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Nur das Blaulicht fehlt
Annemarie Wälti Stüdeli unter­
wegs in Zollbrück BE. Für weite
Strecken nimmt sie das Auto,
sonst ihr Militärvelo.
Die Land-
Hebamme
Sie holt die Emmentaler auf die Welt. Oft ist
ANNEMARIE WÄLTI STÜDELI mit dem Velo
unterwegs. Einen Spurt zur Geburt durch Kälte und
Schnee – «und ich fühle mich wie neugeboren».
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Brüderchen oder Schwesterchen?
Céline Fuhrer aus Heimisbach BE
erwartet ihr achtes Kind. Mateo, 4, und
Simea, 2, sind beim Untersuch dabei.
Anschaulich Die Hebamme erklärt
den werdenden Eltern vieles anhand
von Modellen. Hier eine Fötus-Puppe
in der «Gebärmutter».
Geburtszimmer In ihrem Haus hat
die Hebamme diesen Raum einge­
richtet. Wer weder daheim noch im
Spital gebären will, kommt hierher.
Bauchzeichen Marlies erwartet ihr
drittes Kind. Annemarie Wälti Stüdeli
horcht die Baby-Herztöne mit dem
guten alten Pinard-Rohr ab.
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Hebammentasche
Darin ist alles, was Annemarie für die
Arbeit braucht. Plus ein paar Besonder­
heiten: 1 Dopton Gerät zur Messung
der Fötus-Herztöne. 2 Prosecco Ist die
Gebärende im Kopf verkrampft, löst ein
Schlückchen die Blockade. 3 Whisky
Zusammen mit Rizinus und Aprikosensaft
ein prima Wehen-Cocktail. 4 Gehäkelte
Uhrenkette Ein Erbstück der Urgross­
mutter. 5 Taschenrechner Um die
benötigte Babynahrung parat zu machen
(Formel: 20 Milliliter mal Lebenstage mal
Körpergewicht in Kilo). 6 Federwaage
Das Baby wird in ein Tuch gelegt, dieses
an die Waage gehängt.
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Daheim am Zmittagstisch
Annemaries Kinder Sämi, 4, und
Gion, 6 (l.). Ehemann Reto (er ist
Arzt) musste zu einem Notfall.
41 Jahre alt Die Landhebamme
wird oft viel jünger geschätzt.
In ihrem Nasenflügel steckt eine
winzige Blume – ihr Lieblingsmotiv.
Die Lego-Geburt Annemaries
Mann Reto hat zum Spass dieses
Schwangerschafts-Erklär-Modell
aus Plastik-Klötzchen gebaut.
Hausbesuch Die Hebamme ist im
Emmental aufgewachsen und kennt
die Leute und deren Eigenheiten.
Hier unterwegs zu einer Wöchnerin.
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Das achte Kind Céline Fuhrers
Sohn Mailo kam am 7. Januar zur
Welt. Als Hausgeburt. Im Hinter­
grund: Hebamme Annemarie.
Die Fuhrers Von links: Nando, Mateo,
Lorin, Noel, Timo, Simea, Mama
Céline mit Mailo, Vater Bruno, Sarina.
Die Hebamme am Schreiben.
Bienenhaus Bei Familie Fuhrer
daheim – jetzt ein Zehn-PersonenHaushalt – ist immer was los.
Langeweile (und Ruhe) gibts nie.
Gamen und «gaumen»
Lorin, 10, hütet seinen neuen
Bruder Mailo und macht
gleichzeitig ein Computerspiel.
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TEXT MARCEL HUWYLER
FOTOS KURT REICHENBACH
A
Federleicht mit Federwaage Die kleine
Johanna (Marlies’ Tochter) wird in einem
Tuch gewogen. 3500 Gramm abzüglich
20 Gramm (die leere Windel).
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nnemarie
Wälti
­ tüdeli. Bereits ihr
S
Name ist eine Form
von Geburtshilfe.
Werdende Mütter –
erschöpft von Eröffnungswehen,
Austreibungswehen, Presswehen
– fühlen schon beim Wohlklang ih­
res Namens Ruhe, Trost und Stär­
kung. Annemarie Wälti Stüdeli:
Mit ihr kommt man auf die Welt.
