Tierwelt Ausgabe 51 2015

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Fische freisetzen
bringt nicht viel
Millionen von Fischchen werden jedes
Jahr in Schweizer Gewässern freigesetzt. Nun zeigen Untersuchungen immer deutlicher, dass dieser Besatz in
vielen Fällen nutzlos oder gar schädlich
ist. Eine Tradition gerät ins Wanken.
U
Bild: © Rainer Weisflog / imago
m die Fischfauna in der Schweiz zu
fördern, ist den Angelvereinen und
Fischereibehörden kein Aufwand zu
gross. Jahr für Jahr ziehen sie massenhaft
Fischchen die ersten Lebenswochen geschützt
vor Feinden in Becken auf und setzen sie dann
in Bächen, Flüssen oder Seen frei.
Aufzeichnungen von solchem Fischbesatz,
wie die Aussetzungen im Fachjargon heissen,
gibt es in der Schweiz seit dem Jahr 1860.
Über die Jahrzehnte ist die Hilfeleistung zu
einer Selbstverständlichkeit geworden: Laut
einer Studie bleibt schweizweit nur einer von
zehn Fluss- und Bachläufen ohne Besatz. Im
Jahr 2012 zum Beispiel wurden unglaubliche
660 Millionen Fischchen freigesetzt.
Für die meisten Fischer- und Anglerklubs
gehören die Tage, an denen sie kübelweise
kleine Fische in die Freiheit entlassen, zu den
wichtigsten Terminen im Vereinsjahr. Sie wollen mit dem Besatz entweder Populationen
von gefährdeten Fischarten stützen oder
– nicht ganz uneigennützig – erreichen, dass
eine ungefährdete Art in «ihrem» Fluss- oder
Bachabschnitt noch häufiger wird.
Erfolgskontrollen fehlen vielfach
Doch ob dieses gut gemeinte Vorhaben wirklich gelingt, ist in vielen Fällen zweifelhaft.
Schon im Jahr 2002 schrieb das damalige
Bundesamt für Wald und Landschaft (heute:
Bundesamt für Umwelt) in einer Übersichtsarbeit zum Fischbesatz von einem «ernüchternden Bild». Das ist heute nicht anders.
«Lange Zeit wurden Besatzmassnahmen
kaum je von Erfolgskontrollen begleitet», sagt
Corinne Schmid von der Fischereiberatungsstelle Fiber. «Wo solche Untersuchungen gemacht werden, zeigt sich oft, dass die Ziele
nicht erreicht werden.»
Im Genfersee etwa werden Jahr für Jahr
eine Million Seeforellen freigesetzt. Eine Studie der grenzüberschreitenden Kommission
der Genfersee-Fischerei kam letztes Jahr aber
zu einem enttäuschenden Ergebnis: Genetische Untersuchungen von Fischen, die Berufsund Hobbyfischern ins Netz und an die Angel
gegangen waren, zeigten, dass nur 20 bis
30 Prozent der Altfische aus Besatz stammen,
alle anderen sind Fische aus der Naturverlaichung. Bei den Felchen stammten sogar
99 Prozent der Fänglinge aus Laich, den Fi-
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Stress bei ihren Artgenossen, die sich natürlich fortpflanzen – zum Beispiel durch Nahrungskonkurrenz und indem sie diesen geeignete Verstecke streitig machen. Die lokal
angepassten Individuen verbrauchen deshalb
Energie, die sie ansonsten beispielsweise ins
Wachstum investieren könnten.
Auch beim Schweizerischen Fischerei-Verband SFV ist man sich der Problematik bewusst. «Wir kennen diese Studien – und sie
dringen auch immer mehr an unsere Basis
durch», sagt Samuel Gründler, der beim SFV
für den Artenschutz zuständig ist. Der Verband gehe einig mit den Experten, dass die
natürliche Vermehrung, wenn sie in einem
Gewässer funktioniere, stets das Beste sei.
«Und wir merken, dass beim Besatz zum Teil
gilt: Weniger ist mehr.» Gründler macht aber
auch kein Geheimnis daraus, dass nicht alle
Verbandsmitglieder mit dieser Haltung einverstanden sind. «Für einige gehört der Besatz
halt einfach dazu.»
Kübelweise werden junge Fische
(hier Bachforellen) ausgesetzt –
mit zweifelhaftem Erfolg.
sche auf natürliche Weise im See abgelegt
hatten.
Eine ebenso eindrückliche Studie wurde
letzten Frühling im Aargau veröffentlicht. Der
Kanton liess – ebenfalls mit genetischen Methoden – die Folgen des seit Jahrzehnten
durchgeführten Äschen-Besatzes in den Flüssen Rhein, Aare, Limmat und Reuss untersuchen. Es zeigte sich, dass die Aargauer Fischer
keinerlei Nutzen aus dem Besatz zogen: Sie
fingen nicht mehr Fische nach Jahren mit hohem Besatz als nach besatzarmen Jahren.
