5,20 € | 7,80 sFr www.welt-sichten.org 9-2014 september Rüstung: Stoppt die Killerroboter! Islamisten: Demokratie stärkt die Radikalen Staudamm: Die Kraft des Kongo zähmen Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit atomwaffen Abrüstung nicht in Sicht Wir unterstützen die Mutigen im Sudan, die nach 50 Jahren Bürgerkrieg neue Schulen bauen. Ihre Spende hilft! www.misereor.de editorial Liebe Leserinnen und Leser, Bernd Ludermann Chefredakteur eine Welt ohne Atomwaffen hat US-Präsident Barrack Obama 2009 in Prag als Ziel ausgerufen. Das war nicht einfach Idealismus: Selbst Ex-Politiker, die im Kalten Krieg strikt auf nukleare Abschreckung gesetzt haben wie Henry Kissinger und Helmut Schmidt, sehen heute in der Existenz von Kernwaffen eine große Gefahr. Sie fürchten, dass Bomben oder spaltbares Material Terroristen in die Hände fallen. Und sie rechnen damit, dass weitere Staaten sich Nuklearwaffen zulegen, ohne deren Risiken – Unfälle, Sabotage, übereilte oder versehentliche Einsätze – zu beherrschen. Davor könne nur ein Prozess schützen, der die Abschaffung aller Kernwaffen zum Ziel hat, wie ihn schon der Atomwaffensperrvertrag von 1968 vorsieht. Doch entschlossene Abrüstungsschritte der großen Kernwaffenstaaten, besonders Russland und USA, sind weiter nicht in Sicht. Der Atomsperrvertrag, ohne den die Welt noch unsicherer wäre, verliert deshalb an Wirkung, beklagt Andreas Zumach in dieser Ausgabe. Sogar in Deutschland sind noch taktische Kernwaffen stationiert, die militärisch völlig nutzlos sind. Ein Grund dafür, hat unser Volontär Sebastian Drescher herausgefunden, ist wenig rational: Sie sind Symbole für Entschlos- Sogar in Deutschland sind noch taktische Kernwaffen stationiert, die militärisch völlig nutzlos sind. senheit und Bündnistreue. In Südasien sind Atomwaffen fester Bestandteil der spannungsreichen Beziehungen zwischen Indien, Pakistan und China; Swaran Singh schildert das aus indischer Sicht. Vor allem der Iran nährt jedoch die Angst vor der Ausbreitung der Kernwaffen. Und das zu Unrecht, erklärt Gareth Porter: Der Vorwurf, das Land strebe nach der Bombe, beruhe auf zweifelhaften Dokumenten und Interpretationen. Der Krieg in Syrien bringt auch ohne Massenvernichtungswaffen Tod und Verwüstung. Viele Frauen ertragen die seelischen Folgen nicht und töten sich, berichtet Lauren Wolfe; das ist kaum bekannt, weil Selbstmord im Islam mit Tabus belegt ist. Shadi Hamid erklärt, warum mehr Demokratie die islamischen Parteien im Nahen Osten nicht moderater macht. Und Peter Strack erzählt, wie Kleinbauern im Hochland Perus sich alte Kenntnisse in Handwerk und Landbau neu aneignen. Das bringt ihnen nicht nur bessere Ernten, sondern fördert auch den Zusammenhalt in den Gemeinden. Eine interessante Lektüre wünscht | 9-2014 3 inhalt Change w lee/NYT/redux/laif 4 12 Im März 1954 zündeten die USA vor dem Bikini-Atoll im Pazifik die Bombe „Bravo“ (Titelbild). Atomtests sind inzwischen verboten, aber von ihrem Schrecken haben diese Massenvernichtungsmittel nichts verloren. Ernsthafte Schritte zu ihrer Abschaffung bleiben die fünf anerkannten Atommächte schuldig. U.S. Navy Israels Premierminister Benjamin Netanjahu warnt 2012, der Iran stehe kurz vor dem Bau einer Atombombe. Doch dieser Vorwurf ist politisch motiviert und von den Fakten nicht gedeckt. Schwerpunkt atomwaffen 12 Der Club der stärksten Mächte Der Atomwaffensperrvertrag schafft Staaten mit mehr und weniger Rechten und macht die Welt trotzdem sicherer Andreas Zumach 18 Sinnlose Sprengköpfe In Deutschland lagern bis heute amerikanische Kernwaffen, obwohl sie keiner braucht Sebastian Drescher 21 Südafrikas Flirt mit Atomwaffen In den 1970er Jahren baute Südafrika mehrere Bomben – mit Hilfe auch deutscher Firmen Heimo Claasen 23 Das Märchen von der iranischen Bombe Die Belege dafür, dass Teheran Kernwaffen anstrebt, halten einer Prüfung nicht stand Gareth Porter 26 Pulverfass Südasien Terrorismus ist die Hauptgefahr im Dreieck China – Indien – Pakistan Swaran Singh 30 Verstrahlte Heimat Die Atomtests haben viele Inseln im Pazifik bis heute radioaktiv verseucht Ein Teil der Auflage enthält das Dossier „Bildung ändert alles – von Anfang an“ der Kindernothilfe, eine Beilage der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung sowie eine . Bestellkarte von Giff Johnson 9-2014 | 23 Peter Strack inhalt Standpunkte 6 Die Seite Sechs 7 Leitartikel: Neue Sau im globalen Dorf. Nachhaltigkeitsziele werden der Politik keine neue Richtung geben können Gesine Kauffmann 8 Kommentar: Ausgerechnet Roboter sollen den Krieg menschlicher machen Frank Sauer 10 Kommentar: Die Mächtigen im Südsudan ignorieren die Not der Bevölkerung Kleinbauern im peruanischen Hochland greifen alte Verfahren des Webens wieder auf. Die Stoffe halten nicht nur warm, sondern sind auch Ausdruck und Stütze ihrer gemeinsamen Kultur. Tillmann Elliesen 10 Leserbriefe 42 11 Herausgeberkolumne: „Buen Vivir“ ist kein Allheilmittel Beat Dietschy Journal welt-blicke 32 Syrien: Gebrochene Seelen Viele Syrerinnen und Syrer nehmen sich das Leben, weil sie die Kriegsfolgen nicht mehr ertragen Shadi Hamid 39 Wasserkraft: Den Kongo zähmen Ein gigantisches Staudammprojekt soll das südliche Afrika mit Energie versorgen Peter Dörrie 42 Peru: Mutter Erde hilft beim Lernen Am Titicacasee wollen Kleinbauern die andine Agrarkultur wiederbeleben 50 Studie: Geld verdienen mit der Not 51 Berlin: Mehr Freiheit statt Fairness im Welthandel? Lauren Wolfe 35 Islamismus: Fromm ist Trumpf Islamistische Parteien im Nahen Osten werden im demokratischen Umfeld radikaler 49 BRICS-Entwicklungsbank: Alternative zu Weltbank und IWF 53 Brüssel: Zwei neue Wirtschaftsabkommen mit Afrika 54 Schweiz: Dunkle Geschäfte mit schwarzem Gold 56 Österreich: OECD prüft die Entwicklungszusammenarbeit 57 Kirche und Ökumene: Burundi setzt den Freikirchen Grenzen 58 Global Lokal: Ein Zeichen gegen den Antisemitismus Peter Strack 59 Personalia 46 Brasilien: Die Stadt der Mädchen Ein Architekt will Sexarbeiterinnen in Rio de Janeiro das Leben erleichtern service Hanna Silbermayr 60 Filmkritik 61 Rezensionen 65 Termine Kommentieren Sie die Artikel im Internet: www.welt-sichten.org | 9-2014 65Impressum 5 standpunkte die seite sechs Reife Leistung Klaus Stuttmann 6 Man kann es nur neidvoll anerkennen: Wenn es wirklich brenzlig wird, sind die Amerikaner stets zur Stelle. Siehe Irak: Während hierzulande noch lamentiert wird, lässt Obama dort längst Menschenleben retten. Auch an der Klimafront werden im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nun schwere Geschütze aufgefahren. Es ist ja auch höchste Eisenbahn, die Katastrophe ist kaum noch abzuwenden, wie nun auch die Amerikaner erkannt haben. Wer war’s? „Wo auch immer gespielt wird: Deutschland schickt schießendes Personal.“ Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf die Frage, ob Russland und Katar Austragungsorte für die Fußballweltmeisterschaft bleiben sollten. Kollegen bezeichneten ihn gerne etwas herablassend als „horizontalen Professor“ – weil er für seine neue Disziplin aus unterschiedlichen Denk- und Forschungsrichtungen schöpfte. Diese Disziplin fristet bis heute ein Schattendasein an den deutschen Hochschulen, dabei sind die Fragen, mit denen sie sich beschäftigt, aktueller denn je. Die Lehrtätigkeit, die er sechs Jahre lang ausübte, führte ihn zeitweise zurück in seine Geburtsstadt. Die hatte der Sohn eines Dramaturgen und einer Schauspielerin aus politischen Gründen verlassen müssen und unter anderem in der Schweiz, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und in Österreich gelebt. Er war als Journalist und Buchautor sehr erfolgreich, bevor er anfing, sich auch politisch zu engagieren. Es reichte ihm nicht, ein unbeteiligter Chronist zu sein. Er wollte gegen Fehlentwick- lungen ankämpfen. Zwar galt er als sanfter und heiterer Mensch mit einem bisweilen phlegmatischen Temperament. Doch seine Anliegen vertrat er stets mit großer Hartnäckigkeit und Konsequenz. Sobald er den Eindruck hatte, eine mit guten Absichten begonnene Sache gehe in die falsche Richtung, zog er sich nach Auseinandersetzungen zurück oder beendete die Zusammenarbeit. Über viele Themen, die derzeit diskutiert werden, hat er sich bereits Gedanken gemacht – das brachte ihm Auszeichungen ein. In der Stadt, in der er vor 20 Jahren die letzte Ruhe fand, hält eine Einrichtung sein Erbe lebendig für die Gegenwart. Wer war’s? Auflösung aus 8-2014: Gesucht war der kubanische Journalist und Dissident Guillermo Fariñas Hernández, der mehrfach mit langen Hungerstreiks gegen das Castro-Regime protestiert hat. Jahrelang haben sich Klimaforscher und prominente Umweltschützer wie Al Gore am amerikanischen Volk die Zähne ausgebissen: Ihre unbequeme Wahrheit wollte einfach niemand hören. Dazu musste erst die NHL den Klimaschutz für sich entdecken: die Nordamerikanische Eishockey-Profiliga. Die hat dem Klimawandel den Kampf angesagt, weil ihre Sportart wie keine andere von der Erderwärmung bedroht ist. Für das Kunsteis in den gekühlten Stadien braucht es Frischwasser – und das wird in den trockenen Südstaaten immer knapper. Noch härter aber trifft es die bedrohte Spezies des jungen Eishockeyspielers. Sein natürlicher Lebensraum sind die gefrorenem Weiher und Seen Nordamerikas. Dort findet er sich selbst im tiefsten Winter immer öfter auf einer dünnen und brüchigen Eisschicht wieder. Weil künftig der Nachwuchs fehlen wird, packen die Clubs nun beherzt zu: Vorweg gehen die Washington Capitals, die schon seit Jahren für umweltfreundlichen Atomstrom werben. Andere Vereine setzen auf radikale Sofortmaßnahmen und animieren die Fans zum Mülltrennen. Das wichtigste aber: Es wird wieder über das Klima geredet. Man kann nur hoffen, dass die Anstrengungen bald die gewünschte Wirkung zeigen. Es gibt schließlich nichts uncooleres, als erwachsenen Männern beim Rollhockey zuschauen zu müssen. 9-2014 | leitartikel standpunkte Neue Sau im globalen Dorf Weltweite Nachhaltigkeitsziele werden der Politik keine neue Richtung geben können Von Gesine Kauffmann W enn die Delegierten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) in diesem Monat über Ziele für eine nachhaltige Entwicklung diskutieren, liegt ihnen ein umfangreicher Katalog vor. Nach 50 Sitzungstagen hat sich die von ihr eingesetzte Offene Arbeitsgruppe auf eine Liste mit 17 Zielen und insgesamt 169 überprüfbaren Zielvorgaben geeinigt. Sie sollen die acht UN-Millenniumsziele (MDGs) ablösen, die zwischen 2000 und 2015 dem Kampf gegen Armut und Hunger sowie für eine bessere Bildung und Gesundheitsversorgung eine Richtung gegeben haben. Doch genau in der Fülle liegt das Problem: Es ist für jede und jeden etwas dabei, der Katalog setzt keine Prioritäten. Gesine Kauffmann . ist Redakteurin bei | 9-2014 Das Neue daran: Die Nachhaltigkeitsziele sollen für alle Staaten gelten, nicht nur für die armen Länder. Das wird von allen Seiten begrüßt – die Verantwortung für eine sozial gerechtere und umweltfreundlichere Welt müssen schließlich alle gemeinsam tragen. Die Kritik am Zielkatalog der Arbeitsgruppe ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Zu schwammig, zu unverbindlich, unrealistisch oder „erschreckend banal“ lauteten die Urteile. Außerdem wird über die „Mittel zur Umsetzung“ gestritten, etwa in Form von Geld oder Technologietransfer. Doch neben der Kritik an den Details stellt sich eine viel grundsätzlichere Frage: Sind die Nachhaltigkeitsziele ein geeignetes Instrument, um Wohlstand gerechter zu verteilen, die Grenzen des Planeten zu respektieren und die nachkommenden Generationen im Blick zu behalten? Entwicklungsexperten von der Harvard-Universität geben darauf eine eindeutige Antwort: Globale Ziele zu setzen sei eine schlechte Methode, um internationale Politik zu gestalten, lautet das Fazit ihrer Studien zur Wirkung der MDGs. Neben günstigen Effekten stellen sie eine Reihe von schädlichen Nebenwirkungen fest: Die MDGs hätten den Fokus der Entwicklungszusammenarbeit auf technische Lösungen gelenkt und Prozesse des sozialen Wandels wie alternative Wirtschaftsformen oder den Abbau von Ungleichheit und Diskriminierungen an den Rand gedrängt. Im Einzelnen seien die MDGs weit hinter die Beschlüsse großer UN-Konferenzen wie der Weltfrauenkonferenz in Peking oder der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz zurückgefallen, bemängeln die Wissenschaftler. Diesen Vorwurf kann man den Nachhaltigkeitszielen zwar nicht machen. Die Arbeitsgruppe hat versucht, sämtliche Dimensionen von Entwicklung unter einen Hut zu bekommen und sie – zumindest teilweise – mit differenzierten Indikatoren zu unterfüttern. Doch genau in der Fülle liegt das Problem: Es ist für jede und jeden etwas dabei, der Katalog setzt keine Prioritäten, Konflikte zwischen einzelnen Zielen werden ausgeblendet. Und es bleibt eine starke Konzentration auf quantitative Messgrößen. Das wird den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen nicht gerecht. Charles Kenny von der US-amerikanischen Denkfabrik Center for Global Development geht in seiner Kritik noch weiter. Eine Frage, schreibt er, werde bei allen Verhandlungen über die Nachhaltigkeitsziele und ihre Finanzierung stets unter den Tisch gekehrt: Was sollen diese Ziele eigentlich bewirken – welchem übergeordneten Ziel dienen sie? Sollen sie eine gemeinsame Vision für arme und reiche Staaten liefern, wie die Welt im Jahr 2030 aussehen soll? Oder zusätzlich den Weg weisen, wie man dorthin kommt? Geht es eher darum, globale Aufgaben gemeinsam zu bewältigen? Für alle diese Zwecke erscheinen sie in ihrer jetzigen Form ungeeignet. Bis zu ihrer geplanten Verabschiedung im September 2015 stehen zähe und schwierige Verhandlungen an, die viel Zeit und Geld kosten werden – und ganz nebenbei das Klima schädigen. Und niemand wird die Staaten dazu zwingen können, die Ziele dann auch einzuhalten. Wird also nur eine neue Sau durch das globale Dorf getrieben? Die wachsende Ungleichheit und die Zerstörung der Umwelt zeigen deutlich, dass Regierungen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft handeln müssen – in ihren nationalen Grenzen und darüber hinaus. Doch statt ihre Energien auf die Verhandlung von Nachhaltigkeitszielen zu verschwenden, könnten sich die Staaten als ersten Schritt auf eine ehrgeizige Klimarahmenkonvention verpflichten und die dann auch mit Leben füllen. Beim Abbau der Diskriminierungen von Mädchen und Frauen und beim Erhalt der Biodiversität bleibt ebenfalls noch genug zu tun – ganz zu schweigen von der Einhaltung der sozialen und politischen Menschenrechte. Ausschlaggebend bleibt der politische Wille. Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein schwammiger Katalog von Nachhaltigkeitszielen ihn besser mobilisieren kann als völkerrechtlich verbindliche Abkommen. 