mal bei „pegida“ klingeln?

AUSGABE NR.
MAGAZIN
MAGAZIN
FÜR
BEWEGUNG,
FÜR BEWEGUNG,
MOTIVATION
MOTIVATIONUND
UND
DIE
NACHHALTIGE
DIE NACHHALTIGE
KULTIVIERUNG
KULTIVIERUNG
DER
DERREGION
REGIONROSTOCK
ROSTOCK
stadtgespraechestadtgespraeche-rostock.de
rostock.de
ISSN
ISSN0948-8839
0948-8839
ERSCHEINT
ERSCHEINT
QUARTALSWEISE
QUARTALSWEISE
SEIT
SEIT1994
1994
FOTO: TOM MAERCKER
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MAL BEI „PEGIDA“ KLINGELN?
20. JAHRGANG /////____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €
FOTO: FRANK SCHLÖSSER
In Rostock erfolgt der Umgang mit vielen denkmalgeschützten oder andere identitätsstiftenden Artefakten
fragwürdig oder gar verantwortungslos. Bei einer nächtlichen Kunstaktion hat die Rostocker Gruppe
„CrowdLabor“ die „Heinkel-Mauer“ im Februar symbolisch besetzt, um gegen deren Abriss zu protestieren.
Mehr dazu: www.bit.ly/1LUVgAJ
00. 1
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EDI TORI A L | INHALT
Inhalt dieses Heftes
Dass die Beschäftigung mit dem
Thema PEGIDA zu einem regelrechten Schwerpunkt des aktuellen Hefts geworden ist, hatte die
Redaktion gar nicht geplant. Eher im Gegenteil: Im Zuge der Planung unserer 78. Ausgabe diskutierten wir lange, ob wir es, in der Presse schon
überreichlich behandelt, überhaupt aufgreifen. Und stießen dann doch auf
mehrere Punkte, die wir vor dem Hintergrund des schnellen ROgida-Ersterbens für erörternswert hielten. Daraufhin wurde einhellig beschlossen,
verschiedene Akteure, vor allem jene Generation, die vor 25 Jahren die
Maxime „Wir sind das Volk“ zu ihrer erklärt hatte, zum Ro- und Pegida zu
befragen – und die Rückmeldungen waren dann so zahlreich, dass wir sie
in ihrer Vielfalt abbilden möchten.
Wenn es eine Mehrheitsmeinung der Beiträge gibt, ist es der: Skandalisierungen, Ausgrenzungen, Stigmatisierungen sind der falsche Weg des Umgangs mit dem „Phänomen“ – Ursachenforschung sei vonnöten. Und Gespräche mit jenen, die in ihrem Engagement für Pegida nun endlich einmal greifbar und wahrnehmbar würden. Heißt, auf Rostock umgemünzt,
nichts anderes als: Stadtgespräche führen…Sagen wir ja. ;-)
Titelthema "PEGIDA"
Olaf Reis: Leidkultur, Rassentiments . . . . . . 6
Peter Köppen: PEGIDA, Meinungsfreiheit
und Abgrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
_PEGIDA – Nie wieda!: Weihnachtsgruß
von Neunundachtzigern . . . . . . . . . . . . . . . 15
_Martin Klähn: Fußnote . . . . . . . . . . . . . . . . 17
_Dietlind Glüer: Mehr Fragen als ... . . . . . 17
_Christoph Kleemann: Warum ich den Text
der Bürgerbewegten von 1989 so nicht ... 18
_Fred Mahlburg: „GEGEN“ IST LEICHTER . 19
_Jochen Cotaru: Pegida ist Deutschland
ist Lichtenhagen ist Solingen ist ... . . . . . . 19
_Christoph Kelz: Aufklärung……? . . . . . . . 20
_RISING: An die _Scheinheiligen . . . . . . . . 21
_Rede von Heiko Lietz | Offenes Forum . . 22
Cornelia Mannewitz: „Rogida“ . . . . . . . . . . . 24
Gespräch mit Steffen Wiechmann vom
„Freundeskreis Maritimes Erbe Rostock“ . 26
Oliver Bilke-Hentsch: Grüezi TAKRAF . . . . 31
M. Dettmann: „Bau Deine eigene Stadt“ . . 32
Open Fair Brunches in Rostock . . . . . . . . . . 34
Ulrich Hammer: Eine hohe Auszeichnung
für Michael Bräuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Kunstprojekt SCHÖN_NICHTSCHÖN (Tüten) 38
Rezension von Ch. Körner: Harte Kost. . . . 39
J. Langer: Adieu, wunderbare Freundin . . . 40
FOTO: FRANK SCHLÖSSER
Liebe Leserinnen
und Leser,
Harri Engelmann: Jastrams Pferd & ... . . . . . 2
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Zur Kritischen Uni: Viel Lärm um nichts? . . . 4
Auch die „Möwe“ wird demontiert
FOTO: TOM MAERCKER
STADTGESPRÄCHS-Kolumne „Elmsfeuer”
Jastrams Pferd &
Fisherman’s Friend
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KOLUMNE ELMSFEUER | IMPRESSUM
HARRI ENGELMANN
Niemand käme wohl auf die Idee, ein modernes Raketentriebwerk oder einen Großrechner zu beurteilen. Schon gar nicht aus dem Bauch heraus oder dem Augenschein
nach. Es sei denn, es handelt sich um wissbegierige Menschen die Lust verspüren, sich
in Parametern zu versteigen. Gleiches gilt für die bildende Kunst: sie ist ebenso komplex und uralt wie die Technik. Dennoch wird sich über moderne Ableger munter
hergemacht. „Das kann ja meine Tochter besser“, hörte ich oft, „und die ist erst vier.“
Wer den Stab brechen will, muss sich auskennen. Es reicht nicht, eine Fahrerlaubnis
zu besitzen, einen Kettensägeschein, Sekretärin oder gar Arzt zu sein.
Früher konnten die noch richtig malen? Früher gab es Pferdefuhrwerke, dann Verbrennungsmotoren, später Turbinen. Die Griechen entdeckten die Perspektive, verschmähten sie jedoch. Vasen boten wenig Platz für Räume. Die Römer peppten ihre
Wände mit Sichtillusionen auf, doch bereits im frühen Mittelalter war dieses Wissen
wie weggeblasen. In der Renaissance hatten sie den Bogen raus. Wir erstarren noch
heute vor den Werken flämischer Maler. Dann kam die Fotografie, und mit ihr die
Perfektion der Wiedergabe. Also scherten sich die Künstler einen Teufel um das, was
jeder zu sehen imstande ist, und begannen zu experimentieren: Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, trallala. So geht das.
Eine übliche Tradition: dass sich Interessierte auf Vernissagen und Galerien tummeln.
Wobei nicht auszuschließen ist, dass sich mancher die Kunst wie eine bunte Feder ins
Haar steckt – immerhin ein Zeichen von Respekt. Auch das ist in Ordnung: Jemand
steht vor einer Skulptur, kratzt sich am Kopf, grübelt: „Wieso sind die Arme länger als
die Beine? Und was ist mit der Hackfresse und den Glubschaugen darin, was!“ Kunst
kann und muss nicht jeden erreichen. Zweifeln ist besser als nachbeten. Das mit dem
stillen Zweifel ist allerdings vorbei. Nachdem sie in Rostock Jo Jastrams Pferdeskulptur aufstellten, dröhnte es im Internet: hässlicher Schrotthaufen! Kann der kein richtiges Pferd? Warum ein Pferd? Wir sind eine Hafenstadt! Wir sind das Volk! Das
kriegt meine Tochter zehnmal besser mit Knete hin …
Ich spiele mal den Erklärbären: Das Pferd als Wegbegleiter in die Zivilisation. Ein
Pflanzenfresser, Fluchttier, erkennbar an den seitlich sitzenden Augen, abgerichtet,
um uns Frontblicker zu tragen, Raubtiere, und im Kriegsfall gegen Artgenossen anzustürmen. Aber auch, um zu schleppen: schweres Geschirr, Kanonen, Pflüge. Über
Jahrtausende eine Männerdomäne, dann von wuchtiger Technik beiseite gedrängt,
um schließlich von Pferdeflüsterern und Frauen rehabilitiert zu werden. Jastrams Abbild weist, teils bedrohlich, teils respekteinflößend, auf unser aller Dasein hin.
Daher das grobe Material, die poröse Oberfläche, das starre Raumgreifen, das eisernrostige Wiehern. Das kriegt man mit Disneypferdchen nicht hin. Wer die will, muss
sich welche ausdrucken lassen. Die gibt es doch schon: 3D-Drucker. Die machen das:
glatt, glänzend, niedlich. Auch Drucker entwickeln sich, oder? Um ein Buch zu lesen,
muss man die Sprache beherrschen. Um ein Kunstwerk zu beurteilen, muss man gar
nichts können? Man muss nicht müssen, man kann sich abwenden, weil es einen
nicht erreicht. Das ist wie bei der Werbung für Fishermans Friend: Ist es dir zu stark,
bist du zu schwach.
Überliefert ist, dass der Maler Mattheuer vor Ärzten einer sächsischen Klinik eines
seiner Bilder vorstellte. Zusammen mit einer Kunstexpertin. Ein Professor fragte süffisant, was dieses „kleine weiße Männel“ da unten links bedeute. Die Expertin wollte
für den Meister sprechen, doch der Professor winkte ab: Der Künstler solle antworten, der habe doch sicher Abitur, sei nicht auf den Kopf gefallen, oder? Dabei grinste
er, und auch die Ärzte um ihn herum feixten. Mattheuer beugte sich weit nach vorn,
starrte minutenlang sein Bild an, lehnte sich zurück und meinte: „Tut mir leid, den
Wicht sehe ich zum ersten Mal.“ ¶
Impressum
STADTGESPRÄCHE Ausgabe Nr. 78:
„Mal bei ‘PEGIDA’ klingeln?“
Ausgabe März 2015
(Redaktionsschluss: 27. Februar 2015)
Herausgeber
Stadtgespräche e.V. in Zusammenarbeit mit der
Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft e.V. Rostock
Redaktion und Abonnement
Stadtgespräche e.V.
PF 10 40 66
18006 Rostock
Fax: 03212-1165028
E-Mail: [email protected]
Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de
Verantwortlich (V.i.S.d.P.):
Dr. Kristina Koebe
Tom Maercker
Redaktion:
Dr. Kristina Koebe
Tom Maercker
Dr. Peter Koeppen
Dr. Jens Langer
Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet und werden von den Autorinnen und
Autoren selbst verantwortet.
Layout: be:deuten.de //Kreativagentur
Mediadaten:
Gründung: 1994
ISSN: 0948-8839
Auflage: 250 Exemplare
Erscheinung: quartalsweise
Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)
Herstellung: KDD
Anzeigenpreise (Kurzfassung)
(ermäßigt / gültig für 2015)
3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis):
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4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €
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Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5
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KRI TI SC HE UNI
Viel Lärm um nichts?
Von Phantomen und ihren Regisseuren
XENI_A DIENEMANN, KATJ_A KOCH UND STEFFEN KAMML_ER
Alan Smithee ist wohl der produktivste Regisseur der Welt und das, obwohl es ihn gar nicht gibt. Wie das möglich ist?
Alan Smithee ist eine Art Sammel-Pseudonym, das Regisseure
benutzen, wenn sie nicht wollen, dass ihr eigener Name im Abspann eines Filmes zu sehen ist – meistens, weil sie mit dem Ergebnis unzufrieden sind. Nun hat Mr. Smithee ein Geschwisterkind bekommen, das zugleich Bruder und Schwester und
nicht nur ebenso produktiv wie Alan ist, sondern auch ebenso
unglücklich mit den Ergebnissen der eigenen Bemühungen zu
sein scheint, denn das Geschwisterkind hört auf den Namen
Frank_a Schmidt, ebenfalls ein Pseudonym.
Frank_a Schmidt dreht jedoch keine Filme, sondern prangert
in unregelmäßigen Abständen vermeintliche Missstände an der
Universität Rostock und in der Welt überhaupt an. Manchmal
diffamiert Frank_a auch einfach nur Personen, die an der Uni
arbeiten und fordert deren Berufsverbot. Als Werkzeug für diesen Zweck hat Frank_a Schmidt die sogenannte „Kritische
Uni“ erfunden, die sich selbst als „Initiative“ versteht. Man
könnte vermuten, dass es sich bei einer „Initiative“ um eine
Gruppe handelt, die Anstöße zu Handlungen geben will, mit
dem Ziel, Probleme zu beheben. Vielleicht aber handelt es sich
auch nur um den Feldzug einer einzelnen Person. Frank_a
Schmidt kann letztlich genauso gut jede wie keiner sein.
Unklar bleibt ebenfalls, in welchem Sinn die „Initiative“ kritisch ist. Man kann Kritik entweder im eigentlichen Sinn des
Wortes verstehen als prüfende Beurteilung durch differenzierendes Denken oder aber – umgangssprachlich – als Bemängelung oder Beanstandung, als ein Nörgeln an bestehenden Verhältnissen. Eine Kritik im ersteren Sinn – die im universitären
Rahmen durchaus angebracht und zu erwarten wäre – ist in
den Flugblättern und sogenannten Presseerklärungen von
Frank_a Schmidt jedenfalls nicht erkennbar.
Dabei wären einige der Themen, die von der „Initiative“ angesprochen werden, durchaus bedeutsam für eine echte kritische
Auseinandersetzung mit dem Universitätsbetrieb. Zu nennen
wären hier exemplarisch Rolle und potentieller ideologischer
Einfluss der Burschenschaften an den Universitäten. Dass, wie
die „Initiative Kritische Uni“ feststellt, verschiedene Dozenten
der Universität im Kontext von Burschenschaften aktiv sind,
ist zunächst sachlich nicht falsch. Mit dieser Feststellung aber
wird gleichzeitig die Unterstellung verbunden, dass es dadurch
notwendig zu einer ideologischen Indoktrination von Lehre
und Forschung komme. Dies ist aber ein Fehlschluss, denn zu
meinen, dass jemand, der Mitglied in einer Burschenschaft ist,
nicht differenziert und mit professioneller Distanz Wissenschaft betreiben könne, ist logisch falsch.
An dieser Stelle wird deutlich, dass die „Kritische Uni“ eben
nicht kritisch differenzierend betrachtet, sondern Probleme geradezu holzschnittartig darstellt. Das ist schade, denn die Frage, ob dieses Gedankengut von Burschenschaften an der Universität tatsächlich spürbar wird, wäre es durchaus wert, offen
diskutiert zu werden, da es in Burschenschaften unzweifelhaft
Tendenzen zu sexistischem und nationalistischem Gedankengut gibt. Eine solche Gesinnung aber pauschal allen Personen
zu unterstellen, die im Burschenschaftskontext aktiv sind, ist weder
redlich noch diskursfördernd. Und,
Redlichkeit vorausgesetzt, nur um
einen solchen Diskurs in Form einer
fairen problemorientierten Diskussion kann es ja gehen, und nicht um
Zensur oder gar Berufsverbot.
stimmung „Textanalyse“ unzulässig mit „Spionage“ gleichgesetzt, sondern es werden, trotz Verweis auf verlässliche Quellen,
die dort zu findenden Informationen verkürzt bzw. falsch dargestellt. Vor allem aber gibt es keinerlei Zusammenhang zur
Philosophischen Fakultät.
Dieses Vorgehen ist exemplarisch für die Aktivitäten der „Initiative“: Verschiedene unsauber recherchierte und halbwahre
Informationen werden sehr gezielt miteinander kombiniert
und so zu scheinbaren Kausalketten verbunden. Mit weichen
Formulierungen entzieht man sich dabei geschickt jeglicher
Gefahr, später auf unhaltbare Behauptungen festgelegt werden
zu können. „Diese Tatsachen legen nahe“ kann immer bedeuten, dass alles auch ganz oder wenigstens etwas anders ist. Und
ganz anders ist es in der Tat. Wäre die „Kritik“ auch nur ansatzweise angekränkelt durch Kenntnis der
Universitätsstrukturen, müsste z. B.
klar sein, dass die Fakultäten einer Universität grundsätzlich autonom agieren.
Eine echte „Kritische Uni“
wäre ein Gewinn für jede
Universität.
Auch andere wichtige Themen
werden von der „Initiative“ aufgegriffen, dabei aber im Laufe der Zeit umbewertet und bis zur
Unkenntlichkeit entstellt. Deutlich zeigt sich dies am Beispiel
der Snowden-Diskussion, die durch den Rat der philosophischen Fakultät Anfang 2014 angestoßen worden war. Ziemlich
schnell nach Bekanntwerden des Vorhabens erreicht den Fakultätsrat ein offener Brief, in dem das Vorhaben der Philosophischen Fakultät als „billiger PR-Gag“ abgetan wird. Es handele
sich um „Doppelmoral“, wenn man Edward Snowden und seine weltweiten Verdienste um die Aufdeckung der Gefahren
von Überwachung ehren wolle, anstelle zunächst „vor der eigenen Haustür zu kehren“.
Hintergrund der Vorwürfe ist eine mutmaßlich an der Universität Rostock entwickelte Software und deren ebenso mutmaßliche Konzeption für Bundeswehr und BND. Behauptet wird,
dass es sich bei dieser Software namens „Textrapic“ erstens um
eine Überwachungssoftware handele, die zweitens in Kooperation der Universität mit Bundeswehr und BND und drittens
mit dem Ziel, „das gesamte Internet zu überwachen“ entwickelt
worden sei. Mit dieser Software, so die „Kritische Uni“, unterstütze die Universität die „Bestrebungen der deutschen Geheimdienste, mit der NSA gleichzuziehen“. Was hier in halbwahren Fakten zu einer scheinbaren Kausalkette aneinandergereiht wird, ist in der Summe schlicht falsch. Tatsache ist, dass es
sich bei „Textrapic“ um eine am „Institut für grafische Wissensorganisation“ entwickelte, freiverkäufliche Software zur Analyse größerer Textmengen handelt, die keinesfalls originär für
Bundeswehr und BND entwickelt, sondern nach Fertigstellung
offenbar (unter anderem) von Bundeswehr und BND gekauft
worden ist. Außerdem ist das „Institut für grafische Wissensorganisation“ kein Institut der Universität, sondern eine Ausgründung. Dabei wird nicht nur die ursprüngliche Zweckbe-
Um das aufzudecken, braucht es keine
tiefgehende Recherche und auch keinen Hobbyjournalismus mit investigativer Attitüde, sondern lediglich einen
Blick in die Statuten der Universität.
Gerade an der Snowden-Angelegenheit zeigt sich, dass eine Fakultät und die Leitung einer Universität diametral entgegengesetzte Positionen vertreten können. Dem Rat der Philosophischen Fakultät dafür „opportunistischen Konformismus“ vorzuwerfen, sagt mehr über die „Kritische Uni“ als über die Mitglieder des Fakultätsrates, die nicht nur im Diskurs mit ihrer
Universitätsleitung, sondern auch gegenüber der Öffentlichkeit mit ihren Namen zu ihrem Vorhaben stehen.
Zum Schluss bleibt eigentlich nur noch die Frage: Warum setzen wir uns überhaupt mit dieser „Initiative“ auseinander? Weil
die „Kritische Uni“ ein Phantom ist, das sich als moralische Instanz inszeniert, indem sie unter dem Deckmantel eines moralingetränkten Gutmenschentums bei willkürlicher Setzung von
unhinterfragbaren Normen urteilt und verurteilt. Paradoxerweise greift sie dabei auf ein Methodenrepertoire zurück, das
die Erinnerung an totalitäre Regime nahelegt: anonyme Diffamierung, öffentliche Stigmatisierung und Übergriffe auf die
Privatsphäre.
Eine echte „Kritische Uni“ wäre ein Gewinn für jede Universität. Leider vergibt die „Initiative“ an der Universität Rostock
diese Chance nicht nur, sondern sie diskreditiert das Anliegen
sogar. Wenigstens aber ist sie dabei so ehrlich – das legt zumindest das Verstecken hinter dem Pseudonym Frank_a Schmidt
nahe – dass die von ihr produzierten Ergebnisse wie ein
schlechter Film, eigentlich nicht vorzeigbar sind. Damit zeigt
Frank_a sich als echtes Geschwisterkind des ebenso omnipräsenten wie nichtexistenten Alan Smithee. ¶
FOTO: TOM MAERCKER
OLAF REIS
Leidkultur,
Rassentiments
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TI TELTHEMA | PROLOG
Ich besitze einen Wandspiegel, 30 x 45 cm, den mir die „Dissozialen“ des VEB Möbelkombinates Zeulenroda schenkten, als
ich dort ein Betriebspraktikum absolvierte. Sie hatten ihn in
der Produktion geklaut und fanden, dass der arme Psychologiestudent so etwas brauchen würde. Der Spiegel hing 1989 in der
östlichen Altstadt und dort beklebte ich ihn mit einem Sticker,
den die NNN verteilt hatte, darauf stand WIR SIND DAS
VOLK. Ab und an finde ich den Spiegel wieder, dann frage ich
ihn jedes Mal, wer das Volk in diesem Land sei. Der Spiegel
bleibt stumm, nur mein Gesicht wird älter.
