September 2015: Augsburger Allgemeine

Feuilleton
22
NUMMER 224
Giganten
der
Musik
Feuilleton kompakt
UNESCO TAGT
Wird Bachs h-Moll-Messe
Weltdokumentenerbe?
Fünf deutsche Werke könnten heuer noch in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen werden. Von Sonntag bis Dienstag berät das Internationale Komitee für
das „Memory of the World“-Programm in Abu Dhabi über die Neuaufnahmen, wie die deutsche
Unesco-Kommission gestern in
Bonn mitteilte. Insgesamt liegen
88 Nominierungen vor, aus
Deutschland frühe Schriften der
Reformationsbewegung und Johann
Sebastian Bachs Autograph der
h-Moll-Messe. Zum digitalen
Unesco-Register „Memory of the
World“ gehören ausgewählte Dokumente – darunter Buchbestände, Handschriften, Partituren, Unikate, Bild-, Ton- und Filmdokumente. Aus Deutschland sind bislang 18 Werke registriert, darunter die Göttinger Gutenberg-Bibel,
Ludwig van Beethovens Neunte
Sinfonie und die Himmelsscheibe
von Nebra. (kna)
Domsingknaben mit
„Bach in Rokoko“
VON GERTRUD ADLASSNIG
Günzburg Für viele Musikliebhaber
ist es Jahr für Jahr einer der Höhepunkte im Kalender: das Festival
„Bach in Rokoko“, zu dem die
Augsburger Domsingknaben in die
Dominikus-Zimmermann-Frauenkirche nach Günzburg einladen, um
durch mehrere Konzerte in Begeisterung zu versetzen. Auch im 13.
Jahr nach der Gründung gelang es
jetzt dem Festivalleiter Reinhard
Kammler durch ein höchst anspruchsvolles Programm das architektonische Schmuckstück in einen
ergreifenden Klangraum zu verwandeln.
Perfekte Harmonie
mit Orlando di Lasso
PEN-ZENTRUM DEUTSCHLAND
Kesten-Preis für
Verleger Madjid Mohit
Für seine „kontinuierliche und beeindruckende Arbeit für Autoren,
die nicht in ihrem Heimatland leben“, erhält der Verleger Madjid
Mohit den diesjährigen HermannKesten-Preis. Die renommierte
Auszeichnung der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland ist mit 10 000 Euro dotiert und
wird am 11. November in Darmstadt überreicht. Mohit (Sujet-Verlag/Bremen) stamme aus einer iranischen Verleger-Familie und sei
1990 als politischer Flüchtling
nach Deutschland gekommen, teilte
PEN gestern bei der Verkündung
des Preisträgers in Darmstadt mit.
In der Zuerkennung heißt es weiter: Mohit fördere Literatur, „die
ortsunabhängig wirkt, von Schriftstellern geschrieben, die . . . grenzübergreifend die hiesige Kulturlandschaft bereichern“. (dpa)
MATERIAL-UMWIDMUNG
Anti-Vergnügungspark
für Flüchtlingsunterkünfte
Der britische Street-Art-Künstler
Banksy will das Material von seinem schaurigen Anti-Vergnügungspark Dismaland für Flüchtlinge im
französischen Calais zur Verfügung
stellen. Das wurde gestern auf der
Internetseite zu der erfolgreichen
Installation bekannt gegeben. Das
komplette Bauholz und weitere Anlagen würden nach Calais geschickt, um Flüchtlingsunterkünfte
zu bauen, heißt es auf der Seite.
„Dismaland“ ist ein Wortspiel, das
sich an „Disneyland“ anlehnt, aber
auch an das englische dismal (trübselig) erinnert. (dpa)
DIENSTAG, 29. SEPTEMBER 2015
Wenn Königin Nyssia (Sally du Randt) diese Kette mit Ring umlegt, wird sie unsichtbar. Das aber kann Gyges (Oliver Zwarg) bei ihrer Schönheit nicht wollen. Foto: A.T.Schaefer
Das Allerallerschönste: unsichtbar
Theater Augsburg Die Oper „König Kandaules“ von Alexander Zemlinsky
kann mit Gewinn auch zwei-, dreimal angehört und angesehen werden
VON RÜDIGER HEINZE
Augsburg König Kandaules ist sagenhaft reich. Auch ist er als mächtigster Mann Lydiens gewohnt, dass
jeder seiner Anordnungen Folge geleistet wird. Kommt noch hinzu,
dass seine Frau, Königin Nyssia,
von der Natur so verwöhnt ist, dass
der Mann an sich kirre wird, so er
sie erblickt. Kandaules hat viel
Glück.
