie ein Gesprächsverlauf und Gesprächsinhalt
durch das Aufeinandertreffen von oraler
und Gebärdenkommunikation, z.B. Gebärdensprache(= DGS) beeinflußt werden, ist für psychotherapeutische Gespräche nicht genauer bekannt. Auch
könnte die Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Kulturen für eine Gesprächssituation über das innere Erleben und
den Wunsch der Patientin, m it ihren Problemen verstanden zu werden, von Bedeutung sein.
Im folgenden sollen einige Auswirkungen der Gehörlosigkeit der Patientin
und der Hörfähigkeit der Therapeutin im
Verfasser:
Prof. Horlon Lone
Northeoslern University
Deportmenl of Psychology
15 Rutlond Square
USA - Boston /IM 021 18-31 05
Vorfeld und im Verlauf einer Psychotherapie betrachtet werden. Es geht um die
Frage, ob der untersch iedliche Hörstatus
die Beziehung zwischen der Patientin
und der Therapeutin beeinflußt und
wenn ja, wie.
1. Die Unmöglichkeit der
vollständigen Integration
In einer psychotherapeutischen Behandlung steht das Erleben der Patientin, ihre
Innenwelt, im Mittelpunkt. Es handelt
sich um die "psychischen Prozesse", d.h.
Gefühle, Phantasien und Gedanken.
Diese sind entstanden in der frühen Lebensgeschichte oder durch vorangegangene wichtige Lebensereignisse. Die
Bedeutung vorhandener Beschwerden
und Konflikte soll verstanden werden
und deren Z usammenhang mit der Lebensgeschichte. Erst wenn diese Bedeutung sich erschließt, ist eine Veränderung dessen, was stört, möglich.
Dabei wendet sich die Patientin an
die Psychologin einerseits mit ihrer Lebensgeschichte und ihren Beschwerden.
Andererseits aber auch auf dem Hintergrund gegebener gesellschaftlicher Erwartungen, Einschränkungen und/oder
Förderungen. Diese sind verschieden je
nach Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten G ruppe innerhalb der
Gesellschaft. Die vorhandenen Bedingungen beeinflussen Familiengeschichte und beruflichen Werdegang.
Gehörlose sind aufgru ndder GebärdenspracheTeil e iner Minderheit und allen Pro blemen ausgesetzt, mit denen
Minderhe iten konfrontiert sind. Auf-
325
Beitrag aus: DAS ZEICHEN 25/1993 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)