Wer und wo ist das Volk, das ist eine der interessanteren Fragen, die die Dresdner Spaziergänger gegen die Islamisierung
des Abendlandes aufwarfen. In den Gegen-Gegen-Demonstrationen verwahrten sich die ehemaligen Volksrufer gegen die
Nutzung des Slogans zur 1989er Selbstbehauptung. Wolfgang
Thierse machte geltend, dass die Zeile sich seinerzeit auf die
Abschaffung einer Diktatur bezogen habe, während sie nun
Ausdruck von Rassismus und Ausgrenzung sei. Natürlich hat
Herr Thierse Recht und doch nutzt er ein moralisches Argument, um das Volks-Wort zu begründen und die Pegida-Nutzung zu diskreditieren. Doch wer ist das Volk? Die meisten?
Schon 1989 wurde mit dem Slogan „Wir sind das Volk“ mindestens ein Fünftel der damaligen DDR-Bevölkerung nicht mit
gemeint. Und heute meint ein erheblicher Teil der deutschen
Bevölkerung, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Der
sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich selbst sagte, der
Islam gehöre nicht zu Sachsen, worauf die GegendemonstrantInnen skandierten, dass der „Stanislaw“ wohl auch nicht zu
Sachsen gehöre. In anderen Worten: die rassistische Konnotation des Spruches auf meinem Spiegel ist keine randständige
Idee, sondern tiefer in der Bevölkerung verankert, als sich das
die enttäuschten ErzieherInnen der Nation träumen ließen.
Schlimmer aber noch: Die Pegidisten machten Front gegen
Thierse und alle anderen PolitikerInnen, wie seinerzeit die 89er
gegen das SED-Regime. Diese Politikverdrossenheit hat ihre
Ursachen, von denen ich einige abschätzen möchte.
NBL: Demokratisierung von rechts
Meine Hauptthese ist, dass sich erhebliche Teile der ostdeutschen Bevölkerung in der gegenwärtigen Demokratie nicht heimisch fühlen. Das ist nicht verwunderlich, wenn bedacht wird,
dass es sich bei unserer Demokratie nicht um eine genuine (erstrittene) Struktur handelt, sondern um eine verordnete ostdeutsche Nachahmung der westdeutschen Nachahmung der
amerikanischen Demokratie. Die Aneignung der westlichen
Demokratie erfolgte in der BRD über Links: Die Studentenunruhen der 1960er und 1970er Jahre betrafen vergleichsweise
nur wenige Akteure und doch gelang es diesen, trotz der eher
undemokratischen Tradition der Deutschen eine Meinungsführerschaft zu erringen.
Diese Meinungsführerschaft ergab sich zum einen aus der Kollaboration von studentischen AktionistInnen und linksliberalen Denkern, die in Deutschland durch ihr Exil im Dritten
Reich legitimiert waren. Zum zweiten aber war die Aneignung
der Demokratie eine Austreibung der Nicht-Demokraten. Hier
lag das „westdeutsche Sonderthema“ der 1969er, der unbewältigte Faschismus. Dieses Generationenthema betraf jeden,
denn damals gab es überall in Westdeutschland Nazis: in den
Aufsichtsräten, auf Familienfeiern, im Auswärtigen Amt, im
Deutschunterricht, in den Gerichten – überall. Überall konnte
sich „Jugend“ als Anti-Alt und antinational, antikonservativ,
antiklerikal, antifaschistisch oder anders Anti konstruieren.
Die Meinungsführerschaft der Antis war umso erfolgreicher,
als dass sie die Jugend als neues Marktsegment der Wohlstandsgesellschaft erschloss (dritter Grund für den Erfolg der 68er).
„Anti“ wurde zu „individuell“ positiviert und erreichte damit
die Unabhängigkeitserklärung der USA. Deren „pursuit of
happiness“ wurde nun auch in Deutschland als Ausdruck des
Individuellen innerhalb des Demokratischen verstanden. „Sei
wer du bist“ und andere Zirkularitäten machten die Runde und
setzen seither deutschen Unternehmergeist ebenso frei wie
deutschen Konsum oder deutsche Kunst.
Im Osten sah das anders aus. Die Übernahme der westdeutschen Strukturdemokratie (wir sind EIN Volk) schuf das oft
beschworene „Akteursdefizit“ in der Ausgestaltung der Demokratie der neuen Länder. Das was Joachim Gauck die „Weisheit
des Volkes“ nannte (oder so) - der möglichst schnelle „Anschluss“ - schuf von Beginn an eine Entfremdung von Struktur
und BürgerInnen. Diese Entfremdung ähnelt durchaus jener,
die sich die junge BRD mitsamt Marshall-Plan und Reparationsverzichten einkaufte: damals Geldsegen für „amerikanisches“ Verhalten, 1990 Soli für westdeutsches Verhalten. Das
fiel den westdeutschen Jugendlichen nach dem Kriege leichter
als 40 Jahre später den ostdeutschen. Die GIs versüßten ihr nation building, die Nürnberger Prozesse und die Freiheit mit
Jazz, Cola und Zigaretten, dem passenden style. Das war in
Ostelbien zunächst ähnlich. Der style der 1980er, samt Hedonismus, Zweitwagen und Mallorca, ließ sich übernehmen. Anders als in der jungen BRD aber wurde das Generationenthema
in Ostdeutschland auf zweifache Weise „nur“ strukturell bewältigt: Was sonst die Familienfeier oder das Amtsgericht gesprengt hätte, wurde nun von der Gauck-Behörde „bewältigt“.
[Ich bitte, nicht missverstanden zu werden: Das Stasiunterlagengesetz und die zugehörige Behörde gehören zu den größten
zivilisatorischen Errungenschaften der neuen deutschen Republik und sollten nie abgeschafft werden. Mir ist bewusst dass in
der Gauck-Behörde weniger bewältigt als vielmehr informiert
wird.] Damit schuf auch diese „moralische Behörde“ ein Akteursdefizit bei der Entwicklung einer eigenständigen Moral:
Wer in den Akten nachsehen kann, muss die Älteren nicht
hochnotpeinlich befragen. Eine Behörde vertritt Konstruktionen des „Richtigen“ und des „Falschen“, die „Jugend“ muss sie
nur noch übernehmen. Zum Zweiten wurde mit der PDS ein
Paradoxon geschaffen und die institutionalisierte Verbindung
von linker Gesinnung, Elterngeneration und Traditionalismus
in der neuen Demokratie offen verankert. Damit wurde das
Generationenthema, nach Karl Mannheim ein wesentlicher
Mechanismus der Gegenwartsaneignung, für die NBL geschwächt. Schließlich gab es auch keine Denker, die Ostdeutschland so erklärten, dass sich daraus eine Revolte formen
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TI TELTHEMA | PROLOG
ließe. Wolle, Engler, und die historische Enquete … statt Adorno, Bloch, Horckheimer, Marcuse, Mitscherlich.
Doch auch über das Thema des selbst zu schaffenden Wirtschaftswunders, wie es im Westen noch gegolten hatte, ließ sich
die Demokratie nicht aneignen. Mit den „blühenden Landschaften“ hatte der Kanzler der Einheit ein irrationales, populistisches Element in den Diskurs gebracht, welches als Heilsversprechen falschverstanden wurde. Das Wunder blieb in diesem
Fall aus, bis heute ringt der deindustrialisierte Ostteil Deutschlands um Subsidiarität – ohne dass man es ihm ansehen würde.
Damit fehlt ihm eine wesentliche Voraussetzung für die Aneignung westlicher Demokratiewerte, die Autonomie (deren
zweitwichtigstes Symbol in den USA das Tragen einer Waffe
ist, dazu ein anderes Mal). Die paternalistische Irrationalität des
Vereinigungskanzlers setzte sich im
populistischen Führerstil des SPDKanzlers fort. Das Wahlplakat
Schröders, auf dem stand „Der Osten
ist Chefsache“, empfand schon niemand mehr als Verhöhnung der Demokratie.
prägt. Diese stellt Zugehörigkeitskonstruktionen statt Selbstabgrenzung in den Vordergrund und das Seelenhafte gegen die
Moderne. In Ermangelung eines einigenden Gottes wurden für
die Verbundenheit jene Konstruktionen sinnstiftend, die das
19. Jahrhundert als Surrogate des Göttlichen oder Königlichen
zur Verfügung stellte: „Nation“, „Volk“ oder „Rasse“. Benedict
Andersons großartiges Werk zur „Erfindung der Nation“ beschreibt anschaulich, wie im Zuge der Entstehung des Kapitalismus ehemals transnationale Konstrukte (etwa Religion-Latein,
Untertanenschaft) parzelliert wurden in schon damals virtuelle
Realitäten (imagined communities) wie „Nationen“. Die Adhäsivität dieser Kunstwelten überwand sogar Klassenschranken,
worauf sich Führer und Geführte gleich zweimal während des
20. Jahrhunderts in den „Kampf der Nationen“ usw. stürzen
konnten. Den Ersten Weltkrieg hätte es kaum gegeben, wenn
die SPD nicht das „Nationale“ über
das „Soziale“ gestellt und die Kriegskredite bewilligt hätte. Der Kulturverfall vor dem Zweiten Weltkrieg
hatte eben darin bestanden, rational
trennbare Konstrukte wie „Nation“,
„Rasse“, oder „Volk“ zu einem heißen
Brei zu verrühren, der die ungeheure
Kälte des Kapitalismus vergessen ließ.
Die Idee, eine imagined community
wie „Volk“ oder „Nation“ gar zu realisieren, wurde von den Nazis auf die
Spitze getrieben: mit Lebensborn, Euthanasie und Ariernachweis. Und
doch folgt die ach so rational-westliche Nachkriegspolitik der biologistischen Ideologie bis heute. Wer eine
genetische Abstammung von Deutschen belegen kann, ist „Volkszugehöriger“ (O-Ton Bundesvertriebenen- und -flüchtlingsgesetz), auch wenn er nur Russisch
oder Kasachisch spricht. Wer nur die deutsche Sprache kann
oder nur ein Leben hier verbracht hat, ist dem Volk noch nicht
zugehörig. Von derlei Bigotterien und Ungereimtheiten ist die
deutsche Einwanderungspolitik übervoll – ohne dass es hierzu
eine Debatte gäbe. Rechts aber stößt in politikverlassene oder
unordentliche Räume, sowohl geographisch als auch inhaltlich.
Dabei gab es Chancen, diese Felder zu ordnen.
Bei grober Zählung bietet
die Pegida die mittlerweile
vierte Chance, unserer
Demokratie endlich eine
Debattenkultur zur
„Ausländerproblematik“
zu geben.
Seit Beginn der deutschen Einheit
zieht sich eine Kette von Autonomie- bzw. Abgrenzungsversuchen
durch die Geschichte der neuen Länder. Wer konnte, blieb nicht hier und
suchte woanders nach einer lebendigen Demokratie. Die Hiergebliebenen / Nicht-Pendler / Nicht-Schülergetauschten / die EINSPRACHIGEN, kurz: die Abhängigen – sie suchen seit nunmehr 25 Jahren nach einem Platz in dieser Demokratie, dieser Nation, diesem Volk. Sie suchen nach einem Platz
indem sie ihre Abhängigkeit überwinden wollen, sich abgrenzen, ganz wie die westdeutsche Jugend 20 Jahre nach Kriegsende – nur, von wem? Der ehemalige (?) „Deutsche zweiter Klasse“ sucht seit der Vereinigung verzweifelt nach einem Deutschen dritter Klasse. Dazu später. Hier ist zunächst interessant,
dass die Autonomiebestrebungen meistens aus Gruppen heraus
entwickelt wurden (was einem eher östlich-kollektivistischen
Gesellschaftsmodell entspricht) und dabei sowohl innerhalb als
auch außerhalb der demokratischen Grenzen stattfanden. Zu
den erschütternden Grenzverletzungen gehören die Übergriffe
auf AusländerInnen, das Rostocker Pogrom, das Morden der
Zwickauer Zelle. Die auffälligste Autonomiekundgebung innerhalb der Demokratie waren sicher die Gründung und die späteren Erfolge der PDS, zeitlich etwas versetzt dann die Wahlerfolge der NPD in mehreren neuen Bundesländern. Auch die bestenfalls ethnisch begründete Wahl des Rostocker Oberbürgermeisters („wenigstens einer von hier“) gehört zu den Autonomiebestrebungen, und nun eben Pegida.
Diese Aneignung der Demokratie von rechts (auch der Konservatismus der alten PDS-Wählerschaft ist in diesem Sinne
„rechts“) ist dabei nicht westlich-rational, sondern eher von der
Kultur der „östlichen Innerlichkeit“ (Herfried Münkler) ge-
Vertane Chancen
Bei grober Zählung bietet die Pegida die mittlerweile vierte
Chance, unserer Demokratie endlich eine Debattenkultur zur
„Ausländerproblematik“ zu geben. Die erste wurde vergeben als
Friedrich Merz, der das Wort von der „Leitkultur“ aufbrachte,
von der großen politischen Bühne verschwand.
Wir lebten 2002 in den U.S.A. und hatten keinerlei Probleme,
den Merzschen Gedanken aufzunehmen. Nicht ohne ihn zu
brechen – unser Thüringer Räuchermann, der damals seinen
Qualm in eine amerikanische Vorstadt spuckte, heißt seither die
„Leitkultur“. Dennoch. Keiner der Millionen Migranten in den
U.S.A. stellt die Anerkennung einer leitenden Kultur im Aufnahmeland infrage. Diese Anerkennung fußt sowohl auf insti-
tutionellen Regelungen als auch auf Glaubenssätzen. Die Regelungen werden vor allem über den Arbeits- und Ausbildungsmarkt an die Einwanderer gebracht: 1) Beherrsche die Sprache
entsprechend Deiner Aspiration (auf dem Bau braucht es weniger Beherrschung als auf dem College usw.), 2) Sei gesetzestreu,
auch wenn diese Gesetze andere als im Herkunftsland sein sollten (z.B. sind Frauen und Kinder keine Habe). Das reicht.
Daneben aber gibt es Glaubenssätze der Leitkultur, eben den
amerikanischen Traum ( Jimmy Cliff: You can get if you really
want), die individuelle Freiheit usw. Dieser Teil der Leitkultur
wird weniger durch institutionelle Regelungen als durch starke
globale Narrative, durch Vorbilder und Generationenprojekte
innerhalb der Migrantenfamilien transportiert. Wenn man so
will, fokussieren die institutionellen Regelungen auf die Integration, die Glaubenssätze eher auf die Assimilation oder Akkulturation. Der amerikanische Traum klingt wie ein Traum
der Starken. Der deutsche Traum wird nach meinem Erleben
anders erzählt, aber auch er wird von MigrantInnen geträumt:
Sicherheit, kostengünstige Bildung, Gesundheitsfürsorge, sozialer Friede, ein mittelgroßes Glück. Das klingt zunächst nicht
nach einem Traum der Starken. Doch für alle AsylbewerberInnen und viele Arbeitssuchende klingt er paradiesisch. Jeder Migrant weiß derartige Träume zu schätzen, vor allem für seine
Kinder. Nach meinem Erleben gibt es dieses Narrativ der deutschen Leitkultur, aber es ist nicht unbedingt das der individuellen Entgrenzung, sondern es enthält konfuzianische Elemente.
Viele dieser Glaubenssätze der deutschen Kultur (Verantwortlichkeit und Fürsorge, Gemeinschaft und Gesellschaft usw.)
werden seit den neoliberalen Jahrzehnten erdrosselt. Deutschland amerikanisiert sich, allerdings ohne den Traum. Damit
verlieren diese Narrative ihre Aura, ihre Kraft und es finden
sich immer mehr BeschwörerInnen, die eine „gute alte Zeit“
herbeisummen. Immer weniger Deutschen ist bewusst, dass sie
noch im Himmel wohnen, in einer der aufgeräumtesten Puppenstuben dieses Erdballs. Mit Friedrich Merz aber verschwand die Debatte 2002 und mit dem Thema der Leitkultur
der enorm wichtige Unterschied zwischen Integration und Assimilation.
Als 2009/2010 ein Bundesbanker, der in Berlin auch noch Senator war, ein Buch über die deutsche Ausländerpolitik
schrieb, geriet er in einen Hexenkessel. Die sogenannte Sarrazin-Debatte belegte nichts außer der Unfähigkeit der deutschen Demokratie, dieses Thema angemessen zu diskutieren.
Noch bevor sich einige Thesen Sarrazins diskutieren ließen,
polarisierte sich das Narrativ, so dass am Ende nur der Autor
und die Rechten - und alle anderen übrig blieben. Sarrazin
selbst verstieg sich zu unsäglichen Pejorativen und fand sich
schließlich auf NPD-Plakaten wieder. Nach anfänglichem Toleranzgestammel versuchte die SPD vergeblich ihr Mitglied
loszuwerden, die Bundesbank erreichte mit viel Geld einen
Vergleich. Das VOLK aber musste nicht auf die Straße gehen,
um sich gegen „Bevormundung und Meinungsmache“ zu
emanzipieren und dem Gescholtenen zu solidarisieren: Es
kaufte einfach ein Buch, das etliche Fehlschlüsse enthält, von
denen der Galtonsche der unhaltbarste ist. Doch bis auf ein
paar Akademiker wie Detlef Rost oder eine Debatte im „Frei-
tag“ beschäftigte sich niemand mit den Themen des Buches,
sondern mit dem Autor. In Ländern, die „wissen“, dass sie Einwanderungsländer sind, klingen Sarrazins Themen weniger
provokativ und werden mitunter sogar diskutiert. Jedes Einwandererland hat einen Sarrazin. In den U.S.A. hieß das vergleichbare Werk „The Bell Curve“ und verbreitete am Ende
ganz ähnlichen biologistischen Unsinn. Auch dort gab es eine
stark personalisierte Debatte, die die sich auf Charles Murray
und Richard Herrnstein, immerhin Harvard-Professoren, richtete. Mittlerweile ist es in der amerikanischen Migrationsforschung kein Tabu mehr, dass unterschiedliche Ethnien oder
verschiedene Kulturen mehr oder weniger zueinander „passen“.
Neben der „Kultur“ gibt es selbstverständlich andere Faktoren,
die die „Passung“ von MigrantIn und Aufnahmegesellschaft
beeinflussen. Nehmen wir die VietnamesInnen in Kalifornien.
Die meisten brachten jene asiatische Kultur der Unterwerfung
kindlicher Ziele unter den familiären Ehrgeiz „es zu schaffen“
mit. Das meint Erziehungsstrategien, wie sie am Beispiel der
asiatischen „Tiger-Moms“ in den Gazetten dieser Welt heiß
diskutiert werden. Der Unterschied zwischen den Erfolgsmüttern lag unter anderem darin, ob sie mit den ersten oder den
letzten Flüchtlingswellen aus Vietnam gekommen waren. Die
boat people der ersten Stunden waren gebildeter und reicher
als die der letzten und ihre Kinder brachten es weiter. Später
ankommende ZuwandererInnen sind dagegen häufiger Folgemigranten, die ihren Verwandten hinterher ziehen. All das ist
auch für Deutschland längst bekannt und diskussionswürdig –
Sigmar Gabriel und Andrea Nahles war es wichtiger, Sarrazin
aus der SPD zu drängen und auch damit zu scheitern.
Die AfD schließlich ging ab 2013 ganz offen unter den Enttäuschten und Verlassenen auf Stimmenfang. Im Gegensatz zur
Sarrazin-Debatte glauben die Parteimitglieder an das „Sagbare“
in der Demokratie. Die bisher nicht koalitionsfähige Partei
sitzt in den Landtagen von Thüringen, Sachsen und Brandenburg. In der „Ausländerfrage“ nimmt die AfD Themen von
Merz und Sarrazin auf und profitiert bisher von der bereits beschriebenen Zögerlichkeit der Regierungsparteien, sich diesem
Thema zu stellen. Bis heute gilt die AfD als rechtspopulistisch,
als schmuddelig und als Zumutung. In ihr gibt es einige stark
akzentuierte Persönlichkeiten und in wichtigen Programmpunkten erinnerte sie an die Deutschnationale Volkspartei zwischen Kapp-Putsch und Hugenberg. Auch die Debatte mit der
AfD fiel durch die Abwesenheit von Sachargumenten auf, das
kam Pegida, ein eher „völkisches“ Gegenstück zur Elitenunternehmung AfD, gerade recht.
Pegida begann damit, dass sie sich selbst aus jeder Debatte ausschloss. Anders als Lucke & Co. schienen sich die SpaziererInnen ihrer Argumente nicht sicher oder waren sich schon sicher,
nicht verstanden zu werden. Merz, Sarrazin und AfD waren
beschuldigt worden, „Ängste“ für ihre Ziele kapitalisiert zu haben, und die Pegidisten konnten oder wollten ihre Ängste
nicht in den Diskurs bringen – als ob Ängste per se etwas
schlechtes wären. Welche Ängste?
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TI TELTHEMA | PROLOG
Krieg der Symbole
Es schien Ende 2014 ein Unding, dass sich Menschen auf die
Straße locken lassen mit dem Angstwort, dass der Dresdner
Christstollen bald nicht mehr so heißen würde. Schließlich habe der Berliner Weihnachtsmarkt auch schon „Wintermarkt“
geheißen. Diese Furcht vor dem Identitätswandel jedoch steckte auch die Institutionen an. Grotestk wurde es, als Dresdner
Bäcker-Innungen und Tourismusbüros den DemonstrantInnen
entgegenhielten, dass der Dresdner Christstollen ein „eingetragenes Markenzeichen“ sei und deshalb so schnell nicht geändert
werden könne.