7 8 standpunkte kommentar Stoppt die Killerroboter! Ausgerechnet Automaten sollen den Krieg menschlicher machen Von Frank Sauer Sie könnten ein neues Zeitalter in der Kriegsführung einläuten: Autonome Waffensysteme, die ohne menschliches Zutun über den Einsatz von tödlicher Gewalt entscheiden. Eine düstere Aussicht – gegen die sich endlich Widerstand regt. Waffen, die selbstständig handeln, gibt es schon seit Jahrzehnten. Allerdings sind sie bisher in der Regel stationär und dienen der Verteidigung, etwa zur Abwehr von Raketen, wenn für menschliches Eingreifen die Zeit fehlt. Systeme wie die israelische Raketenabwehr Iron Dome funktionieren automatisch, wiederholen also nur programmierte, eng definierte Aktionen. Als autonom bezeichnet man dagegen komplexere Waffensysteme, die sich über Stunden, Tage oder sogar Wochen in einer unbekannten Umgebung bewegen, ohne dass der Mensch steuern muss. Die Orientierung läuft über Sensoren, die Entscheidungen treffen Algorithmen – und zwar nicht mehr nur über den Abschuss einer anfliegenden Mörsergranate, sondern auch über einen Angriff auf Menschen oder belebte Ziele. Das britische Unternehmen BAE Systems und der USamerikanische Rüstungskonzern Northrop Grumman etwa arbeiten jeweils an autonomen Kampfdrohnen. Die Kriegstechnik ist heute so weit, dass nicht einmal mehr ein anderer Mensch mit dem Töten sein Gewissen belasten muss. Befürworter autonomer Waffen versprechen sich eine wirksamere und kostengünstigere Kriegsführung. Roboterwaffen sollen nicht nur Personal sparen, sondern vor allem schnellere Entscheidungen treffen. Anders als die heutigen unbemannten Systeme wie Drohnen müssen sie nämlich nicht mehr mit einer Kontrollstation verbunden sein. Diese Verbindung ist anfällig für Störungen und Missbrauch und verzögert die Ausführung von Befehlen. Der bei Verteidigungssystemen wie einer automatischen Raketenabwehr so wichtige Zeitvorteil wäre aber auch im Angriff taktisch wertvoll. Zugleich erhoffen sich Politiker und Militärs ausgerechnet von bewaffneten Robotern, dass sie den Krieg menschlicher machen und unnötiges Leid vermeiden. Menschen machen Fehler, vor allem wenn sie im Gefecht unter Stress stehen, Maschinen nicht, so die Hoffnung. Die neuen technologischen Möglichkeiten der Robotik sind in der Tat beeindruckend, doch die daran geknüpften Hoffnungen für die Kriegsführung gehen in die Irre. Fachleute bezweifeln, dass der Einsatz von autonomen Waffen überhaupt mit dem Kriegsvölkerrecht vereinbart werden kann. Die Vorstellung, dass Maschinen zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheiden und über eine angemessene Gewaltanwendung entscheiden können, kritisieren Völkerrechts- und Robotikexperten als naive Technikgläubigkeit. Auf absehbare Zeit wird es nicht möglich sein, Entscheidungen im Krieg, die immer auf einer vielschichtigen Abwägung von Kosten und Nutzen beruhen, völkerrechtskonform in Computerprogrammen abzubilden. Zudem bezieht sich das gesamte Völkerrecht auf menschliches Handeln: Es ist unklar, wer die rechtliche Verantwortung zu tragen hätte, wenn Menschen – insbesondere Zivilisten – von au- tonomen Waffen irrtümlich verletzt oder getötet würden. Wer wäre haftbar für einen unvorhergesehenen Schaden durch die Maschine? Ihr Hersteller, ihr Programmierer, der Kommandant, der den Einsatz geführt hat, oder vielleicht das Oberhaupt des Staates, dessen Militär die Maschine benutzt hat? Völkerrechtler diskutieren diese Frage kontrovers. Noch fragwürdiger sind autonome Waffen aus ethischer Sicht. Dass Maschinen selbstständig über den Einsatz von Gewalt gegen Menschen entscheiden sollen, verstößt gegen die Grundsätze der Humanität und ist somit per se inakzeptabel. Es mag verstörend klingen, aber die Kriegsführung ist mittlerweile technisch so weit, dass man tatsächlich auf einer Mindestanforderung für das Auslöschen menschlichen Lebens bestehen muss: Es sollte wenigstens ein anderer Mensch mit dem Töten sein Gewissen belasten müssen – und im Falle eines Verstoßes gegen Kriegsvölkerrecht auch zur Rechenschaft gezogen werden können. Glücklicherweise regt sich Widerstand gegen die Automatisierung des Krieges. Einer repräsentativen Umfrage in den USA zufolge lehnt dort die Mehrheit der Bevölkerung (55 Prozent) militärische Roboter aus humanitären Gründen ab. Im April 2013 formierte sich die internationale Kampagne gegen Killerroboter mit dem Ziel, präventiv ein weltweites Verbot von autonomen Waffen durchzusetzen. 52 Organisationen aus 24 Ländern haben sich inzwischen der Kampagne angeschlossen. 9-2014 | 9 Wolfgang Ammer kommentar standpunkte Frank Sauer ist promovierter Politikwissenschaftler und Mitglied des International Committee for Robot Arms Control (www.icrac.net) | 9-2014 Die Kampagne war auch bei einem Expertentreffen mit Wissenschaftlern und Vertretern von 87 Staaten Mitte Mai im Rahmen der UN-Konvention über bestimmte konventionelle Waffen dabei. Im Rahmen der Konvention wurden bereits fünf Protokolle verabschiedet, die etwa den Einsatz von Brandwaffen oder Sprengfallen regeln. Zudem ächtet die Konvention Laserwaffen zum Blenden des Gegners auf dem Schlachtfeld; sie hat damit einen Präzedenzfall für präventive Rüstungskontrolle geschaffen. Die Kampagne gegen Killerroboter hofft nun, ein sechstes Protokoll zur Ächtung von autonomen Waffen erwirken zu können. Erfreulich ist, dass viele Staaten, darunter Deutschland, bei der Konferenz in Genf deutlich gemacht haben, dass sie die menschliche Kontrolle über den Einsatz von Waffengewalt bewahren möchten. In Deutschland herrscht parteiübergreifend Konsens, dass autonome Waffen international geächtet werden müssen – trotz der Meinungsunterschiede zwischen Regierung und Opposition zur Anschaffung von ferngesteuerten Kampfdrohnen für die Bundeswehr. Im November werden die Vertragsparteien der UN-Waffenkonvention entscheiden, ob und wie sich die Staatengemeinschaft im Rahmen der UN-Konvention mit autonomen Waffensystemen weiter befassen wird. Die Bundesregierung muss ihren Worten Taten folgen lassen und sich noch stärker als bisher für eine Zukunft ohne Killerroboter einsetzen. Die Robotik ist im Begriff, zu einer der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts zu werden. Sie birgt enorme Chancen, aber auch große Risiken. Roboter können unser Leben bereichern und erleichtern. Auch die friedliche Nutzung von Robotern, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Pflege von alten und kranken Menschen, enthält Risiken und wirft ethische Fragen auf. Doch diese Risiken sind nichts im Vergleich zu dem düsteren Ausblick, der sich bietet, wenn die militärische Nutzung nicht reguliert und begrenzt wird: eine Zukunft, in der jeder Krieg eine anonyme, menschenverachtende Tötungsmaschinerie in Gang setzt. 10 standpunkte kommentar 1,8 Milliarden Dollar für Waffen statt für Essen Die Mächtigen im Südsudan ignorieren die Not der Bevölkerung Im jüngsten Staat der Welt droht eine Hungersnot. Und die verantwortlichen Politiker tun alles, um das Klischee vom Krisenkontinent Afrika mit seinen machtgierigen Staatsmännern zu bedienen. Die Bilder gleichen denen aus dem sudanesischen Bürgerkrieg bis 2005: Weiße Transportflugzeuge mit dem UN-Logo öffnen ihre Heckklappe und heraus fallen Pakete mit Lebensmittelrationen für die hungrigen Menschen am Boden. Als Südsudan vor drei Jahren unabhängig wurde, hoffte man, solche Not werde den Bürgern des neuen Staates künftig erspart bleiben. Doch seit diesem Sommer fliegt das UN-Welternährungsprogramm wieder Hilfseinsätze über den entlegenen Regionen des Landes. Südsudan droht die – in den Worten der Vereinten Nationen – „schlimmste Nahrungsmittelkrise der Welt“, und schuld daran sind einmal nicht die von der entwicklungspolitischen Szene gerne verdächtigten Agrarkonzerne oder Börsenspekulanten, die die Lebensmittelpreise nach oben trei- ben. Diese Hungerkrise haben die Machthaber im Südsudan verursacht – und die, die in der Hauptstadt Juba selbst gern das Ruder übernehmen würden. Sie haben vergangenes Jahr den Krieg angezettelt, der alle Hoffnung auf einen lebensfähigen Staat vorerst zunichte gemacht hat. Vor einem Jahr erst hatten die südsudanesischen Bauern nach Angaben der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO eine Rekordernte eingefahren, ein Viertel mehr als im Durchschnitt der fünf Jahre davor. Das war immer noch zu wenig, um alle Frauen, Männer und Kinder im Land satt zu machen. Aber zum ersten Mal habe man Licht am Ende des Tunnels gesehen, sagt die FAO-Vertreterin für Südsudan, Sue Lautze. Davon ist heute keine Rede mehr. Und die Kriegsparteien machen bislang nicht den Eindruck, als seien sie ernsthaft an einer Lösung interessiert. Als Anfang August die Verhandlungen im Nachbarland Äthiopien weitergehen sollten, erklärte die südsudanesische Regierungsdelegation, sie könne leider erst später anreisen: Wegen eines Feiertages könne sie kein Geld abheben, um das Hotel zu bezahlen. Die Frist, bis zum 10. August eine Übergangsregierung zu bilden, haben die Kontrahenten ignoriert. Auf 1,8 Milliarden US-Dollar beziffern die Vereinten Nationen den Bedarf, um die schlimmste Not im Südsudan zu lindern. Die Hälfte davon fehlte ihnen Anfang August noch. Unterdessen hat die Regierung in Juba ihren Haushaltsentwurf für dieses Jahr vorgelegt. Für die Armee, die Polizei und Gefängnisse hat sie angesetzt: umgerechnet etwa 1,8 Milliarden Dollar. (ell) gerade Ihr Magazin einsetzen und den dafür notwendigen gesellschaftlichen – und somit perspektivisch auch politischen Werte- und Verhaltenswandel vorantreiben. Insbesondere dafür: Viel Spaß & Erfolg! ventionen in Afrika, die nicht in Ihr Schema passen, einfach aus. Ohne die Unterstützung der UN-Truppen durch britische Eliteeinheiten hätte der Bürgerkrieg in Sierra Leone nicht beendet, dem grausamen Treiben der RUF-Milizen kein Ende bereitet werden können. Seitdem herrscht in Sierra Leone wie auch im benachbarten Liberia Frieden. 2011 haben französische Soldaten entscheidend mitgeholfen, den gewählten und legitimen Präsidenten Alassane Ouattara in der Elfenbeinküste an die Macht zu bringen. Seitdem nimmt das Land einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung. Und keiner, der die Verhältnisse in Westafrika etwas kennt, möchte sich vorstellen, was passiert wäre, wenn französische Truppen den Vormarsch der Islamisten in Mali 2013 nicht schnell und energisch gestoppt hätten. Diese Erfahrungen systematisch zu verdrängen und nicht zu reflektieren, zeugt eher von einem Tunnelblick als die Äußerungen von Herrn Gauck. Natürlich sind in erster Linie eine kluge Außenpolitik, internationale Kooperation und massive Investitionen in Prävention gefragt. Es wird aber immer wieder Situationen geben, in denen der Einsatz von Militär die Ultima Ratio sein kann. Und dann kann Deutschland nicht einfach mit dem Finger auf Frankreich, Großbritannien und Belgien zeigen und sagen, geht ihr mal voran. Wer sich gerade aus Gründen der Friedens- und Stabilitätssicherung eine schlagkräftigere EU wünscht, muss dann auch bereit sein, über die Rolle Deutschlands zu reden. Das Gauck-Bashing aus der entwicklungspolitischen Community hilft in der Sache keinen Zentimeter weiter. Roger Peltzer, Köln leserbriefe Weniger materielles Wachstum Zum Leitartikel „Weltfremder Klimaschutz“, welt-sichten 7/2014 Mal wieder wird argumentiert, zum Klimaschutz bräuchte es „intelligentes Wachstum“, ohne dieses näher zu definieren. Ohne materielles ist aber kein nichtmaterielles Wachstum möglich. Und schon jetzt verbrauchen wir 1,5 Erden jährlich; genügend Phosphor für Solarzellen und Handys ist nicht für alle Menschen auf der Erde vorhanden. Eine Beschäftigung mit den Werken Niko Paechs, Tim Jacksons, Meinhard Miegels und Felix Ekardts wäre für Ihr Magazin hilfreicher gewesen. Kurzum, im Interesse globaler Gerechtigkeit für alle Generationen (= Nachhaltigkeit) kommen wir westlichen Industrienationen an einem Weniger an Materiellem nicht vorbei. Hierfür sollte sich Klaus Wurpts, Leipzig Gauck-Bashing hilft nicht weiter Zum Leitartikel „Tunnelblick aufs Militär“, welt-sichten 8/2014 „welt-sichten“ zeichnet sich ja nicht selten dadurch aus, dass so manche Gewissheit der entwicklungspolitischen Community kritisch und sachkundig hinterfragt wird. Ihr Beitrag reiht sich dagegen sehr konventionell ins allgemeine Gauck-Bashing ein. Dabei blenden Sie wichtige Ereignisse und Erfahrungen erfolgter und nicht erfolgter militärische Inter- Wir freuen uns über Leserbriefe, müssen sie aber manchmal kürzen. 9-2014 | herausgeberKolumne standpunkte „Buen Vivir“ ist kein Allheilmittel Aber Anregungen gibt das lateinamerikanische Konzept vom „guten Leben“ viele Während hierzulande Meinungsmacher zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme mehr Konsum und Wirtschaftswachstum fordern, entdecken Menschen anderswo das „Buen Vivir“ neu. Nicht vom guten Leben in den Konsumparadiesen träumen sie, sondern einfach davon „gut zu leben“. Von Beat Dietschy Das Konzept des „Buen Vivir“ greift Werte aus Ethiken und Weltsichten ursprünglicher Kulturen auf, die vom Leben im Einklang mit der Gemeinschaft und der Mutter Erde erzählen. Dieses Narrativ hat die indigenen Kulturen längst verlassen, und es wird auch außerhalb Lateinamerikas bereitwillig aufgenommen. Ein nostalgischer Diskurs also, der bessere Vergangenheiten erfindet? Ein weiteres Kapitel aus der Ideengeschichte des „guten Wilden“, der die Phantasien und Debatten europäischer Gelehrtenstuben seit der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt beflügelt hat? Es geht um Kritik am westlichen Wachstumswahn, nicht um eine Verklärung früherer Zeiten. Beat Dietschy ist Zentralsekretär von Brot für alle in Bern. | 9-2014 Das mag im Blick auf die begeisterte Aufnahme in der Alten Welt ein Stück weit zutreffen, nicht aber für die immer breiter werdende Diskussion in Lateinamerika. „Besser leben würde heißen, besser als andere, gegen andere“, sagte mir ein junger Mann in Mexiko, der lieber bescheiden, aber „gut“ lebt. Da ist Kritik am westlichen Wachstumswahn und am entfesselten Eigennutz-Kalkül der globalisierten Marktgesellschaft herauszuhören, aber keine Verklärung früherer Zeiten. An einem Treffen der zivilgesellschaftlichen Organisation INESIN, die den interkulturellen Dialog in Chiapas/Mexiko fördert, hat sich für mich wenig später dieser Eindruck bestätigt. Lekil kuxlejal – „gut leben“ in den Mayasprachen Tsteltal und Tsotsil – werde in Dorfgemeinschaften heute praktiziert, erklärt eine Teilnehmerin des Treffens in San Cristóbal de Las Casas. „Es ist ein Prinzip, das die wertvollen Erbstücke unserer ursprünglichen Kulturen aufnimmt“, meint ein anderer, „es hilft uns, in unserem Alltag das Gemeinwohl im Blick zu behalten.