1 Dr. Heinz Rüegger Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung. Sozialpolitische und ethische Aspekte Veranstaltung für Verantwortliche für Altersfragen in den Gemeinden des Kantons Thurgau 25. August 2015 2 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Demografische Entwicklung • Langlebigkeit: Lebenserwartung bei Geburt im Jahr 1900 2013 • • • > 25.08.156 für Männer 46,2 Jahre 79,4 Jahre für Frauen 48,9 Jahre 84,2 Jahre in einem Jahrhundert Steigerung der Lebenserwartung von über 30 Jahren! Dr. H. Rüegger 3 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung D •A 25.08.156 Dr. H. Rüegger 4 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Alterung der Gesellschaft • Die Gruppe der Alten wächst am schnellsten. • Demografisches Hauptszenario Kt. TG: Bevölkerung total 2015 2030 261’806 258’480 65+ 45’321 = 17.3 % d.B.t. 71’515 = 27.7 % d.B.t. 65-79 32’834 49’983 80+ 12’487 = 4.8 % d.B.t. 21’532 = 8.3 % d.B.t. Am meisten Personen 65+ hat/wird haben der Bezirk Arbon. 25.08.156 Dr. H. Rüegger 5 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung • Phänomen der Unterjüngung (nicht Überalterung!) Kt. TG 2015 2030 Jugendquotient (0-19 : 20-64) 32.8 36.5 Altersquotient (65+ : 20-64) 27.8 45.6 25.08.156 Dr. H. Rüegger 6 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Unterschiedliche Alterskulturen • Junge Alte (ca. 65-80/85) - relativ gesund - aktiv, engagiert - mobil - selbstständig - materiell abgesichert - kompetent, erfahren - frei von beruflichen + familiären Verpflichtungen - empfinden sich nicht als alt > ‘neue’ Altersgruppe 25.08.156 Dr. H. Rüegger 7 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung • Alte Alte/Hochaltrige (ca. 80/85+) - steigende physische/psychische Verletzlichkeit - abnehmende Kräfte - reduzierte Mobilität - steigender Unterstützungsbedarf - langsamer - zunehmende Erfahrung von Grenzen/Verlusten - Reifungsprozesse - Rückzugsprozesse > ‘eigentliches’ Alter 25.08.156 Dr. H. Rüegger 8 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Negative Altersbilder • Grundproblem: - wir machen alles, um immer länger zu leben - aber niemand will wirklich alt sein! • Monika Maron: «Natürlich will ich, was alle wollen: Ich will lange leben; und natürlich will ich nicht, was alle nicht wollen: Ich will nicht alt werden. Ich würde auf das Alter lieber verzichten. Einmal bis fünfundvierzig und ab dann pendeln zwischen Mitte Dreissig und Mitte Vierzig, bis die Jahre abgelaufen sind; so hätte ich die mir zustehende Zeit gerne in Anspruch genommen.» • James Hillman: «Je älter wir werden, desto weniger sind wir wert.» 25.08.156 Dr. H. Rüegger 9 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Anti Aging • Juvenilitätskult unserer Gesellschaft • Anti Aging: «Forever young!» Alter als etwas Pathologisches, zu Bekämpfendes, zu Vermeidendes? • Schlagworte: Überalterung, Alterslast > Alte/Hochaltrige als das grosse Problem und die grosse Belastung unserer Gesellschaft? • Gesellschaftliche Altersbilder als mentaler Kontext des Lebens im Alter beeinflussen Lebensqualität. 25.08.156 Dr. H. Rüegger 10 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung • Laure WYSS (87) : „Es ist ja kein Schleck, heute zum Kontingent jener zu gehören, die immer zahlreicher und immer dringlicher zur Belastung der aktiven Bevölkerung werden. Wir Alten sind eine Last, eine Bedrohung. Das ganze Land, der Ort, wo wir wohnen, viele in unserer Umgebung suchen nach Lösungen, wie man mit uns fertig wird, wo uns unterbringen, pflegen, ernähren, wie uns ertragen punkto Kosten und auch psychisch. Es ist sicher für niemanden erheiternd, sich mit uns zu beschäftigen, mit uns, die wir nichts mehr einbringen und ganz ohne Zukunft sind. Für uns aber auch kein Schleck, in diese Bevölkerungsschicht hineingestossen zu werden; und selber zu realisieren, dass es so ist. Und wir, die Alten, haben selber kaum gute Einfälle, wie die Gesellschaft mit dieser Last umgehen könnte und sollte.