Möglicherweise sahen die Dresdner die 1989 „herbeispazierte“
neue Freiheit des Christstollens bedroht, denn als gelernte
DDR-BürgerInnen erinnerten sie sich vielleicht an die kulturellen Intrusionen durch die SED-Diktatur, mit denen die christliche Symbolik besiegt werden sollte. Die Weihnachtspyramide
hieß in der Unfreiheit politisch korrekt „Jahresendkarrussell“
und der Weihnachtsengel gar „Jahresendfigur mit Flügeln“.
Und nun drohte dem Christstollen ein Ende im Namen der
globalen Freiheit? Dieser Staat konnte kein abendländischer
Staat sein, denn Anfang des Jahres 2015 meldete sich Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) mit dem Satz „Wenn
wir die Chancen eines freien Handels mit dem riesigen amerikanischen Markt nutzen wollen, können wir nicht mehr jede
Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen.“
Schmidt symbolisierte eben jenes Staatsversagen beim Schutz
des Abendlandes, welches die VerteidigerInnen des Christstollens beklagten. Mit der unheimlichen Gleichzeitigkeit von Pegida und Schmidts Einlassungen erhielt die Diskussion um das
TTIP-Abkommen die fatale Wendung in einen Krieg der Symbole. Mit dieser Symbolpolitik ließe sich dann von den Grundproblemen des Abkommens, etwa dem Verbraucherschutz, ablenken. Tatsächlich, mit dem Christstollen-Paradigma lässt sich
die Misere der Globalisierung beschreiben: Einem längst global
organisierten ProduktionsKapital stehen nur „national“ agierende Konsumentengruppen gegenüber, von einer globalen Arbeitnehmerschaft ganz zu schweigen. „Nation“ und „Volk“ sind
Konzepte für VerliererInnen und ChriststollenesserInnen.
Am Ende wird es kein Reinheitsgebot für den Christstollen geben, so dass er als „gerettetes Markenzeichen“ weiter so heißen
darf – über Inhaltsstoffe wie gentechnisch verändertes Getreide
oder Rosinen können sich VerbraucherInnen bei Bedarf via
App informieren (so ein amerikanischer Vorschlag in den Verhandlungen zum TTIP). Die Deutschen bekommen ein paar
nationale Etiketten zuerkannt und verzichten dafür auf Nebensächlichkeiten wie Verbraucher- oder Investitionsschutz. Noch
weiter ausgeholt: Nach der Forcierung des Ukraine-Konfliktes
scheint Pegida die zweite U.S.-amerikanische Geheimoperation
in Europa zu sein, um die EU und insbesondere Deutschland
auf das Freihandelsabkommen zuzutreiben und so an westliche
Werte zu binden (Emoticon: Ironie).
Doch machen wir uns nicht allzu viel vor: Die Globalisierung
bedroht den Dresdner Christstollen in seinem Heideggerschen
So-Sein tatsächlich und dreht ihn durch die Mühle der kommu-
nikativen Demokratie. Die Wintermarkt-Analogie des HitlerImitators von der Pegida-Spitze verweist zu Recht auf die
„Happy Holidays“. Die wünschte ich politisch korrekt meinen
amerikanischen StudentInnen zu Weihnachten, äh, zum Jahreswechsel. Im Hörsaal saßen tatsächlich viele Nicht-ChristInnen,
die alle erdenklichen Neujahrsfeste begingen (wer weiß, was
Kwanzaa ist?), und für die die Betonung der Geburt Jesu in den
Neujahrswünschen gegen ihre demokratischen Grundrechte
der Gleichbehandlung verstieß. Sie hätten im Stollendiskurs das
positive Globalisierungsargument bemüht. Der Christstollen
träte danach in einen friedlichen (marktoffenen) Wettstreit mit
Challa, Pelmeni und anderen soul cakes. Die angstfreien DemokratInnen probieren sie alle, das ist der style des globalen Hedonismus. In ihren Küchen wird die Religion erst vom Staat und
dann sogar vom Rezept getrennt. Wem die Trennung von Religion und Staat schon schwer genug fällt, der mag beim gewohnten Gebäck bleiben.
Wie hätte Ulrich Beck gesagt? In der Risikogesellschaft habe
die Angst die Not abgelöst. Jene diffuse Modernisierungsangst
aber füllt die Magmakammer des „zivilisatorischen Vulkans“
auf dem wir tanzen. Warum mussten Beck und seine Sprache
gerade jetzt sterben, da die PolitikerInnen keine Antworten auf
die globale Moderne finden (Merkel: „das Internet ist keine
Modeerscheinung.“). Requiescat in bello.
Die Anderen in der Wissenschaft
Theodor Adorno war der Meinung, dass sich Persönlichkeitsund Gesellschaftsstrukturen gegenseitig bedingen und durchdringen. Für ihn war der „autoritäre Charakter“ Produkt und
Voraussetzung der Diktatur. Hans Joachim Maaz hatte schon
1990 die pathogenetische DDR-Sozialisation in seinem „Gefühlsstau“ aus der Sicht eines Psychotherapeuten beschrieben.
Mit der Hypothese der diktatorischen Ost-Sozialisation kamen
die Sozialpsychologen Gerda Lederer und Peter Schmidt kurz
nach dem Erscheinen von Maaz‘ Buch nach Rostock, um hier
Adornos F-Skala zum Autoritarismus anzuwenden. Ich erinnere
mich an das Kolloquium im Hörsaal der Theologischen Fakultät, auf dem eine Lehrerin aufstand und sich empörte: „Sie sagen hier, wir sollen autoritär sein, aber das ist nicht so. Wir hatten bloß keinen, der uns sagte, was wir machen sollten, deswegen blieb die DDR so lange bestehen.“ Bis auf derartige Blüten
gab es überraschenderweise kaum Unterschiede zwischen den
Einstellungen von Ost- und Westdeutschen. Nur in einer Hinsicht unterschieden sich beide Stichproben gravierend: Xenophobie. Wenn ich mich recht erinnere, war der Xenophobie-Effekt unabhängig von der sozialen Herkunft und anderen Variablen, ein stabiler Ost-Effekt.
Die Retter des Abendlandes heute sind schwerer zu beforschen
als die Ostdeutschen damals. Sie apostrophieren mit dem Unwort „Lügenpresse“ die Unverlässlichkeit des herrschenden Informationssystems, die Wissenschaft vermutlich eingenommen.
Dennoch gelang schon im Januar Dresdner PolitikwissenschaftlerInnen eine Befragung unter den DemonstrantInnen. Am
14.1. war zu lesen: „In Dresden marschiert die Mittelschicht“.
Der „typische Spaziergänger“ war 48 Jahre, gut ausgebildet,
männlich, parteilos und Ostsachse. Moslems waren nur ein
Thema von vielen, weniger als die Hälfte waren wegen der drohenden „Islamisierung“ auf den Beinen. Angesichts der Verbreitung dieses Ergebnisses hätte ich beinahe selbst „Lügenpresse“
geschrien, denn die medial verbreiteten typologischen Aussagen
standen in keinem Verhältnis zur schlechten Stichprobe. Von
400 angefragten DemonstrantInnen hatten weniger als ein
Drittel geantwortet. Dieser Selektionsbias steht jenem im pegidistischen Weltbild in nichts nach und machte die Aussagen der
Studie fast zunichte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die AusfüllerInnen des Fragebogens eben jene waren, die vor allem politische Ressentiments ausdrücken wollten. Eher junge und weniger gebildete TeilnehmerInnen waren in der Stichprobe unterrepräsentiert und mindestens so ausgeblendet wie ein paar Millionen deutsche Moslems aus der Islam-Diskussion der Pegidisten. Dennoch darf das
Ergebnis als späte Bestätigung der frühen Ergebnisse gesehen werden: Ressentiments gegen „andere“ ziehen sich
durch alle sozialen Schichten Ostdeutschlands.
MigrantInnen marschieren. Noch nicht einmal solche, die sich
selbst aufgemacht hätten, über die Prager Botschaft in den Westen, sondern solche, zu denen der Westen und sein System gekommen sind. Sie ahnen, dass sie MigrantInnen sind, so wie wir
alle, aber sie haben keine Sprache dafür außer den rechten Parolen, denn Deutschland spricht nicht global. Das Ressentiment
gegen andere ist die Angst vor dem Kentern des vollen Bootes.
Einige Pegida-Gründer haben es versucht mit dieser Demokratie, mit Parteien wie der CDU, der FDP, der German Rifle Organisation, und sind gescheitert. Die Pegidisten wussten lange
nicht, wofür sie demonstrieren, sie wollten nur „wahrgenommen“ werden. Die Demonstrationen selbst liefen lange nicht
auf ein Partizipations-, sondern auf ein Verweigerungsmodell
heraus. Wieder erinnerten sich die
DresdnerInnen vielleicht, dass die
DDR nicht durch Partizipation änderbar war (Leonhard Cohen: They
sentenced me to twenty years of boredom for trying to change the system from within), sondern durch
Verweigerung zusammenfiel. Damals
führte der Ausweg in die Zukunft
nach Westen. Der ist nun offen, aber
dort warten jetzt die Schütterbärte von Pierre Vogel. Und die
essen weder Christstollen noch Schwarzwälder Schinken. Heute führen die Demokratieverweigerung und Angst entweder in
die Depression oder den Terrorismus.
Aus dieser Leidkultur
erwächst der Ruf nach
einer Leitkultur.
1990 war die Diskussion hitzig, doch erschien es mir wenig
plausibel, die Xenophobie allein auf die Diktatur zurückzuführen als vielmehr auf die geringe Kontaktrate, die DDR-BürgerInnen und „Fremde“ untereinander hatten – und die sich in
Ostsachsen in 25 Jahren kaum geändert hat. Mittlerweile
scheint klar, dass es sich einerseits um eine DDR-bedingte erhöhte Grundrate von Fremdenfeindlichkeit handelt, die dann
durch zyklische Krisen befeuert wird. Als die LichtenhägerInnen die Brandstifter beklatschten, hatten viele von ihnen schon
keine Arbeit mehr. Pegida ist nicht nur Resultat der direkten
Unerfahrenheit der „Ahnungslosen“, sondern auch der EuroKrise, die sich im Ansturm von Arbeitssuchenden aus anderen
europäischen und nicht-europäischen Ländern, in Währungsturbulenzen und dem Alarmsirenengesang aus Berlin und Brüssel niederschlägt.
Das Vierteljahrhundert nach dem Auseinanderfallen der Blöcke
bescherte Europa eine kurze Zeit der unamerikanischen Hoffnung, in der verpasst wurde, den europäischen Traum zu Ende
zu formulieren. Dieser Traum, die Verbindung von Markt und
Gemeinwesen, von Freiheit und Sicherheit, scheint eher zu
scheitern – und damit auch das Projekt einer europäischen oder
gar globalen Identität. Mich hätte brennend interessiert, wie
viele von den SpaziergängerInnen JEMALS im Ausland gelebt
(d.h. dort ihr Geld verdient) haben, eine andere Sprache annähernd so gut wie ihre Muttersprache sprechen, und wie viele
schon mal mit anders-sprachigen oder -aussehenden Frauen
oder/und Männern geschlafen haben.
Von Deutschland aus gesehen wird Europa nicht zur einer „unfinished nation“ und bringt keine große Erzählung hervor, kein
Vertrauen, keine Vision (Helmut Schmidt: Wer Visionen hat,
sollte zum Arzt gehen), von Griechenland aus schon. Auch darum bescheiden sich die Ostsachsen mit den kleinen Erzählungen. Ein Geheimnis von Pegida besteht darin, dass auch hier
Aus dieser Leidkultur erwächst der Ruf nach einer Leitkultur.
Im angstbesetzten Krisenerleben und in der westlichen Demokratie der Starken (Wer Angst hat, soll zum Therapeuten gehen), können antipolitische Ressentiments zu Rassentiments
werden und die Demokratie sprengen. Die Xenophobie ist die
Sollbruchstelle der globalen Gesellschaft. Aus ihr ergießt sich
die in Wut gekehrte Angst der unbehausten KonsumentInnen/ArbeitnehmerInnen. Schon Angela Davis stellte fest, dass
die Energie, die in den Rassismus fließt, dem wesentlichen Konflikt von Arbeit und Kapital abhanden kommt. Mittlerweile besitzt das eine Prozent der Reichen auf dieser Erde mehr als alle
anderen zusammen. Wenn überhaupt jemand, dann sind diese
99% „das Volk“.
„Das deutsche Volk“ oder die „deutsche Nation“ sind Bachblüten, sie schützen bald vor nichts mehr, und die CoswigerInnen
wissen das. Deutschland hat den drittgrößten Billiglohnsektor
Europas. „Nation“, „Volk“ und „Rasse“ sind Pfeifmelodien im
dunklen Wald der Risikogesellschaft, imaginierte Gemeinschaften, produziert von einer monopolistischen Identitätsindustrie.
Und das scheint den Pegidisten zu dämmern. Je länger und lauter sie rufen, dass sie das Volk sind, desto klarer wird, dass das
Wort nichts mehr bedeutet.
Danksagung
Die Buntheit des zusammengewürfelten Haufens von SpaziergängerInnen kommt am ehesten dadurch zustande, dass die Pegidisten unterschiedlich weit von der Demokratie entfernt sind.
Einige wollen nur gesehen/gehört werden, andere ihre Meinung
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TI TELTHE MA | PROLOG
sagen, andere die AusländerInnen raus haben, andere wollen andere terrorisieren. Am Anfang waren sie gemeinsam auf der
Straße. Mit Lenin ließe sich abgewandelt sagen: AUCH DIE
DUMME IDEE WIRD ZUR MATERIELLEN GEWALT
SOBALD SIE DIE MASSEN ERGREIFT. Mittlerweile
scheint sich der Haufen zu ordnen, vielleicht zu zerfallen.
Das Gute daran ist, dass es nicht nur ihnen zu dämmern
scheint, sondern auch den Gegen-Gegen-Islamisierungs-DemonstrantInnen. Pegida enttarnt die aktuelle Politik und die
polarisierte mediale Rhetorik als vormodern, pragmatisch, ideenlos, uninspiriert, unehrlich und gefährlich wenig reflektiert.
So hässlich die Inklusion der rechten Gedanken und Seelenängste in den demokratischen Diskurs auch sein mag, dort gehören
sie hin. Und wer die Grenzen der Demokratie überschreitet,
wer einschüchtert, ausgrenzt, terrorisiert, der wird bestraft,
gleich ob Pegidist, Islamist, Zionist, Nationalist oder Traktorist.
Jeder darf demonstrieren, sogar gegen das Demonstrationsrecht. Und wer sich mit Pegida oder Putin beschäftigt, mag
„Versteher“ sein, ein Entschuldiger oder Mitgeher ist der noch
lange nicht. Gut, dass es der „X-versteher“ nicht in das Unwort
des Jahres geschafft hat. Die ostsächsischen HilfsdemokratInnen produzieren ein Kraftfeld für einen Diskurs.
Personalentscheidungen (Merz), Kaufentscheidungen (Sarrazin) oder Wahlentscheidungen (AfD) entschärfen lassen. Ein
neues Generationenthema könnte geboren werden. Die alten
MauerstürmerInnen sitzen in der Regierung und haben außer
neuen und größeren Mauern keine Idee, wie es weitergehen soll.
Unversehens ist Deutschland wieder wer, und wieder nur ein
Halbhegemon. Europa kommt nicht an uns vorbei, aber lässt
sich auch nicht verdeutschen. Mit diesem Identitätsproblem ist
die Große Koalition vollständig überfordert. Hoppla, jetzt sind
wir in der Welt die ein Dorf wird. Und wer sind wir da?
Mein Spiegel hüllt sich in Staub und Schweigen.
¶
Sie beleben ihn, fordern Stellung und klären unsere Werte,
wenn wir sie Pegida erklären müssen. In Deutschland ist erstmals seit dem Mauerfall wieder etwas los, danke Pegida. Mit dir
macht sich unsere Gegenwart ehrlicher. Es wird sichtbar, wie
dünn oder dick der zivilisatorische Firnis auf den deutschen
Oberflächen ist (spätestens der NSU-Skandal hätte dies bewerkstelligen müssen, ätsch, hat er aber nicht/denn er liegt ja
beim Gericht). Es gibt Aufgeregtheiten und Wortfindungsstörungen, vielleicht sogar Debatten, die sich hoffentlich nicht mit
AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)
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FOTO: TOM MAERCKER
FOTO: TOM MAERCKER
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TI TELTHEMA | MEINUNGEN
PEGIDA, Meinungsfreiheit
und Abgrenzung.
Ein Gedicht und viele Meinungen
PETER KÖPPEN
Kurz vor Weihnachten 2014 veröffentlichte die taz, 25 Jahre
nach dem Mauerfall, einen „Weihnachtsgruß von Neunundachtzigern“. Es war ein in Form eines Gedichts gefasster Protest
von 50 einstigen DDR-Bürgerrechtlern, vornehmlich aus dem
Berliner Raum. Er richtete sich gegen Inhalt und Form der
Kundgebungen, auf denen unter dem Namen PEGIDA („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“),
vornehmlich in Dresden, aber auch in weiteren Städten (unter
einer dem jeweiligen Ort angepassten Bezeichnung), tausende
Protestierer auf die Straße gingen. Zu den Unterzeichnern des
„Weihnachtsgrußes“ gegen PEGIDA gehört auch der vor längerer Zeit nach Berlin übergesiedelte Bildhauer Axel Peters, im
Herbst 1989 in Rostock ein aktives Mitglied des Neuen Forums, so bei der Besetzung des Waffenlagers in Kavelstorf und
der Stasizentrale in Rostock, von 1990 bis 1994 für das Neue
Forum Landrat des Landkreises Rostock-Land.
Dieser Aufruf und noch mehr die in Gefolge der PEGIDA-Demonstrationen geführten Diskussionen waren für die „Stadtgespräche“ Anlass, ehemalige Bürgerrechtler aus MecklenburgVorpommern, aber auch junge Leute nach ihren Meinungen zu
PEGIDA und dem Text von „PEGIDA – Nie wieda!“ zu befragen. Besonders interessiert waren wir an Antworten auf zwei
Fragen:
1. Warum sammeln sich kritische Stimmen mit durchaus auch
begründeten Anliegen (Kritik der Distanz der politischen
Eliten zum alltäglichen Leben, am breiten Grabens zwischen
denen „oben und unten“ oder einer medialen Manipulation)
unter dem Namen PEGIDA, unter Führung nicht selten ob-
skurer und rechtsextremer Personen und unter ausländerfeindlichen Losungen? Wie sollte man sich zu diesen Akteuren verhalten?
2. Wie kommt es, dass sich einzelne Gruppen aus der Zivilgesellschaft zwar in zahlreichen Einzelfragen um Einflussnahme auf die Kommunalentwicklung bemühen, aber nicht in
gemeinsamen Aktionen wirkungsvoll und gemeinsam Positionen in Grundsatzfragen vertreten (z.B. ein öffentliches
massenweises Eintreten für die friedliche Regelung von internationalen Streitfragen heute und in Zukunft, für einen
Forderungskatalog zur ökologischen und nachhaltigen Entwicklung der Stadt oder ähnliche wichtige Fragen der kommunalen Entwicklung)?
Die uns zugesandten Beiträge zeigen sehr unterschiedliche Positionen und versuchen auf mannigfache Art und Weise, sich
den Problemen zu nähern, in Gedicht- oder Liedtextform, als
nüchterne Analyse, mit Pro und Contra oder als Eingeständnis
eigener Hilflosigkeit. Sie zeigen die Brisanz des Problems, dokumentieren, wie problematisch Ansprüche auf absolute Wahrheiten sind, aber auch wie vorschnelle Urteile beginnende Diskussionen beenden können. Lesen Sie selbst und beteiligen sich
an der öffentlichen Diskussion. Die „Stadtgespräche“ stehen
weiter dafür bereit. ¶
Weihnachtsgruß von Neunundachtzigern
PEGIDA - NIE WIEDA!