Seit 20 Jahren arbeitet sie als
Hebamme, gut 700 Kindern hat
sie auf die Welt geholfen. Heute
ist sie frei praktizierend im Em­
mental BE, betreut Frauen wäh­
rend Schwangerschaft, Geburt,
Wochenbett und Stillzeit. Ein er­
füllender Beruf sei es, sagt sie,
noch heute zitterten ihr nach je­
der Geburt die Hände vor lauter
Ergriffenheit, «denn ich begleite
ein Wunder». Früher trug sie ihr
Haar kurz, doch glaubte manche
Schwangere, sie sei die Tochter
der Hebamme («gang Meitli, rüef
schnell de Mueter!»), also liess sie
ihr Haar wachen, um älter zu
­wirken. Mit mässigem Erfolg. Wer
gäbe der Frau 41? Das Piercing in
ihrem Nasenflügel macht sie halt
auch nicht grad älter.
Annemarie Wälti Stüdeli ist
die Einfühlsamkeit in Person. Nie
spricht sie von «Patientinnen»,
sondern von «mini Froue», bevor
sie den Bauch einer Schwangeren
abtastet, rubbelt sie sich die Hän­
de warm, und eine schnelle, pro­
blemlose Geburt umschreibt sie
lyrisch-bodenständig mit «wie
dür de Anke». Selbst der «Keine
Werbung»-Kleber an ihrem Brief­
kasten daheim in Zollbrück BE ist
betont höflich. Da steht: «Keine
Werbung. Merci». Genau diese
Einfühlungsgabe ist es, die eine
seit Stunden in den Wehen liegen­
de Gebärende braucht.
2014 kamen in der Schweiz
85 287 Kinder zur Welt. 4109 da­
von mithilfe von frei praktizie­
renden Hebammen im Spital, im
Geburtshaus – oder daheim: 877
Kinder waren Hausgeburten. Die
Anwesenheitsdauer der frei prak­
tizierenden Hebamme bei einer
Geburt beträgt im Durchschnitt
9 Stunden 34 Minuten.
Ein (pränataler) Blick zurück, es ist Mitte Dezember 2015.
Die Hebamme besucht zwei ihrer
«Froue». Unterwegs ist sie mit
dem Auto oder ihrem Militärve­
lo. Der erste Hausbesuch gilt Fa­
milie Fuhrer in Heimisbach BE.
Céline, 38, erwartet Kind Nummer
acht. «Weil acht eine schöne run­
de Zahl ist, dann ist meine Fami­
lie komplett» (nach der Geburt
wird sie ihren Entscheid über­
denken, doch dazu später).
In der Stube steht ein langer
Holztisch mit einer Truppe
Tripp-Trapp-Hocker. Alle Fuh­
rer-Kinder sind daheim zur Welt
gekommen. Die Hebamme tastet
Célines Bauch ab. Das Köpfli lie­
ge schön unten, das Füdeli sei we­
der zu klein noch zu gross, «alles
ist genau richtig». Auf einer Ta­
belle trägt Annemarie die Daten
ein: Blutdruck, Urin, Krampf­
adern, Vaginalbefund, Kinds­
bewegungen. Auch organisatori­
sche Punkte spricht sie an: Wer
schaut während der Geburt den
Kindern, ist das Handy geladen,
das Auto vollgetankt (falls man
doch ins Spital muss)? Leintücher
müssen parat liegen, Handtücher
im Backofen auf 60 Grad gewärmt
werden. In elf Tagen ist der er­
rechnete Geburtstermin.
Als Kind wollte Annemarie
Archäologin oder Schneiderin
lernen. Geworden ist sie irgend­
wie beides. Den Schatz im Mutter­
bauch zu erforschen und heraus­
zuholen, erfordert durchaus Ent­
decker-Geschick; und etwelche
Dammrisse müssen nach der Ge­
burt genäht werden. Es war dann
aber Annemaries Gotte, eine Bäu­
erin mit Schweinehaltung, die ihr
das «Wunder der Geburt» näher­
brachte. Das Erleben von Stallge­
burten, die Muttersauen, die Säu­
li – das hat Annemarie geprägt.
Die zweite Schwangere an
diesem Tag im Dezember, die von
Hebamme Annemarie betreut
wird, ist Marlies (ihren vollstän­
digen Namen möchte sie nicht im
Heft haben). Die 39-Jährige er­
wartet ihr drittes Kind. Sie lässt
sich in Annemaries Geburts­
zimmer untersuchen, das diese in
ihrem Haus eingerichtet hat.
