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Feuilleton
Der Traum von
Zargrad
BÖRSEN UND MÄRKTE
Investoren wetten auf Lockerungen
Investoren in den USA bringen sich
zurzeit in Position, um von einer weiteren quantitativen geldpolitischen
Lockerung zu profitieren.
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Die russisch-türkische Geschichte ist seit Jahrhunderten von Rivalität geprägt. Von Ulrich M. Schmid
Dass die Türkei und Russland
aneinandergeraten, hat seit
dem 17. Jahrhundert Tradition.
Nicht nur spielte dabei stets
Machtpolitik eine Rolle – auch
in ihrem Sendungsbewusstsein
prallten die Rivalen mitunter
heftig aufeinander.
In der Neuzeit führten Russland und das
Osmanische Reich etwa alle zwanzig
Jahre einen Krieg. Die Rivalität zwischen dem Zarenreich und der Hohen
Pforte nahm ihren Anfang bereits im
17. Jahrhundert, als die beiden Mächte
um die Vorherrschaft in der Ukraine
kämpften. Dieser Krieg hat vor allem
durch Ilja Repins berühmtes Bild «Die
Saporoscher Kosaken schreiben dem
türkischen Sultan einen Brief» aus dem
Jahr 1880 Eingang in das kollektive russische Bewusstsein gefunden: Die Kosaken auf diesem Gemälde denken sich
mit diebischem Vergnügen immer neue
Beleidigungen für den Sultan aus, der sie
zur Unterwerfung aufgefordert hatte.
Repin war nicht zufällig auf dieses Sujet
gekommen: Im Krieg von 1877/78 hatte
Russland das Osmanische Reich besiegt
und den jungen Balkannationen wichtige Impulse zum Aufbau ihrer Staatlichkeit verliehen.
Patriotischer Taumel
Eine wichtige Rolle bei der geistigen
Aufrüstung Russlands spielte im russisch-türkischen Krieg von 1877/78 auch
Fjodor Dostojewski. In seinem «Tagebuch eines Schriftstellers» gab der berühmte Romanautor seiner Überzeugung Ausdruck, dass «das Goldene
Horn und Konstantinopel unser sein
werden». Den Krieg selbst bezeichnete
er als «reinigendes Gewitter», das die
gesellschaftliche Solidarität zwischen
der Bauernschaft und dem Adel in Russland stärken werde. Vorbereitet wurden
Dostojewskis patriotische Ideen durch
den Lyriker Fjodor Tjutschew, der 1850
in seiner «Weissagung» gedichtet hatte:
«Und die alten Gewölbe der Hagia
Sophia / und das erneuerte Byzanz / werden erneut den Altar Christi umfassen. /
Fall vor ihm nieder, o russischer Zar /
und auferstehe als Zar aller Slawen!»
Solch hochfahrende Visionen spielten
eine wichtige Rolle bei der Entfesselung
des Krimkriegs (1853–1856). Die russische Gesellschaft befand sich in einem
patriotischen Taumel – man träumte von
einer panslawischen Föderation unter
russischer Führung. Einer der Wortführer dieses Programms war der erzkonservative Publizist Michail Pogodin, der das
eroberte Konstantinopel sogar zur neuen
russischen Hauptstadt machen wollte.
Allerdings wurden seine Erwartungen
bald enttäuscht: Russland unterlag
schmählich in diesem Waffengang gegen
das Osmanische Reich.
Zar Nikolaus I. konnte es kaum fassen, dass Frankreich und Grossbritannien auf der Seite der Türken gegen
Russland kämpften. Wie selbstverständlich war der russische Herrscher davon
ausgegangen, dass jeder militärische
Angriff auf Nichtchristen nicht weiter
gerechtfertigt werden musste und per se
den Anspruch auf eine «heilige Allianz»
der europäischen Grossmächte begründete. Als sich die russische Niederlage
abzeichnete, bemerkte der Zar resigniert, dass er nur noch als «Glaubensmärtyrer» untergehen könne.
Es gab für Nikolaus I. aber noch ein
weiteres Prinzip, das sein aussenpolitisches Handeln bestimmte und erst in der
zweiten Hälfte seiner Regierungszeit
mit dem christlichen Sendungsbewusstsein kollidierte. Der Zar betrachtete die
Autokratie als einzig legitime Staatsform und achtete sorgsam darauf, dass
die Stellung anderer Monarchen nicht
ernsthaft gefährdet wurde. So schlug er
gemeinsam mit dem österreichischen
Kaiser Aufstände in Krakau (1846) und
in Ungarn (1849) nieder. Wegen dieser
Polizeieinsätze galt Nikolaus I. als
«Gendarm Europas». Erstaunlicherweise erstreckten sich Nikolaus’ solidarische Hilfsaktionen für bedrängte Autokraten auch auf das Osmanische Kalifat.
Der Zar schlachtete Unruhen gegen die
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Türkenherrschaft
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rumänische Revolution nieder. Seite 21
Die chauvinistischen Töne, die den
Krimkrieg und den Krieg von 1877/78
begleiteten, klangen in den Türkenkriegen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts
noch eher verhalten. Viel wichtiger
waren geopolitische Interessen, die sich
auf die Kontrolle der nördlichen
Schwarzmeerküste konzentrierten. Eine
entscheidende Rolle spielte Katharina
die Grosse, die ein «griechisches Projekt» verfolgte. Sie wollte das Zarenreich in der Nachfolge des Byzantinischen Imperiums positionieren und zur
Hüterin des orthodoxen Christentums
aufsteigen. Sie ging sogar so weit, ihren
Enkel Konstantin zu nennen und ihn
Griechisch lernen zu lassen, damit er
später den byzantinischen Thron übernehmen könne. Katharina konnte zwar
nicht bis zum Bosporus vorstossen,
annektierte aber 1783 die Krim.
