Nur das Blaulicht fehlt Annemarie Wälti Stüdeli unter wegs in Zollbrück BE. Für weite Strecken nimmt sie das Auto, sonst ihr Militärvelo. Die Land- Hebamme Sie holt die Emmentaler auf die Welt. Oft ist ANNEMARIE WÄLTI STÜDELI mit dem Velo unterwegs. Einen Spurt zur Geburt durch Kälte und Schnee – «und ich fühle mich wie neugeboren». 36 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 37 Brüderchen oder Schwesterchen? Céline Fuhrer aus Heimisbach BE erwartet ihr achtes Kind. Mateo, 4, und Simea, 2, sind beim Untersuch dabei. Anschaulich Die Hebamme erklärt den werdenden Eltern vieles anhand von Modellen. Hier eine Fötus-Puppe in der «Gebärmutter». Geburtszimmer In ihrem Haus hat die Hebamme diesen Raum einge richtet. Wer weder daheim noch im Spital gebären will, kommt hierher. Bauchzeichen Marlies erwartet ihr drittes Kind. Annemarie Wälti Stüdeli horcht die Baby-Herztöne mit dem guten alten Pinard-Rohr ab. 38 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 39 Hebammentasche Darin ist alles, was Annemarie für die Arbeit braucht. Plus ein paar Besonder heiten: 1 Dopton Gerät zur Messung der Fötus-Herztöne. 2 Prosecco Ist die Gebärende im Kopf verkrampft, löst ein Schlückchen die Blockade. 3 Whisky Zusammen mit Rizinus und Aprikosensaft ein prima Wehen-Cocktail. 4 Gehäkelte Uhrenkette Ein Erbstück der Urgross mutter. 5 Taschenrechner Um die benötigte Babynahrung parat zu machen (Formel: 20 Milliliter mal Lebenstage mal Körpergewicht in Kilo). 6 Federwaage Das Baby wird in ein Tuch gelegt, dieses an die Waage gehängt. 1 2 3 4 40 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 6 5 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 41 Daheim am Zmittagstisch Annemaries Kinder Sämi, 4, und Gion, 6 (l.). Ehemann Reto (er ist Arzt) musste zu einem Notfall. 41 Jahre alt Die Landhebamme wird oft viel jünger geschätzt. In ihrem Nasenflügel steckt eine winzige Blume – ihr Lieblingsmotiv. Die Lego-Geburt Annemaries Mann Reto hat zum Spass dieses Schwangerschafts-Erklär-Modell aus Plastik-Klötzchen gebaut. Hausbesuch Die Hebamme ist im Emmental aufgewachsen und kennt die Leute und deren Eigenheiten. Hier unterwegs zu einer Wöchnerin. 42 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 43 Das achte Kind Céline Fuhrers Sohn Mailo kam am 7. Januar zur Welt. Als Hausgeburt. Im Hinter grund: Hebamme Annemarie. Die Fuhrers Von links: Nando, Mateo, Lorin, Noel, Timo, Simea, Mama Céline mit Mailo, Vater Bruno, Sarina. Die Hebamme am Schreiben. Bienenhaus Bei Familie Fuhrer daheim – jetzt ein Zehn-PersonenHaushalt – ist immer was los. Langeweile (und Ruhe) gibts nie. Gamen und «gaumen» Lorin, 10, hütet seinen neuen Bruder Mailo und macht gleichzeitig ein Computerspiel. 44 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 45 TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH A Federleicht mit Federwaage Die kleine Johanna (Marlies’ Tochter) wird in einem Tuch gewogen. 3500 Gramm abzüglich 20 Gramm (die leere Windel). 