Wir sind das Volk ruft ihr
Freiheit Toleranz Welt offen meinte das '89
Visa frei bis Hawaii war die Devise
Und: Die Mauer muss weg
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TI TELTHEMA | MEINUNGEN
Ihr aber wollt:
Visa frei nur für uns
Die Mauer muss weg nur für uns
Die Mauer muss her am Mittelmeer
25 Jahre nach Mauerfall
Zusehen wollt ihr wenn die Elenden
Der Welt an neuen Mauern sterben
An euren Mauern
Oder ihr dreht euch weg
Um in Ruhe Gänsebraten zu fressen
Und Weihnachtslieder zu singen
Jesus hätte gekotzt hätte er euch getroffen
Habt ihr euch nie gefragt:
Wer liefert die Waffen für die Bürgerkriege die die Menschen vertreiben
Wer hat der Welt den Neoliberalismus aufgezwungen
Der sie in Ungleichheit Armut Not treibt Bei uns und im Süden der Erde
Und wer hat die Klimakatastrophen produziert
Die den Sahel zur Hölle machen
Dabei pfeifen die Spatzen von den Dächern:
Es ist das System das ihr nicht schnell genug bekommen konntet
Dem ihr den '89er Versuch geopfert habt
Den Versuch einer alternativen Demokratie
Einer freiheitlichen solidarischen ökologischen
Doch ihr sprecht nicht über dieses System
Über Kapitalismus seine Gemeinheiten über Interessen
Dafür protestiert ihr gegen die Schwachen
An die Mächtigen traut ihr euch nicht heran
Feiglinge
In Sachsen sind Muslime nur mit der Lupe zu finden
Aber ihr bekämpft die Islamisierung des Abendlands
Euer Abendland heißt Dunkeldeutschland
Ihr riecht nach dem Provinzmief hinter der Mauer
Oder dem in den Tälern der Alpen
Ihr sprecht nicht für '89
Ihr sprecht für keine Freiheitsbewegung
Ihr seid deren Schande
Schämt euch
Auf euer Abendland haben wir '89 gepfiffen
Darauf pfeifen wir auch heute
Unsere Solidarität den Flüchtlingen
Und immer noch sagen wir
Eine andere Welt ist möglich
Eine andere Welt ist nötig
Um alle Mauern zu stürzen
¶
(taz vom 22.12.2014, in http://www.taz.de/!151748/, dort auch die Liste der Unterzeichner)
Fußnote
MARTIN KLÄHN
„ … Es ist das System das ihr nicht schnell genug bekommen
konntet // Dem ihr den '89er Versuch geopfert habt // Den
Versuch einer alternativen Demokratie // Einer freiheitlichen
solidarischen ökologischen …“
heißt es im „Weihnachtsgruß der 89er“. Kann sich noch jemand an Helmut Kohl erinnern? An seine Rede im Dezember
`89 vor dem Trümmerhaufen der Frauenkirche. Die Sachsen
haben gejubelt. Der Platz war voll von Deutschlandfahnen.
Dieses Bild fällt mir als erstes zu Pegida in Dresden ein.
In Schwerin waren durchschnittlich fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen während der 89er Montagsdemonstrationen
auf der Straße. Viel mehr standen hinter der Gardine. Schwerin
hatte seinerzeit 130.000 Einwohner. Ziehen wir Gehbehinderte und die Kinder ab – bleiben ca. 90.000 potentielle Demonstranten übrig und die Frage: Wo waren die 70.000, die nicht
auf der Straße waren? Alles Stasi? Wohl kaum. Sie haben abgewartet, wie sich die Situation entwickelt. Einige haben auch,
auf einem Kissen liegend, aus dem Fenster gesehen. „Bürger
lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“ war
der Demo-Ruf dazu.
monstrationen über Wochen getragen hatten, blieben dafür zu
Hause. Auch die Parolen wurden andere. Natürlich ging es diesen DDR-Bürger_innen auch um Freiheit. Reisefreiheit und
Konsumfreiheit wurden ausgelebt – so gut es eben ging. Von
anderen Freiheiten wurde zurückhaltender Gebrauch gemacht.
Und nun Pegida. Sie sind das Volk. Das waren sie 89 auch, auf
jeden Fall nach dem Mauerfall. Kann man ihnen tatsächlich
vorwerfen, dass sie in ihrer 89er Verfassung verharren? Meint
jemand tatsächlich ernsthaft, wir hätten mit diesen Menschen
eine alternative Demokratie aufgebaut? Sie fordern ja nicht mal
die Finanztransaktionssteuer.
Seit wann sind die Grenzen des Wachstums bekannt? Wir sind
99 Prozent! Wer hat das gesagt? Die Entfernung zwischen den
Aktiven, z.B. bei Attac oder Occupy, und dem Pegida-Volk beträgt Lichtjahre. Wie sich das ändern läst? Durch eine Katastrophe? Seit 1990 beobachten wir das Verschwinden des Ostdeutschen. Insofern ist Pegida vielleicht auch ein letztes Aufbäumen vor dem Vergessensein. Eine weitere Fußnote. ¶
Die Zeit der Zuschauer kam nach der Maueröffnung. Knapp
aus dem Westen zurück, waren sie auf den Montagsdemonstrationen, Deutschlandfahnen schwenkend. Andere, die die De-
Mehr Fragen als Antworten
DIETLIND GLÜER
Mir steht keine gründliche Analyse zur Verfügung, sondern es
sind Beobachtungen einer wachen Bürgerin.
Internationale und globale Problemstellungen sind so komplex,
vielschichtig und undurchschaubar, dass man es schwer hat, sie
in ihrer Gänze zu erfassen und sich auch nicht traut, sich zu engagieren. Einfache Lösungen gibt es nicht, und so bleibt die
Motivation zum Engagement auf der Strecke. Außerdem gibt
es so viele Baustellen, für welche soll ich mich entscheiden??
Da ist ein Eintreten für kommunale Belange noch am aussichtsreichsten, obwohl es auch viel Zeit, Energie und evtl.
auch Finanzen bindet. Ich habe z.B. Kontakt zu einer Dorfgemeinde, die sich jahrelang gegen eine Großtieranlage zur Wehr
setzt. Das ist ein mühsamer Weg durch die Instanzen. Es kostet
auch eine Menge Geld für gute Rechtsanwälte und Fachleute.
Wie sollte da noch Kraft für globale Projekte bleiben?
Die Leute haben den Eindruck, gegen Windmühlen zu kämpfen, da wollen sie lieber neue Windmüller. Und der Weg zu Pegida ist nicht weit, da wird wenigstens Wind gemacht. Manchen reicht das schon. Meines Erachtens muss man mit diesen
verbiesterten Menschen sprechen, andere Möglichkeiten sehe
ich nicht. Wegsperren ist ja wohl kein Weg. Demonstrationen
und Gegendemonstrationen sind erste Schritte, aber es muss
weiter gehen. Wer reagiert auf diese Signale? Ich habe mehr
Fragen als Antworten. ¶
0. 18
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TI TELTHEMA | MEINUNGEN
Warum ich den Text der Bürgerbewegten von 1989 so
nicht unterschreiben könnte.
CHRISTOPH KLEEMANN
Der Text schlägt einen Ton an, der zum Geist des Herbstes 1989 nicht passen will. Er differenziert nicht zwischen denen, die
Fremdheit misstrauen und denen, die der gegenwärtigen Politik misstrauen. Er unterstellt, die Demonstranten hinter Pegida seien
dieselben, die 1989 den schnellen Anschluss und den westlichen Wohlstand mit all seinen Begleiterscheinungen gewählt hätten. Er
grenzt aus, nicht Ausländer, aber Inländer. Er klingt zu selbstgerecht für Menschen, die tolerant sein wollen. Unterschreiben wollte
ich einen Text, der etwa so aussieht:
Wir sind das Volk ruft ihr und seid doch nur Stimmen aus dem Volk
Wie wir 1989, wo so viele hinter ihren schützenden Mauern verharrten
Bis sie weg war die eine, die bis in unsere Köpfe reichte
Wir wollten Freiheit in Geist und Tat und Öffnung zur Welt
Nicht eine Enklave der Selbstgerechtigkeit umzingelt von Feinden
Die Welt zu uns und wir in die Welt, weil die Verantwortung unteilbar ist
Wollt ihr wirklich wieder teilen die Welt in Gute und Böse
Wollt ihr wirklich neue Mauern errichten in den Köpfen der Menschen
Zwischen Armen und Reichen Moslems und Christen Flüchtenden und Angekommenen
Sie physisch zu errichten. finden sich immer willige Helfer
Wenn das ihr nicht wollt, dann trennt euch von ihnen – für immer
Jesus würde den Finger erheben, dass euer Gesang schamvoll verstummt
Stellt euch die unbequemen Fragen, stellt euch den unbequemen Fragen
Warum sind so viele auf der Flucht? Wer hat sie in Armut und Not gebracht?
Und wer bestückt mit Waffen die Kontrahenten zu jedem beliebigen Krieg
Wer profitiert vom großen Waffengeschäft und wer vom Handel mit Land und Nahrung
Habt ihr darauf eine Antwort gefunden, dann protestiert mit uns gegen die Richtigen
Die Muslime müsst ihr nicht fürchten, auch sie haben Familie
Wollen arbeiten wie wir und leben in Frieden und beten zu ihrem Gott
Wie Ihr zu Euerm, wenn ihr einen habt, der Liebe und Mitgefühl fordert
Extremisten des Glaubens gibt es wie Extremisten des Unglaubens überall
Sie können nicht sprechen für das was anderen heilig ist
Und das Abendland lasst lieber ruhen, zu viel Blut klebt an seiner Erinnerung
Lasst uns öffnen die Türen des Landes, wie andere sie geöffnet haben
Als Deutsche auch Dresdener Flüchtlinge waren und arm und bedürftig
Und teilen, was auch uns in den Schoß gefallen ist und nicht meinen
Wir seien der Nabel der Welt und der Fleiß und die schöpferische Intelligenz
Wenn wir morgen noch menschenwürdig leben wollen, müssen wir heute
Für die Würde der Menschen einstehen. Die morgige Welt wird es nur geben
Wenn wir sie heute nicht spalten, sondern einen und Gerechtigkeit schaffen,
grenzenlos. ¶
„GEGEN“ IST LEICHTER
FRED MAHLBURG
Das „Weihnachtsgedicht“ der Alt-89er gegen PEGIDA führt
eine Auseinandersetzung, die auch schon im Herbst '89 dran
war, nämlich zu dem Zeitpunkt, als der Hinweis „Wir sind das
Volk“ mit viel Schwarz-Rot-Gold abgelöst wurde durch „Wir
sind ein Volk“. Damit soll gesagt sein, dass PEGIDA (oder wie
die Buchstabenkombination lauten mag) nicht der Erbe jenes
ganzen Herbstes ist, allenfalls ein Erbe der Spätphase der Demonstrationen (bei denen neben den nationalen Tönen auch
schon fremdenfeindliche zu hören waren). Nicht Erbe der Friedensgebete und des gewaltfreien Einsatzes für erweiterte Demokratie und – auf spätere Rostocker Aktivitäten bezogen –
nicht Erbe der „Sonntagsspaziergänge für Arbeit für alle“. Warum nicht andere Leute die Montags- oder Donnerstagsdemos
wiederbelebt haben? Pauschale Vorurteile und Feindbilder sind
wohl „ansprechender“ als begründete Initiativen für konkrete
Verbesserungen. Für ein Feindbild lässt sich rasch ein Slogan
formulieren, hinter dem man sich versammelt. Und ein paar
Typen, die schon Übung haben und bestimmte personengebundene Interessen, finden sich auch.
Dagegen die Auftritte zivilgesellschaftlicher Initiativen – wer
sich da einen Namen macht, fängt sogleich eine Menge richtiger Arbeit ein. Vor allem jedoch bekommt er oder sie es zu tun
mit anderen, einzeln oder in Gruppen, die sich auch ihr Thema
gesucht und einen Kopf gemacht haben. Man müsste sich aktiv
verständigen wollen. Das ist nicht leicht (auch eine Erfahrung,
die man schon 89/90 machen konnte). Etwas einfacher ist es
dann wieder, sich gegen PEGIDA zu versammeln. „Gegen“ ist
leichter.
Aber da muss noch etwas sein. Ja, es macht mich auch besorgt,
dass es keine Mahnwachen, keine Spaziergänge der Betroffenheit, kaum Friedensgebete gibt, angesichts der Menge der akuten „Krisenherde“ mit Mord und Totschlag. Es wäre zu einfach
gesagt, dass unsere Gesellschaft eben so sei. Warum? Glauben
zu viele, andere Sorgen zu haben? Soll man etwa sagen, dass sie
gewissermaßen innere Mauern errichtet haben, gegen Betroffenheit und Mitgefühl? Wir sollten beides tun: Diese Fragen
stellen und zugleich uns hüten vor festschreibenden Antworten.
Ich bezweifle nicht, dass hinter dem Slogan „Gegen Islamisierung“ auch begründete Anliegen „spazieren“. Aber Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus sind als die Anführer zu offenkundig. Auch wer die Transparente, hinter denen er marschiert, nicht gelesen hat, muss bei deren Wort genommen werden. Und auf zwei Probleme im Hintergrund will ich wenigstens noch hinweisen: Man wird mit dem Fremden in sich selber leichter fertig, wenn man andere, möglichst Schwache, als
Fremde diffamiert. Und: Wer vermag denn noch, beispielsweise die finanzpolitischen Zusammenhänge zu durchschauen?
Bei wem alle Schuldenstaaten eigentlich verschuldet sind, wessen Geld gerettet wird, welche Rollen die deutschen Steuerzahler oder Sparer wirklich spielen und welche die Reichen aller
Länder? Wie viele ökonomische und finanzpolitische Analphabeten sind eigentlich unter uns? Und wie frustrierend ist
das denn? Und welchen Nährboden bietet es? ¶
Pegida ist Deutschland ist Lichtenhagen ist Solingen
ist der Normalzustand
JOCHEN COTARU
Operation gelungen, Patient tot? Der wütende Text der 89er
hat mich gefreut, ehrlich. Hingerotzte Worte, östlicher Hauch
von Religiosität, deutlich die Forderungen von einst. Ein Aufbegehren – das hätte doch wie wild durch die Medien gehen
müssen. Hätte, hätte: Ist es nicht. Sich von einem rumänischen
Dorf durch die Netzmeldungen zu Pegida zu wühlen, hat etwas
Skurriles. Aufgezählt wurde, wie viele brave Bürger*innen gegen die Bösis demonstrierten. Begeisterte Verlautbarungen, an
welchem unnützen Gebäude welcher Pleitekommune das Licht
ausgeschaltet wurde. Alles im Rahmen, Deutschland ist bunt.
Pegida gespalten, alles wieder gut?
Die Gegenüberstellung von Äußerungen der Brandschatzer*innen 1992 in Lichtenhagen und der Biedermeier*innen jetzt in
Dresden etc. zeigt den deutschen Normalzustand. Nichts hat
sich geändert in Neufünfland. Bei aller landschaftlichen
Schönheit, von der niemand leben kann, bleibt die Unfreiheit,
bleiben die No-Go-Areas. Der Hass gegen 'die Anderen' ist in
ganz Deutschland da, der ostdeutsche Frust aber scheint ihm
jedes Limit zu nehmen. Ostdeutschland, Igittland.
Oder etwas mehr Systemkritik? Frust als Massenphänomen in
Folge von Arbeitslosigkeit, Hass als Folge von umfassenden
0. 20
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TI TELTH EMA | MEINUNGEN
Verlusten kleinbürgerlich-staatssozialistischer Heimeligkeit,
der nicht erfüllten Glückseligkeit nach Ankunft der erschrieenen D-Mark? It's capitalism, baby, und alle kleinen Leute prügeln sich am Hundenapf neben der herrschaftlichen Tafel. Alles zusammen genommen, ist Pegida so deutsch wie der Bun-
destag. Die Erklärung der 89er*innen hingegen bleibt ost. Und
da bleiben wir immer hängen, aus der Ossi-Befindlichkeit müssen wir raus. Nicht wir 89er*innen sind die Angeschissenen,
sondern die Flüchtlinge und Migrant*innen. ¶
Aufklärung……?
CHRISTOPH KELZ
Adorno wird die Aussage zugeschrieben: „Ich fürchte mich
nicht vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der
Demokraten“. Das Phänomen PEGIDA scheint genau das zu
sein.
Wenn die Definition ernstgenommen wird, dass Demokratie
eine bürgerliche Herrschaftsform ist, wird auch klar, wie anschlussfähig dazu die „Alternative für Deutschland /AfD“ im
parlamentarischen Raum ist. PEGIDA wie AfD eint die nationale Bedingtheit des politischen Subjektes in einem Nationalstaat, der ein ethnisch homogenes Staatsvolk hat bzw. weitestgehend von einem solchen dominiert wird. Eine vormoderne
Idee, welche mit den politischen Gegebenheiten und Realitäten weltweit nicht übereinstimmt. Migranten / Einwanderer
sind darin nur als absolute Minderheit vorgesehen, welche entweder nur vorübergehend anwesend ist oder sich in einer Form
zu assimilieren hat, dass sie der ethnisch dominierenden
„Volksmehrheit“ der sogenannten „Deutschen“ nicht ökonomisch und /oder sozial gefährlich werden kann. Beide Bewegungen agieren in einer Gesellschaft, welche unter hohen kapitalistischen Verwertungs- und Konkurrenzbedingungen agiert
und in der immer zunehmender nur noch kapitalisierende
Nützlichkeitserwägungen und Minimierung von sozialen Kosten eine Rolle spielen.
Dabei wird dieser Prozess der „Durchkapitalisierung“ weltweit
vorangetrieben, wie sowohl an der Entwicklung der EU seit der
1989/90-Zeitenwende (Eurozone, Schengen-Abkommen etc.)
als auch an den aktuellen globalen Konkurrenzen zwischen den
verschiedenen nationalen und internationalen Akteuren zu beobachten ist. Diese Konzentrations- und Konkurrenzprozesse
werden mit allen politischen Mitteln geführt, auch wieder mit
Kriegen. Die ökonomischen Hintergründe für die Konflikte
im Nahen bzw. Mittleren Osten, in Afrika oder der Ukraine
etc. sind nachlesbar.
Natürlich haben diese ökonomischen Prozesse ihre Wirkung
auf Einstellungen der Menschen zu Migranten, politischen
Konkurrenten, Religionen und anderen Mitmenschen. Sie suchen Sicherheit, eben auch ökonomische und befürchten, Op-
fer zu werden von Konkurrenten. Es ist aktuell nur wenig untersucht, wie diese beschriebenen Veränderungen psychosozial
auf Menschen wirken. Ich unterstelle aber, dass zum Beispiel
die Mittelschichten - ob lohnabhängig, freiberuflich, selbständig oder schon von staatlichen Transferleistungen wie Hartz IV
abhängig – bemerken, wie sehr sie ökonomisch unter Druck
kommen. Die allermeisten Menschen sind eben keine politisch
analysierenden Menschen, sondern reagieren auf Bedrohung
mit Angst und Hass sowie Abgrenzung.
Über Generationen hinweg tradierte Einstellungen kommen
zum Tragen. Sie lassen sich sehr schwer verändern bzw. nur
dann, wenn ein neues/anderes Erfahrungswissen erlebt und bewusst reflektiert und damit verinnerlicht wird. Wenn dann medial der Islam, die Migranten, die Hartz IV-Bezieher, aktuell
die Kosovaren / Roma usw. als Bedrohung des sozialen und
ökonomischen Friedens hingestellt werden (wie oft ist in den
Mainstreammedien vor dem Islam „gewarnt“ worden) und von
weiten Teilen der politischen Klasse / Parteien als Wahlkampf
oder Ablenkungsmanöver so kommuniziert werden, dann ist
der Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit und der Antisemitismus nicht weit, ist abrufbar und auch bei sogenannten linken
und / oder alternativen Zeitgenossen durchaus vorhanden.
Dann kommen noch die sogenannten „Alltagserfahrungen“
der Menschen hinzu, die zum unbewussten ideologischen Konstrukt gut passen. Die Ausländer, die mich anpöbeln, der islamische Vater, welcher seine Tochter am Schwimmunterricht
hindert usw. Die Einzelerfahrung wird verallgemeinert und als
Stereotyp angewendet. Nicht zuletzt kennt Mensch in aller Regel die „anderen“ nicht wirklich, weil die Lebenswelten zu weit
auseinander liegen bzw. mich das Leben der „anderen“ nicht interessiert. Ich habe ja mit mir und meiner Familie und meinem
Leben / „Konkurrenzkämpfen“ zu tun.
Außerdem werden die wirklichen Probleme mit den „anderen“
nicht ausreichend und lösungsorientiert thematisiert. Denn natürlich gibt es Probleme kultureller, religiöser und rassistischer
Natur unter und mit Teilen der Migranten. Es ist wenig hilfreich, nach offenen Grenzen zu rufen, aber gleichzeitig nicht
wirklich durchsetzbare/umsetzbare gesellschaftliche Konzepte
vorzulegen. Ja, wir sind ein Einwanderungsland, aber was für
eines? Asylland ja, aber wie bringen wir die Menschen unter, in
Lagern isoliert oder in eigenen Wohnungen, aber auch isoliert,
weil sich schon sogenannte Deutsche im Haus nicht füreinander interessieren. Wer leistet die Integration und aus welchem
Topf kommt das Geld, ohne denen, die auch nichts oder sehr
wenig haben, etwas wegzunehmen (Sozialhilfe, Hartz IV, Kinder- und Jugendhilfe, Aufstocker, Geringverdienende, Rentner,
Obdachlose usw.).
Das Problem besteht zum einen darin, dass die politische Linke
aller Schattierungen / Parteien (auch des alternativen Milieus)
keine ausreichende Gesellschaftsanalyse besitzt. Sie wäre eine
Grundlage, politisch durchsetzbare Minimalkonsense zu formulieren und damit politisch handlungsfähig zu sein. Dann
könnten alltagstaugliche Antworten erarbeitet werden, welche
der „Normalmensch“ als seine Probleme empfindet und bereit
wäre, sich politisch dafür zu engagieren.
Weiterhin haben sich diverse „zivilgesellschaftliche“ Gruppen
eher zu nur mit sich selbst kommunizierenden und individualisierten Fachleuten entwickelt, die als Folge einer überbordenden Komplexität und aufgrund einer individuellen Exklusivität
nur ihr spezielles Problem behandeln. Nicht zuletzt ist politische Organisierung schwerer geworden, weil Zeit ein inzwischen rares Gut geworden ist, insbesondere bei denen, die noch
Arbeit haben. Hinzu kommen die individuellen Ansprüche
An die Scheinheiligen
LIEDTEXT DER GREIFSWALDER SCHÜLERBAND RISING
Schon wieder sind es die Gleichen,
Die draußen auf den Straßen stehn.
