______________________________________________________________________________ Neues Rollenverständnis und Veränderung der Betriebsratsarbeit durch indirekte Steuerung DGB‐Bildungswerk ‐ Neujahrsforum für Betriebsräte Der Betriebsrat als Kontrolleur der Arbeitsbedingungen? Prof. Dr. Erhard Tietel Proaktive Krisenbewältigung • Betriebsräte und Gewerkschaften sind heute in deutlich höherem Maße gefordert, sich proaktiv mit der Bewältigung von krisenhaften Situationen zu beschäftigen • Viele werden vermehrt in Reorganisationsprozesse einbezogen, arbeiten in Steuerungs‐ und Projektgruppen mit • Und tragen größere Mit‐Verantwortung am unternehmerischen Geschehen (zuweilen mehr, als ihnen lieb ist) • Dies führt nicht selten zu Konflikten im Gremium, wie man sich positionieren soll/will Betriebsräte als Vorreiter für Gestaltung • Kurzsichtige und einseitige Kostensenkungsstrategien • Betriebsräten und Gewerkschaften entwickeln kreative und ausgewogene Lösungen („Besser statt billiger“, Innovationsbündnisse, Ideenworkshops …) • Innovations‐Offensiven von Gewerkschaften: Betriebliche Krisenfrüherkennung und die Förderung einer betrieblichen Innovationskultur • Ein Drittel der BR sind in das Innovationsgeschehen ihres Betriebs stark eingebunden (Arbeitsorganisation, Personalpolitik und Ideenmanagement) Angriffe auf die Mitbestimmung Am anderen Ende des Mitbestimmungs‐Spektrums: • • • • • Behinderung der Mitbestimmung Persönliche Angriffe auf Betriebsräte / Personalräte (Bossing) Kündigungen von Betriebsratsmitgliedern (‚Naujoks‘) Verhinderung von Betriebsratsneuwahlen Unterstützung nicht‐gewerkschaftlicher Listen oder von Vertretungsformen, die nicht dem BetrVG unterliegen Veränderung bei Führungskräften • Veränderte Karrierepfade von Führungskräften • Kurzfristige Rotation, wenig Bindung an das Unternehmen • Wesentliche Entscheidungsträger nicht mehr vor Ort (oder nicht mal im Land) • Wenig Gespür für die Vorzüge regionaler Kooperation • „Kaum noch besonnene Manager, nur noch ‚Hardliner‘ und Controller“ – Verhandlungsbereitschaft läuft ins Leere • Schwächung der Rolle des Personalwesens • (Teilweiser) Verlust des traditionellen Verhandlungspartners Rotierende Manager ohne Bodenhaftung Betriebsräte: Repräsentanten des Betriebs Betriebsräte sind heutzutage nicht selten die einzigen, die den Betrieb als Ganzes mit seinen ökonomischen, sozialen, gesundheitlichen und persönlichen Dimensionen ins Auge fassen und gegen spezifische Interessengruppen vertreten: • Management und der Shareholder • verschiedene Belegschaftsgruppen • weitere Interessengruppen (Kunden, Öffentlichkeit etc.) • … manchmal auch die Gewerkschaft Komplexität und Vielfalt der Betriebsratsrolle • • • • • • • • • • • • • Arbeitsrechtler Betriebswirt Tarif‐ und Arbeitszeitexperte „Innovationsbetreiber“ IT‐Spezialist Arbeitsschützer und Arbeitsmediziner Qualitätsspezialist Spezialist für nachhaltige Arbeitsformen, gute Arbeit und Demografie Betriebsräte als „Treiber und Gestalter von Weiterbildung“ ‚Beteiligungsexperte‘ für die Einbeziehung von Beschäftigten Krisenmanager und Konfliktberater Moderator und Prozessbegleiter Sozialarbeiter und ‚Seelentröster‘ Interessenvertreter sind hin und hergerissen zwischen • dem Pol eines „Allround‐Talents“, der auf alle betrieblichen Fragen eine Antwort weiß (oder zumindest wissen soll) und • dem Pol des „Universal‐Dilettanten“, an dem der beständige Zweifel nagt, ob er die komplexen Zusammenhänge wirklich versteht und alles Wichtige bedacht hat. Überforderungen im Gremium durch die strategischen Dimensionen • Oft verstehen nur wenige im Gremium die unternehmen‐ politischen und strategischen Dimensionen • Dies ist auch durch ständige umfassende Information nicht zu ändern – es führt eher dazu, dass es keiner mehr hören will … • Häufige Reaktionsbildung: Kümmern wir uns doch um das, was wir kennen und verstehen: Kantine, Parkplätze etc. … • BR‐Spitzen fürchten eher eine Vergrößerung des Gremiums: Macht alles noch komplexer und mühevoller, aber nicht professioneller und schlagkräftiger Kann man noch von „der Belegschaft“ reden? Arbeiter und Angestellte Vollzeit und Teilzeitbeschäftigte Stamm‐ und Randbelegschaften Verschiedene atypische