Aber der König hat nicht das
Händchen dafür, mit seinem Glück
umzugehen. Halb aus Teilungsdrang, halb aus Sucht nach Bewunderung verschleudert er seinen
Reichtum. Ihm gelingt nicht zu unterscheiden, was einer teilen darf/
soll/muss – und was, ohne Missbrauch zu begehen, unteilbar ist.
König Kandaules begreift seine
Frau als ein Gut. Er verfügt über sie.
Seinem Freund Gyges verschafft er
tiefe Schlüssellochblicke, die letztlich enden in einer Liebesnacht mit
Nyssia.
So wandelt sich Glück in tödliche
Tragik. Die entehrte Nyssia verlangt von Gyges, den König zu töten. Und so geschieht’s.
Diese psychologisch starke Sex& Crime-Story aus der Antike hat
der österreichische Exil-Komponist
Alexander Zemlinsky in den
1930er-Jahren in eine ungeheuer
starke, in eine schillernd-verführerische Musik gesetzt – und der Hörer fragt sich heute, warum das
Stück um Öffentlichkeit und Intimität, Voyeurismus und Scham, Neugierde und Lüsternheit nicht Einzug
in die Spielpläne gehalten hat, nachdem es 1996 posthum rekonstruiert
und instrumentiert uraufgeführt
worden war. Dieser „König Kandaules“ reißt mit quasi auf einer
musikdramatischen
Schnittstelle
zwischen drei anderen großen
Opern: Er steht in einer Linie mit
Straussens pathologisch-dekadenter
„Salome“, Franz Schrekers „Die
Gezeichneten“, da ebenfalls die
weibliche Schönheit als „Beute des
Starken“ proklamiert wird, und Alban Bergs „Lulu“. Monstrositäten,
sexuelle Abnormitäten und Tote
gibt es hier wie dort bei aufwühlender Nerven-Musik zuhauf.
Nun hat das Theater Augsburg
den „Kandaules“ nicht nur reanimiert, sondern inszenatorisch so zugespitzt und musikalisch so fulminant wiedergegeben, dass das Ergebnis ausstrahlen dürfte über Süddeutschland hinaus. Dieser „Kandaules“ spielt in einem west-östlichen Zwischenreich, in einem muslimischen Land, da die Königin
Burka trägt (Kostüme: Annette
Braun), der König aber neben regelmäßigen Festgelagen auch Anschluss an die internationale zeitgenössische Kunst sucht: Eine drapierte Installation aus antiken Säulen und Kiefernlatten rund um einen
Haufen goldenen Tischgeschirrs demonstriert eine gewisse Weltläufigkeit am Hof (Bühne: Paul Zoller).
Gern greift man auch mal (im 1.
Akt) zum Künstlerpinsel und (im 3.
Akt) zur Dichterfeder. Aber nicht
im Übermaß, denn Fressen und
Saufen geht im engsten KandaulesZirkel mit sieben HofschranzenGnomen eindeutig vor. Entsprechend ist bei ihnen das Alberne, ja
das Debile fortgeschritten. Wohl
trachten Kandaules und seine Kumpane mit Grapschhänden und übergroßen Ohren noch nach einer Steigerung sinnlicher Eindrücke, doch
alles Feingeistige ist ihnen bereits
flöten gegangen (Regie: Søren
Schuhmacher nach konzeptionellen
Ideen Lorenzo Fioronis).
Gut möglich, dass es der Intendantin und Produktionsdramaturgin
Juliane Votteler wesentlich war,
eine Volte zu schlagen zum Finale
des symbolreichen Abends: Nyssia
zerreißt nicht nur librettogegeben
und emanzipatorisch ihren Schleier;
sie bemächtigt sich auch des Zauberrings, der unsichtbar macht.