Brüllen: Setzen wir ein Zeichen
Im Kampf für unsere Nation.
Doch die Nazis sind nicht allein,
Sie marschieren mit den Bürgern
Aus der Mitte, es kann nicht sein,
Die ganz unpolitisch meckern.
Refrain:
Jetzt steht ihr alle geschlossen,
Gegen wen ist euch doch egal.
Als echte Deutsche entschlossen,
Fremdes muss weg, ist doch normal!
Eure Demos gehen ganz klar
Gegen Israel, den Islam,
Kommunisten und Antifa.
Echte Lösungen vermisst man.
und Fetische, die Mensch meint, erfüllen zu müssen oder die
an ihn „freiwillig-zwanghaft“ herangetragen werden. Auch die
medialen Möglichkeiten und zunehmende Komplexität und
Menge der „Problemfelder“ lässt ein „temporäres Einpunktengagement“ als Maximum dessen erscheinen, was für den Einzelmenschen möglich ist.
Und die Gruppen, die schon organisiert sind, haben oft Berührungsschwierigkeiten untereinander und befürchten, dass die
gemeinsame Formulierung von gemeinsamen politischen Positionen in Grundsatzfragen zu einer Verwässerung eigener Identität und zu einer Zunahme von Konflikten führt. Befürchtungen entstehen, eigene politische Interessen nicht durchsetzen
zu können oder im „falschen“ politischen Licht gesehen zu
werden, ganz abgesehen von den auftretenden Profilneurosen
einiger politischer Akteure. Ich verzichte in diesem Kontext auf
eine selbst/kritische Nabelschau der „Wendezeit“ und verweise
auf die Unterzeichnerliste des Textes „Pegida – Nie wieda!“, wo
das Organisationsproblem noch heute deutlich wird. Was tun?
Was tun!!! ¶
PS: Angst vor etwas, was nicht da ist (z.B. Islamisierung des
Abendlandes), lässt man therapieren und nicht demonstrieren.
0 . 22
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TI TELTH EMA | MEINUNGEN
Weder rechts noch links seid ihr,
denn ihr fühlt doch nur national.
Das glaubt euch leider keiner hier,
Denn Fremdenhass ist nicht normal.
Ihr glaubt, nur ihr seid die Mehrheit,
Weil euch noch niemand widerspricht.
Ihr redet von Meinungsfreiheit
Nur solange, wie sie euch nützt.
Refrain
Ihr Scheinheiligen. Ihr denkt, ihr wärt rebellisch, mutig und kämpferisch. Doch eure einzige Motivation ist die Angst. Die Angst
vor allem Fremden.
Rebellisch wäre, Konflikte sachlich zu betrachten, anstatt aus Vorurteilen ein Feindbild zu konstruieren.
Mutig wäre, Menschen nicht aufgrund ihrer Herkunft zu bewerten. Oder aufgrund ihres Geschlechts. Ihrer sexuellen Orientierung. Ihrer Religion.
Kämpferisch wäre, sich für die einzusetzen, denen es schlecht geht. Und nicht sie zu bekämpfen.
Refrain ¶
Ein lebhaftes und sehr widersprüchliches Echo erfuhr der Aufmarsch von Mvgida (Mecklenburg-Vorpommern gegen die Islamisierung des Abendlandes)in Schwerin am 26. Januar (siehe
nachfolgende Rede von Heiko Lietz) und am 16. Februar 2015.
Eine Initiative für ein OFFENES FORUM mit dem DDR-Bürgerrechtler Heiko Lietz, dem Sozialpädagogen und Diakon Thomas Ruppenthal und der Vorsitzenden des Vereins „Die Platte
lebt“ hat sich gebildet und bereits zwei Gesprächsrunden organisiert, in der „alle gesprächsbereiten Menschen von dieser und auch
von der anderen Seite“ zu Wort kommen sollen.
Der Landesverband der Grünen, das „Aktionsbündnis Vorpommern: weltoffen, demokratisch, bunt!“ und der Flüchtlingsrat erklärten dazu in einem Papier: „Wir distanzieren uns von der
Veranstaltung und jedem Dialog-Angebot an MVgida, der eine
Vielzahl direkter Verbindungen zu NPD und Neonazi-Kameradschaften nachgewiesen wurde.“ Es sei naiv zu glauben, dass die
Gespräche nicht für Propaganda missbraucht würden (SVZ
17.02.2015).
Auch aus dieser von den Akteuren des Offenen Forums durchaus
erkannten Gefahr heraus entwickelten die Initiatoren eine Geschäftsordnung für das offene Forum (siehe weiter unten), in der
sie erklären: „Ziel ist ein sachlicher und konstruktiver Dialog, der
zum Frieden in der Stadt beiträgt. Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie sind mit den allgemeinen Menschenrechten und dem
Grundgesetz nicht vereinbar. Ihnen wird auch das ´offene Forum` keine Plattform bieten.“
Gespräche oder Abgrenzung? Oder Gespräche und Abgrenzung?
Die Diskussion geht weiter.
Wir bringen die Informationen über die Schweriner Auseinandersetzungen nicht zufällig an letzter Stelle unserer eingeholten
Meinungen. „Pegida“ ist nicht abgeschlossen. Die Demonstrationen und der Streit über ihren Inhalt sind lediglich Ausdruck tiefgehender gesellschaftlicher Probleme, die nicht nur offen angesprochen, sondern für die im öffentlichen Diskurs Lösungsmöglichkeiten eröffnet werden müssen.
Rede von Heiko Lietz
am 26. Januar 2015 in Schwerin, Alter Garten, ...
... AN DEM ORT, AN DEM HEIKO LIETZ AM 23.OKTOBER 1989, BEI DER ERSTEN GROSSEN SCHWERINER DEMO, VOR 40.000 MENSCHEN ALS
SPRECHER DES NEUEN FORUMS AUCH ÜBER NOTWENDIGE NEUE FORMEN DES DIALOGS IN BEWEGTEN ZEITEN GESPROCHEN HAT
Liebe Schwerinerinnen und Schweriner,
als wir uns vor 14 Tagen das erste Mal in diesem Jahr hier auf
dem Alten Garten trafen, war ich schon etwas irritiert. Bei allen Unvereinbarkeiten zwischen beiden Versammlungen – wir
hier auf dem alten Garten und die anderen an der Siegessäule –
gab es einen kurzen Moment, wo auf beiden Seiten fast gleichzeitig gerufen wurde: Wir sind das Volk. Was bedeutet das?
Erinnerungen von vor 25 Jahren tauchten wieder bei mir auf.
Auch damals riefen wir auf diesem Platz: Wir sind das Volk.
Aber das taten wir alle gemeinsam. Wir riefen es damals, weil
eine machtbesessene politische Parteiclique uns grundlegende
Menschenrechte vorenthielt und uns wie Leibeigene Behandelte. Doch irgendwann war Schluss damit. Da die Partei das
nicht begreifen wollte, hielten wir ihnen entgegen: WIR sind
das Volk. Wir haben dabei wieder den aufrechten Gang gelernt
und uns unsere unveräußerlichen Menschenrechte in der friedlichen Revolution wieder in Gänze angeeignet.
Inzwischen hat sich die Welt grundlegend geändert. Das kann
schwindlig machen. Es ist sehr Vieles total aus den Fugen geraten. Blutige Kriege, ungeheure Flüchtlingsströme, zunehmende
Verarmung ganzer Völker und soziale Abstürze vieler Menschen auch in wohlhabenden Ländern, auch bei uns in
Deutschland, bilden eine explosive Gemengelage. Wie können
wir damit umgehen, auch hier bei uns in Schwerin?
Wer meint, mit kurzen knackigen Sprüchen und menschenverachtenden Parolen ist es getan, der springt zu kurz. Damit werden wir weder in Schwerin noch weltweit die Probleme wirklich lösen. Aber es reicht auch nicht aus, den bisherigen Politikbetrieb und das bürokratische Verwaltungshandeln nur so fortzusetzen.
Lasst uns versuchen, mit unseren gemachten Erfahrungen einen Neuanfang zu starten und miteinander ins Gespräch zu
kommen.
Eine Initiative für ein OFFENES FORUM, die sich inzwischen gebildet hat, möchte alle gesprächsbereiten Menschen
von dieser und auch von der anderen Seite des Platzes für den
kommenden Montag um 18 Uhr in das Eiskristall am Berliner
Platz in Neu Zippendorf einladen.
Geschäftsordnung für das Offene Forum
Die Aktivitäten von Pegida und MVgida zu Beginn des Jahres
2015 waren der Anlass, in Schwerin ein „Offenes Forum“ ins
Leben zu rufen. Das Forum soll ein Ort sein, auf dem die öffentlichen Dinge (res publica), die unsere Gesellschaft spalten
und belasten, zur Sprache gebracht werden – für ein friedliches
Miteinander. Offen soll es sein, d. h. jeder, der etwas von dem
vorbringen will, was seine Würde oder die anderer antastet/angetastet hat, kann dieses Forum nutzen. Das offene Forum
steht hier für Meinungsfreiheit.
Ziel ist ein sachlicher und konstruktiver Dialog, der zum Frieden in der Stadt beiträgt. Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie sind mit den allgemeinen Menschenrechten und dem
Grundgesetz nicht vereinbar. Ihnen wird auch das „offene Forum“ keine Plattform bieten.
Grundlagen:
_ Die uneingeschränkte Anerkennung und Einklagbarkeit aller Menschenrechte, der politischen und bürgerlichen genauso wie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen. Sie
sind nach Artikel 1, Absatz 2 des Grundgesetzes die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft, des Friedens und der
Gerechtigkeit in der Welt.
_ Das Grundgesetz, dessen Grundrechte im Artikel 2-19 verankert und in Artikel 1, Absatz 1 in folgendem Satz gebündelt sind: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Grundlage für die Teilnehmer des Forums ist: Alle Menschen sind
vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. (Artikel 3)
_ Nicht geduldet wird jede Form von Volksverhetzung, die
den öffentlichen Frieden stört, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen
Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass
aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert
oder die Menschenwürde anderer angreift. § 130 Absatz 1
des Strafgesetzbuchs
_ Kultivierte Gesprächsführung in angemessener Lautstärke,
keine gegenseitigen Beschimpfungen und Verunglimpfungen, keine Unterbrechungen und Zwischenrufe, fairer und
respektvoller Umgang miteinander. Die Gesprächsleitung legen die Verantwortlichen des offenen Forums eigenständig
fest, diese hat die Fäden in der Hand und erteilt das Wort
(Begrenzung der Redezeit).
Wer von den Teilnehmern sich von seiner Überzeugung und
seinem Verhalten her nicht an die Geschäftsordnung hält, muss
das Forum verlassen.
Heiko Lietz
Februar 2015 ¶
Thomas Ruppenthal
Hanne Luhdo
FOTO: TOM MAERCKER
CORNELIA MANNEWITZ
„Rogida“
0. 25
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TI TELTHEMA | ANALYSE
Wie schön, über etwas schreiben zu können, das es eigentlich
gar nicht gibt. Man kann seiner Phantasie freien Lauf lassen.
Man kann loben, dass Pegida sich in Rostock nicht traut, wegen des vielen Gegenwinds. Nur: „Rogida“ gibt es eben doch.
Sie hat so viel Realität, dass sich Phantasien verbieten, zu loben
gibt es auch kaum etwas und über das Lokale müssen wir noch
reden.
Wer die Pegida-Demonstrationen in Stralsund und Schwerin
beobachtet hat, wird bemerkt haben, dass nicht nur die Teilnehmerzahl abgenommen, sondern der Zug sich auch homogenisiert hat. So genannte besorgte Bürger sind kaum noch dabei:
Die, die mit Kindern kamen, Plakate gegen Hartz IV und die
GEZ hochhielten, Russlandfahnen schwenkten und „Wir sind
das Volk“ skandierten. Es bleibt
der harte Kern: Neonazis und ihnen Nahestehende. Die, die von
Anfang an den Demonstrationszug animierten, „Antifa – ha-haha“ und „Deutschland, erwache!“
zu schreien, Journalisten mit ihren
Kameras blendeten und Kritiker
der Demo abfilmten.
auszurufen. Damit erklärt man keine Finanzkrise und keinen
Ukraine-Konflikt. Damit macht man es nur denen leichter, die
anderen angeblich helfen wollen, es „denen da oben“ mal richtig zu zeigen (denn sie brauchen ja auch Fußvolk auf dem Weg
zur Macht).
Pegida schmeißt auf ihrem Logo ja auch allen „radikalen Müll“
weg. Die 19 Forderungen von Pegida sind Musterbeispiele für,
sorry, Bauernfängerei. Für die Hälfte des Geforderten gibt es
schon Regelungen, der Rest ist so, dass sich jeder etwas aussuchen kann: sexuelle Selbstbestimmung (gut), Gender Mainstreaming (schlecht), in den so genannten „Dresdner Thesen“
tauchen auch TTIP und in traulicher Nachbarschaft die Belange des Mittelstands und die der Arbeiterklasse auf. Glauben
tun daran die, die uninformiert sind,
weil sie sich lange Zeit nicht mehr informiert haben – weil sie resigniert haben,
weil die Politik eben doch nicht so transparent und volksnah ist, wie sie sich im
Angesicht von Pegida auch gern gibt.
Und weil sie mit den Medien nicht umgehen können und überzeugt einstimmen, wenn jemand sie „Lügenpresse“
nennt, ohne zu beachten, welche historische Bedeutung dieses Wort hat.
Fragen sollte man
aber schon, woher der
breite Konsens gegen
Pegida kommt
Populäre Plakate und Losungen
der ehemals diverseren Demo benutzen sie weiterhin. Alles nicht so einfach: Auch die Taktik
von Polizei und Behörden hat schon verschiedene Phasen
durchlebt. Mahnwachen nahe der Pegida-Strecke verbieten –
Mahnwachen zulassen; Blockaden gewähren lassen - Blockaden räumen; die gegnerischen Lager auf dem Marktplatz konfrontieren – linke Demonstranten aus Rostock schon auf dem
Bahnsteig abfangen; und so weiter. Reine Taktik; nach demokratietheoretischen Begründungen muss man nicht viel fragen.
Fragen sollte man aber schon, woher der breite Konsens gegen
Pegida kommt, der sich sofort erhoben hat. Alle, bis fast ganz
rechts, beschwören die Einheit der Demokraten und die Buntheit unserer Städte. Ganz so, als hätten wir keine Schere zwischen Arm und Reich und als gäbe es tatsächlich eine vorbildliche Flüchtlingspolitik zu verteidigen. Angesichts dieses Verhaltens erscheinen die Versuche in der Wolle gefärbter Bürgerrechtler, unter Umgehung parteipolitischer Einflussnahme mit
den Pegida-Demonstranten zu reden, fast sympathisch. Wäre
da nicht der Verdacht, dass er alten Denkmustern zivilgesellschaftlicher Opposition gegen einen vormundschaftlichen
Staat folgt und nicht berücksichtigt, wen er heute vor sich hat:
was da mit dem Anspruch, das Volk zu sein, auf die Straße geschwappt ist, von den Stammtischen und aus dem Dunstkreis
derer, deren Fraktion im Schweriner Schloss bei den PegidaDemos immer das Licht anlässt, während alle anderen es löschen – der NPD.
Vielleicht will man ja auch einfach nicht glauben, was die
schlechte Qualität der politischen Bildung mittlerweile angerichtet hat. Es reicht eben nicht aus, jede Art von „Extremismus“, also allem, was von einer – ebenfalls undefinierten – politischen Mitte abweicht, ob nach rechts oder links, gleichermaßen zu verteufeln und ansonsten das Ende der Geschichte
Alles das ballt sich bei uns im Nordosten: eine alternde Bevölkerung, wenig intellektuelle und soziale Differenziertheit, wenig Urbanität, nichtverarbeiteter Kalter Krieg (USA sind böse,
Russland ist gut), natürlich auch wenig Erfahrung mit Migranten; und ganze Zonen von rechten und rechtsaffinen Kräften,
die kommunalpolitisch zum Teil sogar akzeptiert sind. Mit dieser Situation kann man einzelne Orte nicht allein lassen. Aber
siehe da: Am 19. Januar marschierte Pegida in Stralsund auf, einem idealtypischen Ort. Die lokale Gegenwehr war nicht stark
genug aufgestellt. Es war leicht, Mahnwachenverbote durchzusetzen. Zur selben Zeit saßen etliche politisch aktive Rostocker
warm und trocken im Kino. Es lief die Premiere des Lichtenhagen-Films. Dabei hätten sie in Stralsund auf die Straße gehört dort, wo die heutigen Faschisten liefen.
Will sagen: Ebenso wenig, wie Lichtenhagen ein lokales Phänomen war, das nach zwanzig Jahren von einem reumütigen
Rostock abgehakt werden kann, ist Pegida eine Angelegenheit
der einen oder anderen Stadt. Es ist prächtig, wie schnell sich
Aktivitäten gegen Pegida formiert haben, und erfrischend, mit
wie viel Intelligenz und Erfindungsreichtum sie vorgehen (und
wie groß das diesbezügliche Gefälle zwischen ihnen und Pegida
ist). Aber sie brauchen überall stabile Unterstützung. Pegida als
Form des gesamteuropäischen Rechtsrucks muss überall zurückgeschlagen werden. Sie als solche zu erkennen, ist hier im
Nordosten besonders leicht. Wie man dann mit den Desorientierten, die bei ihr Lösungen gesucht haben, den Diskurs führt
- das wird schwer, aber ebenfalls eine Aufgabe überall und für
alle sein. ¶
FOTO: TOM MAERCKER
0. 27
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MARI TI MES ERBE
„Wir haben sehr bald
festgestellt, wie umfangreich
Rostocks Bestand an maritimen
Geschichtszeugnissen ist…“
Gespräch mit Steffen Wiechmann vom „Freundeskreis
Maritimes Erbe Rostock“
DAS INTERVIEW FÜHRTE KRISTINA KOEBE
Stadtgespräche: Du vertrittst einen Verein, der sich „Freundeskreis Maritimes Erbe Rostock“ nennt. Was verbirgt sich dahinter?
Steffen Wiechmann: Los ging es im Dezember 2012 mit der
Ankündigung, dass die GEORG BÜCHNER verkauft und
verschrottet werden soll. Wie kann man das mit einem Denkmal tun, zumal um damit noch Geld zu verdienen? Zumal niemand, auch wenn er ein Denkmal besitzt, darüber einfach frei
verfügen kann, sondern verbindliche Kriterien und Auflagen
zu beachten hat. Also haben wir im Freundeskreis angefangen,
uns mit dem Thema zu beschäftigen. Und dann, beginnend
mit einer Demo, den Prozess um die GEORG BÜCHNER begleitet und die Proteste organisiert. Es gab ja seinerzeit Bemühungen aus Antwerpen, das Schiff dorthin zurückzuholen, in
Erinnerung seiner historischen – kolonialgeschichtlichen –
Wurzeln und der Verantwortung zur Aufarbeitung. Wir waren
der Auffassung, dass dies die beste Lösung sei, wenn unsere
Stadt selbst das Schiff nicht halten kann, da man es dort weiterhin als Denkmal betreuen wollte. Zumal 2013, als die Diskussion sich zuspitzte, Rostock und Antwerpen ihre 50jährige
Städtepartnerschaft begingen. Leider wurde am Ende, wie man
weiß, der ökonomischen Verwertung der Vorrang gegeben – in
einem Prozess, der für Rostock unrühmlich gelaufen ist und
nach wie vor viele Fragen offen lässt.
In dem damals entstandenen Freundeskreis, dem es ja nicht populistisch um eine Millioneninvestition in das Schiff in Rostock sondern pragmatisch um einen Weg zur Erhaltung des
Denkmals ging, haben wir sehr bald festgestellt, wie umfangreich Rostocks Bestand an maritimen Geschichtszeugnissen ist.
Relativ schnell, im Februar 2013, haben wir uns als Verein konstituiert, um eine Rechtsform und auch eine gewisse Seriosität
und Kontinuität zu finden. Dann begannen wir, mit den Vertretern der Rostocker maritimen Szene ins Gespräch zu kommen, die Leute einzuladen, einen Überblick über die Situation
in Rostock zu bekommen. Es gibt ja in Rostock über 20 maritime Vereine, vor allem bestehend aus Leuten, die früher selbst
zur See gefahren sind: die Techniker, die Nautiker, die Hochseefischer usw. Diese Bestandsaufnahme, die ungefähr ein Jahr
dauerte, zeigte, dass die Vereine seit ca. 20 Jahren an den Themen der maritimen Geschichte arbeiten, sich alle kennen, untereinander aber oft verschiedener Meinung sind – und für Rostocks maritime Kultur in all der Zeit wenig herausgekommen
ist. So lag beispielsweise die UNDINE damals in Dresden und
es war völlig unklar, was mit ihr passieren würde. Die BÜCHNER war Geschichte. Für die STUBNITZ war klar, dass eine
Klassifizierung ins Haus stand, für die das Geld fehlen würde.