46 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE nnemarie Wälti tüdeli. Bereits ihr S Name ist eine Form von Geburtshilfe. Werdende Mütter – erschöpft von Eröffnungswehen, Austreibungswehen, Presswehen – fühlen schon beim Wohlklang ih res Namens Ruhe, Trost und Stär kung. Annemarie Wälti Stüdeli: Mit ihr kommt man auf die Welt. Seit 20 Jahren arbeitet sie als Hebamme, gut 700 Kindern hat sie auf die Welt geholfen. Heute ist sie frei praktizierend im Em mental BE, betreut Frauen wäh rend Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit. Ein er füllender Beruf sei es, sagt sie, noch heute zitterten ihr nach je der Geburt die Hände vor lauter Ergriffenheit, «denn ich begleite ein Wunder». Früher trug sie ihr Haar kurz, doch glaubte manche Schwangere, sie sei die Tochter der Hebamme («gang Meitli, rüef schnell de Mueter!»), also liess sie ihr Haar wachen, um älter zu wirken. Mit mässigem Erfolg. Wer gäbe der Frau 41? Das Piercing in ihrem Nasenflügel macht sie halt auch nicht grad älter. Annemarie Wälti Stüdeli ist die Einfühlsamkeit in Person. Nie spricht sie von «Patientinnen», sondern von «mini Froue», bevor sie den Bauch einer Schwangeren abtastet, rubbelt sie sich die Hän de warm, und eine schnelle, pro blemlose Geburt umschreibt sie lyrisch-bodenständig mit «wie dür de Anke». Selbst der «Keine Werbung»-Kleber an ihrem Brief kasten daheim in Zollbrück BE ist betont höflich. Da steht: «Keine Werbung. Merci». Genau diese Einfühlungsgabe ist es, die eine seit Stunden in den Wehen liegen de Gebärende braucht. 2014 kamen in der Schweiz 85 287 Kinder zur Welt. 4109 da von mithilfe von frei praktizie renden Hebammen im Spital, im Geburtshaus – oder daheim: 877 Kinder waren Hausgeburten. Die Anwesenheitsdauer der frei prak tizierenden Hebamme bei einer Geburt beträgt im Durchschnitt 9 Stunden 34 Minuten. Ein (pränataler) Blick zurück, es ist Mitte Dezember 2015. Die Hebamme besucht zwei ihrer «Froue». Unterwegs ist sie mit dem Auto oder ihrem Militärve lo. Der erste Hausbesuch gilt Fa milie Fuhrer in Heimisbach BE. Céline, 38, erwartet Kind Nummer acht. «Weil acht eine schöne run de Zahl ist, dann ist meine Fami lie komplett» (nach der Geburt wird sie ihren Entscheid über denken, doch dazu später). In der Stube steht ein langer Holztisch mit einer Truppe Tripp-Trapp-Hocker. Alle Fuh rer-Kinder sind daheim zur Welt gekommen. Die Hebamme tastet Célines Bauch ab. Das Köpfli lie ge schön unten, das Füdeli sei we der zu klein noch zu gross, «alles ist genau richtig». Auf einer Ta belle trägt Annemarie die Daten ein: Blutdruck, Urin, Krampf adern, Vaginalbefund, Kinds bewegungen. Auch organisatori sche Punkte spricht sie an: Wer schaut während der Geburt den Kindern, ist das Handy geladen, das Auto vollgetankt (falls man doch ins Spital muss)? Leintücher müssen parat liegen, Handtücher im Backofen auf 60 Grad gewärmt werden. In elf Tagen ist der er rechnete Geburtstermin. Als Kind wollte Annemarie Archäologin oder Schneiderin lernen. Geworden ist sie irgend wie beides. Den Schatz im Mutter bauch zu erforschen und heraus zuholen, erfordert durchaus Ent decker-Geschick; und etwelche Dammrisse müssen nach der Ge burt genäht werden. Es war dann aber Annemaries Gotte, eine Bäu erin mit Schweinehaltung, die ihr das «Wunder der Geburt» näher brachte. Das Erleben von Stallge burten, die Muttersauen, die Säu li – das hat Annemarie geprägt. Die zweite Schwangere an diesem Tag im Dezember, die von Hebamme Annemarie betreut wird, ist Marlies (ihren vollstän digen Namen möchte sie nicht im Heft haben). Die 39-Jährige er wartet ihr drittes Kind. Sie lässt sich in Annemaries Geburts zimmer untersuchen, das diese in ihrem Haus eingerichtet hat. Warme