“ „Ich bin, weil Ihr seid“, fasst eine Dritte ihre Erkenntnis des Tages zusammen. Wir sind, erläutert sie, auf ein Zusammenleben in gegenseitigem Respekt angewiesen, auch im größeren Lebensganzen der Erde, ohne das wir gar nicht wären. „Buen Vivir“ hat viele Gesichter. Für die autonomen Zapatisten-Gemeinden in Chiapas steht es in erster Linie für ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Sie hatten für den Respekt ihrer indigenen Kulturen und ihrer Rechtsund Regierungsformen gekämpft. Im mexikanischen Parlament fanden sie damit kein Gehör. Daher haben sie begonnen, sich ohne staatliche Hilfe aus Armut und Abhängigkeit zu befreien und ein eigenes „Buen Gobierno“ aufzubauen. In ihren multiethnischen Gemeinschaften nimmt so nach und nach ihre Vision einer neuen Welt Gestalt an, in der „viele Welten“ gleichberechtigt Platz haben. In Bolivien und Ecuador sind „Vivir Bien“ respektive „Buen Vivir“ vor wenigen Jahren zu Staatsprinzipien mit Verfassungsrang erhoben worden. Sie unterstreichen die Anerkennung der verschiedenen Kulturen in ihren „plurinationalen Staaten“ und begründen ausdrücklich „Rechte der Natur“, die auch unabhängig von menschlichem Nutzen zu respektieren sind. In beiden Ländern setzen allerdings die Regierungen zugleich auf Staatseinnahmen durch ungebremste Ausbeutung der Bodenschätze. Diese Widersprüche stoßen auf heftige Kritik, gerade von indigener Seite. Für ein Regierungsprogramm taugt somit „Buen Vivir“ nicht unbedingt, sehr wohl aber dazu, ein solches zu hinterfragen. Erst recht, wenn es in der eigenen Verfassung steht. „Buen Vivir“ ist keine Sozialutopie und kein Modell für ein ideales Staatswesen à la Thomas Morus, aber eine ausgezeichnete Sehhilfe und ein Maßstab für gerechte, ausbalancierte Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur. „Gut leben“: Das werfe zu Recht mehr Fragen auf, als Antworten da seien, wurde bei dem erwähnten Treffen in San Cristóbal betont. Lekil kuxlejal sei eben kein fertiges Rezept, meinte eine Frau dazu, seine Bedeutung müsse vielmehr in jedem Kontext neu gesucht werden. Das klingt anders als der herrschende westliche Diskurs. Er sieht, wie der USamerikanische Ökonom und Ökologe Herman Daly einmal sagte, für alle Probleme immer nur die eine Lösung vor: Wachstum. Die vielen Gesichter des Lekil kuxlejal oder des „Buen Vivir“ entspringen indigenen Kosmologien. In der abendländischen Mythologie dagegen gibt es das eine Heilmittel, das gegen sämtliche Krankheiten wirke soll – davon stammt der Ausdruck „panacea“. Die Göttin Panazee, Tochter des griechischen Gottes der Heilkunst, hält immer den gleichen Zaubertrank bereit. Heute zum Beispiel das Universalheilmittel „Wachstum“. Oder auch „Entwicklung“? 11 12 schwerpunkt atomwaffen Pakistan stellt im November 2008 in Karatschi seine nuklearfähigen Raketen zur Schau. Das Land hat den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet. Rizwan Tabassum/afp/getty images 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Der Club der stärksten Mächte Der Atomwaffensperrvertrag sagt, wer die Bombe haben darf und wer nicht. Spannungen sind in dieser Zweiklassengesellschaft die Regel. Aber ohne den Vertrag wäre die Welt unsicherer. Von Andreas Zumach V erträge zwischen Staaten sind Kompromisse und politische Gegengeschäfte. Das gilt in besonderem Maße für den Atomwaffensperrvertrag (Non Proliferation Treaty, NPT), der zwischen 1963 und 1968 ausgehandelt wurde und 1970 in Kraft trat. Er ist das einzige völkerrechtliche Abkommen seit der Gründung der Vereinten Nationen (UN) 1945, bei dem die Rechte und Pflichten verschiedener Unterzeichner unterschiedlich geregelt sind. Die USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion (seit 1991 Russland) – die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges – hatten sich das Privileg eines ständigen und mit Vetorecht ausgestatteten Sitzes im UN-Sicherheitsrat gesichert. Einen weiteren Sitz hatten sie China als dem größten Land der sogenannten Dritten Welt zugestanden. Dieses Privileg wurde mit dem Atomwaffensperrvertrag noch erweitert: Seit seinem Inkrafttreten gelten die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates (P5 für Permanent Members) auch als die „offiziellen“ Atommächte. Denn nur diese fünf Staaten hatten vor dem 1. Januar 1967 Kernsprengköpfe entwickelt und gezündet – dieses Stichdatum wurde auf ihr Drängen in den Vertrag eingefügt: Alle Unterzeichnerstaaten, die bis dahin keine Atomwaffen hatten, verpflichten sich, auch in Zukunft darauf zu verzichten. Im Gegenzug | 9-2014 verpflichten die P5 sich, „in redlicher Absicht“ Verhandlungen über ein Abkommen zur „allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“ zu führen. Eine weitere wesentliche Voraussetzung für einen Verzicht auf Kernwaffen war für viele Unterzeichnerstaaten aus der Dritten Welt auch die im NPT verbriefte Garantie, die Kernenergie für friedliche Zwecke erforschen, erzeugen und anwenden zu dürfen. Die P5 galten zunächst als die einzig legitimen Atomwaffenmächte. In den 1970er und 1980er Jahren bestätigten jedoch die beiden verfeindeten asiatischen Regionalmächte Indien und Pakistan nach zunächst geheimen Atomwaffentests offiziell, dass sie nun ebenfalls über die Bombe verfügten. Israel hat den Besitz von Atomwaffen bis heute weder bestätigt oder dementiert. Doch laut der Statistik des Friedensforschungsinstituts SIPRI in Stockholm vom Juni dieses Jahres hat Israel mehr als 80 Atomsprengköpfe. Indien hat demnach bis zu 110, Pakistan bis zu 120, Großbritannien 224, China 250, Frankreich 300, die USA haben 7300 und Russland hat 8000 Sprengköpfe. Indien, Pakistan und Israel haben nicht gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen, denn alle drei Staaten haben das Abkommen bis heute nicht unterzeichnet. Dennoch war die Erweiterung des 13 14 schwerpunkt atomwaffen Clubs der Atomwaffenmächte von fünf auf acht Mitglieder Anlass für Kritiker, den Vertrag für unzureichend oder gar für gescheitert zu erklären. Dabei fällt zumindest mit Blick auf Israel zumeist die Frage unter den Tisch, wie das Land Atomwaffen entwickeln konnte. Nach allen vorliegenden Beweisen war das nur möglich mit kräftiger technologischer Hilfe aus den USA und Frankreich. Haben Frankreich und die USA noch nach 1970 Israel beim Bau der Bombe geholfen? Dann haben sie gegen den Sperrvertrag verstoßen. Sollte diese Hilfe noch nach Inkrafttreten des Vertrages im März 1970 erfolgt sein, hätten Washington und Paris gegen den ersten Artikel des Abkommens verstoßen. Danach verpflichten sich die Vertragsparteien, Kernwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden weiterzugeben und andere Staaten nicht zu unterstützen, solche Waffen herzustellen oder zu erwerben. Im Fall Pakistan trugen mangelnde Kontrollen im Vertragsstaat Niederlande dazu bei, dass der Wissenschaftler Abdul Kadir Khan, der „Vater der pakistanischen Atombombe“, geheime Informationen und Dokumente an sein Heimatland weitergeben konnte. Khan war während seiner Arbeit in einem niederlän- dischen Unternehmen zur Urananreicherung an diese Dokumente gelangt. Später verkaufte Khan sein gestohlenes Wissen auch an Iran. Teheran verstieß damit gegen den Atomwaffensperrvertrag, den es bereits 1970 ratifiziert hatte. 1977 veröffentlichte die westdeutsche Anti-Apartheid-Bewegung Belege, dass auch die Bundesrepublik Deutschland durch eine enge atomare Zusammenarbeit mit Südafrika den Sperrvertrag verletzt hatte. Dank dieser Kooperation und mit technologischer Hilfe aus Israel entwickelte Südafrika mehrere Sprengköpfe. Nach dem Ende des Apartheidregimes stellte das Land sein Waffenprogramm ein und unterwarf sich den im NPT vorgesehenen Kontrollen seines zivilen Nuklearprogramms durch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) in Wien (siehe Beitrag Seite 21). A ndere Vertragsstaaten verstießen ebenfalls gegen das Abkommen. Irak betrieb bis zum Golfkrieg 1991 ein – ursprünglich von den USA und Frankreich unterstütztes – Programm zur Entwicklung von Atomwaffen, das die IAEO nach dem Krieg auflöste. Auch Ägypten, Südkorea, Iran und Libyen wurden Unregelmäßigkeiten nachgewiesen. Libyen gab 2004 sein bis dahin geheimes militärisches Vorhaben auf und unterstellte sich der Kontrolle der IAEO. Iran verstieß ab 1986 mit der Anreicherung von Uran in unterirdischen Anlagen, die vor der IAEO geheim gehalten wurden, zumindest gegen die Überwa- Welt der Atomwaffen Russland Großbritannien USA Frankreich 8000 224 Weißrussl. Ukraine 300 Kasachstan 7300 ≈7 China 250 80 Israel Nordkorea Indien ≈100 Anerkannte Atommächte Pakistan ≈110 Inoffizielle Atommächte Anzahl der Sprengköpfe Ehemalige Atomwaffenstaaten L änder unter Abschreckungsschirm der USA oder der NATO tomwaffenfreie Zonen (Kernwaffen dürfen nicht stationiert, A hergestellt, gelagert oder durchtransportiert werden) Bündnisfreie Länder ohne Kernwaffen Südafrika Quellen: SIPRI, NATO, Global Zero, International 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Verständigung der Supermächte: US-Präsident Lyndon B. Johnson (rechts) und der sowjetische Botschafter Anatoli Dobrynin (links) reichen sich 1967 bei den Verhandlungen über den tomwaffensperrvertrag die Hand. A Harvey Georges/picture alliance/ap Atomwaffensperrvertrag verbotenen Teile seines Nuklearprogramms einzustellen und umfassend mit der IAEO zu kooperieren. Seit Oktober 2013 verhandelt Iran mit den P5 und Deutschland über ein Abkommen, das den Verzicht auf Atomwaffen überprüfbar und verlässlich machen, dem Land zugleich aber das Recht garantieren soll, Nukleartechnologie für zivile Zwecke zu nutzen (siehe Beitrag Seite 23). Von der Möglichkeit, aus dem Atomwaffensperrvertrag auszutreten, hat bislang einzig Nordkorea Gebrauch gemacht. Seit dem Austritt im Januar 2003 hat das kommunistische Land mehrere atomare Testexplosionen durchgeführt. Inzwischen verfügt es nach Einschätzung von SIPRI über Spaltmaterial (Plutonium und hochangereichertes Uran) für mindestens acht Atomsprengköpfe. Wegen dieser Aktivitäten verhängte der UN-Sicherheitsrat in den vergangenen zehn Jahren immer schärfere Sanktionen gegen Nordkorea. Den Austritt aus dem Vertrag rechtfertigte die Regierung in Pjöngjang damit, dass sich die USA nicht mehr an ein 1994 in Genf geschlossenes Abkommen hielten. Darin hatte Nordkorea allen Ambitionen auf Atomwaffen abgeschworen. Im Gegenzug versprach die US-Regierung unter Bill Clinton, sie werde verbilligtes Heizöl sowie zwei Leichtwasserreaktoren zur Energieerzeugung liefern. Ein lange Zeit geheim gehaltenes Zusatzprotokoll zu dem Genfer Abkommen enthält eine Nichtangriffsgarantie der USA gegenüber Nordkorea. Diese Garantie kündigte Clintons chungs- und Kontrollbestimmungen des Atomwaffensperrvertrags – die sogenannten „safeguards“. Seitdem die Verstöße 2003 bekannt sind, steht Teheran vor allem bei westlichen Regierungen unter dem Verdacht, es wolle Atomwaffen entwickeln. Die Regierung bestreitet das entschieden. Zugleich jedoch lieferte Teheran in den vergangenen zehn Jahren neue Nahrung für diesen Verdacht – unter anderem mit dem Bau einer neuen unterirdischen Urananreicherungsanlage, mit Sprengkörpertests sowie mit seiner Weigerung, uneingeschränkt mit der IAEO zu kooperieren. Seit 2006 verhängten zunächst die USA und die EU, später auch der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Iran, um das Land zu zwingen, alle nach dem Taktische Atomwaffen in Europa NATO-Länder Norwegen Russland Estland Großbritannien Lettland Dänemark Litauen Niederlande Belgien Stützpunkte innerhalb Europas mit taktischen US-Atomwaffen Luxemburg Frankreich Russische Stützpunkte mit taktischen Atomwaffen Portugal Polen Deutschland Tschechien Slowakei Slowe- Ungarn nien Kroatien Italien Spanien Rumänien Bulgarien Albanien Griechenland Law and Policy Institute | 9-2014 Türkei 15 16 schwerpunkt atomwaffen Am 6. August 2014 wird in Hiroshima mit bunten Papierlaternen an den Abwurf der US-amerikanischen Atombombe vor 69 Jahren erinnert. Kaizo Mori/UPI/Laif Nachfolger George W. Bush auf, als er Anfang 2000 Nordkorea gemeinsam mit Irak und Iran zur „Achse der Bösen“ erklärte und das Pentagon Szenarien für militärische Angriffe gegen Nordkorea auch mit Atomwaffen ausarbeiten ließ. Trotz aller Verstöße und trotz der Erweiterung des ursprünglichen Clubs der Atommächte: Ohne den Atomwaffensperrvertrag gäbe es heute bis zu 30 Staaten mit Kernwaffen; darüber sind sich Rüstungskontrollexperten in Nord und Süd weitgehend einig. Die größte Gefahr droht dem ursprünglich nur für eine Laufzeit von 25 Jahren geschlossenen Abkommen, weil die fünf offiziellen Atommächte bis heute nicht ernsthaft über eine vollständige Abrüstung verhandelt haben, wie es der Vertrag von ihnen verlangt. Rüstungskontrollexperten sind sich einig: Ohne den Sperrvertrag gäbe es heute bis zu 30 Staaten mit Kernwaffen. Nur mit dem Versprechen, diese Verhandlungen endlich aufzunehmen, konnten die P5 auf der Überprüfungskonferenz 1995 durchsetzen, dass der NPT auf unbefristete Zeit verlängert wird. Im Jahr 2000 verabschiedete die Überprüfungskonferenz einen gemeinsamen Antrag von Brasilien, Ägypten, Irland, Mexiko, Neuseeland und Südafrika, mit 13 Schritten zur vollständigen atomaren Abrüstung zu gelangen. Weil die USA in der Folge jedoch konkrete Maßnahmen blockierten, scheiterte die Überprüfungskonferenz 2005 und ging erstmals in der Geschichte des Vertrages ohne gemeinsames Abschlussdokument zu Ende. Kurz vor der nächsten Überprüfung im Mai 2010 einigten sich die USA und Russland darauf, ihre Be- stände an strategischen Atomsprengköpfen und Trägersystemen (Raketen, Kampfflugzeuge und U-Boote) zu verkleinern. Seitdem haben Washington und Moskau ihre Arsenale an einsatzbereiten Atomsprengköpfen zwar um jeweils rund 300 reduziert. Zugleich aber betreiben sie ein umfangreiches und kostspieliges Programm zur Modernisierung ihrer Bomben mit dem Ziel, sie wirksamer, zielgenauer und noch zerstörerischer zu machen. Allein die USA wollen für diese Modernisierung bis 2020 mindestens 350 Milliarden US-Dollar ausgeben. Auch Frankreich, Großbritannien und China modernisieren ihre Sprengköpfe. „Die Atommächte zeigen bis jetzt nur rhetorisch den Willen zur Aufgabe ihrer Waffenarsenale“, heißt es im jüngsten SIPRIBericht. Die laufende Modernisierung zeige, dass „Atomwaffen nach wie vor eine harte Währung für internationalen Status und Macht sind“. D ie P5 setzten im Abschlussdokument der Überprüfungskonferenz 2010 gemeinsam durch, dass alle ursprünglich vorgesehenen Fristen für die atomare Abrüstung gestrichen wurden. Ebenso fehlen Hinweise zum Abzug taktischer Atomwaffen der USA aus Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten und eine Kritik an der nuklearen Teilhabe der NATO, die nach Ansicht einer großen Mehrheit der 188 Vertragsstaaten gegen den Atomwaffensperrvertrag verstößt. Laut der nuklearen Teilhabe würden sich die Länder, in denen Atomwaffen der USA stationiert sind, an einem Einsatz beteiligen, wenn die NATO ihn beschließen würde (siehe dazu den Beitrag auf Seite 18). Die ebenfalls von einer großen Mehrheit geforderte Internationale Konvention zum Verbot von Atomwaffen wird in dem Dokument lediglich als ein „Vorschlag“ von UNGeneralsekretär Ban Ki-moon erwähnt. Wegen der wachsenden Spannungen zwischen den fünf offiziellen Atomwaffenmächten und der 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Andreas Zumach ist Journalist und Publizist in Genf. großen Mehrheit der übrigen Vertragsstaaten hatten auch die Vorschläge zur Stärkung des Atomwaffensperrvertrages kaum eine Chance. Die internationale Atomenergiebehörde hatte – vor allem angesichts des Konflikts um das iranische Nuklearprogramm – angeregt, dass Uran für zivile Zwecke künftig nicht mehr in nationalen Anlagen angereichert werden solle, sondern in internationalen, von ihr betriebenen Einrichtungen. Zudem schlug sie vor, die Zugangs- und Kontrollmöglichkeiten für ihre Inspekteure zu verbessern, den Export von nuklearer Technologie stärker zu beschränken und den Austritt aus dem Sperrvertrag zu erschweren. Viele kernwaffenfreie Staaten forderten zudem völkerrechtlich verbindliche atomare Nichtangriffsgarantien der P5, scheiterten damit aber am Widerstand der USA. Umgekehrt erregte die Obama-Regierung in Washington großes Misstrauen