Hintergrund Wissen NZZ am Sonntag 18. Oktober 2015 ILLUSTRATION: ARIFÉ AKSOY 24 Wenn Technik mit den Sinnen verschmilzt Vier Erfindungen, die Sinne ersetzen oder sie besser machen Übertragungsspule Empfangsspule Cochlea-Implantat Die Hörprothese setzt sich aus einem äussern und einem implantierten Teil zusammen: Am Kopf wird eine Empfangs- und eine Übertragungsspule angebracht, und unter dem Schädelknochen werden Elektroden eingesetzt. Die empfangenen akustischen Signale werden in elektrische Impulse umgewandelt und stimulieren so den Hörnerv. Bionische Hand An der ETH Lausanne wurde die erste künstliche Hand entwickelt, die fühlen kann. Hörnerv Ohrmuschel Trommelfell Elektroden Brainport Eine Kamera in einer Brille liefert ein Bild an einen Computer, der dieses in elektrische Impulse umwandelt. Das Bild wird auf ein Zungenplättchen übertragen, das der Sehbehinderte im Mund trägt. Er erkennt das Bild mit dem Tastsinn auf der Zunge. Zoom-Kontaktlinse Das US-Militär arbeitet an einer Kontaktlinse, mit deren Hilfe man Gegenstände nahe heranzoomen kann. Quelle: Pro Audito Schweiz, Wicab, Inc., EPFL Der Mensch... Fortsetzung von Seite 23 so, dass es bei Paraplegikern zu einer Zunahme der Empfindungsintensität im nicht gelähmten Bereich kommt», sagt sie. Aber auch bei gesunden Menschen kann jede Körperstelle zu einer erogenen Zone werden. So können Berührungen oberhalb der Gürtellinie, in Kombination mit erregenden Erinnerungen, Düften oder Musik zu einem «Paraorgasmus» führen, einer Art emotionalem Orgasmus. Das Verlangen, seine Wahrnehmung zu erweitern, ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt. Es ist ein universelles Phänomen. Bis heute sind keine Völker bekannt, die nicht versucht haben, sich auf irgendeine Weise zu berauschen und damit ihre Wahrnehmung zu verstärken oder auszuweiten. Sogar die Inuit in der Arktis, die keinerlei Pflanzen und damit berauschende Substanzen zur Verfügung hatten, fanden einen Weg. Sie versuchten mittels Schlafentzug und Fasten Halluzination auszulösen. Der Psychopharmakologe Ronald K. Siegel klassifiziert das Rauschbedürfnis als «vierten Trieb», der nach dem Verlangen nach Nahrung, Schlaf und Sex gedeckt wird. Erstaunlicherweise spüren selbst Tiere dieses Bedürfnis. Es ist wie beim Menschen komplex und geht über einen Reflex hinaus. Der Mensch als Schöpfer Die rein biochemische Sinneserweiterung geht einigen Menschen zu wenig weit. Transhumanisten wollen nicht nur Lebensbedingungen verbessern und Körper optimieren, sondern den Fortschritt nutzen, um den Menschen mit allen verfügbaren Mitteln der Technik und Medizin zu optimieren. Sie streben nach der Weiterentwicklung des Humanismus, der das Beste aus der menschlichen Natur machen will. Der Transhumanismus will nichts weniger, als die menschliche Evolution selbst in die Hand zu nehmen. Das grösste Ziel der globalen Bewegung ist das Erreichen der Unsterblichkeit und damit das Schaffen einer neuen Spezies Mensch. Der israelische Historiker und Erfolgsautor Yuval Harari ist davon überzeugt, dass die Verschmelzung von Mensch und Maschine «die grösste Evolution der Biologie» darstellen wird. In seinem neuen Buch schreibt er: «Die Geschichte der Menschen begann mit der Erfindung von Göttern. Sie wird enden, wenn die Menschen zu Göttern werden.» Damit meint er nicht, dass sich die Menschheit auslöschen wird, sondern dass sie sich zu etwas vom heutigen Standpunkt aus Unfassbarem verwandelt. Der Mensch als Schöpfer. Das ist Blasphemie. Eine Sünde und Urangst, die nicht