­Warme Farben, viel Holz, bunte
Kissen, gedimmtes Licht. Von der
Decke hängt ein starkes Tuch, in
das sich eine pressende Gebären­
de so richtig reinhängen kann. Auf
einem Spiegel – man schaut sich
an – steht: «You are much stron­
ger and braver than you think»
(Du bist viel stärker und mutiger
als du denkst). Mit Modellen und
Schautafeln werden Schwanger­
schaft und Geburt erklärt. Bei­
spiellos kreativ ist die Lego-Frau
mit Aufklappbeinen und LegoBaby im Bauch. Baumeister war
Annemaries Mann, Reto Stüdeli. Er
ist Arzt und hat seine Praxis eben­
falls daheim. Die Lego-Kreation ist
nicht die einzige verspielte Schöp­
fung des Ehepaares: Annemarie
preist ihre Dienst im Internet un­
ter «haebamme.ch» an, Ehemann
Reto ist schlicht der «tokter.ch».
Auch bei Marlies ist alles in
Ordnung. «Das Kleine ist schon
etwas heruntergerutscht», dia­
gnostiziert die Hebamme, «das
Köpfli liegt richtig.» In 23 Tagen
ist der errechnete Geburtstermin.
Was wirds? Marlies, die bald
dreifache Mutter, glaubt, dass es
ein Bub wird. Céline, die bald
achtfache Mutter, glaubt, dass es
ein Mädchen wird. Wahre Bauch­
gefühle. Ob sie wahr werden?
Am 7. Januar um 20.46 Uhr
bringt Céline (nein, nicht das er­
wartete Mädchen) ihren Sohn
Mailo zur Welt. 53 Zentimeter
u
gross, 4444 Gramm schwer.
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u Am 12. Januar um 12.20 Uhr
bringt Marlies (nein, nicht den
erwarteten Buben) ihre Tochter
Johanna zur Welt. 50 Zentimeter
gross, 3280 Gramm schwer.
Beide Geburten betreut Heb­
amme Annemarie, beide Gebur­
ten verlaufen normal.
Ihr Rekord ist 27 Stunden.
27 Stunden am Stück stand Anne­
marie einer ihrer «Froue» bei der
Geburt bei. Manchmal gehts aber
auch ganz schnell. Wie bei jener
Schwangeren, die noch im Auto
gebar. Ein eisiger Tag seis gewe­
sen, erinnert sich die Land­
hebamme, als sie schliesslich
am Geburtsort eintraf und die
Autotür öffnete, waberten ihr
die Dampfwolken des warmen
Fruchtwassers entgegen. Und
letzthin, «wiit im Chruut usse,
amene Waudrand», da gebar eine
Frau in einem Nomadenzelt. An­
nemarie musste erst Holz spalten
und Feuer machen, um heisses
Wasser zu bekommen. Die Heb­
amme mag solche Abenteuer –
früher stürzte sie sich selber in
eine Menge davon.
Sie flog damals Gleitschirm
und hörte damit erst auf, als sie im
dritten Monat schwanger war.
Noch heute zieht es sie «raus und
hoch hinaus», allerdings nur
noch zum Wandern und für Ski­
touren. Tanzen liebt sie über alles.
Und Blumen. Überall Blumen, da­
heim, auf Tischen, Kommoden,
von der Galerie ranken sie herun­
ter, an ihrer Halskette funkeln
Blüten, und ihr silbernes Nasen­
piercing – ein winziges Blüemli.
Die Hebamme und ihr Mann
haben zwei Buben, Gion, 6, und
Sämi, 4. Problemlose Geburten:
«Gion kam schnell, Sämi sehr
schnell.» Schnell – das ist sowie­
so ein Thema: Arzt und Hebam­
me können jeden Moment zu ei­
nem Einsatz gerufen werden. Da
braucht es ein flexibles Familien­
leben: Die Grosseltern hüten oft
die beiden Buben. Und auch ein
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Blick in den Zeitungsständer ver­
rät einiges vom oftmals improvi­
sierten Alltag der Wältis und Stü­
delis: Zwischen «Anzeiger Oberes
Emmental», «Outdoor Guide»
und «Swiss Medical Forum»
steckt da eine Broschüre vom
«Pizza Kebab Kurier».
