Artikel als PDF - Kindergarten heute

Auf dem Weg zur Inklusion
Ein Erfahrungsbericht
Anja Mannhard
Ich lernte Leo (Name geändert) im Frühjahr 2014 kennen, als ich die Leitung der Kita übernahm.
Damals war er fünf Jahre alt. Er war mit vier Jahren zu uns gekommen, nachdem er das Jahr zuvor in
einer anderen Einrichtung des Trägers verbracht hatte.
Fallbeispiel Leo
Bei der Aufnahme wurden meiner Vorgängerin von der alleinerziehenden Mutter und dem Träger
keine Entwicklungsauffälligkeiten benannt. Seine Verhaltensbesonderheiten ordnete ich aufgrund
meiner langen Erfahrung als Logopädin und Lehrlogopädin als schwere Kommunikationsstörung ein.
Leo konnte anscheinend keinen Blickkontakt aufnehmen, seine Mimik war starr. Er spielte nur für sich
und war am liebsten allein. Es fiel ihm schwer, sich in andere Kinder und deren Bedürfnisse und
Wünsche einzufühlen. Er führte immer wieder stereotype Handlungen aus und begleitete diese mit
gleichbleibenden Äußerungen. Er kam zum Beispiel regelmäßig zu mir ins Büro, drückte Knöpfe am
Kopierer und sagte: „Soll ich warten?“ Seine sprachliche und allgemeine Entwicklung waren auffällig.
Im Rahmen der Spielentwicklung schien er sich hauptsächlich im Funktionsspiel zu bewegen. Leo
konnte geringfügige Abweichungen wie einen Wassertropfen oder ein Haar auf der Kleidung oder
Veränderungen im Raum nicht ertragen. Er wollte sich auch nicht berühren lassen. Mehrere
Mitarbeiterinnen des Teams zeigten große Unsicherheit, teilweise auch Überforderung im Umgang mit
Leo. So initiierte ich im Laufe des ersten Jahres meiner Tätigkeit mit dem Team und der
Integrationshilfe zwei Fallbesprechungen. Wir informierten über die Besonderheiten von Leo, die ich in
Bezug auf ADHS und Autismus bereits kannte, und griffen Fragen des Teams auf, die sich vor allem
um die Aufsichtspflicht drehten. Denn Leo hielt Regeln nicht ein und gefährdete immer wieder sich
selbst oder andere, indem er über die Mauer sprang und weglief oder Steine auf Autos warf, die an
der Straße parkten. Er kletterte die Feuertreppe am Haus hoch und sprang Kindern und Erwachsenen
auf den Rücken, manchmal würgte er sie sogar. Häufig zerstörte er Material. Es gab Beschwerden
anderer Eltern, dass Leo nicht in eine „normale“ Kita gehöre. Auch Fragen zum Umgang mit seinem
unruhigen Verhalten und der Epilepsie gab es aus dem Team. Zu einigen Punkten konnten wir in
diesem Rahmen Absprachen treffen, manches musste ich wegen der Besonderheiten mit dem
Rechtsamt des Trägers abstimmen. Es waren mehrere Gespräche mit der Mutter über Leos Verhalten
und seiner Schwierigkeit, sich an Regeln und Absprachen zu halten, erforderlich. Nach mehreren
Anlaufstellen, die aus Sicht der Mutter nicht umfassend geholfen hatten, fand sie in einer Tagesklinik
Unterstützung, in der es Spezialisten für Autismus gab. Mit ihnen und der Mutter fand eine
Fallbesprechung in unserer Kita statt. In der Elternberatung hatten wir darauf hingewiesen, dass die