mit ihrer Ankündigung, sie werde die Zusammenarbeit mit anderen Staaten im Bereich der zivilen Kerntechnologie künftig einseitig begrenzen. Viele Teilnehmerstaaten der Überprüfungskonferenz befürchteten, die USA könnten gegen Bestimmungen des Vertrages verstoßen, nach denen sich alle Parteien verpflichten, den Austausch von Material und Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern. Auch die drei Vorbereitungstreffen für die nächste 17 Überprüfungskonferenz im kommenden Jahr haben für eine Reform keine greifbaren Fortschritte gebracht. Verschärft werden die Spannungen zwischen den Unterzeichnern durch die eskalierenden Konflikte im Nahen Osten. Bereits 2010 konnte man sich nur auf ein gemeinsames Abschlussdokument einigen, weil darin auf Antrag Ägyptens beschlossen wurde, im Jahr 2012 auf einer internationalen Konferenz über ein grundsätzliches Verbot von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten zu diskutieren. Der UN-Generalsekretär wurde beauftragt, diese Konferenz unter Einschluss aller Staaten der Region, auch Israels und Irans, zu organisieren. Doch das Treffen hat bis heute nicht stattgefunden, weil Israel eine Teilnahme prinzipiell verweigert und auch die USA, Deutschland und andere NATOStaaten kein Interesse zeigen. Aus diesem Grund verließ Ägypten vorzeitig die zweite Vorbereitungstagung für die Überprüfungskonferenz 2015. Es ist nicht auszuschließen, dass eine ganze Reihe nicht nur arabischer Vertragsstaaten die Konferenz boykottiert – zumal sich durch den Gaza-Krieg im Sommer dieses Jahres die Situation verschärft hat. Noch stärker wäre der Erfolg der Konferenz allerdings bedroht, wenn es bis dahin noch immer kein Abkommen über das iranische Nuklearprogramm gibt. Anzeige 13th Dialogue on Science FOOD SECURITY Während der nächsten 20 Jahre wird sich die Weltbevölkerung von rund sieben Milliarden auf mehr als acht Milliarden erhöhen. Damit diese Menschen genügend Nahrung haben, muss die Nahrungsmittelproduktion entsprechend mitwachsen. Wie kann die Verfügbarkeit, der Zugang sowie der Verbrauch von Nahrungsmitteln gesichert werden? Interdisziplinärer und generationen-übergreifender Wissenschafts-Dialog, 15. bis 17. Oktober 2014 in Engelberg, OW Weitere Informationen und das Anmeldeformular sind unter www.academia-engelberg.ch Konferenz 2014 abrufbar. Jetzt anmelden und die Zukunft mitgestalten! | 9-2014 18 schwerpunkt atomwaffen Sinnlose Sprengköpfe In der Eifel lagert noch rund ein Dutzend amerikanische Atombomben – ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg. Die Waffen sind militärisch nichts wert, aber los wird sie Deutschland deshalb noch lange nicht. Von Sebastian Drescher W ie schafft man etwas ab, das es offiziell gar nicht gibt? Von den Massenvernichtungswaffen in seiner Nachbarschaft hörte Rüdiger Lancelle zum ersten Mal von einem jungen amerikanischen Schüler. Der antwortete auf die Frage nach dem Beruf seines Vaters: „Atombomben bewachen.“ Mitte der 1990er Jahre war das, Lancelle hatte da schon über 25 Jahre als Lehrer in Cochem an der Mosel gearbeitet. Über die amerikanischen Kernwaffen sei damals eisern geschwiegen worden, sagt Lancelle. Zwischen grünen Weinbergen und beschaulichen Ferienorten ist eben kein Platz für Atombomben. Wer darüber sprach und sich empörte galt als Spinner und Querulant. Auch in der Kirchengemeinde schlug dem engagierten Hilfsprediger viel Ablehnung entgegen. Aber der heute 75-Jährige blieb dran, warnte vor den Gefahren der Bomben, fand Mitstreiter und organisierte die ersten Proteste am Fliegerhorst. Offiziell gibt es die Bomben auf dem Bundeswehrstützpunkt Büchel in Rheinland-Pfalz, zehn Kilometer von Cochem entfernt, bis heute nicht. Wenn es um Nuklearwaffen geht, folgen die NATOLänder dem Credo „Neither confirm nor deny“ (weder bestätigen noch dementieren). Aus Gründen der Sicherheit, und wohl auch um unbequemen Fragen aus dem Weg zu gehen. Doch die Waffen hinterlassen Spuren, die Aktivisten und Fachleute über Jahre hinweg verfolgt haben. Heute zweifelt kaum jemand mehr an ihrer Existenz. Auch in der Politik wurden die Bomben ein wichtiges Thema. Der damalige Außenminister Guido Westerwelle (FDP) setzte im Koalitionsvertrag der schwarzgelben Bundesregierung 2009 die Forderung nach dem Abzug durch, der Bundestag bekräftigte dies ein Jahr später mit großer Mehrheit. Alle waren sich einig: Deutschland muss atomwaffenfreie Zone werden. Inzwischen scheint der Abzug jedoch wieder ferner denn je. Im Gegenteil: Die Bomben sollen erneuert und ausgetauscht werden. Das haben die USA beschlossen, die NATO zieht mit, Deutschland widerspricht nicht. Obwohl Sicherheitsexperten die taktischen Atomsprengköpfe für militärisch nutzlos halten und Politiker aller Parteien den Abzug fordern. Das könnte die atomare Abrüstung in Europa auf Jahre ausbremsen, warnen Aktivisten. Für sie ist es untragbar, dass Deutschland mitten in einer neuen Ost-West-Krise Millionen für die Erneuerung von Kernwaffen ausgibt. Grundlage für die Stationierung der US-Atomwaffen in 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Links: Clara Tempel (ganz links) bei der Blockade des Fliegerhorsts in Büchel Anfang August. Oben: Ein Bundeswehr-Pilot im Cockpit eines Tornados, der als einziges deutsches Waffensystem Kernsprengköpfe tragen kann. Sebastian Drescher; Bundeswehr/Rott Deutschland und vier weiteren NATO-Staaten ist die „Nukleare Teilhabe“, ein Relikt aus dem Kalten Krieg. Die Abmachung lautete: Teilhabestaaten ohne eigene Nuklearwaffen stellen die nötige Infrastruktur für die Stationierung von US-Atombomben bereit. Dafür stehen sie unter dem Abschreckungsschirm der Amerikaner und erhalten eine gewichtige Stimme bei der nuklearen Planung der NATO. Viele Staaten kritisieren, dass dieses Prinzip dem internationalen Atomwaffensperrvertrag widerspricht. Schließlich stellen offiziell atomwaffenfreie Länder Technik, Personal und Geld für den Einsatz von Kernwaffen bereit. Mit Atomwaffen gegen feindliche Truppen und Panzer Ottfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit weiß, wie sich diese Aufgabenteilung am Fliegerhorst Büchel gestaltet: Bis zu 20 B61-Bomben lagern dort in einer Hochsicherheitszone, bewacht von 140 US-Soldaten, die auch für Wartung und Reparaturen zuständig sind. Im Ernstfall könnten nur die Amerikaner die Waffen scharf stellen. Für den Transport und den Abwurf wären jedoch die in Büchel stationierten Piloten des Luftwaffengeschwaders 33 verantwort- | 9-2014 lich. Sie müssten die Sprengköpfe im Rumpf der nuklearfähigen Bundeswehr-Tornados zum Einsatzort fliegen. Die B61 sind für den Einsatz als taktische Waffen gegen feindliche Truppen vorgesehen, während des Kalten Kriegs sollten sie die Sowjetunion vor einem Einmarsch in Westeuropa abschrecken. Millionen von Ostdeutschen und Polen wären in einer solchen taktischen Atomschlacht gestorben – Szenarien, die längst der Vergangenheit angehören. „Es herrscht innerhalb der NATO Konsens, dass diese Waffen militärisch keine Rolle mehr spielen“, sagt Oliver Meier, Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Auch für Barry Blechman vom Stimson Center in Washington gehören die B61 in Europa verschrottet. Das Verteidigungsbündnis sei heute anders als früher bei den konventionellen Waffen Russland weit überlegen und nicht mehr auf taktische Atomwaffen angewiesen, schreibt er im Magazin „Foreign Affairs“. Zudem garantierten die strategisch ausgerichteten Kernwaffen der USA sowie die französischen und britischen Nuklearwaffen die Abschreckung. Militärisch mögen die Atomwaffen wertlos sein, zur Symbolpolitik aber taugen sie noch. Die nukleare Teilhabe sei für einige NATO-Mitglieder im Osten, etwa Ungarn oder Litauen, ein Zeichen der amerikanischen Verbundenheit zu Europa, erklärt Meier. Da die NATO nur Entscheidungen im Konsens trifft, konnte sich die Mehrheit der Abrüstungsbefürworter bislang nicht durchsetzen. Ihr Selbstverständnis als „nukleare Allianz“ betonte das Bündnis zuletzt 2012 auf dem Gipfel in Chicago. Zwar bekräftigt das Abschlussdokument Deterrence and Defence Posture Review (DDPR) auch das Ziel der Abrüstung, konkrete Zusagen finden sich jedoch nicht. Damit fällt auch der Abzug der taktischen Waffen unter den Tisch. „Die Überprüfung hat gezeigt, dass die derzeitige Nuklearwaffen-Aufstellung der Allianz den Kriterien einer effektiven Abschreckung und Verteidigung gerecht wird“, so der Wortlaut, auf den sich alle 28 Mitgliedsstaaten geeinigt haben. Der Beschluss war eine Niederlage für Guido Westerwelle, der wohl auch vom eigenen Koalitionspartner CDU ausgebremst wurde, wie 2010 von Wikileaks veröffentlichte Geheimprotokolle nahelegen. Die diplomatische Zurückhaltung schlägt sich 2013 auch im Koalitionsvertrag von CDU und SPD nieder, der den Abzug der US-Waffen an die Abrüstungsbemühungen Russlands knüpft. Die russische Armee hat Schätzungen zufolge noch rund 2000 taktische Kernwaffen, über deren Standorte und Einsatzfähigkeit es jedoch widersprüchliche Angaben gibt. Verhandlungen über eine Abrüstung der taktischen Waffen sind nicht erst seit der Ukrainekrise in weite Ferne gerückt. Schon zuvor war das Verhältnis zwischen den USA und Russland abgekühlt, die russische Regierung unterbrach im November 2013 Gespräche im NATORussland-Rat über die nukleare Rüstungskontrolle. Die Besetzung der Krim habe die ohnehin geringen Chancen auf Abrüstung weiter geschmälert, glaubt Oliver Meier von der SWP. Die geplante Erneuerung der US-Atomwaffen nutze Russland nun als Argument und behauptet, der Westen sei nicht an einem 19 20 schwerpunkt atomwaffen Amerikanische Bomben in Europa Zum Höhepunkt des atomaren Wettrüstens im Kalten Krieg lagerten Mitte der 1980er Jahre rund 7000 US-Atomwaffen in Europa. Nach 1990 schrumpfte das Arsenal schnell auf wenige Hundert. Heute sind Schätzungen zufolge noch zwischen 180 und 200 Sprengköpfe an Stützpunkten in Italien, der Türkei, den Niederlanden, Belgien und Deutschland stationiert. In den unterirdischen Bunkern in Büchel lagern zwischen zehn und 20 Sprengköpfe der Typen B61-3 und B61-4, die mit bis zu 170 Kilotonnen jeweils so viel Sprengkraft haben wie 13 Hiroshima bomben. Im Rahmen des neuen amerikanischen Atomprogramms sollen die B61-Sprengköpfe bis 2020 durch die neue B61-12 ersetzt werden. Offiziell handelt es sich um eine Verlängerung der Nutzungsdauer. Inwiefern die neue Bombe eine Aufrüstung bedeutet, ist unter Rüstungsexperten umstritten: Zwar wird die B61-12 weniger Zerstörungskraft haben, mit einer steuerbaren Heckflosse aber zielgenauer sein als ihr komplett freifallender Vorgänger. (sdr) Eine B61-Bombe – fein säuberlich in ihre Einzelteile zerlegt. The Life picture/Getty Sebastian Drescher . ist Volontär bei ernsthaften nuklearen Dialog interessiert. Auf der anderen Seite habe die Krise dazu beigetragen, dass sich die Reihen der NATO geschlossen haben. Dass das Bündnis aus der Position des Stärkeren den ersten Schritt bei der Abrüstung geht, wie Friedensaktivisten und Oppositionspolitiker fordern, ist derzeit kaum denkbar. Clara Tempel will den Stillstand nicht einfach so hinnehmen. Die Weltlage mache deutlich, warum die Atomwaffen endlich weg müssten, sagt die 18-Jährige. Deshalb sitzt sie seit morgens um sechs der Staatsmacht im Weg. Genauer: den uniformierten Mitgliedern des Geschwaders 33, die an diesem Tag nur zu Fuß auf den Fliegerhorst in Büchel kommen. Rund 30 Aktivisten haben die drei wichtigsten Zufahrtwege blockiert. Clara Tempel, die in einer politisch aktiven Familie im Wendland aufgewachsen ist und schon mit zwölf Jahren ihren ersten Gorleben-Castor gestoppt hat, hat die Aktion koordiniert. Sie will die Öffentlichkeit auf den atomaren Irrsinn aufmerksam machen und die Soldaten zum Nachdenken bewegen. Schließlich sind sie es, die im Ernstfall die Bomben abwerfen müssten. Doch die Interaktion zwischen den vier jungen Protestlerinnen vor und den Soldaten hinter dem Tor beschränkt sich auf harmlosen Smalltalk. Die Jobs vieler Anwohner hängen von dem Stützpunkt ab Auch Rüdiger Lancelle ist beim Aktionscamp Anfang August dabei. Aber er blockiert nicht, sondern betet und gedenkt in Andachten der Opfer von Hiroshima und Nagasaki. Aus Büchel trifft man bei den Aktionen am Fliegerhorst nur wenige. Viele Anwohner sind abhängig von den Arbeitsplätzen auf dem Stützpunkt. Und damit auch von den Bomben der Amerikaner. Sollten die B61 wie geplant saniert werden, besteht für sie vorerst kein Anlass zur Sorge. Frühestens 2020 soll die neue B61-12 nach Büchel kommen. Vorausgesetzt, es scheitert nicht doch an der Finanzierung. Statt der ursprünglich geplanten drei Milliarden wird das Atomwaffenprogramm rund zehn Milliarden Dollar verschlingen, schätzte jüngst das US-Verteidigungsministerium. Angesichts der Kostenexplosion forderten Kongressabgeordnete bereits, die Bündnispartner daran zu beteiligen. Die Bundesregierung weist jedoch darauf hin, dass es sich um ein nationales Programm der USA handele. Doch um die nukleare Teilhabe zu erhalten, müssen auch die Stationierungsländer investieren; dazu verpflichtet sie die 2012 beschlossene Strategie der NATO. Teuer sind neben den jährlichen Ausgaben für die Lagerung der Waffen vor allem die Trägerflugzeuge. Weil der neue Eurofighter der Bundeswehr nicht nuklearfähig ist, müssen die alten Tornados noch möglichst lange im Dienst gehalten und an die neuen Bomben angepasst werden. Für die Lebensverlängerung der 85 Tornados hat das Bundesverteidigungsministerium zwischen 2014 und 2017 rund 60 Millionen Euro veranschlagt. Derzeit prüft die Bundeswehr, ob die Nutzung der Tornados über 2025 hinaus nochmals verlängert wird, sollten „Bündnisverpflichtungen“ dies erfordern. Die Bundesregierung solle endlich transparent machen, was die Atombomben die Deutschen jedes Jahr kosten, sagt die grüne Landesministerin für Wirtschaft und Klimaschutz in RheinlandPfalz, Evelin Lemke. Auch andere Oppositionspolitiker fordern, dass sich die Regierung einer offenen Debatte stellt und Position bezieht. Das Thema auf die lange Bank zu schieben sei gefährlich: Sind die Bomben erst für viel Geld erneuert, wird es noch schwerer, sie wieder loszuwerden. Die Regierungsparteien sind bei der Frage der Atomwaffen uneinig, vor allem in der SPD gibt es viele Abweichler vom offiziellen Kurs. Die SPD-Abgeordnete Ute Finckh-Krämer sieht noch Chancen, dass der Austausch der Bomben schief geht. Es gebe nur den Grundsatzentscheid der NATO, aber die Details der Umsetzung und Finanzierung seien nicht geklärt. Dabei sollte auch der Bundestag mehr Mitsprache erhalten: „Man muss weiter politisch Druck machen, damit nicht kommt, was eigentlich keiner will.