Feuilleton 22 NUMMER 224 Giganten der Musik Feuilleton kompakt UNESCO TAGT Wird Bachs h-Moll-Messe Weltdokumentenerbe? Fünf deutsche Werke könnten heuer noch in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen werden. Von Sonntag bis Dienstag berät das Internationale Komitee für das „Memory of the World“-Programm in Abu Dhabi über die Neuaufnahmen, wie die deutsche Unesco-Kommission gestern in Bonn mitteilte. Insgesamt liegen 88 Nominierungen vor, aus Deutschland frühe Schriften der Reformationsbewegung und Johann Sebastian Bachs Autograph der h-Moll-Messe. Zum digitalen Unesco-Register „Memory of the World“ gehören ausgewählte Dokumente – darunter Buchbestände, Handschriften, Partituren, Unikate, Bild-, Ton- und Filmdokumente. Aus Deutschland sind bislang 18 Werke registriert, darunter die Göttinger Gutenberg-Bibel, Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie und die Himmelsscheibe von Nebra. (kna) Domsingknaben mit „Bach in Rokoko“ VON GERTRUD ADLASSNIG Günzburg Für viele Musikliebhaber ist es Jahr für Jahr einer der Höhepunkte im Kalender: das Festival „Bach in Rokoko“, zu dem die Augsburger Domsingknaben in die Dominikus-Zimmermann-Frauenkirche nach Günzburg einladen, um durch mehrere Konzerte in Begeisterung zu versetzen. Auch im 13. Jahr nach der Gründung gelang es jetzt dem Festivalleiter Reinhard Kammler durch ein höchst anspruchsvolles Programm das architektonische Schmuckstück in einen ergreifenden Klangraum zu verwandeln. Perfekte Harmonie mit Orlando di Lasso PEN-ZENTRUM DEUTSCHLAND Kesten-Preis für Verleger Madjid Mohit Für seine „kontinuierliche und beeindruckende Arbeit für Autoren, die nicht in ihrem Heimatland leben“, erhält der Verleger Madjid Mohit den diesjährigen HermannKesten-Preis. Die renommierte Auszeichnung der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland ist mit 10 000 Euro dotiert und wird am 11. November in Darmstadt überreicht. Mohit (Sujet-Verlag/Bremen) stamme aus einer iranischen Verleger-Familie und sei 1990 als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen, teilte PEN gestern bei der Verkündung des Preisträgers in Darmstadt mit. In der Zuerkennung heißt es weiter: Mohit fördere Literatur, „die ortsunabhängig wirkt, von Schriftstellern geschrieben, die . . . grenzübergreifend die hiesige Kulturlandschaft bereichern“. (dpa) MATERIAL-UMWIDMUNG Anti-Vergnügungspark für Flüchtlingsunterkünfte Der britische Street-Art-Künstler Banksy will das Material von seinem schaurigen Anti-Vergnügungspark Dismaland für Flüchtlinge im französischen Calais zur Verfügung stellen. Das wurde gestern auf der Internetseite zu der erfolgreichen Installation bekannt gegeben. Das komplette Bauholz und weitere Anlagen würden nach Calais geschickt, um Flüchtlingsunterkünfte zu bauen, heißt es auf der Seite. „Dismaland“ ist ein Wortspiel, das sich an „Disneyland“ anlehnt, aber auch an das englische dismal (trübselig) erinnert. (dpa) DIENSTAG, 29. SEPTEMBER 2015 Wenn Königin Nyssia (Sally du Randt) diese Kette mit Ring umlegt, wird sie unsichtbar. Das aber kann Gyges (Oliver Zwarg) bei ihrer Schönheit nicht wollen. Foto: A.T.Schaefer Das Allerallerschönste: unsichtbar Theater Augsburg Die Oper „König Kandaules“ von Alexander Zemlinsky kann mit Gewinn auch zwei-, dreimal angehört und angesehen werden VON RÜDIGER HEINZE Augsburg König Kandaules