Problemstellungen des Kindes auch auf Autismus hindeuten könnten und dass es gut wäre, wenn die
Mutter dies mit dem Kinderarzt besprechen würde, damit von ihm eine spezialisierte Diagnostik in die
Wege geleitet werden kann. Nachdem Leo von der Ärztin des Gesundheitsamts im Rahmen der ESU
zweimal für nicht untersuchbar erklärt wurde, hatte die Mutter für den überweisenden Arzt ein
zusätzliches Argument in der Hand. Die Experten der Tagesklinik, die Leo über mehrere Wochen
teilstationär aufnahm, konnten uns seine Verhaltensauffälligkeiten sehr gut erklären, sodass wir mehr
Verständnis für seine Wahrnehmung gewinnen und Fragen anbringen konnten. Sie erläuterten auch
das inzwischen vorhandene sonderpädagogische Gutachten, das von ihnen in die Wege geleitet und
von einer Sonderschullehrerin zum Auffinden einer geeigneten Schule erstellt worden war. Bei Leo
wurde Autismus und ADHS diagnostiziert. Die Experten berichteten, dass sie in den ersten Sitzungen
mit Leo nicht gedacht hätten, dass er eine normale Kita besucht, und dass dies eine ausgezeichnete
Chance für das Kind und die Mutter sei, die leider vielen Kindern verwehrt bleibe. Für uns war das
eine wichtige Unterstützung und Bestätigung, dass sich die Arbeit und Auseinandersetzung mit dem
Thema Inklusion lohnt. Es war uns jedoch schnell klar, dass man entsprechende Partner benötigt, die
weiterhelfen, wenn man an Grenzen stößt. Für uns waren das, nachdem die pädagogische Beratung
durch die Frühförderstelle nicht ausreichte, vor allem die medizinisch-therapeutischen Experten aus
der Klinik. Auf Trägerseite war das Rechtsamt wichtig, wenn es um Rahmenbedingungen und
Grenzen von Inklusion ging. Andernfalls befindet sich das pädagogische Team einer Einrichtung, die
Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf wie Leo betreut, schnell in einem permanenten Stress- und
Überforderungszustand.
Fachliche Unterstützung
Die Beschäftigung mit Inklusion wird vom Landkreis derzeit mit sechs Fortbildungen unterstützt, die
die Inklusionskraft und Leos Bezugserzieherin gemeinsam besuchen:
 Unterstützungssystem Frühförderung (Frühförderstelle)
 herausforderndes Verhalten
 Sprache und Kommunikation (Logopädie)
 Faktoren für gelingende Zusammenarbeit
 gut kommunizieren – sich besser verstehen
 Autismus-Spektrum-Störung
Zudem wird einmal jährlich eine Informationsveranstaltung für Integrationshilfen sowie eine
fortlaufende Supervisionsgruppe angeboten. Der Landkreis steht den Kita-Leitungen für Fragen auch
mit einer Sachbearbeiterin zur Verfügung. Beim Träger gab es eine für Integration bzw. Inklusion
zuständige Fachberaterin und aktuell wird von der kooperierenden Hochschule der Stadt eine Studie
zur Umsetzung der Inklusion in den städtischen Kitas durchgeführt.
Lösungen im Alltag entwickeln
Es dauerte so lange, dass Leo schon über 5 Jahre alt war, bis eine Integrationshilfe genehmigt wurde
– für 10 Stunden pro Woche, denn so wenige Stunden umfasst selbst eine große Eingliederungshilfe
inklusive Vorbereitungszeit.