Schmerzhafter als der Verlust der
Halbinsel war für das Osmanische Reich
das Ende der dreihundert Jahre währenden Seehoheit über das Schwarze Meer.
Auch Katharinas «griechisches Projekt»
war nicht ausschliesslich als russische
Expansion angelegt. Die Zarin war auf
eine Balance der europäischen Grossmächte bedacht: Sie wollte nach einem
allfälligen Sieg über das Osmanische
Reich die eroberten Gebiete auf dem
Balkan nach dem sogenannten «système
copartageant» verteilen. Darunter verstand sie einen sorgfältigen Schlüssel,
nach dem sich die etablierten Autokratien territorial gleich stark erweiterten.
Exemplarisch wurde dieses System während der polnischen Teilungen am Ende
des 18. Jahrhunderts angewandt.
Einen späten Widerhall fanden Katharinas byzantinische Träume während
des Ersten Weltkriegs. Die Eroberung
Konstantinopels rückte auf der russischen Tagesordnung wieder ganz nach
oben. Dabei stand vor allem der ungehinderte Zugang zum Mittelmeer für
russische Handels- und Kriegsschiffe im
Vordergrund. Im November 1914 kam
zwischen Russland und Grossbritannien
ein veritabler Kuhhandel zustande:
Grossbritannien sicherte sich Russlands
Unterstützung im Kampf gegen
Deutschland, indem es nach einem gemeinsamen Sieg über Deutschland die
russischen Interessen an den Meerengen
respektieren würde. Im Gegenzug versprach der Zar, Persien und Ägypten
nicht anzutasten. Dieser Deal war umso
erstaunlicher, als Grossbritannien in den
Jahrzehnten zuvor noch alles darangesetzt hatte, das Osmanische Reich vor
Russland zu schützen. Der Grund für
das britische Umdenken lag in der festgefahrenen Situation nach der Schlacht
bei Ypern. Ein Sieg an der deutschen
Westfront war unwahrscheinlich geworden, deshalb musste man sich erstens
russische Unterstützung holen und
zweitens die mit Deutschland verbündeten Türken angreifen.
Der Erste Weltkrieg endete mit dem
Untergang sowohl des russischen Imperiums als auch des Osmanischen Reiches. Auf den Ruinen beider Monarchien entstanden neue Staaten, die sich
als radikale Modernisierungsprojekte
verstanden: Lenins kommunistisches
Sowjetrussland und Kemal Atatürks
national geprägte Republik. Beide Staaten mussten sich zuerst ihre innenpolitische Legitimität und die Anerkennung
der internationalen Gemeinschaft sichern. Deshalb schlossen die Sowjetunion und die Türkei bereits im Jahr
1925 für die Dauer von zwanzig Jahren
einen Freundschaftsvertrag, der den beiden jungen Regierungen gegenseitig
den Rücken freihalten sollte. Bezeichnenderweise wurde der Vertrag nach
dem Zweiten Weltkrieg wegen eines
Territorialkonflikts nicht erneuert: Stalin forderte ehemals zum Zarenreich gehörende Gebiete in Ostanatolien und
wollte sie der georgischen und der armenischen Sowjetrepublik anschliessen. Im
Jahr 1952, auf dem Höhepunkt der
Krise, trat die Türkei der Nato bei. Die
Situation entspannte sich erst nach dem
Tod des Sowjetdiktators wieder.
Die Achse der Turkvölker
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion streckte die Türkei vor allem im
Rahmen der kulturellen Zusammenarbeit die Fühler in die Russische Föderation aus. 1993 wurde die «Turksoy» als
Kulturorganisation der turksprachigen
Länder gegründet. Mitglieder sind die
Türkei, die zentralasiatischen Staaten sowie Aserbaidschan. Die turksprachigen
Teilrepubliken in Russland, darunter
Tatarstan und Baschkortostan, haben Beobachterstatus. Bis heute hat Ankara
seine engsten Beziehungen in Russland
nicht zu Moskau, sondern zu Kasan und
Ufa. Wenig überraschend hat der linientreue Kulturminister Wladimir Medinski
gleich nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei den
turksprachigen Teilrepubliken der Russischen Föderation die Zusammenarbeit
mit «Turksoy» untersagt. Die Tataren und
Baschkiren befinden sich heute in einem
Dilemma: Einerseits besteht Moskau auf
einer unmissverständlichen Loyalitätsbekundung, andererseits schätzt man an
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Der Petersburger
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Pawel
Krusanow
veröffentlichte im Jahr
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2000 seinen Roman «Der Biss
Engels», der in einem utopischen Russischen Reich mit der Hauptstadt Zargrad
spielt – Zargrad ist die russische Bezeichnung für Byzanz. Im August 2001
publizierte er – gemeinsam mit dem Philosophen Alexander Sekazki – einen
offenen Brief, in dem er zur Ausweitung
des russischen Imperiums an seine «unsichtbaren Grenzen» aufrief: «Zargrad,
Bosporus, Dardanellen.»