Der Hellingkran und das Matrosendenkmal sind sanierungsbedürftig. Das Hebeschiff 1. MAI ist immer noch in einem bedauerlichen Zustand. Unser Museum auf dem Traditionsschiff
liegt im Dornröschenschlaf. Für die LIKEDEELER gibt es zu
wenig Mittel, um sie angemessen warten zu können usw. usf.
Die Liste ließe sich noch fortführen.
Stadtgespräche: Wie geht man eine so „bedürftige“ Gesamtsituation an? Wo beginnt man?
Steffen Wiechmann: Zunächst einmal haben wir uns bemüht,
in die maritime Szene hinein integrativ zu wirken, die Leute an
einen Tisch zu holen. Die eine Hälfte hat uns belächelt, weil
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MARI TI MES ERBE
wir jung und ohne eigene Seefahrterfahrung waren – und dabei
nicht bedacht, dass unser Anliegen eher ein stadtpolitisches,
stadtentwicklerisches ist. Die Identifikation mit maritimen
Dingen in der Stadt ist relativ hoch, auch unter den jungen
Leuten. Die Leute tätowieren sich entsprechende Symbole auf
die Haut oder tragen sie auf Stoffbeuteln, Bands nehmen Bezug darauf, alle lieben die Ostsee. Aber die Stadt macht viel zu
wenig daraus, auch im touristischen Bereich. Wir haben hier
die Riesenkreuzliner, die in Rostock ankommen, die Leute an
Land schütten – und dann war’s das. Es kamen also eine ganze
Menge Aspekte zusammen, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten.
Wir sind relativ schnell dem neugegründeten Maritimen Rat
beigetreten. Die ersten Sitzungen verliefen noch katastrophal –
da saßen sich alte Leute gegenüber, schimpften und gingen
zum Teil überhaupt nicht kooperativ miteinander um. Da traten alte Verbitterung und Niederlagen, abweichende Vorstellungen von dem was möglich ist, zutage. Insgesamt gab es wenig Utopien, wenig Phantasie, viel Pessimismus, der aus den
Rückschlägen der Jahre resultierte. So hatte man sich in den
1990er Jahren dafür eingesetzt, in den alten Speichern auf der
Silohalbhinsel ein maritimes Museum zu bauen. Später wollte
man auf dem Gelände der ehemaligen Neptunwerft das größte
maritime Museum Europas bauen - auch das hat nicht geklappt. Und wenn man dann noch die allgemeine schlechte
Verfassung der maritimen Kulturgüter bedenkt…
Stadtgespräche: Inzwischen hat die Stadt ja ein maritimes Museum - ?
Steffen Wiechmann: Wir haben zwar das Traditionsschiff als
Museum. Trotzdem liegen schätzungsweise 80 Prozent der maritimen Artefakte in Depots, die Palette reicht von Kapitänsbildersammlungen bis zu Schiffsmodellen. Was fehlt ist die Ausstellungsfläche, um diese Dinge der Öffentlichkeit zu zeigen.
Der Plan, auf dem IGA-Gelände ein Museum zu bauen, ist in
der maritimen Szene umstritten – da klaffen politische Meinung und Bevölkerungs- und Expertenmeinung deutlich auseinander. Stadtführer und Verantwortliche aus der Tourismusbranche sagen ganz klar, dass so ein Museum nur an einem der
beiden touristischen Anlaufpunkte – in Warnemünde oder am
Stadthafen – sinnvoll ist. Schmarl touristisch zu entwickeln,
halten viele für einen totalen Irrweg.
Und natürlich muss man in diesem Zusammenhang auch fragen, wie das Traditionsschiff als Museum gerade geführt wird
und wohin die Reise gehen soll. Als Bestandteil der IGA-Park
GmbH ist es eine Art Stiefkind. Und eigentlich müsste die Verantwortung und Initiative für die gesamte maritime Kultur der
Stadt von diesem Museum ausgehen. Unser Gefühl derzeit ist
es jedoch, dass es viel stärker wir sind, die die Stadt und auch einige der maritimen Akteure vor sich hertreiben. Das können
wir uns auch leisten: Wir sind jung und anarchisch genug, um
immer wieder den Finger in die Wunde legen zu können. Wir
haben nichts zu verlieren und keine Pöstchen zu verteidigen.
Aber wir wollen natürlich auch konstruktiv sein, Vorschläge
für die Stadt erarbeiten und entwickeln.
Stadtgespräche: Was sind denn das für Vorschläge? Welche Ziele
habt Ihr für die kommende Zeit?
Steffen Wiechmann: Da geht es uns unter anderem darum,
den Stadthafen maritim touristisch zu entwickeln. Daran arbeitet inzwischen der Maritime Rat recht erfolgreich, in dem ja
viele wichtige Akteure zusammenkommen – das Museum
selbst und die Organisationsebene der Hanse Sail interessanterweise nicht. Die Hanse Sail als Megaevent hat jahrelang den
Blick auf Rostocks maritime Kultur versperrt, überlagert. Inzwischen gelingt es den maritimen Akteuren der Stadt immer
besser, sich neben der Hanse Sail auch inhaltlich zu profilieren,
Forderungen zu stellen, Visionen zu entwickeln.
Was der Maritime Rat vor allem angehen will, ist die Entwicklung der so genannten Maritimen Meile, von Silohalbinsel bis
Werftdreieck. Es steht ja fest, dass der Stadthafen in keinem guten Zustand ist, mit all seinen Brachflächen und Parkplätzen.
Die Hanse Sail braucht ihn in dieser Beschaffenheit, findet
aber nur 4 Tage im Jahr statt, zwischendurch ist es dort ziemlich traurig. Nun wurde eine Planungsgruppe ins Leben gerufen, die sich aus Mitgliedern des Maritimen Rates, Vertretern
aller Bürgerschaftsfraktionen, allen betroffenen Ämtern bis hin
zum OB zusammensetzt. Moderiert wird dieses monatliche
Treffen von Herrn Professor Breitzmann.
Ziel der Arbeit ist zunächst die Erarbeitung einer Beschlussvorlage für die Bürgerschaft. Erst danach beginnt die eigentliche
Planungsphase. Diese muss natürlich behutsam verlaufen. Wir
haben ja aktuell gerade die Theaterdiskussion, unser Verein
sieht einen möglichen Neubau an anderen Orten in der Stadt
sinnvoller aufgehoben als im Stadthafen. Dieser sollte für Einwohner und Touristen als Freizeit- und Erholungsbereich erschlossen werden, aber auch als Erlebnisbereich. Da braucht es
nicht große Lösungen, sondern kleinteilige Entwicklungen. Im
Stadthafen stehen zwei TAKRAF-Kräne, da steht eine Kohlekrananlage, angeblich wurde im MAU die DSR gegründet.
Warum stellt man an diesen Orten nicht Tafeln auf, die auf die
Geschichte und einstige Bedeutung hinweisen? Und das ganze
bitte gleich zweisprachig um den internationalen Gästen unserer Stadt unsere Geschichte erschließbar zu präsentieren. Das
wäre dann auch der Beginn der mehr als überfälligen Aufarbeitung der Rostocker Wirtschafts- und Stadtgeschichte von 1945
bis 1990. Und warum gibt es im Stadthafen keinen großen maritimen Spielplatz, beispielsweise mit einem großen Kletterschiff ? Das lockert die Stadt auf, das schafft erkennbare Bezüge, ist ein kostenloses Angebot. Das sind nur einige erste Ideen.
Stadtgespräche: Im Grunde geht es also um nicht mehr und nicht
weniger als eine Strategie der Stadt für den Umgang mit ihrer
Geschichte und deren Zeugnissen?
Steffen Wiechmann: Die Stadt muss sich Gedanken machen,
wie sie zukünftig mit all den Artefakten umgehen will. Als
nächstes braucht die LIKEDEELER schätzungsweise 900.000
EUR für eine Dockung, um die Schwimmfähigkeit weiterhin
gewährleisten zu können - nur ein Beispiel dafür, dass Rostocks maritime Güter immer Geld kosten werden. Warum also
hat die Stadt nicht längst eine maritime Stiftung auf den Weg
gebracht, um dafür besser vorbereitet zu sein? Und auch wenn
man in dieser Stadt immer darüber diskutiert, was man sich leisten und nicht leisten will: Das Maritime ist einer der wichtigsten Identifikationsfaktoren der Stadt. Also muss man hier aktiver werden.
Aktuell will die Hanse Sail auch eine Stiftung gründen, zusammen mit der Stadt, aber die konzentriert sich dann auf die
Hanse Sail selbst und die Traditionssegler. Auch gut und wichtig. Aber dabei würden weder eine STUBNITZ noch die MS
DRESDEN, also unser Traditionsschiff, noch die vielen anderen, kleinen Artefakte berücksichtigt. Das ist zu also kurz gedacht.
Und wenn viele Menschen Stiftungen wegen der niedrigen
Zinsen für problematisch halten: Stiftungen sind ja auch ein
adäquates Mittel, um immer wieder frisches Geld einzuwerben.
Wenn die Stadt einfach mal berechnet, was das Kümmern um
die Schiffe und die maritimen Kulturgüter in den letzten zwanzig Jahren durchschnittlich jährlich gekostet haben, und die
Hälfte dieser Summe der Stiftung jährlich als Grundsockel zur
Verfügung stellt, ist eine gute Basis für ein strategisches, planvolles Arbeiten mit dem maritimen Erbe geschaffen. Dann
hört auch das hektische Reagieren auf Notsituationen auf, das
wohlmöglich in der Vergangenheit auch darin begründet lag,
dass Kompetenzen und Verantwortlichkeiten unklar bis undurchsichtig waren.
Stadtgespräche: Du hattest die Notwendigkeit einer Aufarbeitung
der Wirtschaftsepoche nach 1945 angesprochen. Was hat es damit
auf sich?
Steffen Wiechmann: Diese Zeit ist ja eigentlich eine Erfolgsgeschichte, begründet durch Hafen, Meer und Schiffbau. Damals war Rostock ein wichtige Industriestadt - das Tor zur
Welt. Der Rostocker Überseehafen wurde 1960 eingeweiht, als
Ergebnis eines nationalen Aufbauprozesses, der schon kurz
nach 1945 begann. Wieviel menschliche Arbeitskraft wurde
hier investiert? Wie viele Schiffe sind hier in Rostock vom Stapel gelaufen? Das mal wissenschaftlich aufzuarbeiten, die Bedeutung dieser Entwicklung für die Stadt, hat in den letzten
zwanzig Jahren niemand gewagt, wohl auch weil es DDR-Geschichte ist. Dabei würde mich natürlich interessieren, was diese Zeit mit den Menschen und unserer Stadt gemacht hat. Ich
würde schon gern wissen, wieviel Alkohol auf den Werften gesoffen wurde. Wie viele Stunden dort malocht wurde, wie viele
Arbeitsunfälle es gab, wie viele Schiffe gebaut, wie viele und
was für Lasten hier umgeschlagen wurden und das Kultur- und
Freizeitleben unserer Stadt geprägt waren. Die Erfolge und
Misserfolge dieser Zeit mal gründlich und fundiert betrachten.
Die Archive der ehemaligen großen Rostocker Betriebe werden
aktuell zum Teil noch von Leuten in den Nachfolgeunternehmen betreut – hier müsste so eine Stiftung dringend die Betreuung und Aufarbeitung in die Hand nehmen, was nur noch
so lange möglich ist, wie die Akten aus jener Zeit existieren.
Stadtgespräche: Wer müsste das mittragen, damit so eine Aufarbeitung funktionieren kann?
Steffen Wiechmann: Ich sehe hier vor allem die Universität in
der Pflicht – nicht nur die Historiker, sondern auch andere
Fachbereiche. Und natürlich die Stadt selbst, die sich zu oft mit
dem Hinweis entzieht, man müsse nach vorne gucken. Ich denke, wenn man so ein Projekt angeht, schaut man durchaus auch
nach vorn, weil man neue ideelle Werte für die Stadt schafft
und zukünftigen Generationen ein gutes Bild vermitteln kann.
Und nicht das Gleiche passiert wie bei der Geschichte der
Heinkelwerke und den damit verbundenen Schicksalen, die innerhalb von 20 Jahren aus dem kollektiven Bewusstsein der
Stadt verschwanden.
Stadtgespräche: Welche Argumente würdest Du wählen, um andere, auch die Politiker der Stadt, zu überzeugen, dass das Thema für Rostock wichtig ist?
Steffen Wiechmann: Ganz praktisch wäre da natürlich zuerst
der Tourismus zu nennen. Was bieten wir denn den Leuten, die
nach Rostock kommen, zurzeit an? Wir haben ein sehr gutes
Kulturhistorisches Museum, das hervorragend geführt und geleitet wird und in das in den letzten Jahren viel Geld geflossen
ist. Aber darüber hinaus ist unsere Museumskultur dünn. Auch
die Stadtführer beklagen, dass sie in ihren Führungen kaum
maritime Geschichte präsentieren können. Dabei erwarten die
Gäste dies durchaus. Sie wissen, dass Rostock am Meer liegt, eine Hafenstadt ist. Rostock wird touristisch ja zum Teil reduziert auf den Strand in Warnemünde. Auf Dauer kann man
doch damit nicht punkten. Das Freizeitverhalten heutzutage
ist auch geprägt vom Wunsch nach Bildung. Gerade Eltern legen hierauf sehr großen Wert. Das betrifft dann auch wieder
direkt unsere Stadtbevölkerung. Es gibt also interessante
Schnittmengen!
Stadtgespräche: Warum hältst Du das Maritime für so wichtig
für die Identität dieser Stadt? Böse Zungen behaupten ja, es würde gern aus der Tasche gezogen, weil es Rostock an anderen Identitätsankern mangelt.
Steffen Wiechmann: Das mag sein. Aber umso wichtiger ist es
ja, diese Idee nicht als reine Folklore vor uns herzutragen, sondern uns ernsthaft, wissenschaftlich und kulturell, mit unseren
Wurzeln zu beschäftigen. Hier müsste die Stadtpolitik viel aktiver daran arbeiten, Bereitschaft und Verantwortung zu bündeln. Natürlich sehe ich auch die sozialen Probleme, die wir
hier in Rostock haben. Aber ich sehe da durchaus einen Zusammenhang - soziales Leben ist ja nicht nur eine Frage materieller Werte, sondern auch der Ideellen. Und da spielt ein
Identitätsverlust wie der nach 1990 ganz sicher eine Rolle: sich
zuhause fühlen, sich verstanden fühlen. In Rostock wachsen einerseits überall goldene Türme, werden tausende Ideen gesponnen – aber das was Naheliegend ist, das was uns ausmacht, etwas auf das man nur eine schützende Hand halten müsste, findet zu wenig Beachtung.
0. 30
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MARI TI M ES ERBE
Stadtgespräche: Habt Ihr denn schon konkrete Unterstützung aus
der Stadt?
Steffen Wiechmann: Ja. Frau Selling und das Kulturamt sehen
durchaus, dass es da Handlungsbedarf gibt. Das Traditionsschiff ist zu klein, in punkto Marketing und Museumspädagogik sehr verbesserungsbedürftig – da braucht es neue Lösungen. Der Bürgermeister selbst freut sich durchaus über unser
Engagement, hat aber natürlich nicht nur dieses Thema auf
dem Tisch. Und unter den Fraktionen ist es vor allem die
Linkspartei, die zumindest immer ein offenes Ohr für uns hat,
wenn wir das Gespräch suchen – auch wenn wir nicht in allen
Dingen die gleiche Meinung haben. Bei anderen Fraktionen
hatte man in der Vergangenheit eher immer das Gefühl bei der
Arbeit zu stören. Da kommt erst langsam ein Umdenken in
Gang. Weg von der Nabelschau, hin zum Bürger und dessen
Anliegen.
Stadtgespräche: Du erwähntest das noch brachliegende Material
– ist da etwas in Arbeit?
Steffen Wiechmann: Nur punktuell. Es gibt in Rostock einen
Arbeitskreis Hochseefischerei, die wollen alte Filme zeigen, die
sie in den Archiven gefunden haben. Derzeit werden sie digitalisiert und dann unter anderem im LiWu gezeigt. In diesen Filmen wird die Prägung der Stadt und Menschen durch Werft,
Schifffahrt und Fischfang noch einmal sehr deutlich. Maritime
Filme wie diese existieren noch in Hülle und Fülle. Allein in
Wismar beim Landesfilmdienst liegen große Mengen, die im
vergangenen Jahr vom Traditionsschiff geholt wurden, mit
dem Auftrag, das Material zu sichern und teilweise zu digitalisieren.
Stadtgespräche: Woran arbeitet Ihr selbst zurzeit vor allem?
Steffen Wiechmann: Zum einen haben wir große Verantwortung für die UNDINE übernommen. Hier geht es darum, das
Schiff und Denkmal zu sichern und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Daran arbeiten gerade Studenten der Hochschule
Wismar, die entsprechende Entwürfe erstellen. Das Schiff wurde 1910 in Rostock genietet, mit 42.000 Nieten insgesamt –
ein weiterer spannender Baustein.
FOTO: TPRIVAT
Außerdem wollen wir mithelfen ein Konzept für maritime Kulturarbeit in Rostock entwickeln. Hinzu kommen praktische
Dinge, wie zum Beispiel maritim geschichtliche Exkursionen
für Schülergruppen. Eine Perspektive für die STUBNITZ in
und mit Rostock. Das ist in der Summe für einen kleinen Verein wie uns eine Menge – das geht nach wöchentlichen Treffen
über nunmehr zwei Jahre hinweg auch an die Substanz der
Mitglieder. Insgesamt versuchen wir die gesamte maritime Beschaffenheit, unsere Kulturgüter und Entwicklungen im Auge
zu behalten. Die Liste ist wirklich lang … ¶
Grüezi TAKRAF
Der Kran von Zürich
OLIVER BILKE-HENTSCH
Eines sonnigen Samstags wurde der Zugereiste von seiner ebenfalls zugereisten Gattin geweckt und auf einen unwiderstehlichen Herzenswunsch aufmerksam gemacht. „Ich möchte den
Delfin sehen“. Oh nein, dachte der erwachende Zugereiste, ein
Besuch im Zoo, muss das sein? Liebevoll wandte er sich der
Gattin zu und sagte: „Wollen wir nicht lieber etwas anderes besichtigen?“ „Nein, bitte, mit dem Delfin verbinde ich Kindheitserinnerungen“. Spätestens zu diesem Zeitpunkt merkte der
Zugereiste, dass es sich offenbar nicht um einen Delfinariumbesuch handeln würde. Es sollte etwas Besonderes stattfinden.
Die beiden Zugereisten (mit Aufenthaltsbewilligung „B“) waren in ihrer Wohnung am goldigen Stadtrand von Zürich und
es lag an sich ein schönes Wochenende vor ihnen.
Was aber hatte es mit diesem „Delfin“ auf sich? Der Zugereiste
kramte in der Biographie seiner Gattin und stellte fest, dass
diese ihre frühe Kindheit in einer magischen Region im Nordosten von Deutschland verlebt hatte. Delfine haben dort auch
in den 1970ern nicht wirklich existiert, aber mit Sicherheit
ebenso elegante Hafenkräne wie der konkrete aus dem Jahre
1963, für den der VEB Kranbau Eberswalde verantwortlich
zeichnet. Und selbstverständlich wollte jedes Schulkind einmal
in der Nähe eines solchen Einlenker-Blocksäulen-Wippdrehkrans spielen oder ihn gar steuern – und durfte nicht. Ein ernstes Problem. Das vermutete zumindest der Zugereiste, der im
Ruhrgebiet groß geworden war, wo sich im Duisburg-Ruhrorter Hafen ebenfalls hunderte von riesigen, nicht bespielbaren
Kränen befanden. Ebenfalls gab es dort einen Zoo mit Delfinen, durch den mitten hindurch die A3 geht, so schloss sich
der Kreis.
Zürich hat etwa 400.000 Einwohner, der gesamte Ballungsraum knapp eine Million, mit planloser Zersiedelung, hochpreisigen Gewerbegebieten, höflich verstopften Autobahnkreuzen, herrlichem Blick auf die 3000er der Glarner und Innerschweizer Alpen bei Föhn, einem sympathischen,
schwimmbaren sauberen Fluss, Limmat genannt, einer alten
Bürgerschaft und einer aktiven berechenbar progressiven Kulturszene.
Bis vor einigen Jahren glaubten die meisten Zürcher (nie Züricher sagen, das machen nur die Düütschen), dass ihr von
Kriegs- und Bausünden verschontes Stadtbild relativ schön und
geschlossen sei. Der Gedanke, dass ausgerechnet ein Hafenkran
von der Ostsee hier noch fehlen würde, erschien den meisten
fremd bis psychiatrisch abklärungsbedürftig. Man muss dazu
wissen, dass es 1915-1918 einen ingenieurstechnisch sicher genialen Plan gab, die Züricher Innenstadt über einen Kanal mit
Basel (die zwei Städte stehen in einem edlen Wettstreit) und
damit letztlich mit den sieben Weltmeeren zu verbinden. Vermutlich war es weise, dieses Projekt nicht umzusetzen und
stattdessen die beste Eisenbahn der Welt und danach zu Lasten
der schwäbischen Volksgesundheit den Flughafen Kloten zu einem Drehkreuz auszubauen, was auch für die Zugereisten sehr
angenehm ist.