“ 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Südafrikas Flirt mit Atomwaffen In den 1970er Jahren baute der Apartheid-Staat an mehreren Atomsprengköpfen. Als das rassistische Regime zusammenbrach, wurde das Programm eingestellt. Aber die Schatten der nuklearen Vergangenheit wird das Land nicht los. Von Heimo Claasen Im Kernforschungszentrum elindaba westlich der Hauptstadt P Pretoria – hier eine Aufnahme von 2001 – ließ Südafrikas Regierung in den 1970er Jahren Atombomben entwickeln, bauen und lagern. Ulrich Baumgarten/Getty images | 9-2014 S ogar Nelson Mandela bekam nichts zu wissen: Bei seinem Amtsantritt als erster schwarzer Präsident der Republik Südafrika 1994 waren alle Unterlagen zum geheimen Atomwaffenprogramm des Apartheid-Regimes beseitigt und sämtliche Spuren sorgfältig verwischt worden. Auch die Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen des rassistischen Staats fand keinen Ansatz, dieses dunkle Kapitel aufzuhellen. Nur wenige Eckdaten sind belegt oder können halbwegs verlässlich rekonstruiert werden: 1958 startete die südafrikanische Regierung mit tatkräftiger Hilfe der USA ein Atomforschungsprogramm; 1967 erklärte sie, man wolle mit „friedlichen nuklearen Explosionen“ Berge abräumen, um den Abbau von Mineralien zu erleichtern. Diese offizielle Begründung, die anderswo schlicht als haarsträubend angesehen wurde, entsprach der Logik der rassisti- schen Regierung: Von der freigesetzten Radioaktivität wären ja nur schwarze Bergleute betroffen gewesen. 1970 erklärte Präsident Balthazar Johannes Vorster, sein Land werde nicht dem Atomwaffensperrvertrag beitreten, der kurz zuvor in Kraft getreten war. Im selben Jahr begann Südafrika mit dem Bau einer Anlage zur Anreicherung von Uran, offiziell um Treibstoff für geplante Atomkraftwerke zu produzieren. Mitgeholfen beim Entwurf der Anlage hatte die westdeutsche Atomwirtschaft, die auch Material lieferte. Das Grundkonzept für die Isotopentrennung stammte aus dem Kernforschungszentrum Karlsruhe des Bundes, die Schlüsselrolle bei der Beschaffung spielten Maschinenbaufirmen wie STEAG, Degussa, NUKEM und MAN. 1971 entschied Vorsters Regierung, mit eigenem hoch angereichertem Uran Atombomben zu bauen. 21 22 schwerpunkt atomwaffen Zugleich suchte sich Südafrika einen neuen Partner für die geplanten Atomkraftwerke: Nicht mehr der US-Konzern Westinghouse, mit dem das Geschäft so gut wie beschlossen war, sondern Frankreichs Framatome sollte das erste südafrikanische AKW in Koeberg nahe Kapstadt errichten. Der Vertrag wurde 1972 besiegelt, aber erst viel später kamen die Gründe heraus, weshalb die erheblich teureren französischen Reaktoren den Zuschlag bekamen: Anders als Westinghouse verzichteten die Franzosen im Vertrag mit Südafrika auf die nach dem Atomwaffensperrvertrag verbindlichen Angaben zur Nutzung und zum Verbleib der Uranbrennstäbe. R ussische Aufklärungssatelliten entdeckten 1977 den Bau von zwei Schächten in der KalahariWüste, die als Anlagen für unterirdische Atombombentests erkannt und von Russland bei den Vereinten Nationen angezeigt wurden. Erst viel später kam heraus, dass auch französische und US-amerikanische Erkenntnisse dazu vorlagen, die aber von Paris und Washington unter Verschluss gehalten wurden. Im September 1979 verzeichneten US-Satelliten zwei Lichtblitze im Südatlantik, die charakteristisch für atomare Explosionen waren. Zwar dementierte Südafrika die Urheberschaft, aber die Fachwelt war sich weitgehend einig, dass es sich um Testexplosionen gehandelt haben musste. Die Frage war, ob Südafrika allein oder zusammen mit Israel Sprengsätze gezündet hatte. Oder hatte Pretoria lediglich das Gebiet für einen Test Israels zur Verfügung gestellt? Auch eine von US-Präsident Jimmy Carter eingesetzte Kommission fand keine eindeutige Antwort. Im Gegenteil: Die Zweifel blieben, dass es überhaupt ein Atomtest gewesen war. Weil alle Beteiligten bis heute eisern schweigen, sind auch andere Fragen rund um das südafrikanische Atomwaffenprogramm ungeklärt. Zum Beispiel die, wie viele Bomben das Apartheid-Regime hergestellt hatte: Waren es sechs, wie der US-amerikanische Atomwissenschaftler und frühere UNWaffeninspekteur David Albright meinte herausgefunden zu haben? Oder acht, wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI erklärte? Oder waren es neun Bomben, von denen eine, wenn nicht gar zwei an Unbekannte weitergegeben wurden, wie eine Gruppe von britischen Atomwaffengegnern mit durchaus plausiblen Argumenten behauptete? Belegt ist immerhin die Furcht des Westens, die vermuteten Atombomben könnten mit dem absehbaren Ende des Apartheid-Regimes in die Hände einer Regierung der schwarzen Mehrheit geraten: Nelson Mandelas ANC galt in vielen westlichen Hauptstädten als kommunistisch, seine Regierung wurde zunächst misstrauisch beäugt. Schon ab 1987 machte die US-Regierung verstärkt politisch und wirtschaftlich Druck, um die südafrikanische Regierung zur Aufgabe ihrer Atomrüstung zu drängen. Nur zögerlich folgte die Europäische Union, deren größte Mitgliedstaaten mehr Rüstungsgeschäfte mit Südafrika tätigten als die USA: Briten und Franzosen lieferten Militärflugzeuge und Panzer, die Deutschen Marineschiffe und den auch beim Militär beliebten Unimog sowie andere Fahrzeuge aus dem Hause Mercedes. Zudem lieferten europäische Hersteller Anlagen und Maschinen für Südafrikas „friedliches“ Atomenergieprogramm. Nach seiner Wahl im September 1989 entschied der vorerst letzte weiße Präsident Südafrikas, Frederik Willem de Klerk, die Produktion von Atomwaffen einzustellen und alle Dokumente zu vernichten. Die eine der beiden Anreicherungsanlagen und die Werkstätten zum Bombenbau in Pelindaba bei Pretoria wurden geräumt und dekontaminiert, die andere Urananlage wurde abgeschaltet, kann aber jederzeit wieder in Betrieb genommen werden. Im September 1991 unterzeichnete Südafrika den Atomwaffensperrvertrag, doch erst im März 1993 gab de Klerk vor dem Parlament in Kapstadt bekannt, dass Südafrika seine Atomrüstung eingestellt habe. Dies war zugleich die erste und einzige offizielle Bestätigung, dass es sie überhaupt gegeben hatte. Weder de Klerk noch die Regierungen seit 1994 haben jemals Einzelheiten dazu offen zugänglich gemacht. Im September 1979 verzeichneten US-Satelliten zwei Lichtblitze im Südatlantik, die charakteristisch für atomare Explosionen waren. Laut einem SIPRI-Bericht von 2006 hat Südafrika das Waffenprogramm tatsächlich beendet, doch die nukleare Infrastruktur sei weitgehend intakt geblieben. Das gilt etwa für die Zulieferfirmen im militärisch-industriellen Komplex wie die südafrikanische Filiale der deutschen NUKEM, die vor zwei Jahren vom russischen Staatskonzern ROSATOM übernommen wurde. Neue Firmen wie Klydon zählen für ihr leitendes Personal „500 Jahre Erfahrung“ aus einschlägigen Jobs etwa in der Isotopentrennung zusammen, die sie kaum irgendwo anders als in der Waffenentwicklung gesammelt haben können. SIPRI veranschlagte die Zahl der in das südafrikanische Bombenprogramm eingeweihten Personen auf 100 bis 150, andere Schätzungen kamen auf 400 bis 1000 Beteiligte. Die regelrecht paranoide Geheimhaltung auch im neuen Südafrika von allem, was mit Atomkraft und dem früheren Rüstungsprogramm zu tun hatte, wurde jedoch zur politischen Falle. Als 2004 das Netzwerk des pakistanischen Atomwaffeningenieurs Abdul Kadir Khan aufflog, der das Atomwaffenprogramm des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi unterstützt hatte, geriet Südafrika noch einmal unvorbereitet an den internationalen Pranger. Khan hatte Gaddafi Zubehör und Baupläne aus Südafrika geliefert und dazu Geschäftemacher in Deutschland und der Schweiz eingespannt. Ausgerechnet das einzige Land, das bis dahin atomar abgerüstet hatte, zeigte sich nun als Hinterland neuer Atompiraten. Heimo Claasen ist ständiger Korrespondent von in Brüssel. 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Das Märchen von der iranischen Bombe Der Iran will die Welt zum Narren halten und heimlich Atomwaffen bauen – so lautet die offizielle Lesart. Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Von Gareth Porter D en vermeintlichen Beweis für das geheime Atomwaffenprogramm des Iran zwischen 2001 und 2003 lieferten mehrere Dokumente, die 2004 auftauchten. Angeblich stammten sie vom Laptop eines iranischen Wissenschaftlers, der an dem Programm gearbeitet haben soll. Sie enthalten Zeichnungen, die zeigen, wie eine Atomwaffe in der iranischen Shahab-3-Rakete eingebaut werden könnte. 2005 wurden Beschreibungen dieser Skizzen an ausgewählte Journalisten weitergegeben. Die Medien verbreiteten die sensationelle Nachricht, der unwiderlegbare Beweis für das iranische Streben nach Atomwaffen liege nun auf dem Tisch. Auch die amerikanischen Geheimdienstdossiers von 2005 und 2007 über das Atomwaffenprogramm beruhten zum großen Teil auf der Annahme, dass diese Unterlagen echt seien. Und die internationale Atomenergiebehörde IAEO erklärte sie 2008 für glaubwürdig, obwohl der damalige Generaldirektor Mohammed el-Baradei zu bedenken gab, dass ihre Echtheit nicht nachgewiesen sei. Ein gravierender Fehler in den Zeichnungen beweist jedoch, dass es sich um eine Fälschung handelt: Die abgebildete Rakete war schon vor 2000 – zwei Jahre, bevor die Zeichnungen angefertigt wurden – durch ein verbessertes Modell ersetzt worden, das ganz anders aussah. Im vorigen Jahr erklärte mir Karsten Voigt, der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Koordinator des Auswärtigen Amtes für die Bezie- | 9-2014 Israels Premierminister Benjamin Netanjahu warnt 2012 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen vor dem iranischen Atomprogramm. Change w lee/NYT/redux/laif hungen zu den USA, was es mit diesen Dokumenten in Wirklichkeit auf sich hat: Der deutsche Bundesnachrichtendienst bekam sie von einem Mitglied der Volksmudschaheddin, einer fanatischen Terrororganisation, die das Regime in Teheran schon seit den frühen 1980er Jahren bekämpft. Auch hatte Voigt von einem hochgestellten BND-Vertreter erfahren, dass dessen Mitarbeiter die Quelle für fragwürdig hielten. Es erfüllte die Geheimdienstler mit Sorge, dass Washington gewillt schien, diese Unterlagen zur Basis seiner Iran-Politik zu machen. Die amerikanische Doktrin, dass der Iran insgeheim den Besitz von Atomwaffen anstrebt, lässt eine wichtige Tatsache außer Acht: Die aggressive Haltung der USA gegenüber dem iranischen Kernforschungsprogramm beeinflusst maßgeblich die Atompolitik des Landes. Um den Iran zum Verzicht auf sein Atomprogramm zu zwingen, begann die Regierung von Präsident Ronald Reagan nach der Revolution gegen den Schah 1979, starken Druck auszuüben. Die neue iranische Regierung wollte das unter dem Schah-Regime entwickelte Atomprogramm zunächst zurückfahren; sie besaß nur einen einzigen Atomreaktor in Buschehr und hatte nicht vor, dafür selbst Uran anzureichern. Das sollte die französische Firma Eurodif übernehmen, an der der Iran mit zehn Prozent beteiligt war. Doch nachdem der Irak 1981 im Iran eingefallen war und der Iran einen erfolgreichen Gegenangriff gestartet hatte, wurde die Reagan-Regierung aktiv, 23 24 schwerpunkt atomwaffen Ein Mitarbeiter der iranischen Atomenergiebehörde erklärt 2006 in der Universität Ghom einem Geistlichen, wie der Iran Kerntechnik in der Medizin einsetzt. RAHEB hOMAVANDI/REUTERS aufs Spiel gesetzt, das seit Mitte der 1980er Jahre der wichtigste Partner des Iran auf diesem Gebiet geworden war. Die Volksrepublik hatte dem Iran 1991 fast zwei Tonnen Uran verkauft, wollte jedoch nicht, dass die IAEO davon erfuhr. Denn die Chinesen wurden von den Amerikanern unter Druck gesetzt, das iranische Atomprogramm nicht zu unterstützen. Der größte Teil des chinesischen Urans wurde von 1995 bis 2000 bei Versuchen eingesetzt, Uran mit Hilfe des Laserverfahrens anzureichern. Doch 1999 und 2002 wurde ein Teil davon benutzt, um die Anreicherung in Gaszentrifugen zu testen. Hätte die iranische Regierung die IAEO über dieses an sich völlig legitime Vorgehen in Kenntnis gesetzt, dann wäre auch publik geworden, dass China insgeheim Uran an den Iran verkauft hatte. um die atomare Zusammenarbeit zwischen dem Iran und Frankreich und Deutschland zu unterbinden. Die beiden europäischen Verbündeten akzeptierten das. Die iranische Regierung hatte nun zwei Möglichkeiten: dem amerikanischen Druck nachzugeben und ihr Kernenergieprogramm einzustellen oder eigene Anreicherungsmöglichkeiten zu entwickeln. Sie entschied sich für die Anreicherung. Deshalb widersetzt sie sich nun seit fast drei Jahrzehnten der ablehnenden Politik der USA. Washington wiederum folgert daraus, dass der Iran in den Besitz von Atomwaffen kommen wolle. Die Anlage in Natanz verstößt nicht gegen den Atomsperrvertrag – und verheimlicht wurde sie zunächst China zuliebe. Hinzu kommt, dass der Iran die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) Ende der 1990er Jahre nicht über seine Versuche zur Anreicherung von Uran und über die Anlage in Natanz informiert hat. Auch das gilt seit langem als Beweis für ein Kernwaffenprogramm. Dabei wird aber übersehen, dass die Arbeit dort gar nicht gegen das Abkommen mit der IAEO verstieß. Hätte der Iran tatsächlich vorgehabt, heimlich sein Urananreicherungsprogramm für Atomwaffen zu nutzen, dann hätte die iranische Regierung über die erlaubten Teile berichtet, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Die Geheimhaltung hatte einen anderen Grund: Hätte die iranische Regierung die IAEO über ihre Kernforschung informiert, dann hätte sie die Zusammenarbeit mit China E rst im August 2002 informierte das iranische Exilparlament Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) die Öffentlichkeit über die Anlage in Natanz. Auch dies wertete die US-Regierung unter George W. Bush als Beweis für ein geheimes Waffenprogramm, denn andernfalls – so wurde argumentiert – hätte es keinen Grund gegeben, über eine derartige Einrichtung Stillschweigen zu bewahren. Doch bleiben mehrere Fragen offen. Warum hätte für die Anreicherung von waffentauglichem Uran eine so riesige Anlage gebaut werden müssen, in der mehr als 50.000 Zentrifugen untergebracht werden können – ein Vielfaches dessen, was für kriegerische Zwecke erforderlich gewesen wäre? Und warum wurde sie so dicht neben der Hauptverkehrsstraße in der Nähe von Isfahan gebaut, wo sie keinesfalls unbemerkt bleiben konnte? Die Annahme, der Iran wollte heimlich waffenfähiges Uran anreichern, setzt außerdem voraus, die Verantwortlichen im Iran hätten nichts davon geahnt, dass amerikanische Satelliten jede für atomare Zwecke geeignete Baustelle überwachten. Medienberichte über die amerikanische Satellitenüberwachung des iranischen Atomprogramms gab es jedoch schon Jahre zuvor. Dem Abkommen mit der IAEO zufolge musste der Iran erst sechs Monate vor der Einlieferung von atomarem Material über seine Anreicherungsanlage berichten. Doch es gab auch zwei ganz praktische Gründe, weshalb die Iraner die IAEO vor Baubeginn in Natanz nicht informierten. Beide haben mit den Amerikanern zu tun, die den Iran zwingen wollten, ganz auf die Entwicklung von Atomenergie zu verzichten: Erstens verfügte Iran noch nicht über alle Materialien, die für die Anlage notwendig waren. Bis 2001 etwa fehlten Tausende von stählernen Kugellagern für die Installation der Gaszentrifugen in Natanz. Hätte der Iran der IAEO von Anfang an über das Bauvorhaben 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Ein Ende des Atomstreits? Am 24. November läuft die nächste Frist zur Lösung des Nuklearkonflikts mit dem Iran ab. Dann soll der jahrelange Streit mit einem umfassenden Abkommen beigelegt werden. Der Iran müsse alles tun, um die internationale Gemeinschaft vom friedlichen Charakter seines Nuklearprogramms zu überzeugen, heißt es vonseiten der Bundesregierung. Deutschland ist neben den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates USA, Russland, Frankreich, England und China an den Verhandlungen unter dem Dach der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO in Wien beteiligt. Weil er die schmerzhaften Wirtschaftssanktionen gegen sein Land loswerden will, drängt Irans Präsident Hassan Rohani auf eine Einigung und will mehr Kontrollen zulassen. Noch ist völlig offen, ob die Gespräche erfolgreich verlaufen. Im Juli ist eine erste Frist zur Verhandlung eines langfristigen Abkommens verstrichen. Gestritten wird vor allem über die Zahl der Zentrifugen, die der Iran zur Urananreicherung nutzen darf. Der Westen verlangt eine deutliche Reduzierung der rund 19.000 Zentrifugen. Die USA wollen zudem, dass die Langstreckenraketen in den Atomvertrag einbezogen werden, der Iran lehnt dies strikt ab. Auch über den genauen Zeitplan für die Aufhebung der Sanktionen gibt es angeblich noch Differenzen. (sdr) in Natanz Auskunft gegeben, dann hätten die westlichen Geheimdienste bessere Chancen gehabt, die Lieferung der wichtigen Teile zu verhindern. Zweitens waren die Iraner davon überzeugt, dass die USA und Israel nichts unversucht lassen würden, um die Fertigstellung der Anlage zu verhindern, gegebenenfalls mit Gewalt. Seit Ende 1997 drohte Israel indirekt mit Angriffen auf den Iran, sollte Teheran das Atomprogramm nicht einstellen. Als im September 2009 die Existenz einer weiteren Anreicherungsanlage in Fordo in der Nähe der Stadt Ghom bekannt wurde, entrüstete sich die USRegierung einmal mehr über die arglistigen Iraner. „Sie haben uns drei Mal hintergangen“, erklärte ein hochgestellter Beamter gegenüber der „New York Times“ und fügte triumphierend hinzu: „Und sie sind drei Mal erwischt worden.