Yogaauf Rädern Fahrrad kann ich, hatte unser Autor gedacht. Bis er stundenlang beim Mountainbike-Training durch den Grunewald pflügte – und eine Ahnung davon bekam, wie es sich anfühlt, wenn Mensch und Rad eins werden. Bericht über ein Abenteuer, das alle Sinne schärft VON 112! STERN GESUND LEBEN Ralph Geisenhanslüke HIN!&!WEG S FOTOS: DAVE TRUMPORE, FABIAN ZAPATKA STILLE, BEINAHE. Nur eine leichte Brise rauscht durch die Bäume, kaum ein Vogel ist zu hören. Ich atme tief ein. Volle Konzentration. Ich will diesen Hügel hinunterrollen, mit maximalem Schwung in die nächste Steigung hinein, mich in die engen Kurven legen und in etwa 90 Sekunden oben auf dem nächsten Hügel stehen. Aber diese 90 Sekunden werden lang. Wildschweine haben den Boden aufgewühlt, es gibt riesige Baumwurzeln. Die Reifen versacken auf halber Strecke im lockeren Sand. Ich steige ab, Schweiß läuft unter meinem Helm hervor und tropft auf den Lenker. Ein paar Mücken tun, was sie tun müssen. Noch mal. Wieder steht Regina Marunde in der ersten Kurve. Wieder versuche ich, schnell zurückzuschalten, kleinstes Blatt, dritter Gang, Körpergewicht nach vorn verlagern. Aber ich schaffe es nicht, gleichzeitig die Kraft in die Pedale zu drücken. „Druck auf die Räder!“, ruft Regina. „Achte auf deine Linie!“ Regina kann mit ihren Ermunterungen eine ganze Fankurve ersetzen, aber sie ist nicht mein Fan. Regina ist meine Trainerin. Und wieder ruft sie: „Schau auf deine Linie. Da, wo du hinschaust, wirst du auch landen!“ Sie meint nicht meine Taille, sondern die Ideallinie, auf der man durch eine Kurve kommt. Von außen nach innen ziehen. Klingt gut. Aber ich habe ein Problem: Die Kurve ist extrem spitz, und ich sehe die 4 STERN GESUND LEBEN !113 HIN!&!WEG Geröllbrocken links vom Vorderrad. Genau in dem Moment, in dem ich sie anschaue, verliere ich die Kontrolle über das Vorderrad. Regina hat natürlich recht. Wer sagt, dass man für ein Mountainbike-Training in die Alpen fahren muss? Das Geröll unter unseren Reifen – das ist der Teufelsberg, die zweithöchste Erhebung Berlins, 120 Höhenmeter, aufgeschüttet aus Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Aber auch die Natur hat sich einiges einfallen lassen. Die Gegend um den Havelhöhenweg entstand während der letzten Eiszeit, als sich die Gletscher hier durchschoben. Der Grunewald steckt voller überraschender Steigungen und Abfahrten. Regina kennt hier jeden Stein. Aber sie käme vermutlich überall durch. Regina ist mehrfache Deutsche Meisterin, bei den Olympischen Spielen in Atlanta, 1996, belegte sie den siebten Platz. Nach 15 Jahren Profisport arbeitet sie heute als Osteopathin und Personal Trainerin. Zu ihren Fahrtechnikseminaren kommen immer mehr Frauen, sagt sie. Und zwar ambitionierte Frauen, die sich nicht damit begnügen, das abgelegte Rad ihres Freundes zu fahren. Auch unsere achtköpfige Gruppe ist paritätisch besetzt. Regina hat die Route für den Tag zusammengestellt, etwa 20 Kilometer. Harmlos, denke ich noch, nicht ahnend, dass wir über fünf Stunden in den Pedalen stehen werden. MOUNTAINBIKEN? DU? Meine Freunde reagierten belustigt, als ich erzählte, ich würde an einem Techniktraining teilnehmen. Ich gebe zu: Mountainbiken erschien mir lange als eine Parallelwelt wie Heavy Metal. Voller seltsamer Namen und Zeichen, die nur Eingeweihte verstehen. Ausrüstungsprofis, die mit sündhaft teurem Gerät durchs Gelände brechen, wo ich noch nicht mal zu Fuß durchkäme. Die ihre Schrammen an den Waden stolz wie Tattoos tragen. Vor einiger Zeit brach sich ein Bekannter – Triathlet natürlich – bei einem Sturz die Schulter. Er muss mindestens ein Jahr warten, ehe er wieder trainieren darf. Auch da sagte ich noch: Risikosportarten sind nichts für mich. Doch dann brachte ein Zufall mich mitten hinein in diese Parallelwelt. Wir waren ein paar Tage in