Wenn sie dann in der letzten Szene
ihren neuen Mann Gyges besteigt,
vormals ein fundamentaler Christ,
wird dessen erwachte schönheitsverschlingende Augenlust regelrecht gegenstandslos sein. Eine Rache, ein Akt der Befreiung Nyssias.
Das sitzt.
Was die Inszenierung aber noch
überragt, das ist die nachgerade
schwül-narkotisierende
Klangpracht der Augsburger Philharmoniker unter ihrem neuen Chefdirigenten Domonkos Héja, der gleich
zum Operneinstand hohe Suggestivkraft entfaltete, insbesondere im
nächtlich-knisternden 2. Akt und
im tödlichen 3. Akt. Hätte sein Vorgänger den Abend wohl vorangepeitscht, so ließ Héja die Partitur
brodelnd „kommen“. Phantastisch
Sally du Randt als eine in den entscheidenden Momenten perfekt mit
dem Orchester verschmelzende
Nyssia; ganz groß Oliver Zwarg als
Gyges mit baritonal-dramatischem
Kern; groß die Leistung des sich
sängerisch-seelisch entäußernden
Mathias Schulz in der tenoralen Titelrolle. Den akklamierten Abend
kann man mit Gewinn mehrfach hören und sehen.
O Nächste Aufführungen 1., 14., 25.
Oktober
Wer achtet der Kunst?
100 große Gedichte – zweite Lieferung
(37)
EDUARD MÖRIKE
Auf eine Lampe
Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Epheukranz von goldengrünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschaar den Ringelreihn.
Wie reizend Alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild der ächten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
VON GÜNTER OTT
An diesem Gedicht Eduard Mörikes
hat sich in den 1950er Jahren ein
exemplarischer Streit entzündet,
genauer: am mehrdeutigen Wort
„scheint“ der letzten Zeile. Die Protagonisten waren der Literaturwissenschaftler Emil Staiger und der
Philosoph Martin Heidegger. Ersterer verstand „scheint“ als Anschein:
Es scheint so – als ob (lateinisch videtur). Letzterer las „scheint“ als
leuchtet (lat. lucet). Es ging in dieser
Auseinandersetzung, in der sich eine
stattliche Reihe weiterer Germanisten zu Wort meldete, um Sein und
Schein, um das autonome Kunstwerk und seine Wahrnehmung.
Die Wahrnehmung lenkt in unserem Fall das Augenmerk auf den lyrischen Sprecher. Er ist von Beginn
an greifbar, wendet sich zuerst der
Lampe zu und stellt dann – an den
Leser adressiert – die Frage nach ihrer Beachtung. Das 1846 entstandene Gedicht ist eine Huldigung. Mörike (1804 – 1875) liebte in seiner
Lyrik rühmende Anreden. Hier
führt er sie sogleich in die Emphase
des herausgehobenen Gegenstandes:
„o schöne Lampe“. Sie schmückt,
hat die Zeiten unbeschadet („unverrückt“) überstanden. Mörike evoziert die Aura des Schönen. Als dessen Attribute bestimmt er das
Leichte, Zierliche, das Maßvolle
und Harmonische. Die schöne
Kunst vollendet
sich im Kreis, in
suggestiver Folge
angezeigt in der
Marmorschale,
im Efeukranz, im
Ringelreihen der
Kinder, schließlich zusammengeEduard Mörike
fasst im Ausdruck
„ergossen um die ganze Form“.
Das Gedicht (im reimlosen jambischen Sechsheber) liest die anmutige
Balance nicht allein der Lampe ab
(„lachend, und ein sanfter Geist des
Ernstes“), sondern findet sie auch
im Ineinander des fernen, nicht
ohne Wehmut erinnerten Museumsstücks (fast vergessnes Lustgemach: eine antikisierend-erotische
Assoziation) und seiner durch die
Wiedergabe nahegelegten ästhetischen Aktualisierung. Der Dichter
entreißt die schöne Lampe der Vergessenheit und formt sie im Gedicht
zum „Kunstgebild der ächten Art“.