“ Der Iran hatte die IAEO in einem Brief vom 21. September 2009 über die Anlage informiert, vier Tage vor den öffentlichen Vorwürfen der USA. Doch die Regierung von Präsident Barack Obama behauptete – mit den Worten eines hohen Regierungsbeamten, der die Medien darüber unterrichtete –, die Iraner hätten die IAEO nur deshalb informiert, weil sie „erfahren hatten, dass die Geheimhaltung der Anlage gefährdet war“. Diese Behauptung wurde in vielen Berichten wiederholt und entwickelte sich zu einem festen Bestandteil der Doktrin vom heimlichen Streben der Iraner nach einer Atomwaffe. Doch am Tag der Presseverlautbarung wurde im amerikanischen Außenministerium noch ein anderer Text in Frage-und-Antwort-Form verfasst, um die Anreicherungsanlage bei Ghom öffentlich bekannt zu machen. Darin wurde deutlich: Anders als behauptet konnte Washington nicht beweisen, dass der | 9-2014 Gareth Porter ist Journalist und Buchautor für sicherheitspolitische Themen. Kürzlich ist sein Buch „Manufactured Crisis: The Untold Story of the Iran Nuclear Scare” (Just World Books) erschienen. Iran deshalb über seine Anlage informiert hatte, weil sie nicht mehr geheim war. Dort heißt es: „Frage: Warum entschieden sich die Iraner dafür, die Anlage zum jetzigen Zeitpunkt bekannt zu geben? Antwort: Das wissen wir nicht.“ Den amerikanischen Geheimdienstbeamten war die Anlage schon seit Monaten bekannt, doch sie waren sich nicht sicher, ob sie der Urananreicherung dienen sollte. Der hohe Beamte, der am 25. September 2009 die Presse informierte, gab zu: „Solange der Bau einer solchen Anlage noch in den Anfängen steckt, kommen viele Zwecke in Frage, für die sie genutzt werden könnte.“ Dass die Iraner der IAEO über Fordo berichteten, geschah wohl in der Absicht, die besonders exponierte Anreicherungsanlage in Natanz vor einem Angriff durch Israel oder die USA zu schützen. Der Brief an die IAEO wurde geschrieben, eine Woche nachdem der Iran Gesprächen über sein Atomprogramm im UN-Sicherheitsrat zugestimmt hatte. Außerdem hatte Ali Akbar Salehi, der Leiter der Iranischen Atomenergieorganisation, vor einem Präventivschlag gegen iranische Kernforschungseinrichtungen gewarnt. A ngesichts der Baugeschichte des Tunnelsystems in Fordo kann man sich kaum vorstellen, dass man im Iran nicht von der Überwachung durch die amerikanischen Geheimdienste wusste. Schon vor Baubeginn hatte der Nationale Widerstandsrat des Iran im Dezember 2005 erklärt, dass die unterirdische Anlage für das iranische Atomprogramm genutzt werden sollte. Und dem französischen Sicherheitsexperten Roland Jacquard zufolge verlegten die Iraner im Jahr 2006 eine Flugabwehreinheit an den Berg, in den die Tunnel gegraben wurden – eine überraschende Maßnahme, falls Iran die Einrichtung wirklich absolut geheim halten wollte. Gemäß einer ergänzenden Vereinbarung mit der IAEO musste der Iran jede neu geplante Atomanlage umgehend melden. Hätten die Iraner die Einrichtung in Fordo wirklich für ein geheimes Programm der waffenfähigen Urananreicherung nutzen wollen, dann hätten sie zum Zeitpunkt, als der Bau beschlossen wurde, gewiss geschwiegen und so getan, als wären keine weiteren Anlagen geplant. Doch stattdessen teilte der Iran der IAEO im März 2007 mit, dass es die ergänzende Vereinbarung nicht mehr einhalten wolle. Offenbar wollte die Regierung in Teheran die USA und Israel glauben machen, sie verfüge möglicherweise noch über mehrere derartige Einrichtungen. Die Darstellung, dass der Iran die Welt hinters Licht führen will, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Trotzdem halten die westlichen Politiker und Medien fast geschlossen an dieser offiziellen Meinung fest. Dass sie an einer genauen Analyse der Fakten nicht interessiert sind, birgt ein enormes Risiko für eine vernünftige Politik des Westens gegenüber dem Iran. Aus dem Englischen von Anna Latz. 25 26 schwerpunkt atomwaffen Pulverfass Südasien Atomwaffen machen die Spannungen zwischen China, Indien und Pakistan besonders brisant. Ein regelrechter Krieg ist zwar unwahrscheinlich. Doch die Gefahr ist groß, dass Terroristen in den Besitz von Kernwaffen kommen. Von Swaran Singh D as Problem der Atomwaffen in Südasien ist Mitte 2014 wieder zum Streitthema geworden. Die Fachzeitschrift für Militär und Verteidigung „IHS Jane’s“ schrieb im Juni, Indien erweitere seine Kapazitäten zur Urananreicherung – vorgeblich für die Kernreaktoren des Atom-U-Bootes INS Arihant, jedoch weit über dessen tatsächlichen Bedarf hinaus. Das Rechercheteam gelangte zu dem Schluss, dass Indien mit der neuen Produktionsstätte in der Anlage für seltene Metalle nahe Mysore in der Lage sei, etwa doppelt so viel waffentaugliches Uran herzustellen, wie es eigentlich braucht. Kernwaffen sind fester Bestandteil des regionalen Kräfteverhältnisses und der wahrgenommenen Bedrohung. Die indische Regierung beschwerte sich sofort. Die Berichte seien „auf perfide Weise zur Unzeit“ platziert, und selbst die US-Regierung wies sie als „höchst spekulativ“ zurück. Die „Enthüllung“ erschien am Vorabend der Plenarsitzung, zu der sich die Gruppe der nuklearen Lieferländer (Nuclear Suppliers Group, NSG) in Buenos Aires traf. Dort stand erstmals Indiens Antrag auf Mitgliedschaft auf der Tagesordnung. Der Gruppe gehören 48 Staaten an, die den internationalen Handel mit Nukleartechnik und -material sowie Know-how kontrollieren wollen, um die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern (siehe Beitrag Seite 12). Die Gründung der Gruppe war eine Reaktion auf Indiens ersten Kernwaffentest im Jahr 1974. Im September 2008 hatte die NSG ein Zugeständnis gemacht und das Verbot, Kerntechnik mit Indien zu handeln, außer Kraft gesetzt. Indien bekam damit als einziger Staat, der den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, eine solche Zulassung. Damit konnte Neu-Delhi mit den USA im Oktober 2008 ein Kooperationsabkommen über die zivile Nutzung von Kerntechnik schließen. Im November 2010 äußerte US-Präsident Barack Obama zudem den Wunsch, Indien solle Mitglied der NSG werden. China und Pakistan fürchten das. Denn damit würde Neu-Delhi ein Vetorecht über den globalen Nuklearhandel bekommen, weil die NSG nach dem Konsensprinzip arbeitet. Die NSG bleibt gespalten. Zwar machten die USA und britische Lobbyisten Druck, zudem ratifizierte Neu-Delhi am Vorabend der Plenarsitzung ein Zusatzprotokoll mit der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), das dieser mehr Kontrollmöglichkeiten über den Kernbrennstoff in Indiens zivilen Reaktoren gibt. Indien wird seit einigen Jahren zunehmend als verantwortliche Macht mit fortgeschrittener Kerntechnik betrachtet. Doch pakistanische Experten beschworen wieder das Feindbild des bösen Indien. Einige Mitglieder der NSG schalteten auf stur und bemängelten, dass eine Mitgliedschaft Indiens die Glaubwürdigkeit des Atomwaffensperrvertrages untergraben würde. Die Gruppe beschloss, die Debatte zu vertagen. Die Diskussion über die Verbreitung von Kernwaffen in Südasien bleibt anfällig für unausgewogene Analysen, Polemiken und Untergangsszenarien. Diese kurzsichtige Haltung findet sich auch in Islamabad und Neu-Delhi. Pakistan und China machten Indien für das sogenannte atomare Wettrüsten in Asien verantwortlich. 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt Links: US-Präsident Barack Obama (rechts) und Indiens Staatschef Manmohan Singh 2010 bei einer Konferenz über nukleare Sicherheit. Beide Länder arbeiten bei Kern technik zusammen. Rechts: Peking stützt im Gegenzug Pakistan; der chinesische General Hou (links) und der pakistanische Armeechef Ashfaq Kayani bei einer gemeinsamen Militärübung 2011. Mandel Ngan/afp/Getty Images; Faisal Mahmood/REuters China bezog öffentlich keine Stellung, da Peking weder Indien noch Pakistan als Kernwaffenstaat anerkennt. Das Internetportal „China Topix“ jedoch zitierte die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, selbst ein „begrenzter Krieg“ zwischen Indien und Pakistan würde bedeuten, dass „zwei Milliarden Menschen infolge eines nuklearen Schlagabtausches unter Einsatz von 100 Kernwaffen verhungern“. Zur Erinnerung: Beide Länder nennen zusammen etwa 230 Sprengköpfe ihr Eigen – weniger als China und nichts im Vergleich zu den weltweit insgesamt 17.000 atomaren Sprengköpfen. Dennoch: Indiens und Pakistans politischen Systeme sind komplex, sie haben häufig gegeneinander Krieg geführt und ihre militärischen Oberbefehlshaber handeln oft unglücklich und auf der Grundlage nebulöser Doktrinen. Das macht die Lage im atomaren Dreieck im südlichen Asien spannungsreich und vielschichtig, so dass Analysten nicht selten in Panik verfallen. D er Atomdeal zwischen Indien und den USA im Oktober 2008 hat die Vorzeichen in der nuklearen Gleichung im südlichen Asien umgekehrt. Die USA haben nicht nur den Weg bereitet, dass Indien im globalen Atomgeschäft mitspielen darf. Sie haben das Land als „verantwortlichen Staat“ gewürdigt, den es zu kooptieren und zu belohnen gilt. Gewiss hat die Anziehungskraft eines potenziell 200 Milliarden US-Dollar schweren Marktes für Nukleartechnologie in Indien zu diesem politischen Umschwung beigetragen. Seitdem versucht China, für Pakistan ähnliche Vergünstigungen durchzusetzen. Dem haben sich Vertreter der USA und anderer Industrieländer wiederholt widersetzt. Denn in Pakistan existieren eine Vielzahl an Machtzentren sowie Brutstätten des Terrorismus. Die Bilanz bei der Nichtverbreitung von | 9-2014 Kernwaffen ist bescheiden; die Erinnerung an das Netzwerk von Abdul Kadir Khan, das Atomtechnik weitergegeben hat – unter anderem nach Nordkorea –, ist noch frisch. Diese Umstände haben Indien geholfen, eine defacto-Anerkennung als Kernwaffenstaat zu erreichen. Im Gegenzug hat Indien sein Atomprogramm in einen zivilen und einen militärischen Teil unterteilt und alle zivilen Anlagen den Kontrollen und Sicherheitsvorkehrungen des Nichtverbreitungs-Regimes unterstellt. Dazu zählen etwa regelmäßige Inspektionen durch die IAEO. Darüber hinaus hat Neu-Delhi viele Zusagen gemacht; so will man ein Atomtestmoratorium einhalten, auf den Ersteinsatz von Kernwaffen verzichten und lediglich eine minimale Abschreckung aufrechterhalten. Im Gegenzug sind dank des Atomdeals mit den USA und des Zugeständnisses der NSG die von Indien als militärisch deklarierten Atomanlagen und der gelagerte Kernwaffenbrennstoff von IAEO-Inspektionen befreit. Indien steht es frei, zusätzliche Anlagen zur militärischen Nutzung aufzubauen und dazu Material einzusetzen, das nicht unter den Verifikationsmechanismus fällt. Trotz dieses Entgegenkommens sind auch manche Kommentare aus Indien deplatziert und rückwärtsgewandt. Brig Gurmeet Kanwal, ein früherer Leiter einer Denkfabrik der Armee, schrieb in der indischen Tageszeitung „The Tribune“, die enge Beziehung zwischen China und Pakistan bei der Kernkraft und beim Raketenprogramm habe das strategische Gleichgewicht im südlichen Asien nachhaltig gestört. Indiens Überlegenheit bei den konventionellen Waffen sei neutralisiert worden. Das habe Pakistan ermuntert, unter seinem nuklearen Schutzschirm einen Stellvertreterkrieg zu entfachen. Das ist kalter Kaffee, war schon bisher nicht hilfreich und verletzt zunehmend den Stolz der Pakistaner. 27 28 schwerpunkt atomwaffen Wo drei Atommächte aufeinandertreffen Die Atomrüstung in Südasien ist eng verbunden mit Konflikten zwischen Indien, Pakistan und China – insbesondere um die Kontrolle über Kaschmir (siehe Karte). Schon unmittelbar nach ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 führten Indien und Pakistan Krieg um das Gebiet, in dem damals ein Hindu-Fürst über eine vorwiegend muslimische Bevölkerung herrschte. Das führte zur Teilung Kaschmirs, der größere und reichere Teil fiel an Indien. 1962 brach zwischen China und Indien ein Krieg über den Grenzverlauf aus. Indien unterlag, Pakistan verbündete sich danach mit China und überließ Peking einen Streifen des von ihm kontrollierten Teils Kaschmirs. Ein erneuter Krieg zwischen Indien und Pakistan bestätigte 1965 die Teilung Kaschmirs; in einem dritten Krieg zwischen beiden Ländern stand 1971 die Abspaltung Bangladeschs von Pakistan im Vordergrund. Die Konflikte trieben die Aufrüstung in Südasien mit voran. China hatte bereits 1964 seine erste Atombombe getestet und war damit zur Supermacht neben der Sowjetunion und den USA aufgestiegen. Indien zündete 1974 einen atomaren Sprengsatz; Pakistan entwickelte daraufhin in den 1980er Jahren Atombomben. 