ist sagenhaft reich. Auch ist er als mächtigster Mann Lydiens gewohnt, dass jeder seiner Anordnungen Folge geleistet wird. Kommt noch hinzu, dass seine Frau, Königin Nyssia, von der Natur so verwöhnt ist, dass der Mann an sich kirre wird, so er sie erblickt. Kandaules hat viel Glück. Aber der König hat nicht das Händchen dafür, mit seinem Glück umzugehen. Halb aus Teilungsdrang, halb aus Sucht nach Bewunderung verschleudert er seinen Reichtum. Ihm gelingt nicht zu unterscheiden, was einer teilen darf/ soll/muss – und was, ohne Missbrauch zu begehen, unteilbar ist. König Kandaules begreift seine Frau als ein Gut. Er verfügt über sie. Seinem Freund Gyges verschafft er tiefe Schlüssellochblicke, die letztlich enden in einer Liebesnacht mit Nyssia. So wandelt sich Glück in tödliche Tragik. Die entehrte Nyssia verlangt von Gyges, den König zu töten. Und so geschieht’s. Diese psychologisch starke Sex& Crime-Story aus der Antike hat der österreichische Exil-Komponist Alexander Zemlinsky in den 1930er-Jahren in eine ungeheuer starke, in eine schillernd-verführerische Musik gesetzt – und der Hörer fragt sich heute, warum das Stück um Öffentlichkeit und Intimität, Voyeurismus und Scham, Neugierde und Lüsternheit nicht Einzug in die Spielpläne gehalten hat, nachdem es 1996 posthum rekonstruiert und instrumentiert uraufgeführt worden war. Dieser „König Kandaules“ reißt mit quasi auf einer musikdramatischen Schnittstelle zwischen drei anderen großen Opern: Er steht in einer Linie mit Straussens pathologisch-dekadenter „Salome“, Franz Schrekers „Die Gezeichneten“, da ebenfalls die weibliche Schönheit als „Beute des Starken“ proklamiert wird, und Alban Bergs „Lulu“. Monstrositäten, sexuelle Abnormitäten und Tote gibt es hier wie dort bei aufwühlender Nerven-Musik zuhauf. Nun hat das Theater Augsburg den „Kandaules“ nicht nur reanimiert, sondern inszenatorisch so zugespitzt und musikalisch so fulminant wiedergegeben, dass das Ergebnis ausstrahlen dürfte über Süddeutschland hinaus. Dieser „Kandaules“ spielt in einem west-östlichen Zwischenreich, in einem muslimischen Land, da die Königin Burka trägt (Kostüme: Annette Braun), der König aber neben regelmäßigen Festgelagen auch Anschluss an die internationale zeitgenössische Kunst sucht: Eine drapierte Installation aus antiken Säulen und Kiefernlatten rund um einen Haufen goldenen Tischgeschirrs demonstriert eine gewisse Weltläufigkeit am Hof (Bühne: Paul Zoller). Gern greift man auch mal (im 1. Akt) zum Künstlerpinsel und (im 3. Akt) zur Dichterfeder. Aber nicht im Übermaß, denn Fressen und Saufen geht im engsten KandaulesZirkel mit sieben HofschranzenGnomen eindeutig vor. Entsprechend ist bei ihnen das Alberne, ja das Debile fortgeschritten. Wohl trachten Kandaules und seine Kumpane mit Grapschhänden und übergroßen Ohren noch nach einer Steigerung sinnlicher Eindrücke, doch alles Feingeistige ist ihnen bereits flöten gegangen (Regie: Søren Schuhmacher nach konzeptionellen Ideen Lorenzo Fioronis). Gut möglich, dass es der Intendantin und Produktionsdramaturgin Juliane Votteler wesentlich war, eine Volte zu schlagen zum Finale des symbolreichen Abends: Nyssia zerreißt nicht nur librettogegeben und emanzipatorisch ihren Schleier; sie bemächtigt sich auch des Zauberrings, der unsichtbar macht. Wenn sie dann in der letzten Szene ihren neuen Mann Gyges