Paradoxerweise nahm die Fangzahl nach
Jahren mit erhöhten Äschenbesätzen sogar
ab. «Zudem stammte keine einzige gefangene
und in der Studie untersuchte Äsche aus dem
Besatz», sagt David Bittner, Fachspezialist für
Fischerei in der Kantonalen Jagd- und Fischereiverwaltung.
Pächter verzichten freiwillig auf Besatz
Doch mit den richtigen Argumenten lassen
sich die Fischerinnen und Fischer überzeugen – diese Erfahrung zumindest hat David
Bittner im Aargau gemacht. Der Kanton beschloss aufgrund der Äschenstudie, ab der
neuen Pachtperiode 2018 auf Äscheneinsätze
zu verzichten. Bis dahin hätten die Pächter
weiterhin junge Äschen in ihre Flussabschnitte einsetzen dürfen. «Doch zu meinem Erstaunen haben sich sämtliche Pächter dazu
entschieden, bereits ab 2015 auf einen
­Äschenbesatz zu verzichten», sagt Bittner.
Weil der Kanton pro Jungäsche, die in einem Fluss eingesetzt wird, bisher einen Franken bezahlte, könnte er durch den Entscheid
eine erkleckliche Summe einsparen. «Doch
das ist nicht das Ziel», sagt Bittner. «Wir werden das Geld in Lebensraumaufwertungen wie
geeignete Laichplätze und Jungfischhabi­tate
investieren.» Das ist auch für Samuel Gründler vom Fischereiverband der richtige Weg.
Trotzdem, sagt er, gebe es Fälle, in denen die
Aufzucht und der Besatz von Jungfischen
sinnvoll seien. Im Hitzesommer 2003 etwa
verendeten im Rhein zigtausende Äschen, weil
das Wasser über 26 Grad warm wurde. «Da
waren wir froh, dass wir an einem anderen
Ort einen Genpool hatten, mit dem wir Wiederansiedelungen vornehmen konnten.»
«Nützen kann der Besatz nur dann, wenn
sich eine Population auf natürliche Weise nicht
fortpflanzen kann», sagt Bittner. Ein Beispiel
seien die Felchen im Hallwilersee. In dem
überdüngten See ist eine natürliche Entwicklung der Felcheneier praktisch nicht möglich.
Deshalb werden seit Jahrzehnten laichreifen
Fischen aus dem See Eier abgestreift, künstlich
ausgebrütet und die aufgezogenen Jungfelchen im See wieder ausgesetzt. «Untersuchungen zeigen, dass 95 Prozent der einjährigen
Felchen im Hallwilersee aus dieser Bewirtschaftung stammen», sagt Bittner. So wird das
Freisetzen von Jungfischen in der Schweiz
zwar in den nächsten Jahren wohl seltener
werden – ganz verschwinden wird die uralte
Fischereitradition aber nicht. Simon Koechlin
Nur angepasste Fische überleben
Doch wie kann das sein? Immerhin betrug
die Zahl der ausgesetzten Jungäschen im
Aargau stolze 100 000 Stück pro Jahr – und
die natürlichen Populationen dieses Fisches
sind sehr tief, die Äsche gilt in der ganzen
Schweiz als bedrohte Fischart.
Das Zauberwort heisse «Anpassung», sagt
Bittner. Die Studie zeigt nämlich noch etwas
anderes Erstaunliches: Die Äschen aus den
einzelnen Flüssen sind genetisch problemlos
unterscheidbar. «Es ist, wie wenn man in
Rhein, Aare, Reuss und Limmat rote, grüne,
blaue und gelbe Äschen hätte, derart stark
haben sich die Populationen an ihr Gewässer
angepasst», sagt Bittner. Die für den Besatz
benutzten Fischchen dagegen, welche die Fischer jeweils in privaten Fischzuchten beziehen, stammen nicht aus den Aargauer Flüssen – auch das konnte die Studie nachweisen.
«Die eingesetzten Äschen können sich gegen
die an die lokalen Verhältnisse angepassten
Populationen nicht durchsetzen und überleben nicht lange», sagt Bittner.
Die eingesetzten Äschen sind sogar derart
konkurrenzschwach, dass sie es kaum ins
fortpflanzungsfähige Alter schaffen – zumindest findet sich im Erbgut der heimischen
Fische keinerlei Hinweis darauf, dass diese
sich mit Besatzfischen gepaart hätten. Das ist
vielleicht auch gut so: Viele Forscher gehen
nämlich inzwischen sogar davon aus, dass
Fischbesatz nicht nur nichts nützt, sondern
sogar schädlich sein kann. «Wenn sich fremde Besatzfische mit Fischen durchmischen, die
an die lokalen Bach- oder Flussverhältnisse
angepasst sind, kann es sein, dass sich die
entstehenden Mischlinge schlechter in ihrer
Umwelt zurechtfinden», erklärt Biologin Corinne Schmid. Zudem sorgten Besatzfische für
TIERWELT / 51, 17. dezember 2015
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