1998 führten beide Länder offene Atomtests durch. Beide sind dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten und gehören zu den vier Staaten, die nicht als Atommächte anerkannt sind, aber Kernwaffen besitzen. Offene Kriege zwischen Indien und Pakistan hat es seit 1971 nicht mehr gegeben. Pakistan, dessen Armee der indischen unterlegen ist, unterstützt und benutzt jedoch Gruppen, die im indischen Teil Kaschmirs gegen die Herrschaft Indiens kämpfen oder in Indien Anschläge verüben. Die Beziehungen zwischen Indien und China haben sich dagegen entspannt. (bl) ASIEN Kaschmir AFGHA NISTAN TADSCHIKISTAN 1963 von Pakistan an China abgetreten seit 1962 von China besetzt Gilgit pakistanisch Islamabad Kargil Srinagar Jammu PAKISTAN Aksai Chin CHINA indisch INDIEN 200 km Grenze des Fürstentums Kaschmir bis 1947 Neu-Delhi Globus 7505 Waffenstillstandslinie von 1949 © Es ist wichtig zu verstehen, dass chinesische Spitzenpolitiker keine direkten Atomverhandlungen mit Indien führen können. Die Regierungen in Indien und Pakistan werden ihre Kernwaffen nur aufgeben, wenn das Teil eines globalen Verzichtes ist. Alle drei Länder fühlen sich von außen gedrängt, den Glauben an die nukleare Abschreckung hochzuhalten – und das, obwohl sie sich zu Atomtestmoratorien und einer Minimalabschreckung bekennen, was dieses nukleare Dreieck so einzigartig und stabil macht. Pakistans Hilfe für Terroristen birgt das Risiko, dass die Staaten in einen Atomkrieg taumeln. Es geht ihnen darum, die Stabilität der Abschreckung zu sichern. Zugleich soll mit Hilfe eines Dialoges die Sicherheit von Atomanlagen verbessert werden. Kernwaffen sind fester Bestandteil ihrer Wahrnehmung des regionalen Kräfteverhältnisses und der Bedrohungslage. Die Atomwaffen haben schon jetzt die Grenzen eingefroren, um die sich Kriege in der Vergangenheit meist drehten: Es ist unwahrscheinlich, dass es zu einem größeren Krieg kommen wird, um Grenzen neu zu ziehen. Aber die zwischenstaatlichen Spannungen werden sich weiter auf unkonventionellen Wegen entladen, etwa durch Attacken im Cyberspace oder indem nationale Entwicklungsprojekte unterminiert werden und das internationale Ansehen des jeweils anderen Staates geschwächt wird. Pakistanische Experten glauben, dass Indien von der Doktrin der Abschreckung zu einer Doktrin des Zwangs übergegangen ist. Es will Pakistan nicht mehr mit der Androhung eines untragbaren Schadens von Handlungen abschrecken, sondern mit Drohungen erreichen, dass das Nachbarland sich gemäß indischen Wünschen verhält. Als Beleg werden Indiens Bemühungen zum Erwerb von Raketenabwehrsystemen, die Investitionen in Satellitensysteme, der Bau von Atom-U-Booten und auch das geringe Interesse an Kriegsführungsstrategien genannt. In Ermangelung eines Dialogs hat Pakistan mit der Entwicklung von Nasr reagiert, einer neuen taktischen Kernwaffe mit kurzer Reichweite. Sie soll gegen indische Streitkräfte eingesetzt werden, die auf pakistanisches Gebiet vordringen (die indische Armee ist der pakistanischen konventionell überlegen; Anm. d. Red.). Das macht es sehr viel wahrscheinlicher, dass Kernwaffen eingesetzt werden. Ergänzend dazu gibt es ein breites Spektrum an Abschreckungsoptionen, von denen der Terrorismus als besonders wirksam angesehen wird. Dass Pakistan den Terrorismus als Methode einsetzt, lässt sich zurückverfolgen bis zur Aufwiegelung der islamischen Widerstandskämpfer, der Mudschaheddin, gegen die Sowjetunion in den 1980er Jahren. Das Instrument erwies sich als attraktiv, weil ab den 1990er Jahren die Verbreitung von Kernwaffen 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt im südlichen Asien größere Kriege unmöglich machte und die Gewalt zwischen den Staaten sich auf Konflikte mit geringerer Intensität verlagerte. Der wiederholte Einsatz von Terrorismus birgt jedoch das Risiko, das Abschreckungsgleichgewicht auszuhöhlen und die Staaten in einen Atomkrieg taumeln zu lassen. K ernwaffen stellen aber nicht nur im Krieg ein Problem dar. Ebenso wichtig ist ein sicherer Umgang mit ihnen im Frieden. Falsche Informationen, Fehlwahrnehmungen oder Missmanagement können einen versehentlichen Abschuss oder eine Sabotage verursachen. Auch nichtstaatliche Akteure könnten sich Zugang zu Informationen und Anlagen verschaffen. Dieser Alptraum des Nuklearterrorismus macht das südliche Asien zu einem wahren Pulverfass. Angesichts der regelmäßigen Angriffe von Mudschaheddin auf Einrichtungen der pakistanischen Armee steht zu befürchten, dass irgendwann einige der Atomsprengköpfe in die Hände von Dschihadisten fallen könnten. Der Rückzug der NATO und der US-amerikanischen Truppen aus Afghanistan sowie die Bürgerkriege im Nahen Osten haben diese Sorge verstärkt. Experten warnen bereits davor, dass die Möglichkeit von Nuklearterrorismus wachse, weil Kernkraftwerke und Forschungsreaktoren anfällig für Sabotage sind und waffentaugliches Material leicht entwendet werden kann. Als im Juni Terroristen den Flughafen in Karatschi angriffen und zwei Armeeoffiziere töteten, hat die pakistanische Regierung sofort die Sicherheitsvorkehrungen für Atomanlagen erhöht. Der Terrorangriff zeigte, dass es dem pakistanischen Nachrichtendienst nicht gelungen war, Informationen rechtzeitig weiterzugeben. Er belegte auch die militärischen Fähigkeiten der islamistischen Kämpfer. Ebenso beunruhigend sind zunehmende CyberAttacken – vor allem für den Fall eines Krisenmana- gements zwischen atomar bewaffneten Staaten. Nach dem Vorbild Chinas haben Indien und Pakistan hier starke Kapazitäten aufgebaut: Es gibt zahlreiche Beweise für virtuelle Angriffe auf sensible Computernetzwerke. In allen drei Staaten hängen die Kontrolle der Kernwaffen ebenso wie das tägliche Leben zunehmend von Informations- und Kommunikationsnetzen ab. Zugleich sind Indien und Pakistan gegnerische Atommächte, die schon lange, bevor sie sich offiziell zum Atomstaat erklärten, Schritte zur Verringerung der mit Atomwaffen verbundenen Risiken ergriffen haben. Sie haben sich in einem Abkommen verpflichtet, ihre Atomanlagen nicht anzugreifen, und tauschen jedes Jahr am 1. Januar eine Liste dieser Anlagen aus – das halten sie auch ein, wenn ihre Beziehungen auf einem Tiefpunkt sind. Auch über Raketentests informieren sich die Regierungen in Neu Delhi und Islamabad vorher gegenseitig. China und Pakistan nehmen sich außerdem ein Beispiel am Umgang anderer Staaten mit Indien und führen mit Neu-Delhi informelle sogenannte „TrackII“-Verhandlungen über kerntechnische Fragen. An den regelmäßigen Gesprächen nehmen pensionierte Beamte, Militärangehörige und Wissenschaftler teil. Sie sind stark fokussiert und beeinflussen nationale politische Entscheidungen. Es fanden sogar schon trilaterale Gespräche zwischen China, Indien und Pakistan über Nuklearfragen statt. Auf diese Weise kann es gelingen, die mit Atomwaffen verbundenen Risiken in Asien zu verringern. Die Gefahr des Nuklearterrorismus ist heute der schlimmste Alptraum im südlichen Asien. Es gibt dafür keine schnelle Lösung, weil sich alle einschlägigen Normen und Regime an Regierungen wenden und Terroristen oft als außerhalb staatlicher Kontrolle gelten. Dies macht das atomare Dreieck im südlichen Asien so überaus gefährlich. Aus dem Englischen von Barbara Kochhan. D. Swaran Singh ist Professor für Diplomatie und Abrüstung an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi. buch zum Thema Große Bomben für große Nationen Pakistanische und indische Naturwissenschaftler, die für atomare Abrüstung eintreten, werfen in diesem Buch kritische Blicke auf die atomare Bewaffnung der beiden Länder. Der größte Teil ist Pakistan gewidmet – den Hintergrund von dessen Atomprogramms behandelt der Herausgeber Hoodbhoy in sechs Beiträgen. Als einer der wenigen Atomphysiker Pakistans kannte er viele hohe Militärs und Strategen persönlich und weiß aufschlussreiche Details über ihr Denken zu erzählen. | 9-2014 Es war offenbar teilweise erschreckend schlicht. Weder in Indien noch in Pakistan habe man die Folgen der Entscheidungen über Atomwaffen wirklich abgewogen, behauptet Hodbhoy. Indien sei auf China fixiert gewesen und von der Vorstellung beseelt, dass eine großartige Nation auch große Bomben besitzen müsse. Pakistans Militär, das dem Indiens klar unterlegen war, sah daraufhin in Atombomben eine Art magische Lösung aller Sicherheitsprobleme – und später auch eine willkommene Einnahmequelle: Das Land gab die Technik insgeheim weiter. Weitere Beiträge befassen sich mit Spezialfragen wie den Problemen der Frühwarnung bei einem Angriff und mit den Folgen, die ein Einsatz von Kernwaffen in Südasien hätte. Die letzten beiden Beiträge begründen, warum auch die zivile Nutzung der Kernkraft weder in Indien noch in Pakistan sinnvoll ist. Für Laien ist das Buch nur teilweise interessant, für Experten eine Fundgrube. (bl) Pervez Hoodbhoy (Hg.) Confronting the Bomb. Pakistani and Indian Scientists Speak Out Oxford University Press, Oxford 2013, 292 Seiten, ca. 31,65 Euro 29 30 schwerpunkt atomwaffen Die USA haben im Pazifik 67 Atombomben getestet. Die Folgen wurden jahrzehntelang vertuscht. Inzwischen kämpfen die Enkel der Opfer für eine Entschädigung. Von Giff Johnson D ie größte Bombe zündete am 1. März 1954. Im Rahmen der Operation „Castle“ testeten die USA im Pazifik die Wasserstoffbombe „Bravo“. Mit einer Sprengkraft von 15 Megatonnen war sie die stärkste thermonukleare Waffe der Amerikaner. Einwohner der Marshallinseln waren auf vielen Atollen dem radioaktiven Niederschlag ausgesetzt. Ebenso erging es US-Soldaten, die die Wetterbedingungen beobachteten, und japanischen Fischern, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe befanden. Von 1946 bis 1958 detonierten auf dem Bikiniund dem Enewetak-Atoll insgesamt 67 Atomwaffen. Beide Atolle zählen zur Republik Marschallinseln, ihre Einwohner wurden wegen der Atomwaffentests umgesiedelt. Dutzende von Inseln in der Region wurden in dieser Zeit radioaktiv verseucht – und an diesem Erbe tragen sie schwer bis in die Gegenwart. Seit der Detonation von „Bravo“ auf Bikini sind mehr als sechzig Jahre vergangen. 2010 wurde das Atoll zum Unesco-Welterbe erklärt. Aber dauerhaft leben kann hier niemand. In den 1960er Jahren waren mehr als 100 Bikinianer zurückgekehrt, nachdem ihnen Wissenschaftler versichert hatten, es sei ungefährlich. Schnell wurde jedoch festgestellt, dass die radioaktive Strahlung zu hoch ist, und sie wurden wieder evakuiert. Seitdem leben die Ureinwohner von Bikini verstreut auf Majuro, Kili und Ejit, anderen Atollen der Marschallinseln und in den USA. Laut der US-Regierung ist die Strahlung in der Region zurückgegangen, doch die Menschen sind skeptisch. Eine baldige Rückkehr zeichnet sich nicht ab. Vor fast 30 Jahren unterzeichneten die USA und die Marshallinseln ein Abkommen zur Entschädigung der Opfer; es ist Teil eines umfassenderen Vertrages (Compact of Free Association) zwischen den beiden Ländern. Die USA behielten die militärische Kontrolle über die Marshallinseln und dürfen auf dem Kwajalein-Atoll ein Testgelände für Geschütze nutzen. Die Marshallinseln erhalten im Gegenzug Zahlungen für die Folgen der Atomtests, Zuschüsse an die Regierung und den visafreien Zugang für ihre Bürger in die USA, um dort zu leben, zu arbeiten und zu studieren. Ein Entschädigungsfonds wurde eingerichtet, der mit 150 Millionen US-Dollar gefüllt werden sollte. Er sollte den vier Atollen Bikini, Enewetak, Rongelap und Utrik zugutekommen, die von der US-Regierung als radioaktiv verseucht anerkannt wurden. Ferner wurde ein Gesundheitsprogramm aufgelegt. Ein spezielles Gremium, das Nuclear Claims Tribunal, sollte über alle Forderungen von Opfern der Atomtests entscheiden. Vor dem Atomtest 1946 müssen die 146 Einwohner von Bikini ihre Insel verlassen. Wegen der radioaktiven Strahlung kann dort noch heute niemand leben. Us-Navy Verstrahlte Seit den Tests haben alle US-Regierungen versucht, deren Folgen zu vertuschen. Als die Vertreter der Marshallinseln über die Entschädigung verhandelten, hatten sie keinen Zugang zu den geheimen Dokumenten, die das Ausmaß des Fallouts belegen. Erst zwölf Jahre nach Verabschiedung des Abkommens gaben die USA Geheimberichte frei, laut denen sich die Verseuchung keineswegs auf die vier Atolle beschränkte. Jede Insel der Region war der nuklearen Belastung ausgesetzt. Der UN-Sonderberichterstatter fordert vollständigen Zugang zu den Informationen über die militärische Nutzung der Marshallinseln und ihre Folgen. 2006 stellte das Nuclear Claims Tribunal die Entschädigungszahlungen ein, weil kein Geld mehr da war. Bis dahin hatte das Gremium mehr als 2000 Bewohnern der Marshallinseln 96,6 Millionen US-Dollar für persönliche Schäden zugesprochen – der Fonds verfügte aber nur über 73,5 Millionen US-Dollar. Das Tribunal erkannte außerdem Bikini, Enewetak, Rongelap und Utrik 2,3 Milliarden US-Dollar zu, um die Umweltfolgen der radioaktiven Verseuchung 9-2014 | atomwaffen schwerpunkt sprüche ein für alle Mal geregelt. Weitere Zahlungen seien nicht erforderlich. Nach wie vor finanzieren die USA zwar in begrenztem Umfang medizinische Programme für Menschen, die von den Atomtests betroffen waren, sowie wissenschaftliche Untersuchungen und die Überwachung des Gebiets. Umfangreiche Epidemiologische und radiologische Studien auf den Marschallinseln fehlen jedoch – eine Lücke, die UN-Sonderberichterstatter Calin Georgescu geschlossen sehen möchte. Er empfahl, die Marshallinseln sollten sich für solche Untersuchungen an UNOrganisationen wenden, und verwies auf Studien, die die Internationale Atomenergieorganisation an Teststätten für Atomwaffen in anderen Ländern vorgenommen hat. Georgescu appellierte außerdem an die USA, den Marshallinseln vollständigen Zugang zu ihren Informationen und Aufzeichnungen über die militärische Nutzung der Marshallinseln und die Folgen für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen zu gewähren. Auch 58 Jahre nach dem letzten Atomtest auf den Marshallinseln bleiben viele Berichte zu den Atomtests geheim. Sie lagern fest verschlossen in Tresoren der US-Regierung. Heimat zu bewältigen. Auch hier reichten die Mittel des Fonds nicht: Nur Bikini und Enewetak erhielten symbolische Zahlungen von 3,9 Millionen US-Dollar. Bikini und Enewetak strengten im selben Jahr erneut Klagen an, die 20 Jahre zuvor bereits von US-Gerichten zurückgewiesen worden waren. Damals lautete die Begründung, die US-Regierung habe mit dem Nuclear Claims Tribunal eine Instanz geschaffen, die für die Zahlung von Ansprüchen zuständig sei. Ende 2007 wurden die Klagen der Insel-Vertreter erneut abgewiesen. Der US-Supreme Court lehnte eine Anhörung der Fälle ab. Die Bewohner der Marshallinseln können somit nicht weiter vor US-Gerichten klagen – und das nimmt dem US-Kongress den Druck, sich mit dem Erbe der Atomtests zu beschäftigen. Ende 2012 befasste sich der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen, Calin Georgescu, in einem Bericht mit den Folgen der Atomtests auf den Marshallinseln. Die Tests hätten die Menschenrechte der Einwohner verletzt, betonte er darin. „Die Folgen der Strahlung wurden noch verschärft durch die Verseuchung der Umwelt, die kaum rückgängig zu machen ist.“ Georgescu forderte die US-Regierung auf, die vom Nuclear Claims Tribunal zuerkannten Gelder zu zahlen. Die US-Regierung hält dagegen, mit dem 150-Millionen-Dollar-Entschädigungsfonds seien die An- | 9-2014 Wanderausstellung „Kein Bravo für Bikini“ Zur Geschichte der Atombombentests im Pazifik und den Folgen bietet die Pazifik-Informationsstelle eine Wanderausstellung an. Sie wendet sich vor allem an Schüler und Jugendliche und kann gegen die Erstattung von Porto- und Versandkosten ausgeliehen werden: www.pazifik-infostelle. org D er Präsident der Marschallinseln, Christopher Loeak, erklärte bei einer Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Bravo-Wasserstoffbombentests im März, zwar verbinde sein Land nach wie vor eine sehr enge Freundschaft mit den USA. Doch bei den Folgen der Atomtests sei noch nicht alles geregelt. Das Entschädigungsabkommen sei nicht in gutem Glauben ausgehandelt worden, kritisierte Loeak. Es ermögliche keine faire und angemessene Regelung der Schäden, die durch die Tests verursacht wurden. Von den 167 Bikinianern, die ihre Heimat 1946 verlassen mussten, sind nur noch 30 am Leben. Sie sind alt geworden – einige ihrer Nachkommen tragen nun die Fackel weiter und kämpfen für ihre Entschädigung. „Ich verlange Gerechtigkeit für die Generation meiner Großmutter, die so viel durchgemacht hat“, sagt Lani Kramer, Ratsabgeordnete für das Bikini-Atoll. „Wir müssen uns an den US-Kongress wenden.