besteigt, vormals ein fundamentaler Christ, wird dessen erwachte schönheitsverschlingende Augenlust regelrecht gegenstandslos sein. Eine Rache, ein Akt der Befreiung Nyssias. Das sitzt. Was die Inszenierung aber noch überragt, das ist die nachgerade schwül-narkotisierende Klangpracht der Augsburger Philharmoniker unter ihrem neuen Chefdirigenten Domonkos Héja, der gleich zum Operneinstand hohe Suggestivkraft entfaltete, insbesondere im nächtlich-knisternden 2. Akt und im tödlichen 3. Akt. Hätte sein Vorgänger den Abend wohl vorangepeitscht, so ließ Héja die Partitur brodelnd „kommen“. Phantastisch Sally du Randt als eine in den entscheidenden Momenten perfekt mit dem Orchester verschmelzende Nyssia; ganz groß Oliver Zwarg als Gyges mit baritonal-dramatischem Kern; groß die Leistung des sich sängerisch-seelisch entäußernden Mathias Schulz in der tenoralen Titelrolle. Den akklamierten Abend kann man mit Gewinn mehrfach hören und sehen. O Nächste Aufführungen 1., 14., 25. Oktober Wer achtet der Kunst? 100 große Gedichte – zweite Lieferung (37) EDUARD MÖRIKE Auf eine Lampe Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Epheukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschaar den Ringelreihn. Wie reizend Alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form – Ein Kunstgebild der ächten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. VON GÜNTER OTT An diesem Gedicht Eduard Mörikes hat sich in den 1950er Jahren ein exemplarischer Streit entzündet, genauer: am mehrdeutigen Wort „scheint“ der letzten Zeile. Die Protagonisten waren der Literaturwissenschaftler Emil Staiger und der Philosoph Martin Heidegger. Ersterer verstand „scheint“ als Anschein: Es scheint so – als ob (lateinisch videtur). Letzterer las „scheint“ als leuchtet (lat. lucet). Es ging in dieser Auseinandersetzung, in der sich eine stattliche Reihe weiterer Germanisten zu Wort meldete, um Sein und Schein, um das autonome Kunstwerk und seine Wahrnehmung. Die Wahrnehmung lenkt in unserem Fall das Augenmerk auf den lyrischen Sprecher. Er ist von Beginn an greifbar, wendet sich zuerst der Lampe zu und stellt dann – an den Leser adressiert – die Frage nach ihrer Beachtung. Das 1846 entstandene Gedicht ist eine Huldigung. Mörike (1804 – 1875) liebte in seiner Lyrik rühmende Anreden. Hier führt er sie sogleich in die Emphase des herausgehobenen Gegenstandes: „o schöne Lampe“. Sie schmückt, hat die Zeiten unbeschadet („unverrückt“) überstanden. Mörike evoziert die Aura des Schönen. Als dessen Attribute bestimmt er das Leichte, Zierliche, das Maßvolle und Harmonische. Die schöne Kunst vollendet sich im Kreis, in suggestiver Folge angezeigt in der Marmorschale, im Efeukranz, im Ringelreihen der Kinder, schließlich zusammengeEduard Mörike fasst im Ausdruck „ergossen um die ganze Form“. Das Gedicht (im reimlosen jambischen Sechsheber) liest die anmutige Balance nicht allein der Lampe ab („lachend, und ein sanfter Geist des Ernstes“), sondern findet sie auch im Ineinander des fernen, nicht ohne Wehmut erinnerten Museumsstücks (fast vergessnes Lustgemach: eine antikisierend-erotische Assoziation) und seiner durch die Wiedergabe nahegelegten ästhetischen Aktualisierung. Der Dichter entreißt die schöne Lampe der Vergessenheit und formt sie im Gedicht zum „Kunstgebild der ächten Art“. Dieses wird abschließend zur Sentenz gegossen und findet eine letzte Abrundung in der doppelten Alliteration „schön“/„scheint“ und „selig“/„selbst“. Wie soll nun der anfangs skizzierte Streit entschieden werden? Mörike betont in seinem Gedicht auffallend die Sprecherinstanz. Sie spitzt sich zu in einem Ausrufe- und in einem Fragezeichen: „Wie reizend Alles!