Die Herausforderungen in unserer Arbeit mit Leo bestanden darin, ihm und gleichzeitig den anderen
Kindern gerecht zu werden. Zum Beispiel wünschten sich die Kinder einen Baldachin für einen
Rückzugsbereich. Es war aber klar, dass Leo den Stoff herunterreißen würde. Einige Kinder wollten,
dass die Tür während der Beschäftigungen offen steht. Nach Leos Verständnis mussten Türen aber
immer zu sein. Auch der offene Außenbereich war eine Überforderung für ihn: Er kletterte
Feuertreppen hoch und über Gartenzäune, was ihn und andere immer wieder in Gefahr brachte. All
das bedeutete für uns große Spannungen und Anforderungen an unsere Aufsichtspflicht, da Leo
Schwierigkeiten hatte, sich an Regeln zu halten. Wir waren in dauernder Auseinandersetzung,
Lösungen für solche Situationen zu finden, die allen Kindern gerecht wurden. Häufig mussten wir Leo
eins zu eins betreuen, obwohl dies laut Fachkräfteschlüssel nicht vorgesehen war. In einer
Besprechung mit Leitungen informierte der Träger, dass sich der Personalschlüssel durch ein
Integrationskind nicht verändere, dass es aber zwei Plätze belege. Doch was sollten wir außerhalb der
zehn Stunden tun, in denen die Integrationshilfe für Leo nicht da war? Schließlich besuchte er die
Einrichtung ganztags. Wir versuchten den Inklusionsgedanken umzusetzen, indem wir die
Rahmenbedingungen an das Kind anpassten, nicht umgekehrt: Der Baldachin wurde beispielsweise
mit einem Haken nach oben gebunden, wenn Leo ohne Integrationshilfe anwesend war. Im
Außenbereich wurde ein zusätzliches Gartentor eingesetzt, um den offenen Bereich zu begrenzen.
Wir erstellten für Leo einen bebilderten Tagesablauf – angepasst an seine Bedürfnisse. Er durfte
früher als andere Kinder vom Essen aufstehen, um für sich zu spielen, weil das Essen für ihn zu lange
dauerte und es ständig Konflikte gab. Er bekam feste Strukturen, die Bestand hatten. Dazu gehörte
das gemeinsame Sandspiel mit der Inklusionskraft. Mit ihr ließ Leo auch Körperkontakt zu: Er
kuschelte sich gern an sie und sprach von ihr, wenn sie nicht da war. Ich befand mich als Leitung in
einem Spannungsfeld zwischen Leo und seiner Mutter, den anderen Kindern und Eltern sowie den
pädagogischen Mitarbeiterinnen und versuchte, allen gerecht zu werden. Mit der Zeit war bei
Erwachsenen und Kindern eine größere Akzeptanz gegenüber Leo und seinen
Verhaltensbesonderheiten feststellbar. Die Anpassungen, die wir vorgenommen hatten, wirkten sich
für alle positiv aus. Leo zeigte meist kein gesondert aggressives Verhalten mehr und die Beschwerden
nahmen ab. Andere Kinder kommentierten zwar nach wie vor seine Verhaltensbesonderheiten, jedoch
nicht anders als bei anderen Kindern, wenn sie etwas störte. Die Beschwerden waren weniger
dramatisch und sie fühlten sich nicht mehr beeinträchtigt durch Leos Verhalten. Nur noch selten
hörten wir ablehnende Stimmen.
Die Sicht der Integrationskraft
Als ich begann, Leo in der Kita zu begleiten, war er schon fünf Jahre alt und hatte bisher noch keine
Integrationshilfe. Wenn nicht vor Eintritt in den Kindergarten klar ist, dass ein Kind eine
Integrationshilfe benötigt, dauert es manchmal lange, bis alle bürokratischen Hürden überwunden sind
und die Integrationshilfe starten kann. Bei Leo lagen neben einer diagnostizierten Absencen-Epilepsie
Verhaltensauffälligkeiten vor, die den normalen Kita-Alltag stark beeinträchtigten. Die anderen Kinder
litten unter seinen tätlichen Ausbrüchen und Wutanfällen. Die Erzieherinnen kamen an ihre Grenzen.