Farben, viel Holz, bunte Kissen, gedimmtes Licht. Von der Decke hängt ein starkes Tuch, in das sich eine pressende Gebären de so richtig reinhängen kann. Auf einem Spiegel – man schaut sich an – steht: «You are much stron ger and braver than you think» (Du bist viel stärker und mutiger als du denkst). Mit Modellen und Schautafeln werden Schwanger schaft und Geburt erklärt. Bei spiellos kreativ ist die Lego-Frau mit Aufklappbeinen und LegoBaby im Bauch. Baumeister war Annemaries Mann, Reto Stüdeli. Er ist Arzt und hat seine Praxis eben falls daheim. Die Lego-Kreation ist nicht die einzige verspielte Schöp fung des Ehepaares: Annemarie preist ihre Dienst im Internet un ter «haebamme.ch» an, Ehemann Reto ist schlicht der «tokter.ch». Auch bei Marlies ist alles in Ordnung. «Das Kleine ist schon etwas heruntergerutscht», dia gnostiziert die Hebamme, «das Köpfli liegt richtig.» In 23 Tagen ist der errechnete Geburtstermin. Was wirds? Marlies, die bald dreifache Mutter, glaubt, dass es ein Bub wird. Céline, die bald achtfache Mutter, glaubt, dass es ein Mädchen wird. Wahre Bauch gefühle. Ob sie wahr werden? Am 7. Januar um 20.46 Uhr bringt Céline (nein, nicht das er wartete Mädchen) ihren Sohn Mailo zur Welt. 53 Zentimeter u gross, 4444 Gramm schwer. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 47 u Am 12. Januar um 12.20 Uhr bringt Marlies (nein, nicht den erwarteten Buben) ihre Tochter Johanna zur Welt. 50 Zentimeter gross, 3280 Gramm schwer. Beide Geburten betreut Heb amme Annemarie, beide Gebur ten verlaufen normal. Ihr Rekord ist 27 Stunden. 27 Stunden am Stück stand Anne marie einer ihrer «Froue» bei der Geburt bei. Manchmal gehts aber auch ganz schnell. Wie bei jener Schwangeren, die noch im Auto gebar. Ein eisiger Tag seis gewe sen, erinnert sich die Land hebamme, als sie schliesslich am Geburtsort eintraf und die Autotür öffnete, waberten ihr die Dampfwolken des warmen Fruchtwassers entgegen. Und letzthin, «wiit im Chruut usse, amene Waudrand», da gebar eine Frau in einem Nomadenzelt. An nemarie musste erst Holz spalten und Feuer machen, um heisses Wasser zu bekommen. Die Heb amme mag solche Abenteuer – früher stürzte sie sich selber in eine Menge davon. Sie flog damals Gleitschirm und hörte damit erst auf, als sie im dritten Monat schwanger war. Noch heute zieht es sie «raus und hoch hinaus», allerdings nur noch zum Wandern und für Ski touren. Tanzen liebt sie über alles. Und Blumen. Überall Blumen, da heim, auf Tischen, Kommoden, von der Galerie ranken sie herun ter, an ihrer Halskette funkeln Blüten, und ihr silbernes Nasen piercing – ein winziges Blüemli. Die Hebamme und ihr Mann haben zwei Buben, Gion, 6, und Sämi, 4. Problemlose Geburten: «Gion kam schnell, Sämi sehr schnell.» Schnell – das ist sowie so ein Thema: Arzt und Hebam me können jeden Moment zu ei nem Einsatz gerufen werden. Da braucht es ein flexibles Familien leben: Die Grosseltern hüten oft die beiden Buben. Und auch ein 48 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Blick in den Zeitungsständer ver rät einiges vom oftmals improvi sierten Alltag der Wältis und Stü delis: Zwischen «Anzeiger Oberes Emmental», «Outdoor Guide» und «Swiss Medical Forum» steckt da eine Broschüre vom «Pizza Kebab Kurier». Die Hebammentasche ist stets gepackt. Ein Bijou. Glatt leder, rotbraun, mit Messing-Be schlägen. Darin