Polen, im Iser114! STERN GESUND LEBEN Schön auf die Linie achten: Im Mountainbike-Training auf dem Berliner Teufelsberg lernen Radfahrer, nicht aus der Kurve zu fliegen Die Strecke saugt uns ein. Unmöglich, an etwas anderes zu denken. Wir bekommen das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht gebirge, in wieradów-Zdrój, einem Kurort an der Grenze zu Tschechien. Die meisten Gäste kommen dort im Winter, zum Skifahren. Im Frühjahr und Sommer ist es wunderbar leer. Die Sonne schien, das Hotel stellte uns zwei nagelneue Mountainbikes hin. Wir hatten schon einige Kilometer in den Beinen und allmählich genug von der Straße, als ein Pfad in den Wald führte. Seiten- und Umwege sind das Beste an einer Radtour, sagten wir. Dann verwandelte sich der Weg in etwas, das einem ausgetrockneten, felsigen Flussbett ähnelt. Wir dachten ans Umkehren, da kreuzten wir einen Pfad, der mit roten Pfosten markiert war. Erst später fanden wir heraus, dass es sich um den Singltrek pod Smrkem handelte, ein System von Mountainbike-Pfaden, das in Tschechien beginnt. Sein Designer ist preisgekrönt. Die Ästhetik solcher Strecken, erfuhr ich, wird diskutiert wie die von Golfplätzen. Sie sollen nicht nur Spaß machen, sondern auch ökologischen Ansprüchen genügen und sich harmonisch in die Natur einfügen. Der Singltrek ist perfekt präpariert mit Schieferschotter, damit es bei Regen nicht zu rutschig wird; er ist unterteilt in Abschnitte mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden: blau, rot und schwarz, wie Skipisten. Er führt tief in den Wald und wird nur in einer Richtung befahren. Kein Gegenverkehr! Keine Fußgänger! Eine Strecke, die direkt hineinführt in die Trance des Radfahrens. Meine Einstiegsdroge. Danach verstand ich, was Mountainbiker in den Wald lockt: Es ist die vollständige Abwesenheit vom Rest der Welt. Die Strecke saugt einen ein. Es ging leicht bergab, voller abwechslungsreicher Kurven. Keine Sekunde Ablenkung, jede Bewegung verlangte volle Aufmerksamkeit. Unmöglich, an irgendetwas anderes zu denken. Wir bekamen das euphorische Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Vermutlich spielen körpereigene Opiate auch eine Rolle. Kein Wunder, sagten mir mountainbikende Freunde später, du hast einen Flowtrail entdeckt. Sie tadelten mich sanft: Du weißt schon, dass man da besser einen Helm aufsetzt – oder? Handschuhe wären auch kein Nachteil. Und vielleicht ein wenig Vorbereitung. Meine Mutter sagt, als ich fünf war, hätte ich darauf bestanden, dass mein Vater die Stützräder an meinem Fahrrad abschraubte. Als Kinder bretterten wir mit unseren Bonanzarädern durch den Wald und legten Stürze hin, bei denen heutige Eltern umgehend den Rettungshelikopter rufen würden. Meine gesamte Jugend in der westfälischen Provinz bestand aus langen Radstrecken. Ich betrachte ein Fahrrad als natürliche Verlängerung meiner Extremitäten. Heute lasse ich das Rad auch mal stehen. Man kann nicht bei jedem Meeting schweißgebadet erscheinen. Bei Regen habe ich auch keine Lust. FOTOS: KLAUS LANGE DOCH RADFAHREN IST wie Schwimmen. Man verlernt es nie. Man kommt höchstens aus der Übung. Heute suche ich nicht mehr das Abenteuer, ich bin ein braver Alltagsradler und habe meinen Frieden gemacht mit den Gegebenheiten der Großstadt. Über Autofahrer rege ich mich schon lange nicht mehr auf. Ich besitze ein unauffälliges, zerschrammtes Tourenrad. Alles andere wird einem sowieso unterm Hintern weggeklaut. Ich denke wie vermutlich 90 Prozent der erwachsenen Deutschen: Fahrrad kann ich. Diese Gewissheit kommt mir abhanden, als ich sehe, wie Regina Treppen rauf und runter fährt. Doch der Reihe nach. Wir beginnen mit ein paar Grundlagen. Zuerst: Kurven fahren. Regina hat ein paar Hütchen auf einem leeren Parkplatz ausgelegt. Wir kreisen drum herum. Das äußere Bein gestreckt, dass