“ (Schuhwerk im Kopf) 25.08.156 Dr. H. Rüegger 11 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Herausforderung 1 • Voraussetzung guten Alter(n)s ist ein gesellschaftliches Umfeld, das Alter, auch hohes Alter, als zu einem normalen Leben gehörende Lebensphase - mit eigenen Chancen - mit eigenen Herausforderungen - mit eigenen Aufgaben begreift und differenzierte, würdigende Altersbilder entwirft. = eine Art ‘mentaler Altersvorsorge’ 25.08.156 Dr. H. Rüegger 12 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung • Hermann Hesse: «Das Greisenalter ist eine Stufe unseres Lebens und hat wie alle andern Lebensstufen ein eigenes Gesicht, eine eigene Atmosphäre und Temperatur, eigene Freuden und Nöte. Altsein ist eine ebenso schöne und heilige Aufgabe wie Jungsein − vorausgesetzt, dass sie mit Ehrfurcht vor dem Sinn und der Heiligkeit alles Lebens vollzogen wird. Um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein. Man muss Ja dazu sagen. Ohne dieses Ja geht uns der Wert und Sinn unsrer Tage verloren.» 25.08.156 Dr. H. Rüegger 13 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Junge Alte als gesellschaftliche Ressource • Mit der Babyboomer-Generation (Jg. 1946-64) entsteht eine grosse Gruppe Junger Alter. • Sie haben ein Recht, ihre Freiheit zu geniessen und zu gestalten. • Zugleich sind sie eine Ressource, ohne die die Gesellschaft in Zukunft nicht funktionieren wird: - freie Zeit - gute Gesundheit - Erfahrung - Bedarf an sinnvoller Tätigkeit - Teilhabe • Alters-Generativität als intergenerationelle Verantwortung. 25.08.156 Dr. H. Rüegger 14 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Herausforderung 2 • Junge alte sind als gesellschaftliche Ressource wahrzunehmen und durch freiwillige Möglichkeiten attraktiven, ehrenamtlichen/zivilgesellschaftlichen Engagements (etwa im sozialen Bereich) zu gewinnen. • Wichtig: moderne Formen von Ehrenamtlichkeit - in klaren Strukturen - mit Eigenverantwortlichkeit - mit Unterstützung - in klar begrenztem Rahmen • Aufgabe der Gemeinden: - vernetzen/koordinieren - Infrastruktur zur Verfügung - beraten stellen 25.08.156 Dr. H. Rüegger 15 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Altersgerechtes Wohnen • Ziel: Lebensqualität durch altersgerechte Wohnmöglichkeiten. • Möglichst lange, bis ins hohe Alter in den eigenen vier Wänden wohnen können. • Möglichst barrierefreier, bezahlbarer Wohnraum. • Angepasstes Wohnumfeld: - Anschluss an ÖV - Einkaufsmöglichkeiten - soziale/med. Dienste - Begegnungsorte - kulturelle Angebote - Beratungsstellen - gastronomische Angebote 25.08.156 Dr. H. Rüegger 16 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung • Verfügbarkeit modular abrufbarer Service-Leistungen: - Reinigung - Mahlzeiten - Haushaltführung - Einkaufen - Pflege - Treuhanddienste - Taxi • Angesichts der Verschiedenheit alter Menschen ist eine Vielfalt von Wohnmöglichkeiten sicherzustellen. • Selbstbestimmtes Wohnen soll immer die drei Dimensionen einschliessen: - Rückzug in Privatheit - Leben in Gemeinschaft - Teilhabe an der Öffentlichkeit 25.08.156 Dr. H. Rüegger 17 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Herausforderung 3 • Gemeinden haben sicherzustellen, dass genügend und unterschiedliche Angebote altersgerechten, bezahlbaren Wohnraums vorhanden sind. • Diesbezüglich besteht ihre Aufgabe v.a. darin, - die aktuellen und künftigen Bedürfnisse zu erheben - bestehende Angebote zu vernetzen - über bestehende Möglichkeiten/Angebote