nur im Christentum verurteilt wird. Legenden und Geschichten warnen davor, was passiert, wenn der Mensch über seine Existenz hinauswachsen will. Von Menschenhand geschaffene Monster wie Frankenstein und die Saurier im Film «Jurassic Park» wollen ihre Schöpfer töten. Ikarus stirbt, weil er mit seinen selbstgebastelten Flügeln der Sonne und damit dem Göttlichen zu nahe kommt. Im Transhumanismus wird selbst die Auferstehung von den Toten vorangetrieben: Max More ist Vorsitzender der Alcor Foundation. Seine Patienten, wie er seine Kunden nennt, Der Tastsinn lässt sich auch aus eigener Kraft erweitern. Jede Körperstelle kann zu einer erogenen Zone werden. bezahlen dafür, nach ihrem Ableben in flüssigem Stickstoff eingefroren zu werden. In den Stahltanks in einem Gebäude in der Wüste Arizonas lagern mittlerweile über hundert menschliche Körper. «Ich werde nach meinem Tod mein Gehirn einfrieren», sagt Max More nach seinem Auftritt am Biohacker-Kongress. In der transhumanistischen Vision wird das Bewusstsein am Tag X wiederbelebt und einem Roboter oder Computer übertragen. Das Ich wird zur Software, losgelöst von der Hardware, dem sterblichen Körper. Klassische Sinne hat der Homo sapiens 2.0 nicht mehr, braucht er aber auch nicht. Die Technik soll sie ersetzen. «Die gefährlichste Idee der Welt» Das alles klingt nach einer abgedrehten Allmachtsphantasie verrückter Wissenschafter. Doch die internationale Anhängerschaft wächst stetig. Vordenker wie der Philosoph Nick Bostrom, der an der Universität von Oxford lehrt, gehören ihr an. Der berühmteste Transhumanist ist Ray Kurzweil, Chef-Ingenieur bei Google. Kurzweil glaubt, dass die menschliche Unsterblichkeit bereits in 20 bis 30 Jahren eintreten wird. Er begründet dies mit der Beschleunigung des technischen Fortschritts. Für Kurzweil könnte es aber trotzdem knapp werden: Er ist 67, viel Zeit bleibt ihm nicht, dem biologischen Verfall entgegenzuwirken. Um sich jung zu halten, schluckt er täglich 100 Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente. Er behauptet, damit 25 Jahre an Lebenszeit gewonnen zu haben. Die extremen Standpunkte der Transhumanisten stossen auf Widerstand. Der Politikwissenschafter Francis Fukuyama bezeichnet den Transhumanismus als «die gefährlichste Idee der Welt». Wenn es keine grundlegenden Gemeinsamkeiten mehr zwischen den Menschen gäbe, könne die Gesellschaft nicht mehr funktionieren. Stressmesser Der Ring der Firma Moodmetric misst den Stress des Trägers. Eine App zeigt dem Benutzer in einem Diagramm, wie stark er belastet ist. Es ist Mittagszeit am Biohacker-Kongress. In der dämmrig beleuchteten Kongresshalle wird Flüssignahrung serviert. Ambronite heisst der Drink den Helfer nun in Plasticflaschen verteilen. Die grüne Färbung der Verpackung kann nicht über das wahre Aussehen der Trinkmahlzeit hinwegtäuschen. Sie hat die Farbe von Schlamm. So schmeckt sie auch. Ambronite ist die europäische Antwort auf Soylent, Trinknahrung aus dem Silicon Valley. Erfinder Rob Rhinehart preist seinen Drink als vollwertigen Nahrungsersatz an, der festes Essen komplett überflüssig macht. Seine Kunden sind Workaholics, die keine Zeit mit Kauen und vielen Gedanken ans Essen verschwenden wollen. Der Genuss rückt in den Hintergrund und damit auch der Geschmackssinn. Tränke die Menschheit in Zukunft nur noch solche Flüssignahrung würden unsere Geschmacksnerven verkümmern. Das wäre ganz im Sinne der Transhumanisten. Wo keine natürlichen Sinnesorgane mehr sind, ist auch kein Sinnesreiz mehr nötig. Keine