Als das zugereiste Paar nach einer romantischen Tramfahrt mit
dem Forch-Bähnli dann den konkreten TAKRAF-Kran unmittelbar an der Limmat, quasi direkt neben dem alten Rathaus
und inmitten der alten Zunft- und Bürgerhäuser sah, war die
Irritation zunächst groß. Dieses Denkmal der Industriekultur
(dem Ruhrgebietler schlug das Herz natürlich höher) passte
sich perfekt in die zwinglianisch-bürgerliche Bürger- Bankenkultur ein und störte kaum den Geld- und Shopping-Fluss.
Der Delfin wirkte, als ob er schon immer dahin gehören würde
und wurde auch von der Bevölkerung nicht wirklich besonders
beachtet. Fast „guckte er sich weg“, was bei so vielen Tonnen
Lebendgewicht gar nicht einfach ist. Es waren ohnehin eher
die Kulturschaffenden gewesen, die in bestimmten Zeitungsfeuilletons die Besonderheit des Projekts „Zürich Transit Maritim“ dargestellt hatten. Für die meisten pragmatischen Bürger
war der Kran auf einmal da und gehörte irgendwie dort hin.
Die Zugereiste stellte bei der näheren Besichtigung fest, dass
sich tiefe baltische Heimatgefühle nicht einstellen wollten, der
Kran war schlichtweg da. Auch nach zwei Dezi Rivaner Wiiswii (regionaler Weisswein) aus dem Zürcher Unterland änderte
sich die Wahrnehmung nicht. Rostock, Ruhrgebiet, Zürich, es
passt schon irgendwie. Man muss eben nur tolerant sein, ganz
einfach. Aber das üben die Schweizer ja seit über 400 Jahren,
das ergibt schon einen Vorsprung. Man könnte allerhand kuriose Geschichten über Zugereiste, Kräne, Zürich und Rostock
erzählen, letztlich aber ist alles recht so und wir wollen uns in
guter helvetisch-protestantischer Tradition schnell wieder dem
Arbeiten zuwenden und nicht zu viel Zeit mit Krankultur und
abschweifenden Gedanken vertun. Und nun ist er ja auch wieder weg, der Rostocker Hafenkran an der Limmat. ¶
0. 32
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I NI TI ATIVEN VORGESTELLT
VORGESTELLT:
„Bau Deine eigene Stadt“
Gespräch mit Initiator Matthias Dettmann
DAS INTERVIEW FÜHRTE KRISTINA KOEBE
Stadtgespräche: Du hast eine Initiative ins Leben gerufen, mit
dem Titel „Bau Deine eigene Stadt“. Was verbirgt sich dahinter?
Matthias Dettmann: Die Idee entstand um das Thema Bauschilder herum. Zuerst hatte ich überlegt, ob ich selbst, d.h. als
Einzelkünstler, etwas dazu machen möchte, eigene Bauschilder
entwerfe a la „Hier entstehen demnächst luxuriöse Eigentumswohnungen“. Diese sollten dann Original-Baustellenschildergröße haben und in Rostock aufgestellt werden. Aber je länger
ich darüber nachdachte, desto stärker hatte ich das Gefühl, dass
ich mir Mitstreiter holen sollte – und so beschloss ich, das
Ganze als Aufruf zu gestalten. Eben den, der jetzt unter
http://www.matthiasdettmann.de/ oder auf Facebook zu finden ist. Jetzt besteht die Kernidee darin, alle Ideen, die Menschen zu der Initiative beitragen, auf Bauschilder zu montieren
und daraus eine große Installation zu bauen. Diese möchte ich
dann in Rostock ausstellen, als eine Art Modelllandschaft.
Eventuell könnte man verschiedene Ideen dort auch schon als
Modell präsentieren.
Grundsätzlich möchte ich die Leute mit der Initiative dazu
bringen, ihre eigenen Ideen und Visionen von Stadt zu entwikkeln. Zwei Beiträge sind schon eingetroffen. Einer davon plädiert beispielsweise für mehr Wald und Grün in Rostock – also
für das Gegenteil von dem, was aktuell hier passiert.
Stadtgespräche: Also eigentlich geht es Dir um Ideen für eine andere Art von Stadtentwicklung?
Ich würde es offener beschreiben: Mir geht es um Ideen für die
Stadt der Zukunft – da finden alle Ansätze und Vorlieben
Platz, nicht nur Alternativen. Die Kernfrage ist „wie sollte die
Stadt von jetzt an weiter entwickelt werden“. Heutzutage
spricht man ja gern von Smart Cities, der Balance verschiedener Interessen, nicht nur in Bezug auf Energiefragen. Vielmehr:
Wie sollten wir zukünftig mit unseren Ressourcen umgehen?
Stadtgespräche: Wie verbreitest Du Deinen Aufruf ?
Matthias Dettmann: Zunächst mal habe ich meinen Freundes- und Kollegenkreis angesprochen. Und in einem zweiten
Schritt die Idee veröffentlicht, zunächst über den Künstlerbund MV. Und ich habe eine Plattform benutzt, die ein bekannter Designer betreibt – zwar in Berlin, aber ich fand es
gut, den Aufruf auch jenseits von MV zu verbreiten. Schon
nach kurzer Zeit kamen dann die ersten Nachfragen. Und nun
warte ich gespannt, wer sich beteiligt.
Stadtgespräche: Die Baustellenschilder sind dann einzelnen Orten in der Stadt zugeordnet, die die Leute selbst auswählen - ?
Matthias Dettmann: Die Schilder müssen sich nicht auf bestimmte Plätze beziehen, es geht allgemeiner um Bilder oder
Ideen von Stadt. Die Zuordnung zu bestimmten Orten ist da
nur eine Variante. Wir, die Künstlergruppe Nilton Glaser, hatten ja vor einiger Zeit schon mal über eine neue Nutzung der
freien Wiese hinter dem Doberaner Hof nachgedacht. Als einen Ort, an dem man Ideen und Entwürfe diskutieren kann,
der Architekten, Designer, Bürger zusammenführt. Dort kann
durchaus auch ein Archiv existierender Konzepte Platz finden.
Bezugnehmend darauf habe ich schon mit dem Eigentümer des
Grundstückes gesprochen, ob dort nicht temporär ein alternatives Baustellenschild aufgestellt werden könnte – das stieß leider nicht auf so offene Ohren. Schon deshalb erscheint mir der
nun gewählte Ansatz hier sinnvoller. Später kann man ja gern
noch eine Zuordnung zu Orten vornehmen, wo das möglich
ist.
Stadtgespräche: Was ist es, das Du vorrangig mit Deinem Projekt
erreichen möchtest – für Rostock?
Matthias Dettmann: Zuerst einmal geht es mir um die Irritation. Und darum, darüber etwas anzustoßen in dieser Stadt. Ich
wünsche mir, dass die Leute bewusster mit zukünftigen Bauvorhaben umgehen – damit nicht noch die achte Kaufhalle
entsteht und noch mehr Betonflächen. Eigentlich heißt Stadtentwicklung ja auch Dinge wie „Blickachsen schaffen“, beispielsweise auf einen Platz. Oder Dinge harmonisch in eine
Umgebung einzufügen, damit ein gutes Ensemble entsteht.
Wenn man sich beispielsweise anschaut, wie der Rosengarten
früher mal aussah, findet man dort eine Ästhetik, eine Schönheit, die ich heute vermisse.
Das heißt nicht, dass wir wieder barocke oder gotische Sachen
bauen müssen – mir geht es um Atmosphäre. Nicht diese austauschbare, uncharakteristische Architektur, die heutzutage so
viele Städte ausmacht. Geprägt von Eigentumswohnungen und
Einkaufsmöglichkeiten, billig gebaut und deshalb auch schnell
wieder renovierungsbedürftig.
Stadtgespräche: Denn wenn man baut, prägt man ja damit mindestens die nächsten hundert Jahre dieses Ortes…
Matthias Dettmann: Ja genau. Und damit stellt sich die Frage,
was jede Generation an architektonisch Relevantem hinterlässt. Was wird man beispielsweise in zweihundert Jahren über
unsere Zeit sagen, wenn man auf die heutige Architektur zurückschaut. Um diese und ähnliche Themen soll es in bei meiner Idee gehen. Deshalb soll nicht nur eine Ausstellung von
Ideen entstehen, sondern auch eine begleitende Publikation
zum Projekt.
Stadtgespräche: Du sprichst mit Deiner Initiative also nicht nur
Künstler an?
Matthias Dettmann: Auf keinen Fall. Freunde von mir wohnen in Toitenwinkel und Dierkow. Deren Sichtweise interessiert mich genauso wie der künstlerische Blick auf das Rostock
der Zukunft. Natürlich sehe ich viel Potential in der Kunst –
ich habe beispielsweise bei meinem Arbeitsbesuch in Dunkirchen gesehen, wie positiv es eine Stadt prägen kann, wenn man
Kreativität und Kunst großen Raum gibt.
Stadtgespräche: Woran, denkst Du, liegt es dass sich die eine Stadt
so entwickelt, die andere so?
Matthias Dettmann: Das hat sicher viel mit dem Profil zu tun,
das sie sich selbst gibt. Und mit ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Rostock ist sehr durch den Tourismus geprägt – hier ist
vieles „außen hübsch gemacht worden“. Geht man aber in die
Wohnungen hinter den schicken Fassaden hinein, sind diese
oft klein und verbaut. Da wird hier m. E. zu wirtschafts- und
verwertungsorientiert gedacht. Und dann wird eben schnell
aus dem von Künstlern betriebenen Kulturgüterbahnhof eine
Ansammlung teurer Lofts. Mit denen deren Bewohner dann
nicht mal glücklich sind.
Matthias Dettmann: Zum einen mache ich gerade Zeichnungen zu Gebäuden und Situationen die es in Rostock gab. Diese
transportiere ich zeichnerisch ins heutige Umfeld. Dabei spielen momentan Situationen nahe des Doberaner Platzes, das
Steintor, der Neue Markt eine Rolle. Und zweitens bin ich gerade als Stadtzeichner unterwegs und versuche, in Anlehnung
an die Vicke Schorler Rolle die heutige Zeit neu einzufangen.
¶
FOTO: TOM MAERCKER
Stadtgespräche: Welche eigenen Ideen hast Du denn, die Beiträge
zu diesem Projekt sein werden?
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I NI TI ATIVEN VORGESTELLT
Fairtrade, vegan, selbstgemacht –
und lecker
Die Open Fair Brunches in Rostock
DAS INTERVIEW FÜHRTE KRISTINA KOEBE
Stadtgespräche: Wie ist Eure Initiative entstanden?
Open Fair Brunch: 2013 haben wir angefangen, aus der Rostocker Fair Trade-Koordinationsstelle heraus, die ja auch die
Bewerbung um den Titel Fair-Trade-Stadt vorbereitet hat. Seitdem hat sich der Kreis derer, die bei Open Fair Brunch mitarbeiten, immer wieder und häufig verändert. Das ist gar kein
Problem und auch gewünscht, hat uns aber dazu gebracht, unsere Arbeit stärker zu strukturieren. So arbeiten wir inzwischen
beispielsweise mit Kontaktlisten oder stellen die wichtigsten
Informationen in einer Übersicht zusammen, damit ein schneller Einstieg in unsere Arbeit gelingen kann.
Stadtgespräche: Wie viele Leute seid Ihr momentan?
Open Fair Brunch: Aktuell arbeiten 8 Leute aktiv an der Vorbereitung und Durchführung der Brunchs mit. Zusätzlich gehören zur Initiative noch Leute, die früher aktiv waren, unsere
Arbeit jetzt aber eher interessiert begleiten. Wir arbeiten übrigens ausschließlich ehrenamtlich – nur in der Gründungszeit
hat der Fair-Trade-Beauftragte die Initiative auch aus seiner bezahlten Stelle heraus unterstützt. Diese Ehrenamtlichkeit finden wir gut und in Ordnung. Das Schöne an dem Konzept ist
ja, dass jeder kommen und mitmachen kann, der sich für die
Idee begeistert. Zu diesem Zweck haben wir beispielweise Mitmachlisten ausgelegt und werben auch auf andere Weise um
„Mitmacher“.
Stadtgespräche: Wie oft finden Eure Brunchs statt?
Open Fair Brunch: Einmal im Monat, mit einigen Einschränkungen in der Weihnachtszeit oder im Sommer, wenn die meisten Studenten zuhause oder in die Ferien sind. Die genauen
Termine erfährt man auf unserem „Open Fair“-Facebookprofil.
Veranstaltungsort ist in der Regel das Peter-Weiss-Haus, im
Sommer der Freigarten und im Winter das Café Marat. Aber es
gibt auch Ausnahmen, wie zuletzt beim „Teilen statt Besitzen“Event in der Frieda 23 – da waren wir auch dabei.
Stadtgespräche: Und wie läuft das dann praktisch? Gibt es ein
festes Menü, wechselnde Angebote? Und wer bereitet was vor?
Wir haben ein Internet-Pad, über das wir abstimmen können,
wer was mitbringt, wer was einkauft usw. Natürlich sind da Sachen dabei, die es eigentlich immer gibt, so beispielsweise verschiedene Aufstriche, die sich bewährt haben. Aber jeder kann
auch neue Dinge vorschlagen – oder einfach mitbringen. Und
auch die Leute, die zum Brunch kommen, können Essen mitbringen, wenn sie möchten.
Stadtgespräche: Wie viele Leute kommen denn normalerweise zu
Euren Brunchs?
Open Fair Brunch: Im Durchschnitt circa hundert Leute. Allerdings lässt sich das in jedem Fall ausgesprochen schwer abschätzen. Wir hatten schon Monate mit deutlich mehr und gelegentlich auch mit sehr viel weniger Besuchern, so dass am Ende Brötchen nachgekauft werden mussten oder wir 150 Brötchen übrig hatten.
Stadtgespräche: Wie finanziert Ihr Euch?
Open Fair Brunch: Jeder der zum Brunch kommt, bezahlt einen Obolus, meistens sind das 5 Euro pro Person. Fairer Apfelmangosaft und Mangoschorle sind da inklusive, Heißgetränke
sind vor Ort im Café oder Freigarten zu erwerben. Die meisten
verwendeten Lebensmittel kommen aus dem Fair-Trade-Laden,
andere Sachen bereiten wir aus regionalen Produkten zu.
Wichtig ist uns auch, dass alle angebotenen Produkte und Lebensmittel vegan sind. Das war am Anfang nicht ganz so, da
gab es noch Honig oder nichtvegane Schokoaufstriche. Aber
irgendwann haben wir unser Selbstverständnis mal deutlich de-
finiert und uns ganz bewusst für ausschließlich vegane Speisen
entschieden. Weil veganes Fair-Trade-Essen der nachhaltigste
Weg ist, den es derzeit ernährungstechnisch gibt. Außerdem ermöglichen wir mit so einem Angebot, dass wirklich alle ohne
Einschränkungen mit essen können, ohne sich Gedanken um
die Zusammensetzung jeder einzelnen Speise machen zu müssen.
Stadtgespräche: Gibt es für Euch so etwas wie eine Hauptzielgruppe?
Open Fair Brunch: Es kommen viele Studenten, aber beim
letzten Brunch im Freigarten haben Familien fast die Hälfte
der Besucher ausgemacht. Und auch Senioren sind dabei – die
Zusammensetzung ist ganz unterschiedlich und stark davon
beeinflusst, wo wir die Veranstaltung jeweils beworben haben.
Hauptwerbemittel ist unsere Facebookseite, aber wir haben
auch schon Flyer an der Uni verteilt. Ein anderes Mal haben
wir mit Kreidezeichnungen auf mehreren öffentlichen Plätzen
geworben, was natürlich sehr wetterabhängig ist. Und wir werben auch recht verhalten, weil wir sonst Besucherzahlen erreichen, die wir gar nicht bewältigen können – 500 Leute wäre
definitiv zu viel.
Stadtgespräche: Was ist Eure Motivation in der Gruppe mitzuarbeiten?
Luise: Ich mag es, wenn die Leute kommen, neue Dinge ausprobieren und sich darüber freuen. Und merken, dass andere
Menschen sich um diese Art von Essen Gedanken machen und
Veranstaltungen wie unsere organisieren. Das finde ich ganz
toll.
Marja: Ich liebe es, meine eigene Einstellung einbringen zu
können, in einer Gesellschaft, wo das oft genug sehr schwierig
ist. Und zu sehen, wie es den Leuten schmeckt, ihre Begeisterung zu erleben. Und das gemeinsam mit anderen Menschen
vorzubereiten und durchzuführen.
Judith: Mir geht es vor allem darum, unsere Vorstellung von
Ernährung unter die Leute zu bringen. Menschen, die das bisher nicht probiert haben, zu vermitteln „das ist fairtrade, vegan
und selbstgemacht – und es schmeckt supergut“. Linsenaufstrich beispielsweise, da erlebe ich immer wieder, dass Leute
nach Hause gehen mit dem Vorsatz, den jetzt auch selbst herzustellen. Außerdem macht es sehr viel Spaß, mit vielen anderen Leuten die Brunchs zu organisieren, gemeinsam zu kochen
und dergleichen.
Louise: Ich selbst esse, soweit es geht und ich es mir leisten
kann, fair gehandelte Produkte und bin Veganerin. Und setze
mich für den Tierschutz ein, so gut es geht. Unsere Initiative ist
eine gute Möglichkeit, diese Idee und Einstellung vielen Menschen nahezubringen.
Christiane: Bei mir steht auch der Spaß im Vordergrund. Ich
bin selbst keine Veganerin, finde es aber sehr wichtig, dass
Menschen, die vegan leben, Möglichkeiten finden, sich zu tref-
fen, gemeinsam zu essen. Rostock hat ja bisher kaum vegane
Restaurant- oder Caféangebote. Und die Idee Fair Trade möchte ich natürlich auch bekannter machen. Außerdem macht es
mir Spaß, immer wieder neue Dinge auszuprobieren. Beispielsweise immer wieder neue Aufstriche, für die ich keine Rezepte
verwende sondern immer neue Kombinationen erfinde.
Theresa: Mich hat die Neugierde zu OFB gebracht. Ich bin
selbst keine Veganerin, habe aber immer wieder erlebt, wie lekker veganes Essen sein kann. Und wollte dann selbst lernen, veganes Essen zuzubereiten. Außerdem finde ich es großartig,
wenn Essen, weil es gut und lecker ist, Menschen zusammenführt, die sich bis dato gar nicht kannten. So entsteht eine Gemeinschaft, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich wichtig
finde.
Stadtgespräche: Inwiefern wollt Ihr mit Eurem Angebot Dinge in
Rostock bewegen?
Open Fair Brunch: Wir wollen die Leute neugieriger machen.
Ich erlebe immer wieder, dass Menschen in meinem direkten
Umfeld nicht verstehen, warum ich, die selbst keine Veganerin
bin, gern auch mal vegan koche. Diese Leute will ich nicht mit
der Moralkeule erreichen, sondern durch Erleben überzeugen
oder für die Idee aufschließen. Menschen, die unser Brunch erleben, beginnen darüber nachzudenken, dass es nicht notwendig ist, Tiere zu essen. Und dass unser Essen nicht zwangsläufig
aus dem Billig-Supermarkt kommen muss und trotzdem günstig sein kann - wenn man selbst kocht und bäckt. So arbeiten
wir schon mit dem oben erwähnten Obolus pro Brunchteilnehmer kostendeckend – der Beweis, dass fairtrade und vegan
nicht teuer sein müssen. Manchmal bleibt übrigens sogar Geld
übrig: das spenden wir dann. Außerdem möchten wir zeigen,
dass es beim Essen um Genuss geht, nicht um reine Nahrungsaufnahme.
Stadtgespräche: Kann man Euch auch unterstützen, wenn man
vom Kochen nicht so viel Ahnung hat?
Open Fair Brunch: Sehr gern. Unter anderem brauchen wir
organisatorische Hilfe, beim Einkaufen oder Sortieren, beim
Ideensammeln usw. Außerdem kann man von unseren Erfahrungen profitieren und mit uns gemeinsam Dinge für den
Brunch herstellen. Wir freuen uns über jeden, der uns unterstützen möchte. Zumal ja auch immer mal jemand verreist ist
oder zu eingespannt, so dass das „Kernteam“ nicht groß genug
ist.
Stadtgespräche: Das heißt irgendwann macht Ihr dann auch
Kochkurse?
Open Fair Brunch: Das ist Zukunftsmusik. Momentan steht
die gemeinsame Freude an den Brunchs im Mittelpunkt. ¶
FOTO: PRIVAT
Ausstellungsraum im Westflügel des Kulturhistorischen Museums, Rostock
Treppenhaus im Bernsteinmuseum, Ribnitz-Damgarten
Horn'scher Hof, Rostock
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AUSGEZ EICHNET
Eine hohe Auszeichnung für den
Rostocker Architekten Michael Bräuer
ULRICH HAMMER
Am 27. Oktober 2014 wurden im
Krönungssaal des Aachener Rathauses die deutschen Preise für
Denkmalschutz verliehen. Diese
Auszeichnungen erhalten Personen und Institutionen, die sich in
besonderer Weise um die Erhaltung, Erforschung und Publizierung unserer Denkmäler verdient
Michael Bräuer
gemacht haben. Der Karl-Friedrich-Schinkel-Ring gilt als höchste
der Auszeichnungen, ihn erhielt der heute 71-jährige Rostokker Architekt und Stadtplaner Dipl. Ing. Michael Bräuer. Ich
möchte unsere „Stadtgespräche“ nutzen, um Glückwünsche
und Dank auszusprechen.