altersgerechten Wohnens zu informieren und zu beraten - die Entwicklung neuer Angebote zu ermutigen - bei der Quartiers-/Ortsplanung den Aspekt eines altersgerechten Wohnumfeldes zu berücksichtigen 25.08.156 Dr. H. Rüegger 18 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Medizinisch-pflegerische Versorgung • Die Zahl chronisch-kranker, multimorbider Hochaltriger wird zunehmen. Ein entsprechendes Angebot an medizinischpflegerischer Versorgung ist sicherzustellen. • Dabei ist wichtig - der Ausbau ambulanter Dienste (Spitex) - die Sicherstellung medizinischer Grundversorgung im geografischen Nahbereich - die gute Vernetzung verschiedener Dienste in einer Behandlungskette (ambulant, teilstationär, stationär-akut, stationär-langzeit) - die Förderung von Palliative Care als flächendeckendes Angebot 25.08.156 Dr. H. Rüegger 19 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Herausforderung 4 • Es ist sicherzustellen, dass ein angemessenes Angebot an medizinisch-pflegerischer Grundversorgung an jedem Ort bereitsteht. Dabei ist die Förderung von Palliative Care besonders zentral. • Die Aufgabe der medizinisch-pflegerischen Versorgung hochaltriger Menschen ruft vielerorts nach übergemeindlichen/regionalen Lösungen. • Ein besonderes Augenmerk ist auch der Unterstützung pflegender Angehöriger zu schenken (z.B. Entlastungsangebote). 25.08.156 Dr. H. Rüegger 20 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Sorgende Gemeinschaft (caring community) • Caring community / sorgende Gemeinschaft / sorgende Kommune / Verantwortungsgemeinschaft = neues Konzept • Die alternde Gesellschaft wird einen so grossen Betreuungs- und Pflegebedarf generieren, dass er nicht allein mit Professionellen und spezialisierten Institutionen abgedeckt werden kann. Gefordert ist ein neues zivilgesellschaftliches Engagement vor Ort (im Quartier, in der Nachbarschaft) = sozialräumliche Perspektive • Ehrenamtliche, alltägliche Betreuung und Begleitung durch Laien/Nachbarn. 25.08.156 Dr. H. Rüegger 21 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung • Unterstützung durch Professionelle und Stützpunkte vor Ort. • Intergenerationelle Solidarität im Sozialraum. • Nachbarschaftliche Mitverantwortung und Sorge (Care) Neuer Hilfe-Mix von - Selbsthilfe - Angehörigenhilfe - Nachbarschaftshilfe - professionelle Unterstützung ambulant - stationäre Unterstützung 25.08.156 Dr. H. Rüegger 22 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Herausforderung 5 • In Zukunft könnte durch die rasant wachsende Zahl Hochaltriger ein so grosser Hilfe-Bedarf entstehen, dass er nicht mehr einfach auf dem Weg der professionellen und institutionellen Versorgung abgedeckt werden kann, sondern der Entwicklung von Strukturen und Kulturen einer mitverantwortlichen Nachbarschaft (caring community) bedarf. • Aufgabe der Gemeinde könnte es sein, hier koordinierendvernetzend Projekte in breit abgestützter Trägerschaft (Sozialdienst, Heime, Kirchen, Vereine, Beratungsstellen, Besuchsdienst…) anzustossen und zu begleiten. 25.08.156 Dr. H. Rüegger 23 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung • Die Perspektive der Caring Community steht international im Horizont - der Vision einer ‘Gesellschaft für alle Lebensalter’ (3. UNECE-MinisterInnen-Konferenz zu Altersfragen, Wien 2012) - und des Projekts von ‘Global Age-friendly Cities’ (WHO) • Alterspolitik ist Generationenpolitik und allgemeine Gesellschaftspolitik. 25.08.156 Dr. H. Rüegger 24 Hochaltrigkeit als gesellschaftliche Herausforderung Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. Heinz Rüegger Institut Neumünster Neuweg 12, 8125 Zollikerberg [email protected] 25.08.156 Dr. H. Rüegger
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