innere angewinkelt. Die innere Hand drückt das Rad in Schräglage, sodass es von selbst Schwung aufnimmt. Eine erstaunliche Erfahrung: Man kann das Rad in Bewegung halten, ohne in die Pedale zu treten. Besonders achten wir darauf, die Ellenbogen nach außen zu drücken. Durchgestreckte Ellenbogen sind anfällig für Verletzungen – und unbeweglich. Und Beweglichkeit ist Reginas Weg zur „Einheit von Mensch und Rad“. Nach einer halben Stunde haben wir ein Stadium erreicht, das man Yoga auf Rädern nennen könnte. Wir sind in der Lage, uns während der Fahrt neben den Rahmen zu hocken, wie hunnische Steppenreiter auf ihren Pferden, und dabei unsere Füße zu berühren. „Vertraut euren Reifen“, sagt Regina. Das bedeutet auch: sich selbst zu vertrauen. Und sich zu kennen. Ich zum Beispiel bin einen Meter neunzig groß und nicht gerade ein Fliegengewicht. Ich habe auf dem Rad einen hohen Schwerpunkt. Deshalb bin ich nicht besonders wendig. Ich müsste lange an mir arbeiten und würde doch niemals so agil um die Ecke fegen wie Regina. Dann kommt das mit den Treppen. Das geht, wie sie erklärt, über eine Gewichtsverlagerung. Man steht in den Pedalen und hängt mit dem Gesäß weit hinter dem Sattel. Theoretisch ganz einfach. Aber ich passe. Mag sein, dass es um das Überwinden der Angst geht und man sich hinterher großartig fühlt. Aber ich habe keine Lust, mir etwas zu brechen. Das gucke ich mir lieber auf Youtube an. Dann kommt die Belohnung: Wir düsen – und zwar richtig. Einmal lang durch den Grunewald. Über den Havelberg mit der langen Steigung, die unter Mountainbikern „Panzerberg“ heißt, weil hier fast jeder dicke Beine bekommt. Und dann eine lange, schnelle Abfahrt. Das hier ist kein Singletrail, sondern normaler Waldweg. Spaziergänger, Kinder, Hunde. Zu meiner Überraschung ist das kein Problem. Wir haben nicht nur stundenlang das Gelände durchwühlt, sondern auch unsere Sinne geschärft. ALS ICH SPÄTER heimradele, kommt mir der Straßenverkehr harmlos vor. Obwohl ich ziemlich groggy bin, scheinen sich die anderen Verkehrsteilnehmer recht langsam zu bewegen. Ihnen auszuweichen – kein Problem. Ich merke, dass es an meiner schnelleren Wahrnehmung liegt. Jeden Weg überblicke ich bis zum Ende, scanne ihn auf mögliche Hindernisse. Auch Bewegungen am Rande meines Gesichtsfelds nehme ich sofort wahr. Meine Muskeln sind lahm, ich habe blaue Flecken und Kettenabdrücke an den Schienbeinen, aber ich fühle mich wacher und präsenter, Koordination und Balance fallen mir leicht wie lange nicht. Ich habe das Gefühl, meinem Nervensystem beim Stricken neuer Synapsenverbindungen zuzuschauen. Die nehme ich mit in den Alltag. Allein dafür hat es sich gelohnt. 2 So kommen Sie auf Touren Schutz für den Fahrer Helm und Schutzbrille sind im Gelände unerlässlich. Schon ein kleiner Ast kann schlimme Augenverletzungen verursachen. Außerdem: Schützer für Knie und Ellenbogen sowie Handschuhe. Die ideale Sitzposition Auf dem Mountainbike stellt man den Sattel tiefer als auf einem Rennrad. Die Beine sind nicht durchgestreckt. Dadurch bleibt man beweglicher. Außerdem empfehlenswert: eine absenkbare und gefederte Sattelstütze. Der richtige Druck Zwei Bar Reifendruck genügen. Damit haben die Reifen im Gelände besseren Grip. Gleichzeitig bieten sie so eine zusätzliche Dämpfung gegen Erschütterungen. Pannenschutz durch Milch Latexmilch in den Reifen füllen. Ein schnelles Dichtmittel, das Löcher bis zu sieben Millimeter abdichten und auch kleinere Schnitte füllen kann – während der Fahrt. Fahren ist nicht alles Wer oft im Sattel sitzt, kommt um ein gut abgestimmtes, funktionelles Kräftigungs- und Dehnprogramm nicht herum. Besonders wichtig: Kraft und Beweglichkeit in Rumpf und Becken. www.regina-marunde.de www.singltrekpodsmrkem.cz/de STERN GESUND LEBEN !115
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