Rostock, Michael Bräuers Heimatstadt seit 34 Jahren, hat seinem Wirken, seiner Gestaltungskraft und seiner so kommunikativen wie energischen Persönlichkeit vieles zu verdanken.
Wenn Schiller den flüchtigen Ruhm des Schauspielers mit den
Worten beklagt: „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“, so muss man mit Erstaunen feststellen, dass dies heute auch
für die Architekten zutrifft. Mit Erstaunen darum, weil es ihre
Gestaltungsideen sind, die unsere Umwelt auf Jahrzehnte prägen und damit unbewusst das Befinden der Stadtbewohner beeinflussen. Daraus erwächst die hohe Verantwortung des Architekten.
Michael Bräuers Tätigkeit als Stadtplaner und Architekt ist
von dieser Verantwortung immer geprägt gewesen. Dabei hat
ihn ein Gefühl für den städtebaulichen Raum, für die bewahrenswerte Kontinuität baulicher, historisch geprägter Zusammenhänge besonders angetrieben.
Evident wurde dies, als der hochproblematische Abriss der
Wohnquartiere nördlich der Langen Straße, auf Anordnung
der herrschenden Partei der DDR, erfolgen musste. Die Frage,
wie nun diese Altstadtflächen wieder aufzubauen seien, führte
zu einem Ringen zwischen der Forderung der Plattenbauindustrie, möglichst schnell und billig lange Wohnblocks zu montieren und andererseits dem Wunsch der Rostocker Stadtplaner, die Spur der Altstadtstruktur im Neuen erahnen zu lassen.
Es ist der Verdienst der Architekten Prof. Dr. Rolf Lasch, Michael Bräuer und Detlef Grund, dass es gelang, eine vielfältig
gegliederte, Geschichte und Topografie erlebbar machende
Neubebauung durchzusetzen.
Nach dem Ausscheiden von Prof. Lasch aus dem Amt des
Stadtarchitekten nahm Michael Bräuer diese Position ein. Im
unruhigen Wende-Jahr jedoch wurde er als Staatssekretär für
Raumordnung, Städtebau und Architektur in das Ministerium
für Bauwesen der Regierung Modrow berufen. In dieser Funktion bereitete er, und das verdient besonderer Erwähnung, die
Grundlagen für ein neues Baurecht vor. Dieses Baurecht hat als
„Übergangsrecht“ weit über 1990 hinaus der städtebaulichen
Planung und vor allem der Stadtsanierungstätigkeit im sog.
„Beitrittsgebiet“ eine praxisnahe und vorzügliche Grundlage
geboten.
In diesem Zusammenhang wurde der Begriff „städtebaulicher
Denkmalschutz“ umrissen. Als Michael Bräuer nach der Wiedervereinigung als freischaffender Architekt in seine Heimatstadt zurückkehrte, wurde die Aufgabe des „städtebaulichen
Denkmalschutzes“, die ihm im Zusammenhang mit der Bebauung nördlich der Langen Straße so dringlich entgegengetreten
war, zum wesentlichen Anliegen seiner Tätigkeit.
So war Michael Bräuer für viele Jahre Vorsitzender des von der
Bundesregierung berufenen Expertengremiums „städtebaulicher Denkmalschutz“ und beriet in dieser Funktion viele Städte und Gemeinden. Das Bewahren historischer Gebäude war
aber auch ein Schwerpunkt in seiner Architektentätigkeit. Davon zeugen der schöne Ausbau des Ribnitzer Clarissinnenstiftes zum Bernsteinmuseum mit einer Vielzahl sehr gelungener
und respektvoller Eingriffe, wie auch die Weiterführung des
Museumsausbaues unseres Kulturhistorischen Museums. In
den letzten Jahren bewies er seinen Ideenreichtum und sein ästhetisches Taktgefühl mit der gelungenen Umgestaltung des
Horn'schen Hofes zu einer Wohnanlage. Eine schwierige Aufgabe, die er hervorragend löste.
Neben dieser beruflichen Tätigkeit war Michael Bräuer unermüdlich ehrenamtlich tätig. So baute er das Ortskuratorium
der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in Rostock auf und
wirkte als Kuratoriumsvorsitzender intensiv darauf hin, dass
wichtige Gebäude unserer Stadt, wie z.B. unsere Marienkirche
materielle und finanzielle Hilfen für ihre Rekonstruktion erhielten.
Damit haben wir Rostocker viele Gründe, Michael Bräuer
für seine Arbeit herzlich zu danken und ihm zu dieser bedeutenden Auszeichnung zu gratulieren. ¶
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I NI TI ATIVEN VORGESTELLT
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REZENS IO N
SCHÖN_NICHTSCHÖN (Tüten)
Ein Kunstprojekt des Dialoges und der Teilhabe
IDEE UND KONZEPT: IDA MÖLLER, RENATE U. SCHÜRMEYER
Seit knapp fünf Jahren arbeiten die bildenden Künstlerinnen
Ida Möller aus Lübeck und Renate U. Schürmeyer aus Nordwestmecklenburg in verschiedenen Projekten zusammen. Dabei
ist ihr Ansatz mit den Ausstellungsbesuchern in einen Dialog
zu treten, direkt einen Dialog zu forcieren mit den Fragen: Was
ist Glück? Woher kommt die Zeit? Was ist SCHÖN? Was ist
NICHTSCHÖN? - und auch „kunstferne“ Menschen zur Teilnahme an Ausstellungsprojekten einzuladen.
Mit ihren SCHÖN- und NICHTSCHÖN-Tüten, die aus Zeitungen genäht werden, wecken die Künstlerinnen Neugier und
Interesse bei Besuchern, bei zufällig Vorbeikommenden. Zeitungsberichte und Bilder, die schon einmal gelesen, gesehen
wurden, tauchen auf den Tüten unvermittelt, in andere Zusammenhänge gestellt, wieder auf. Sie bieten verschiedenste Anknüpfungspunkte für Gedanken über das SCHÖNE und das
NICHTSCHÖNE. Gespräche über Mindestarbeitslohn, auch
für Kunstschaffende, über Nähen in Billiglohnländern, über einen Wert an sich und über das Zweckfreie in der Kunst können
entstehen. Themen des Wiederverwendens, des bewussten Umgangs mit den Ressourcen werden angeregt.
Die SCHÖN- und NICHTSCHÖN-Tüten gesellten sich zu
den am Bahnsteig Wartenden am Bahnhof Baabe auf Rügen
während des Spurwechsels 2014, einer Kunstaktion entlang der
Strecke des Rasenden Roland der Initiative Ästhetik und Nachhaltigkeit in Mecklenburg-Vorpommern. Zum Tag der zeitgenössischen Kunst in Mecklenburg-Vorpommern waren die Tüten in unterschiedlichsten Formationen auf dem Marktplatz in
Wismar anzutreffen, stellten sich den Marktgästen direkt und
irritierend in den Weg. Die Vielfalt der Tüten, die Möglichkeit,
sie in die Hände zu nehmen, von innen und außen zu betrachten, eröffnete einen Raum für gemeinsame Freude am Entdekken und Erzählen, zog die Menschen in ihren Bann.
Die Initiative Ästhetik und Nachhaltigkeit in MecklenburgVorpommern möchte Impulse und Neugier für gesellschaftliche
Entwicklung bündeln. Kunst und Kultur werden als Katalysatoren für notwendige Veränderungen zu Nachhaltiger Lebensweise gesehen: Betroffen zu sein, von etwas berührt zu sein, verbunden zu sein, sind die Voraussetzungen für Veränderungen
der inneren Haltung. In diesen Zusammenhang stellen die beiden Künstlerinnen ihre Aktionen. ¶
-Ida Möller arbeitet seit 2003 frei künstlerisch in Lübeck. In verschieden Ausstellungsprojekten wie z. B. 2013 in der 23. Kunstschau des Künstlerbundes MV, „analog + digital“, im Kulturhaus
Mestlin war sie in den letzten Jahre im Norddeutschen Raum
vertreten. Weitere Informationen unter: www.idamoeller.de
Renate U. Schürmeyer studierte an der Hochschule für Künste im
Sozialen in Ottersberg / Bremen. Seit 2008 beschäftigt sie sich
vorrangig mit der jüngeren deutschen Geschichte und erhielt hierfür verschiedene Stipendien. Weitere Informationen unter:
www.renate-schuermeyer.de und www.mischkultur.eu
Valentin Thurn, Stefan Kreuzberger
Harte Kost. Wie unser Essen produziert wird
Auf der Suche nach Lösungen für die Ernährung der Welt.
München 2014, 320 S., ISBN 978-3-453-28063-2; 16,99 €
REZENSION VON CHRISTOPH KÖRNER
Nachdem die beiden Autoren 2011 ihr Buch Die Essenvernichter herausgaben und in dem Film Taste the Waste dokumentierten, dass die Hälfte aller Lebensmittel auf dem Müll
landet, weil unser Wirtschaftssystem auf Wachstum und Überfluss programmiert ist, zeigen sie in ihrem neuen Buch, wie die
Landwirtschaft im 21. Jahrhundert funktioniert, und fragen
konkret: „wie sie optimiert und geändert werden kann, so dass
zehn Milliarden Menschen satt werden können.“ Dabei folgt
der Aufbau des Buches der Struktur von Valentins Kinofilm
„10 000 000 000“, der im Frühjahr 2015 in die Kinos kommt.
Die Texte erfüllen unterschiedliche Funktionen: Valentin
Thurn schreibt persönliche, emotional gefärbte Berichte von
den Dreharbeiten, während Stefan Kreuzberger vor und zwischen diesen Kapiteln mit harten Fakten und weitergehenden
Erläuterungen für Einordnung und Analyse sorgt.
Die Agrarkonzerne sagen: Um im Jahr 2050 zehn Milliarden
Menschen ernähren zu können, muss die Lebensmittelproduktion weltweit 70 % mehr Lebensmittel produzieren. Das aber
geht nur mit mehr Chemie, mit Gentechnik und Massentierhaltung. Bezugnehmend auf diese These begeben sich die Autoren auf die Suche nach zukunftsfähigen Lösungen für die
Nahrungsmittelproduktion, die Mensch und Tier respektieren
und die knappen Ressourcen schonen.
Sie besuchen Akteure aus den zwei gegnerischen Lagern: der
industriellen und der bäuerlichen Landwirtschaft. Sie treffen
Bio-Bauern und Nahrungsspekulanten, besuchen urbane Gärten und Industrieschlachthöfe, Insekten- und Gen-Lachs-Farmen und möchten an der Fülle von alternativen Modellen zeigen, dass ein ökologisches Umsteuern der Nahrungsgüterproduktion möglich und notwendig ist, wenn man nicht mehr die
Grundlage des Lebens zerstören will, die uns bisher noch trägt.
In acht Kapiteln beschreiben sie sowohl die Misere der gegenwärtigen industriellen Lebensmittelproduktion als auch die
Möglichkeiten des Umsteuerns zu einer lebensfreundlichen
Nahrungsgütererzeugung, die aber auch Verzicht und Umdenken bei den Menschen nicht ausschließt.
Besonders möchte ich auf das 6. Kapitel aufmerksam machen,
das überschrieben ist: „Geld regiert die Welt“. Dort wird geschildert, wie die Finanzmärkte die eigentlichen Hungerverursacher sind, denn an den Getreidebörsen versuchen die Spekulanten zukünftige Preise vorherzusagen und damit einen Gewinn zu erzielen. Sie wetten auf steigende Preise bei Grund-
nahrungsmitteln und setzen ihr Kapital preistreibend ein. So
lassen sich mit dem Hunger auf der Welt vortreffliche Geschäfte machen. Da aber Essen eine Lebensrecht für alle Menschen
ist, muss das Spielen mit Essen an den Terminmärkten der Lebensmittelbörsen verboten werden. Doch davon sind wir noch
weit entfernt.
Die Autoren plädieren darum, das Geld stattdessen in der Region zu belassen. Sie würdigen die einzelnen Regionalwährungen, die sich aber immer nur „parallel zu den nach wie vor dominierenden Währungen entwickeln, die stets noch fest in das
internationale Finanzsystem eingebunden sind“. Als ein Gegenmodell sehen die Autoren eine „Regionalwert AG“ (Aktiengesellschaft), wie sie es in Breisgau gibt. Dort haben sich 520 Bürger zu einer Bürger-AG vereinigt, die sich die knapp 2,5 Millionen Euro Stammkapital teilen. Im Durchschnitt haben sie also
4000,00 € eingebracht, die Mindestbeteiligung liegt bei 500,00
€, von manchen Teilhabern sind es 10.000 und mehr Euro.
So betreiben diese „Aktionäre“ Bio-Höfe, Läden, Gärtnereien,
Obstplantagen und Molkereien. Dabei bleiben das Geld wie
die Produkte in der Region, weil alles regional hergestellt und
vermarktet wird. Weil es keine anonymen Kapitalgeber in der
Regionalwert-AG gibt, heißt es von ihnen: „Sie teilen das Ziel
einer vielfältigen Kulturlandschaft und einer direkten Verbindung von Landwirten, Verarbeitern und Verbrauchern der Region. Ganz entscheidend ist, dass die Menschen in den einzelnen Regionen für sich selbst sorgen. So eine Ernährungssouveränität ist die Basis, von der aus dann auch die Menschheit ernährt werden kann, vom Kleinen ins Große und nicht vom
Großen ins Kleine“(S. 210).
Die Herausforderung für alle bleibt, wie dieser Paradigmenwechsel der Wirtschaft geschafft werden kann, wenn zwei
Drittel der Entwicklungsländer in der heutigen globalisierten
Welt nicht mehr genügend Nahrung für ihre eigene Bevölkerung produzieren. Eine ungeheure Anstrengung ist nötig, aber
sie ist möglich, wenn der Gemeinschaftscharakter über den
Egoismus siegt, meinen die Autoren. Dass sie mit der alternativen Nobelpreisträgerin Vandana Shiva (Mitglied des Club of
Rome und des Exekutivkomitees des Weltzukunftsrates) eine
weltbekannte Kämpferin zur Umsteuerung der Landwirtschaft
von der Monokultur zur Diversität gefunden haben, die ein beherztes Vorwort geschrieben hat, verleiht dem Buch eine besondere Note und zeigt seine Wertigkeit. ¶
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NACHRUF
ADIEU, WUNDERBARE FREUNDIN.
Menschenrechtlerin seit 1928: Beate Brodowski ist am 30.12.2014 verstorben
JENS LANGER
Beate Brodowski, geb. Bohne, kam am 16.9.1928 im Pfarrhaus
zu Oberlungwitz/Erzgebirge zur Welt. Hierher stammen die
feingewirkten Esda-Strümpfe, die Ende Mai wieder gefeiert
werden mit dem 17. Strumpf-Fest. Sie war die Sechste von
neun Geschwistern. Sie wurden z.B. Missionsschwester in Tansania, Katechetin in Neukalen, Pastor in Schleswig-Holstein,
Konzernmanager (nach der Rente noch in Rumänien). Ein
Flor freundlicher Nichten umgab sie später bei gelegentlichen
Besuchen. Beates Erzählungen aus der frühen Nachkriegszeit
sind Beiträge zur Kulturgeschichte und Zeitbilder zum Staunen. Bei der Strophe „Zwei Engel sind hereingetreten“ war sie
als Kind lange traurig, weil sie an die Schmerzen der Augen
denken musste, in die getreten wurde. Ihr Schulweg betrug allein schon bis zum Bahnhof 3 km und sie mochte Mathematik
nicht. Darum zog sie sich von diesen Stunden zurück und
konnte kein Abitur erreichen.
Sie ist auch so zu einer ungewöhnlichen Person geworden.
Nach einer Landwirtschaftslehre ließ sie sich am Radebeuler
Amalie-Sieveking-Haus zur Gemeindehelferin ausbilden und
wurde Jugendwartin in Sachsen.
Sie heiratete Theo Brodowski aus Bartenshagen, der Pastor in
Gr. Tessin wurde. Von ihren wachsenden gemeindlichen Kindergruppen wurde begeistert im Lande erzählt. Als sich ihr
Ehemann nach sechs Jahren von ihr getrennt hatte, arbeitete sie
u.a. für die Evangelische Jugend auf dem Lande, die Siegfried
Köster lange geprägt hatte. Reisen zu Gruppen und Einzelnen,
Gespräche und gemeinsame Bibellektüre auf Rüstzeiten - damit ermutigte und vernetzte sie eine neue Generation auf den
Dörfern. Immer offen für Problemanzeigen, wirkte sie 1977-90
in diesem Sinne für Frauen verschiedener Altersgruppen. Das
geschah unterm Dach der Evangelischen Frauenhilfe und vor
allem in Boltenhagen auf Rüstzeiten zur Erholung und Orientierung, wiederum in einem A.-Sieveking-Haus.
„In meiner Erinnerung erscheint es mir als meine wichtigste
Arbeit.“ Sie ließ sich weiterbilden in Praxisberatung, Gemeindeorganisation und Telefonseelsorge. Legendär ihre Bereitschaft, jahrelang Heiligabend den Dienst am Fernsprecher zu
übernehmen. Eine coole Teamworkerin. In Parum bei Güstrow
legte sie sich mit dem Landessuperintenden an, als ihre Wohnung im Pfarrhaus langsam unzumutbar wurde. Sie schrieb ihrem Vorgesetzten einen scharfen Brief. Der schickte ihn mit
dem Bemerken zurück, für ein solches Schreiben fände sich in
seinem Büro kein Aktenordner zur Ablage. Ihre Wohnung im
Rostocker Nikolai-Kirchturm stellte sie einmal in ihrer Abwesenheit unserem sechzehnjährigem Sohn zur Verfügung zwecks
Erkundung des Gefühls, selbständig zu leben. Ihre Freiheit und
Herzlichkeit ließen der jugendlichen alten Dame auch die
Herzen von viel Jüngeren zufliegen. 1981 reimte der Oktoberklub im DDR-Rundfunk: Der Papst übt heimlich auf dem
Klo/ das Lied „Avanti, popolo!“ Unsere Hörerin schrieb dar-
aufhin an den Radiosender:
Das Lied vom Papst, das find ich doof.
Ich frag mich: Was übt Willi Stoph?
Ich denke mir das so:
er übt „In dulci jubilo“.
In der Zeitschrift für plattdeutsche Gemeindearbeit mit dem
Namen „De Kennung“ hat ein Autor diese Strophe als Beispiel
dafür verwendet, wie verbreitete Klischees über die sogenannten DDR-Menschen praktisch widerlegt würden; denn der
Beitrittsbürger zeige sich hier u.a. versiert in toten wie in lebenden Sprachen; er sei durchaus geschichtsbewusst und er differenziere entsprechend: Man muss nicht immer und ewig gegen
den Papst stänkern. Und schließlich die provokante Schlussfolgerung: Der DDR-Mensch ist protestantisch - und er ist weiblich! (De Kennung Oktober 1996) So war es immerhin damals
in den Loccumer Akademie-Hallen im Hannöverschen zu hören.
Sie gehörte 1989 zum Unabhängigen Untersuchungsausschuss
(UUA), der die Unterlagen der Rostocker Bezirksbehörde des
Ministeriums für Staatssicherheit sicherte und sichtete. Ihre
Mitgliederkarte: Nr. 32. Zur Erinnerung: Damals konnte
man/frau für ein solches Engagement u.a. nächtliche Telefonanrufe mit Morddrohungen bekommen. Der Senat der Hansestadt Rostock trug Beate Brodowski zusammen mit den anderen Ausschussmitgliedern am 9.12.1990 in das Ehrenbuch der
Kommune ein.
Darüber hinaus interessierte das Rathaus sich überhaupt nicht
für diese Verkörperungen der Renitenz und Aufklärung in
schwieriger Zeit, als die Behörden dann wieder eine richtige
Behörde für spezielle Akten hatte. Der Fotograf Siegfried Wittenburg hat die erste Rostocker Demo am hellerlichten Tag
vom 4.11.1989, durch Jugendliche aus Beates Umfeld organisiert, auf einem Bild festgehalten. Beate ist nicht darauf zu sehen, aber präsent; denn ein Mann trägt das von ihr gemalte
Plakat: Wer Gewalt und Unrecht tut, muß zuletzt zum Bettler
werden. Jesus Sirach 21,5. Politischer Durchblick gleich bis
heute!
Geplante Feiern zu ihrem 80. Geburtstag sagte sie ab. Sie fühlte sich schwach, durch Gebrechlichkeit verunsichert und zerstreuter als sonst. Nun kam die von ihr geschenkte Freundschaft und Liebe verstärkt zu ihr zurück. Ein Kreis des Vertrauens und Dankes trug sie jahrelang. Als sie am 30.12. abends in
die Ewigkeit gerufen wurde, waren Frauen und Männer liebevoll um sie, mit Gesang und Gebet. ¶
-Speziell: Astrid Utpatel-Hartwig, Die Evangelische Frauenhilfe
in der Mecklenburgischen Landeskirche, Stralsund 2012
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„Rostock
können
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Kunstprojekte
unterstützen
und
Kunstprojekte
lassender
Republic“
werden
unterstützen
Sie
Kulturrepublik
Wir
Ihre
würden
uns
Einwohner
Rostock!
freuen,
„Stadtgespräche“.