Beschäftigungsverhältnisse Berufliche Sonderinteressen (Ärzte, Fluglotsen, Piloten, Lokführer) • Sonderinteressen der verschiedenen Abteilungen (Ärzte, Pflege, Fachabteilungen, Verwaltung) • Konkurrenz verschiedener Betriebe / Standorte • • • • • Von der Belegschaft zur Vielfalt von Beschäftigtengruppen Veränderte Ansprüche von Beschäftigten Beispiel: Flexibilisierung der Arbeitszeit Konsequente Haltung des Betriebsrats stößt an Grenzen: • Forderungen der Arbeitgeber nach Flexibilisierung • Kundenanforderungen nach jederzeitiger Verfügbarkeit • Unterschiedliche Arbeitszeitvorstellungen von Beschäftigten • Wünsche und Regelverletzungen bestimmter Beschäftigtengruppen (die die Haltung des BR ‚von unten‘ zu Fall bringen) „Wenn wir uns hier statisch aufstellen, fallen wir irgendwann hinten runter“ (ein BR‐Vorsitzender) Dann eben (auch) ‚Schutzmann‘ • Arbeitszeitpolizei • Aber: Polizei ist ja nicht nur schlecht! • Diskussion in meiner Team‐Coaching‐Gruppe von BR‐/PR‐ Vorsitzenden: • Ja, wir schützen Regeln und Standards • Ja, wir legen uns mit dem Arbeitgeber an • Ja, aber auch – wenn es sein muss – mit Kollegen/innen … • Das ist und bleibt – bei aller Beteiligungsorientierung – eine unserer Funktionen! Der ‚Kampf‘ um die Beschäftigten • Arbeitgeber haben schon immer versucht, Belegschaft und Betriebsrat/Personalrat gegeneinander auszuspielen • Neu ist, dass Geschäftsleitungen mit der Interessenvertretung um die Gunst von Beschäftigten konkurrieren • Engere Einbindung von Beschäftigten durch ‐ Teamarbeit und Verantwortungsdelegation ‐ Zielvereinbarungen und Mitarbeitergespräche • Selbstbewusste Arbeitnehmer, die sich vom Betriebsrat nicht länger sagen lassen, was sie wollen sollen • Betriebsräte/Personalräte ringen um Anerkennung nicht nur durch die Geschäftsleitung, sondern zunehmend auch durch die Beschäftigten Sich an die eigene Nase packen • Betriebsräte haben eher einen Blick und ein Händchen für ihr traditionelles ‚Stamm‐Klientel‘ … • … aus dem nicht selten auch das Betriebsratsgremium besteht und dessen Politik und Kultur prägt • Vorbehalte und Abneigungen gegen bestimmte Beschäftigtengruppen und deren Arbeits‐ und Lebensvorstellungen und Anerkennungswünsche • Man kann betriebsratsferne Beschäftigtengruppen nur vertreten und mit ihnen ins Gespräch kommen, wenn man sich über seine eigenen (Vor)Urteile im Klaren ist Veränderung des „psychologischen Vertrags“ • Impliziter Arbeitsvertrag: Engagement und Leistungsbereitschaft gegen Sicherheit, Loyalität, Dankbarkeit und Anerkennung • Veränderung des psychologischen Vertrags: stärkere Eigenverantwortung, Ziel‐ und Leistungsorientierung, größere Flexibilität – abnehmende Beschäftigungssicherheit: Kein fairer Tausch (mehr), man fühlt sich betrogen • Verschiebung von der emotionalen und normativen zur instrumentellen Bindung an das Unternehmen („Commitment“) Zitate aus einer Gruppendiskussion mit Betriebsrats‐Vorsitzenden zum Wandel des Zugehörigkeitsgefühls im Unternehmen Wer ist schuld: (auch) der Betriebsrat! • Zugehörigkeit schwindet leise • Um so lauter werden die Wehklagen über die ständigen Veränderungen und Anforderungen • Für die häufig auch (oder gerade) der Betriebsrat verantwortlich gemacht wird • Viele Vorhaltungen: „Warum tut ihr nix“, „Was macht ihr eigentlich“ … • Psychologisches Phänomen: Eigene Ohnmachtsgefühle führen zu Machtwünschen, die auf den BR projiziert werden. Dieser wird dann als enttäuschend erlebt. Wut auf den BR. … und das Commitment dem Betriebsrat gegenüber? • Stärker instrumentelles Commitment auch gegenüber dem Betriebsrat: Wenn ich ihn brauche, weiß ich, wo ich ihn finde … • Betriebsräte erleben, dass ihre Belegschaft weniger emotional mit ihnen verbunden ist und sich ihnen weniger verpflichtet fühlt • Damit schwindet auch auf Seiten des Betriebsrats das selbstverständliche Gefühl einer Verbundenheit mit der Belegschaft Jede Menge Ängste • In der „interessierten Selbstgefährdung“ (Peters) verdichten sich nicht zuletzt die Ängste von Beschäftigten: • die Arbeit nicht zu schaffen und nicht mehr mithalten zu können • nur noch uninteressante Aufgaben zu bekommen • sich nicht als exzellent genug präsentieren und nicht genügend ausstrahlen zu können, dass man zu den High