sind Messband, Fiebermesser, Massageöl, Feder waage, ein Ultraschallgerät zum Abhören der kindlichen Herztö ne und – eine Dose Prosecco und ein Fläschchen Whisky. Hmm ja? Annemarie erklärt, was es mit ihrem Gebär-Apéro auf sich hat: Den Whisky mixt sie zusammen mit Aprikosensaft und Rizinusöl zu einem Wehen-Cocktail, der den Darm der Gebärenden anregt, und damit auch die Gebärmutter. Der Prosecco wiederum hilft, wenn die Geburt stockt, weil die Mutter im Kopf blockiert ist. Ein Schlücklein – und der SekundenFlash löst die Verkrampfung. Es gäbe auch noch andere Tricks, weiss die Hebamme. Da war mal diese Frau, welche zum Gebären die richtige Musik brauchte. Ihr Kind kam schliesslich zackig zur Welt – zu Marschmusik. Zwei Tage nach Vollmond werden mehr Kinder geboren, hat Annemarie beobachtet. Der ge burtenreichste Monat? «Im Em mental der September», weiss sie aus Erfahrung. Also neun Mona te nach der Zeit, in der man «Ihr Kinderlein kommet» singt … Bei jeder Hausgeburt ist nebst Annemarie noch eine zwei te Hebamme oder ein Arzt mit da bei. Sicherheitshalber. Denn es gibt auch schwere Momente im Leben einer Landhebamme. Kommt ein Kind mit Missbildun gen zur Welt, ist das für die Eltern immer hochemotional. Annema rie hat auch schon einige Todge burten erlebt. Es sei für sie enorm aufwühlend, wenn das Kleine über Stunden reanimiert wird und es dann doch stirbt. Für Va ter und Mutter läuft dann der ganze Trauerprozess ab: Wut, Ab wehr, Schuldzuweisungen, Trau er – und schliesslich Loslassen und Friedenfinden. «Ich begleite die Eltern auch in solchen schwe ren Momenten», sagt Annemarie. Eine Hebamme muss sich mit vielerlei Schmerzen auskennen. Es ist Januar geworden. Ein neues Jahr, zwei neue Kinder. Heute besucht unsere Landheb amme die Babys von Céline und Marlies. In einem umgebauten Bauernhaus liegt die kleine Jo hanna im Stubenwagen. Es geht ihr prächtig, auch Mutter Marlies ist wohlauf. Annemarie wägt den Säugling mit Federwaage und Stoffsack. 3500 Gramm abzüglich 20 Gramm. «Die Windel», erklärt die Hebamme, «und zwar leer.» Ein paar Kilometer weiter, im Haus der Fuhrers, höckeln die El tern und die sieben Geschwister im Ehebett um Baby Mailo herum. Mutter Céline ist sich mittlerwei le nicht mehr ganz sicher, ob acht Kinder die perfekte Anzahl ist, eventuell sei eine ungerade Zahl doch harmonischer. Vater Bruno nimmt das kommentarlos zur Kenntnis; vorerst mag er mit so einer Idee nicht schwanger gehen. Die Hebamme lächelt, die Arbeit wird ihr nicht ausgehen. Annemarie beobachtet, dass viele Frauen wieder mehr an die gute Macht der Natur glauben und sich eine Hausgeburt wün schen. Die vertraute Umgebung, die Hebamme als Vertraute – das schätzen viele Eltern. «Die Ge burt freudig erwarten», sagt die Hebamme, «darum heisst es doch auch ‹guter Hoffnung› sein.» Daheim, an der Tür zu Anne maries Geburtszimmer, hängt ein Schild. «Bitte nicht stören», und der Zusatzhinweis: «Wir arbeiten an der Geburtenrate.» Multitasking Baby Johanna auf dem Schoss halten und gleichzeitig in die Agenda schreiben – eine Hebamme bringt nichts so schnell aus der Balance. Geschwisterliebe Während die Hebamme Wöchnerin Marlies’ Bauch massiert, bewundern Simon, 7, und Helena, 4, ihre Schwester Johanna. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 49
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