Die Hebammentasche ist
stets gepackt. Ein Bijou. Glatt­
leder, rotbraun, mit Messing-Be­
schlägen. Darin sind Messband,
Fiebermesser, Massageöl, Feder­
waage, ein Ultraschallgerät zum
Abhören der kindlichen Herztö­
ne und – eine Dose Prosecco und
ein Fläschchen Whisky. Hmm ja?
Annemarie erklärt, was es mit
ihrem Gebär-Apéro auf sich hat:
Den Whisky mixt sie zusammen
mit Aprikosensaft und Rizinusöl
zu einem Wehen-Cocktail, der
den Darm der Gebärenden anregt,
und damit auch die Gebärmutter.
Der Prosecco wiederum hilft,
wenn die Geburt stockt, weil die
Mutter im Kopf blockiert ist. Ein
Schlücklein – und der SekundenFlash löst die Verkrampfung. Es
gäbe auch noch andere Tricks,
weiss die Hebamme. Da war mal
diese Frau, welche zum Gebären
die richtige Musik brauchte. Ihr
Kind kam schliesslich zackig zur
Welt – zu Marschmusik.
Zwei Tage nach Vollmond
werden mehr Kinder geboren, hat
Annemarie beobachtet. Der ge­
burtenreichste Monat? «Im Em­
mental der September», weiss sie
aus Erfahrung. Also neun Mona­
te nach der Zeit, in der man «Ihr
Kinderlein kommet» singt …
Bei jeder Hausgeburt ist
nebst Annemarie noch eine zwei­
te Hebamme oder ein Arzt mit da­
bei. Sicherheitshalber. Denn es
gibt auch schwere Momente im
Leben einer Landhebamme.
Kommt ein Kind mit Missbildun­
gen zur Welt, ist das für die Eltern
immer hoch­emotional. Annema­
rie hat auch schon einige Todge­
burten erlebt. Es sei für sie enorm
aufwühlend, wenn das Kleine
über Stunden reanimiert wird
und es dann doch stirbt. Für Va­
ter und Mutter läuft dann der
ganze Trauerprozess ab: Wut, Ab­
wehr, Schuldzuweisungen, Trau­
er – und schliesslich Loslassen
und Friedenfinden. «Ich begleite
die Eltern auch in solchen schwe­
ren Momenten», sagt Annemarie.
Eine Hebamme muss sich mit
vielerlei Schmerzen auskennen.
Es ist Januar geworden. Ein
neues Jahr, zwei neue Kinder.
Heute besucht unsere Landheb­
amme die Babys von Céline und
Marlies. In einem umgebauten
Bauernhaus liegt die kleine Jo­
hanna im Stubenwagen. Es geht
ihr prächtig, auch Mutter Marlies
ist wohlauf. Annemarie wägt den
Säugling mit Federwaage und
Stoffsack. 3500 Gramm abzüglich
20 Gramm. «Die Windel», erklärt
die Hebamme, «und zwar leer.»
Ein paar Kilometer weiter, im
Haus der Fuhrers, höckeln die El­
tern und die sieben Geschwister
im Ehebett um Baby Mailo herum.
Mutter Céline ist sich mittlerwei­
le nicht mehr ganz sicher, ob acht
Kinder die perfekte Anzahl ist,
eventuell sei eine ungerade Zahl
doch harmonischer. Vater Bruno
nimmt das kommentarlos zur
Kenntnis; vorerst mag er mit so
einer Idee nicht schwanger gehen.
Die Hebamme lächelt, die Arbeit
wird ihr nicht ausgehen.
Annemarie beobachtet, dass
viele Frauen wieder mehr an die
gute Macht der Natur glauben
und sich eine Hausgeburt wün­
schen. Die vertraute Umgebung,
die Hebamme als Vertraute – das
schätzen viele Eltern. «Die Ge­
burt freudig erwarten», sagt die
Hebamme, «darum heisst es doch
auch ‹guter Hoffnung› sein.»
Daheim, an der Tür zu Anne­
maries Geburtszimmer, hängt ein
Schild. «Bitte nicht stören», und
der Zusatzhinweis: «Wir arbeiten
an der Geburtenrate.» 
Multitasking Baby Johanna auf dem
Schoss halten und gleichzeitig in die
Agenda schreiben – eine Hebamme
bringt nichts so schnell aus der Balance.
Geschwisterliebe Während die
Hebamme Wöchnerin Marlies’ Bauch
massiert, bewundern Simon, 7, und
Helena, 4, ihre Schwester Johanna.
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