Potentials gehört • die eigenen negativen Gefühle nicht im Zaum halten und genügend Zuversicht und positive Aura verbreiten zu können • Angst vor Krankheit (Präsentismus) • Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren … … Inszenierung von Pseudo‐Unabhängigkeit • Unternehmen haben den Beschäftigten lange Zeit eine Art von Sicherheit und emotionalem ‚Halt’ und ein tief verwurzelten Gefühl von Zugehörigkeit geboten („soziale Haut“) • Die „soziale Haut“ der Organisation wird brüchig, was untergründig große Ängste auslöst • Diese Ängste werden durch Anstrengungen zur Hochleistung und zur Leistungsoptimierung abgewehrt. • Kollektive Inszenierung einer Pseudo‐Unabhängigkeit (ich krieg das schon hin, ich bin auf Niemand angewiesen …) • = ein psychologischer Aspekt der „interessierten Selbstgefährdung“ Betriebsrat als „Container“ von Ängsten • Betriebsräte federn gefühlsmäßige Aspekte von Veränderungsprozessen ab. • Sie sind damit eine Art von „Container“: Sie stellen sich zur Verfügung, um die Emotionen, Spannungen und Konflikte erst einmal aufzunehmen, auszuhalten und möglichst konstruktiv zu verwandeln • Der Betriebsrat hat dadurch eine ‚psychische Haltefunktion‘ für die Beschäftigten und das Unternehmen Individualisierung und Subjektivierung im Betriebsrat • Die Individualisierung, Subjektivierung macht vor dem BR nicht Halt • Erosion des gewerkschaftlichen Milieus (auch im BR) • BR‐Tätigkeit als „Lebensabschnittspartnerschaft“ • Vereinbarkeit biografischer Motive, beruflicher Karriere und Interessenvertretung • Gibt es im Gremium eine Offenheit für unterschiedliche persönliche Perspektiven? Auch der Betriebsrat muss für sich klären, was er will und was für ihn gut ist Was er will und tut, ergibt sich nicht mehr nur • aus dem BetrVG • aus der Reaktion auf den Arbeitgeber • aus gewerkschaftlicher Vorgaben … Er muss immer wieder für sich selbst klären: • Was kommt auf uns zu? Was erwarten andere von uns? Was wollen wir selbst? Wo setzen wir Prioritäten? Wie gehen wir das sowohl kollektiv als auch arbeitsteilig an …. ‚Wiederentdeckung der Belegschaft‘ • Betriebsräte und Gewerkschaften sind es gewohnt, ihre Themen, Ziele und Strategien selbst zu definieren • Heute sind sie stärker gefordert, ihre Haltungen und Positionen im Dialog und in Auseinandersetzung mit verschiedenen Beschäftigtengruppen zu entwickeln • D.h. Beschäftigte als ‚Experten in eigener Sache‘ ernst zu nehmen und aktiv einzubeziehen • Neues Verhältnis von institutioneller Mitbestimmung und Selbstbestimmung von Einzelnen und Gruppen/Teams • Dies impliziert, Mitbestimmungsrechte ein Stück weit an Dritte ‚abzugeben‘ Betriebsräte: Vermittler in Beteiligungsprozessen • Betriebsräte können bei Beteiligung die Verfahrensgestaltung übernehmen • Sie bekommen hier eine neue vermittelnde Funktion zwischen Gewerkschaft – Management – Personalabteilung Beschäftigten(gruppen) usw. • Betriebsräte als „Gestaltungsmoderatoren“ (Schwarz‐ Kocher) Betriebsräte zwischen/auf allen Stühlen • Betriebsräte müssen heute ihre Positionen und Handlungen je nach Thema, Situation, Kontext und Kräfteverhältnissen neu bestimmen und legitimieren. • Sie sitzen zwischen/auf allen Stühlen und müssen versuchen, die verschiedenen Interessen und Perspektiven in sich selbst und im Gremium zu balancieren. • Darin besteht auch ihre Stärke: Dass sie versuchen, mit den verschiedenen Akteuren und Interessengruppen in Kontakt zu kommen und als „Grenzgänger“ zwischen den Interessen und Perspektiven Übersetzungs‐ und Verständigungsarbeit zu leisten. Und wer ist für uns da? Dietmar Hexel: Wir brauchen Beratungsformen, die die innere Stärkung von Betriebsräten unterstützen und zu Antworten auf die folgenden Fragen beitragen: • Wie mit der steigenden Komplexität umgehen? • Wie die unterschiedlichen Meinungen und Handlungsoptionen eines Gremiums unter einen Hut kriegen? • Wie die eigenen Ängste und Nöte produktiv machen? • Wie sich wohlfühlen und aktionsfähig bleiben in der Sandwich‐ Position zwischen Belegschaft und Management? Reflexive Beratungsformen: Kollegiale Beratung, Supervision, Coaching, Teambildung, Konfliktberatung … Ich danke für Ihre/Eure Aufmerksamkeit
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