Dieses wird abschließend zur Sentenz gegossen und findet eine letzte
Abrundung in der doppelten Alliteration „schön“/„scheint“ und „selig“/„selbst“.
Wie soll nun der anfangs skizzierte Streit entschieden werden? Mörike betont in seinem Gedicht auffallend die Sprecherinstanz. Sie spitzt
sich zu in einem Ausrufe- und in einem Fragezeichen: „Wie reizend
Alles!“ und „Wer achtet sein?“ (gemeint: des Kunstgebildes). Dichtung, Kunst, Schönheit will wirken.
Mörike spricht der Kommunikation
das poetische Wort. Er verbindet
mit der Kunst und mit ihrer Erkenntnis allerdings einen hohen Anspruch. Wie zur Verdeutlichung
sagt er in einem Brief, nur durch die
schöne Form komme ein schöner
Gedanke, ein schönes Gefühl zur
Erscheinung.
Das von den Domsingknaben, dem
Residenzkammerorchester München und diversen Solisten Dargebotene schlug einen weiten Bogen
durch die Musikgeschichte. Gerahmt vom unumstrittenen Herrscher sakraler Barockmusik: Bach.
Zum Auftakt, in dem traditionell die
Männerstimmen der Domsingknaben agieren, erklang auch Orlando
di Lasso: Zwei Bußpsalmen und die
Missa super nahmen die Zuhörer
mit in die Welt der Renaissancemusik. Das Männerstimmenensemble,
Solisten und gregorianische Antiphon des Chors vollendeten sich in
den Bußpsalmen di Lassos zu perfekter Harmonie. Bis ins kleinste
Detail ausgearbeitet, machten die
Sänger die Gefühlslagen von Gläubigen zwischen Hoffen und Bangen,
Angst und Jubel direkt erfahrbar.
Dazwischen instrumentaler Hörgenuss: zwei Sonaten der von Bach neu
geschaffenen Gattung für Violine
und Cembalo mit Reinhard Kammler und Peter Riehm, Konzertmeister des Residenzkammerorchesters.
Wolfgang Amadeus Mozart
im Festival-Zentrum
Der Domkapellmeister und Domsingknabenchef Kammler verzichtete beim Festival auf Chronologie
und stellte den jüngsten seiner erwählten Komponisten-„Giganten“
in den Mittelpunkt. Der zweite
Abend war zur Gänze Mozart gewidmet. „Misericordias Domini“,
bot nach den Herausforderungen
der Renaissancemusik abermals die
Möglichkeit, absolute Exaktheit
und perfekte Feinabstimmung zu
zeigen. Und mit dem Requiem in
d-Moll setzte Kammler einen glanzvollen Schlusspunkt, in dem die
Knabensolostimmen in Gemeinschaft mit Tenor (Gerhard Werlitz)
und Bass (Diogo Mendes) brillierten
und der Domsing-Kammerchor
Qualität bewies. Mit der Wahl einer
Sinfonie, der letzten „Jugendsinfonie“ als Instrumentalteil, sprachen
die Musiker andere Sinne an, brachten neue Aspekte aus Mozarts reichem Repertoire.
Jubel und Jauchzen
zum Finale
Dramatisch schließlich wurde es
zum Finale, das den beiden Antipoden der Barockmusik gewidmet
war. Bach, dem protestantischen
Kirchenmusiker (Kantate „Gott der
Herr ist Sonn und Schild“), Händel,
dem höfisch geprägten Komponisten mit einer Auswahl seiner bekanntesten
Instrumentalstücke
(„Wassermusik“/„Feuerwerksmusik“/„Concerto Grosso Nr. 6) und
Arien aus dem Messias. Diogo Mendes melodischer Bass und Stefan
Steinemanns auch in den höchsten
Lagen noch wohlklingender Altus
zogen die Zuhörer in die intendierten Gefühlslagen: Trauer und Erregung. Dann die geniale Auflösung:
Halleluja. Das Jubeln und Jauchzen
in Händels wohl bekanntestem Choral erfüllte wie eine große Erlösung
den Raum.
Der Begeisterungssturm des Publikums wurde mit einem Dacapo
des Halleluja belohnt, das eine beglückte Zuhörerschar entließ.