Berührung, kein Geruch, kein Geschmack. Noch ist es nicht so weit. Serie Unsere Sinne (7/8) Wie bestimmen die Sinne unser Leben? Wie werden wir über sie verführt? Wann überfordern uns Sinneseindrücke? Die «NZZ am Sonntag» beantwortet in einer Serie die Frage, wie wir die Welt wahrnehmen. Achter und letzter Teil am nächsten Sonntag: der sechste Sinn. Wie übersinnliche Wahrnehmungen zustande kommen. «Human Enhancement» – auf dem Weg zum Supermenschen «Neu definieren, was wir menschlich empfinden» Johann Roduit, was bedeutet «Human Enhancement»? Damit sind medizinische und technische Eingriffe gemeint, welche die menschliche Gestalt oder die Leistungsfähigkeit verbessern sollen, und zwar über jenes Mass hinaus, das für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit erforderlich ist. Ein Beispiel dafür ist Ritalin, das Studenten vor Prüfungen nehmen mit dem Zweck, ihre kognitive Leistung zu verbessern. Das ist kein neues Phänomen. Nein. Der Mensch hat immer versucht, sein Dasein zu verbessern. Wenn man es so betrachtet, ist Human Enhancement etwas Altes. Ein neues Phänomen sind hingegen das Tempo und das Ausmass, mit denen wir uns verändern können. Johann Roduit lehrt am Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich und betreut das Projekt Superhumains.ch. Positiv ist, dass endlich ein Diskurs im Gang ist, wir wir diese Situation moralisch beurteilen sollten. Was heisst das? Ich beschäftige mich mit der Ethik von Human Enhancement. Ich frage also, wie wir moralisch mit einer neuen Technologie umgehen sollen, die unseren körperlichen oder geistigen Zustand so stark verändert, dass wir ihn als abnormal erachten. Eine zentrale Frage ist, was es heisst, ein Mensch zu sein. Enhancement hat die Macht, neu zu definieren, was wir als menschlich empfinden. Und wie sollen wir mit diesen neuen Technologien umgehen? Die Bioethik verwendet drei Prinzipien, um Human Enhancement moralisch einzuordnen: Erstens Sicherheit: Wird die Technologie in der Gesellschaft oder in zukünftigen Generationen Leid verursachen? Zweitens Autonomie: Haben wir die Wahl, ob wir die Technologie benutzen wollen oder nicht? Und drittens Gerechtigkeit: Wird die Technologie den Graben zwischen Arm und Reich vergrössern oder verkleinern? Darüber muss man aber noch mehr reflektieren. Ich mache ein Beispiel: Im Buch «Schöne neue Welt» von Aldous Huxley nehmen die Menschen die Droge Soma. Sie hebt die Stimmung, hat aber keine Nebenwirkungen wie etwa Alkohol. Soma erfüllt die drei genannten ethischen Prinzipien, aber trotzdem hat sie etwas Beunruhigendes, weil sie beeinflusst, wie wir uns als Mensch sehen. Die Öffentlichkeit steht neuen Technologien, die offen sichtbar sind, kritisch gegenüber. Das «Der Mensch hat schon immer versucht, sein Dasein zu verbessern.» Projekt Google Glass wurde eingestellt. Wird sich diese Einstellung jemals ändern? Menschen haben zwei Haltungen, wenn es um neue Technologien geht. Man spricht vom Juhu- und vom Igitt-Faktor: Jemand findet die Innovation entweder wahnsinnig aufregend oder abstossend. Es ist schwer zu sagen, warum Google Glass scheiterte. Es könnte sein, weil die Brille so invasiv ist: Wenn ein Google-Glass-Träger neben einem sitzt, könnte man schnell das Gefühl bekommen, dass er heimlich Fotos macht oder das Gespräch aufzeichnet. Man sollte aber bedenken, dass andere Organisationen bereits an Kontaktlinsen arbeiten, die ähnlich wie Google Glass funktionieren. Interview: Vanessa Sadecky
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