Die zehn Wochenstunden Eingliederungshilfe scheinen erst einmal wenig zu sein, wenn ein Kind
ganztags die Kita besucht. Trotzdem konnte ich in der Zeit, die auf drei Vormittage verteilt war, eine
intensive Beziehung zu Leo aufbauen. Meine Hauptaufgaben bestanden monatelang darin, den
Jungen zu beobachten, deeskalierend einzugreifen, Kontakte zu anderen Kindern zu üben, adäquates
Verhalten zu trainieren, klare Anweisungen zu erteilen und notfalls mit Leo die Gruppe zu verlassen,
wenn sein Verhalten nicht mehr tragbar war. Besonders positiv reagierte er auf Angebote mit nur
einem weiteren Kind in einem separaten Raum. Hier konnte er beim Spielen mit Sand, Wasser und
Farbe dem Bedürfnis nach sinnlichen Erfahrungen nachgehen. Gleichzeitig konnte er dabei den
Umgang mit anderen Kindern üben, zum Beispiel teilen, abgeben, nach etwas fragen. Allmählich
veränderte sich Leo: Er wurde ruhiger und umgänglicher, auch wenn ich nicht da war. Die Ausbrüche
wurden weniger, der Umgang mit anderen Kindern wurde vorsichtiger und er suchte von sich aus
mehr Kontakt zu anderen Kindern. Meine Aufgabe ist es, mich für das Kind einzusetzen, seine
Bedürfnisse zu erkennen und es in seinen Besonderheiten zu fördern, zu unterstützen und auch zu
schützen. Trotzdem soll es nicht zu stark in einer Sonderrolle sein. Der Austausch zwischen allen
Beteiligten ist dabei besonders wichtig. Es sind viel Fingerspitzengefühl erforderlich und die
Bereitschaft, sich im eigenen Handeln und Denken zu überprüfen und neu zu ordnen. Inklusion kann
nur gelingen, wenn alle Beteiligten offen sind und mitwirken. In Leos Fall hat das sehr gut funktioniert.
Kerstin Hamm ist Erzieherin und arbeitet seit acht Jahren als Integrationshilfe.
Fazit
In unserem Fall dauerte es Jahre, bis die Auffälligkeiten des Kindes realisiert, diagnostiziert und
entsprechende Hilfemaßnahmen beantragt und bewilligt wurden. Die engen Grenzen der Maßnahmen
sind nicht nachvollziehbar: Zehn Stunden Integrationshilfe pro Woche sind ein Tropfen auf den heißen
Stein bei Kindern mit Bedarfen wie Leo. Offenbar sind Kitas, Träger und Jugendhilfemaßnahmen noch
nicht ausreichend auf Inklusion vorbereitet. Noch fehlen Strukturen und gute Rahmenbedingungen wie
beispielsweise entsprechend qualifizierte und unterstützende Mitarbeiter und Experten in größerem
Umfang und dass man sie niederschwellig „mit im Boot“ hat. Nichtsdestotrotz haben wir Leo bis zur
Einschulung begleitet, sodass wir trotz aller Widrigkeiten, Ängste und Zweifel in der gesamten Zeit von
erfolgreicher Inklusion sprechen können. Nicht nur Leo hat gelernt, sondern auch wir. Wir sind klarer
und selbstsicherer im Umgang mit ihm geworden. Wir konnten uns besser einfühlen und ihn
verstehen. Dies führte zu größerer Akzeptanz und, wenn es uns möglich war, zu Gelassenheit im
Umgang mit seinen Besonderheiten. Unser Wissen um Epilepsie, ADHS und Autismus hat sich enorm
erweitert. Wir sind nun viel besser vorbereitet, sollten wir wieder ein solches Kind aufnehmen. Wenn
Leo im Sommer in die Schule kommt, werden nicht nur wir, sondern auch die Kinder ihn vermissen,
weil er uns mit seinen einfallsreichen Ideen inspiriert hat.
Vita
Anja Mannhard ist staatlich anerkannte Erzieherin, Logopädin und Lehrlogopädin mit einer
Weiterbildung in Personzentrierter Beratung. Nachdem sie viele Jahre selbstständig in der Logopädie
und als Lehrlogopädin gearbeitet hat, leitet sie derzeit eine Kita und ist als Referentin für
Bildungsinstitute sowie als Autorin und Illustratorin von Fach-, Kinder- und Jugendliteratur tätig.
Erschienen in: ‚kindergarten heute’, Ausgabe 8/2015, S. 34-37.
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © Verlag Herder, Freiburg.
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