“ und „Wer achtet sein?“ (gemeint: des Kunstgebildes). Dichtung, Kunst, Schönheit will wirken. Mörike spricht der Kommunikation das poetische Wort. Er verbindet mit der Kunst und mit ihrer Erkenntnis allerdings einen hohen Anspruch. Wie zur Verdeutlichung sagt er in einem Brief, nur durch die schöne Form komme ein schöner Gedanke, ein schönes Gefühl zur Erscheinung. Das von den Domsingknaben, dem Residenzkammerorchester München und diversen Solisten Dargebotene schlug einen weiten Bogen durch die Musikgeschichte. Gerahmt vom unumstrittenen Herrscher sakraler Barockmusik: Bach. Zum Auftakt, in dem traditionell die Männerstimmen der Domsingknaben agieren, erklang auch Orlando di Lasso: Zwei Bußpsalmen und die Missa super nahmen die Zuhörer mit in die Welt der Renaissancemusik. Das Männerstimmenensemble, Solisten und gregorianische Antiphon des Chors vollendeten sich in den Bußpsalmen di Lassos zu perfekter Harmonie. Bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, machten die Sänger die Gefühlslagen von Gläubigen zwischen Hoffen und Bangen, Angst und Jubel direkt erfahrbar. Dazwischen instrumentaler Hörgenuss: zwei Sonaten der von Bach neu geschaffenen Gattung für Violine und Cembalo mit Reinhard Kammler und Peter Riehm, Konzertmeister des Residenzkammerorchesters. Wolfgang Amadeus Mozart im Festival-Zentrum Der Domkapellmeister und Domsingknabenchef Kammler verzichtete beim Festival auf Chronologie und stellte den jüngsten seiner erwählten Komponisten-„Giganten“ in den Mittelpunkt. Der zweite Abend war zur Gänze Mozart gewidmet. „Misericordias Domini“, bot nach den Herausforderungen der Renaissancemusik abermals die Möglichkeit, absolute Exaktheit und perfekte Feinabstimmung zu zeigen. Und mit dem Requiem in d-Moll setzte Kammler einen glanzvollen Schlusspunkt, in dem die Knabensolostimmen in Gemeinschaft mit Tenor (Gerhard Werlitz) und Bass (Diogo Mendes) brillierten und der Domsing-Kammerchor Qualität bewies. Mit der Wahl einer Sinfonie, der letzten „Jugendsinfonie“ als Instrumentalteil, sprachen die Musiker andere Sinne an, brachten neue Aspekte aus Mozarts reichem Repertoire. Jubel und Jauchzen zum Finale Dramatisch schließlich wurde es zum Finale, das den beiden Antipoden der Barockmusik gewidmet war. Bach, dem protestantischen Kirchenmusiker (Kantate „Gott der Herr ist Sonn und Schild“), Händel, dem höfisch geprägten Komponisten mit einer Auswahl seiner bekanntesten Instrumentalstücke („Wassermusik“/„Feuerwerksmusik“/„Concerto Grosso Nr. 6) und Arien aus dem Messias. Diogo Mendes melodischer Bass und Stefan Steinemanns auch in den höchsten Lagen noch wohlklingender Altus zogen die Zuhörer in die intendierten Gefühlslagen: Trauer und Erregung. Dann die geniale Auflösung: Halleluja. Das Jubeln und Jauchzen in Händels wohl bekanntestem Choral erfüllte wie eine große Erlösung den Raum. Der Begeisterungssturm des Publikums wurde mit einem Dacapo des Halleluja belohnt, das eine beglückte Zuhörerschar entließ.
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