Sattgesehen - Boersenblatt.net

editorial
Sattgesehen
Sätze wie »Glück ist was für Pilze«, »Wehe, du liest das!« oder
»Zum Ignorieren reicht’s« sind seit dieser Woche in riesigen Lettern auf Deutschlands Bahnsteigen zu lesen. Die Kölner AußenwerbeAgentur ASS, die jährlich zum Plakatwettbewerb Best 18 / 1 einlädt,
will mit einer Kampagne darauf aufmerksam machen, dass Plakate in
der digitalisierten Gesellschaft ein perfektes Medium für »Rückbesinnung und Entschleunigung« seien. Das gute, alte Papier soll also für Beachtung sorgen. Kennen wir in der Buchbranche, bei uns besorgen das
jeden Tag die Cover. Mit immer mehr Aufwand wird im Jugendbuch
um Wahrnehmung geworben, schließlich soll sich jedes Buch abheben.
Kann natürlich nur bedingt glücken bei jährlich rund 8 000 Neuerscheinungen für den Nachwuchs. Zu den Evergreens unter den Covermotiven gehört ein Foto, das bei den Buchhändlerinnen meines Vertrauens schon zu Heiterkeitsausbrüchen führt, weil es inflationär verwendet wird. Es zeigt einen Teenager von hinten auf einem schmalen
Holzsteg, der ins Meer oder einen See hineinführt. Ein Motiv, das mit
seiner unendlichen Weite bedeutungsschwanger auf die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten hinweist, die vor einem Teenager liegen. Der
Der Teenager am See ist eine Folie,
vor der sich eine urbane Jugend
Abenteuer erträumen kann.
© Werner Gabriel
im Vergleich zur Landschaft kleine Mensch symbolisiert Verlorenheit,
Einsamkeit; das Motiv ist eine Folie, vor der sich eine urbane Jugend
Abenteuer erträumen kann – ein bisschen wie die »Landlust«-­Magazine,
in die sich Städter hineinträumen, die im realen Leben nie einen Spaten
in die Hand nehmen.
Kein schlechtes Motiv also. Nur verliert es, weil es so oft (auch international übrigens) eingesetzt wird. One size fits it all, mögen Verlage
denken, aber »Bücher sind so kostbar, dass sie in ihrer Einzigartigkeit
auch erkannt und gewürdigt werden müssen«, forderte der in dieser
Woche verstorbene Roger Willemsen, ein Bannerträger des Buchs, zu
Recht. Auf den folgenden Seiten zeigen wir solche wunderbaren Bücher
und steigen auch in die Coverdebatte ein. Nicht »Wehe, du liest das!«
also, sondern: Lesen lohnt sich.
[email protected]
3