“ Aber dazu sei die Regierung der Marshallinseln nicht bereit. Irene Abon, die auf dem Rongelap-Atoll lebt und deren Mutter dem radioaktiven Niederschlag 1954 ausgesetzt war, stimmt zu: „Von den Menschen der ersten Generation, die betroffen war, leben nur noch wenige. Ihre Probleme werden von unseren Politikern nicht zur Kenntnis genommen.“ Was wird die Zukunft bringen? Der UN-Sonderberichterstatter hat die USA noch einmal dazu aufgerufen, endlich zu handeln, um die Probleme, die ihr Atomwaffentestprogramm verursacht hat, zu lösen. Doch die Bewohner der Marshallinseln müssen sich selbst dafür stark machen, um den US-Kongress zu angemessenen Entschädigungszahlungen und zur Finanzierung von Gesundheitsprogrammen zu bewegen. Es besteht wenig Hoffnung, dass sich die USA aus eigenem Antrieb ihrem nuklearen Erbe im Pazifik stellen. Aus dem Englischen von Bernd Stößel. Giff Johnson ist Herausgeber der Wochenzeitung „The Marshall Islands Journal“ (www. marshallislandjournal.com) und Autor des Buches „Don’t Ever Whisper: Darlene Keju – Pacific Health Pioneer, Champion for Nuclear Survivors” (www.donteverwhisper.com). 31 Gebrochene Seelen Viele Syrerinnen und Syrer ertragen die Folgen des Bürgerkriegs nicht mehr: Sie nehmen sich das Leben. Doch kaum jemand wagt, über dieses Tabu zu sprechen. Von Lauren Wolfe D ie Arme waren dünn wie Streichhölzer, an den Händen traten die Sehnen hervor. Mit kraftloser Stimme erzählte Alma Abdulrahman im Juni vergangenen Jahres, wie sie von syrischen Regierungstruppen gefoltert und vergewaltigt worden war. Vom Zwerchfell abwärts gelähmt, das Gesicht aschfahl, telefonierte sie aus einem Krankenhausbett im jordanischen Amman über Skype mit mir in New York. Damals schilderte die 27-Jährige, wie sie bei zwei etwa einmonatigen Haftaufenthalten in einen Reifen gezwängt und geschlagen, mit einem Draht ausgepeitscht, zwei Mal täglich unter Drogen gesetzt und vergewaltigt worden war, wobei sie immer wieder das Bewusstsein verloren hatte. Während des Gesprächs schwankte Abdulrahman zwischen Wut, Verzweiflung und der festen Entschlossenheit zu reden: „Das sind Dinge, über die niemand spricht. Ich vertraue sie Ihnen an, damit die ganze Welt sie hört und sieht.“ Abdulrahman hatte sich schon zu Beginn der Revolution der freien syrischen Armee angeschlossen. Sie war zur Kommandantin eines Bataillons aufge- stiegen und hatte eine Truppeneinheit von 15 Mann befehligt, als eine der wenigen Frauen an der Front. Gelähmt war sie seit ihrer zweiten Haft: An einem Checkpoint der Regierungstruppen hatte ihr ein Soldat mit einem Gewehr einen Stoß ins Genick versetzt. Laut ihrer eigenen Aussage hat sie mindestens neun Männer getötet. „Wenn ich nicht so stark wäre, wäre ich längst gestorben“, sagte sie und behauptete, sie „arbeite“ vom Krankenhaus aus. Sie helfe ihren Mitrevolutionären, von Ärzten in Daraa im südlichen Syrien Medikamente zu erhalten. „Wenn ich mich aufsetzten könnte – ich schwöre bei Gott – wenn ich mich aufsetzen könnte, würde ich unserer Sache wieder dienen. Zumindest den Verletzten würde ich beistehen.“ Im Lauf des Gesprächs geriet ihre Entschlossenheit jedoch deutlich ins Wanken. „Ich bin jetzt nur noch ein Geist und eine Stimme“, sagte sie. „Ich bin so gut wie tot.“ Abdulrahman ertrug Folter und Vergewaltigung, die Trennung von ihren Kindern, Lähmung und Einsamkeit. Sie hielt länger durch, als viele andere es in 9-2014 | Mehr als drei Jahre Bürgerkrieg haben Trümmerlandschaften hinterlassen: Eine Straße in Aleppo nach einem Luftschlag der syrischen Armee im Juni dieses Jahres. Zein al-Rifai/Afp/Getty Images ihrer Lage geschafft hätten. Doch am 14. Juni 2014 war alles zu Ende: Abdulrahman starb, verzweifelt und allein, in einem jordanischen Krankenhaus. „Sie war ohne Hoffnung“, sagte die Psychiaterin Yassar Kanawati, die sie schon früh behandelt und sich immer wieder ein Bild von ihrem Gesundheitszustand gemacht hatte. Kanawati, die in Amman für die Syrisch-Amerikanische Medizinische Gesellschaft ein psychosoziales Team leitet, schilderte, wie Abdulrahman die Aufnahme von Nahrung und Medikamenten verweigerte. „Man legte ihr eine Magensonde, doch sie wurde wach und zog sie heraus.“ Kurz zuvor hatte das Krankenhaus Abdulrahman mitgeteilt, für ihre Pflege sei kein Geld mehr da. Familie und Freunde hatten sie verlassen. „Niemand besuchte sie“, sagte Kanawati. Vermutlich seien ihre Freunde mit dem Flüchtlingsstrom weitergezogen oder gestorben. „‚Was ist das für ein Leben?‘ hat sie mich gefragt“, sagte Kanawati. „Viel war es nicht mehr.“ Abdulrahman starb schließlich an Dehydration. | 9-2014 S ie hatte eine Folter ertragen, die man sich nicht vorstellen könnte, wenn es sie nicht so häufig gäbe. Die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay erklärte in einem Bericht vom April 2014, in den staatlichen Haftanstalten in Syrien werde „systematisch“ und „flächendeckend“ gefoltert. Psychologisch-therapeutische Hilfe gibt es so gut wie gar nicht, weder für Folteropfer noch für Syrerinnen und Syrer, die nicht gefoltert wurden, weder im Land selbst noch in den Nachbarstaaten, die wachsende Flüchtlingszahlen verzeichnen. Nach Ansicht von Ärzten und Sozialarbeitern entwickelt sich Selbstmord mehr und mehr zu einer Folge dieses Krieges. Er ist so tabuisiert, dass innerhalb der Familien und erst recht in der Öffentlichkeit nur selten darüber gesprochen wird. „Im Islam ist Selbstmord streng verboten“, erklärt Haid N. Haid, ein in Beirut ansässiger syrischer Soziologe und Programmmanager der Heinrich-Böll-Stiftung für den Nahen Osten. Um die Familien der Toten zu bestrafen und andere davon abzuhalten, sich 34 welt-blicke syrien das Leben zu nehmen, untersagen Gelehrte oft das Bestattungsgebet, für Menschen, die sich umgebracht haben. Die Todesursache wird in der Regel verschleiert und als „Unfall“ oder „natürlich“ bezeichnet. „Selbstmord“, betont Haid, sei „immer ein Riesenskandal, über den noch lange geredet wird.“ Es gibt keine Statistiken zu den Selbstmorden, aber Zeitungen schildern Todesszenen von Frauen, die sich von Dächern gestürzt haben. Lauren Wolfe ist Journalistin und Direktorin von „Women Under Siege“, einem Internetprojekt über sexualisierte Gewalt, das sie im Rahmen des Women’s Media Center in New York ins Leben gerufen hat. Ihr Beitrag ist im Original bei „Foreign Policy“ erschienen. Ärzte berichten, trotz des Tabus hätten sie immer häufiger mit selbstmordgefährdeten Menschen zu tun. Belegt wird dieser Trend durch die Zahl der gemeldeten Fälle, in denen sich Menschen umgebracht haben, weil sie das Gefühl hatten, als Flüchtling nicht für die Familie sorgen zu können, oder aus Scham aufgrund von Vergewaltigung, Schwangerschaft durch Vergewaltigung oder sexueller Demütigung. Offizielle Statistiken gibt es nicht – aber auch ohne sie ist das Bild, das Ärzte in Syrien und in den Nachbarländern zeichnen, ausgesprochen düster. Angesichts der wenigen psychotherapeutischen Angebote ist das wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. „Etwa siebzig Prozent unserer Patientinnen und Patienten haben Selbstmordgedanken, aber viele geben an, ihre Religion halte sie davon ab, sich das Leben zu nehmen“, sagt Adrienne Carter, eine Psychotherapeutin, die in Jordanien im Zentrum für Folteropfer arbeitet. Die gemeinnützige Einrichtung bietet psychotherapeutische Hilfe und Rehabilitation an. Carter hält die Suizidrate unter ihren syrischen Patienten für höher als unter den Angehörigen anderer muslimischer Länder, mit denen sie arbeitet. Ihrer Schätzung nach kommen drei bis vier Prozent ihrer Patienten „hoch suizidgefährdet“ in das Zentrum. 693 Menschen stehen gegenwärtig auf der Warteliste. Für manche sei Selbstmord „der letzte Ausweg aus einer Welt des Elends“, sagt Salah Ahmad, Psychotherapeut und Leiter der kurdischen Menschenrechtsstiftung Jiyan. „Die meisten meiner Patienten, die sich umbringen wollten, empfanden sich selbst als wertlos. Sie hatten schon vor ihrer Flucht psychische oder soziale Probleme oder sie hatten alles verloren und sahen für sich und ihre Familien keinerlei Zukunftsperspektive mehr.“ Für Frauen, deren Ehemänner und männliche Verwandte entweder getötet oder verhaftet wurden, sagt Ahmad, „ist die Situation besonders schwierig, da sie niemanden haben, der sie versorgt“. Laut einem aktuellen Bericht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR steht im ganzen Nahen Osten mittlerweile jedem vierten syrischen Flüchtlingshaushalt eine Frau vor, das sind insgesamt mehr als 145.000 Syrerinnen. Das größte Problem für sie sei, dass sie nicht einmal die Miete zahlen, ihre Kinder ernähren oder notwendige Haushaltsgegenstände kaufen können. Extrem arm und plötzlich Haupt- ernährerin ihrer Familie, leide jede von ihnen zusätzlich darunter, Angehörige verloren zu haben. Laut dem Bericht hat nur ein Fünftel dieser Frauen Arbeit. Jede dritte wagt es nach eigener Aussage nicht, das Haus zu verlassen. Während es an zuverlässigen Selbstmordstatistiken fehlt, schildern Zeitungen Todesszenen, insbesondere von Frauen, die sich von Dächern gestürzt oder selbst angezündet haben. Ein für die Psychiaterin Yassar Kanawati besonders drastischer Fall ist der einer Frau, die als einzige einen Bombenangriff auf eine Schule in Aleppo überlebte. Dort war gerade eine Ausstellung von Bildern der Kinder zum Krieg vorbereitet worden. Die Frau war Kunstlehrerin und hatte die Ausstellung organisiert. Mindestens 20 Menschen wurden getötet, darunter zwei Lehrer und 17 Kinder zwischen acht und zwölf Jahren. Kanawati zufolge lebt die Frau jetzt mit Granatsplittern im Rücken im Süden der Türkei, verweigert jedoch, da sie an einer schweren Depression leidet, jede Behandlung. „Nacht für Nacht sehe ich sie alle in meinen Träumen“, erzählte die Lehrerin Kanawati. „Ich fühle mich verantwortlich und schuldig für ihren Tod. Beim Aufwachen wünschte ich, ich wäre mit ihnen gestorben.“ Und fügte hinzu: „Ich muss bei ihnen sein.“ A ls ich Abdulrahmans Geschichte im vergangenen Jahr zum ersten Mal für den „Atlantic“ erzählt habe, habe ich Schuldgefühle und Depression nicht näher beleuchtet. Ärzte und Sozialarbeiterinnen hatten mir gesagt, sie sei eine „gebrochene“ Frau. Sie verlange nach Schlafmitteln, esse nichts mehr und leide unter alten und neuen Verletzungen: nässenden Wunden sowohl von ihrer Folter als auch vom Wundliegen. Und sie habe Selbstmordgedanken. Wegen des im Islam herrschenden Tabus rund um den Selbstmord, aber auch, weil ihr geistig-seelisches Befinden mir zu privat erschien, beschloss ich damals, diese Information nicht zu verwenden. Abdulrahman sollte nicht öffentlich bloßgestellt werden. Ihre Geschichte, die das Ausmaß der sexuellen Gewalt und Folter in Syrien veranschaulichen sollte, sollte nicht davon überschattet werden. Jetzt schreibe ich darüber, weil Abdulrahmans Tod und ihr Weg dorthin sinnbildlich sind für das, was viele Tausend Syrer durchleiden: mangelnde Gesundheitsversorgung, Isolation, Armut, Terror. Für viele ist die seelische Not so groß, dass sie lieber sterben, als in einem Krieg weiterzuleben, der immer schlimmer wird. Vor einem Jahr schrieb ich, dass aufgrund der Gräuel, die Abdulrahman geschildert hatte, „sie zum Gesicht der starken überlebenden Frauen in Syrien geworden ist“. Das hat für mich nach wie vor Gültigkeit. Jetzt aber muss man Abdulrahmans Entscheidung, ihre Zeit in diesem Krankenhausbett zu beenden, als einen Aufruf an die Welt betrachten: Sie muss sich dem Leid zuwenden, das so unermesslich ist, dass selbst die Stärksten nicht mehr überleben können. Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller. 9-2014 | islamismus welt-blicke Fromm ist Trumpf In Ägypten wünschen sich viele die Scharia als Grundlage des Rechts – wie dieser Mann, der Ende 2012 auf dem Tahrir-Platz mit dem Koran demonstriert. Rob Stothard/Polaris/laif Von Shadi Hamid In westlichen Demokratien führt meist ideologische Mäßigung zum Wahlerfolg. Doch islamistische Parteien im Nahen Osten werden im demokratischen Umfeld radikaler – nicht zuletzt weil große Teile der Bevölkerung das wünschen. Z um ersten Mal traf ich Mohammed Mursi am 8. Mai 2010. Damals hatten erst wenige Ägypter von dem Mann gehört, der zwei Jahre später in der ersten freien Wahl des Landes zum Präsidenten gewählt werden sollte. Es war eine dunkle Epoche in der Geschichte Ägyptens und ganz besonders für die Muslimbrüder, deren Führungsriege er angehörte. Die Hoffnungen, die sich in den Jahren 2004 und 2005 an den Beginn des Arabischen Frühlings geknüpft hatten, waren in der schlimmsten Repressionswelle seit der Verfolgung der 1960er Jahre untergegangen. | 9-2014 Trotzdem wirkte Mursi nicht niedergeschlagen. Wie andere Führer der Muslimbruderschaft hatte er sich mit den widrigen Umständen abgefunden und seine Erwartungen heruntergeschraubt. Im Gespräch betonte er, dass man die Bruderschaft nicht als Opposition bezeichnen dürfe. „Der Begriff Opposition bedeutet, dass man die Macht erobern will“, sagte er. „Zurzeit streben wir aber nicht an die Macht, denn das setzt eine entsprechende Bereitschaft voraus, und so weit ist unsere Gesellschaft noch nicht.“ Die Muslimbruderschaft sei eher eine religiöse Bewegung als eine politische Partei. Sie könne langfristig denken und abwarten. Schließlich habe sie die historische Dynamik und Gott auf ihrer Seite. Repression war für Islamisten keine neue Erfahrung. In den frühen 1990er Jahren waren die Regierungen der arabischen Länder, Ägypten und Jordanien eingeschlossen, immer autoritärer geworden. Doch anders als es Experten und die Öffentlichkeit 35 36 welt-blicke Islamismus erwarteten, führte das nicht zur Radikalisierung der Mehrheit der Islamisten. Es nötigte ihnen eher gemäßigte Positionen auf. Die ägyptischen und jordanischen Muslimbrüder akzeptierten viele Grundprin- Der Führer der islamistischen Partei PAS in Malaysia, Hadi Awang, beim Freitagsgebet. Die Partei hat großen Einfluss auf die Gesellschaft – auch wenn sie in der Opposition ist. Rahman Roslan/ Getty Images zipien der Demokratie wie Souveränität des Volkes und Ablösung von Regierungen durch freie Wahlen. Sie beharrten weniger auf der Scharia, der islamischen Rechtsordnung, arbeiteten mit liberalen und linksgerichteten Gruppen zusammen und sorgten für mehr Demokratie innerhalb ihrer eigenen Organisationen. Wenn der Staat sie unter Druck setzt, stellen Islamisten weitreichende Ziele zurück – nicht zuletzt um ihre Kliniken, Stiftungen und Unternehmen zu schützen. Offenbar vermag Repression das Denken und das Verhalten der Menschen zu verändern – sie soll damit jedoch nicht entschuldig werden. Man muss zwischen eher maßvollen Einschränkungen und der vollständigen Unterdrückung unterscheiden. Meine Auffassung davon, wie sich die Islamisten im Lauf der Zeit verändern, beruht darauf, dass islamistische Bewegungen eine Ausnahmeerscheinung darstellen. Es handelt sich nicht um politische Parteien im traditionellen westlichen Sinne. Denn diese bilden in ihren Ländern in der Regel keinen Parallelstaat, sie stützen sich nicht auf ein alternatives Netz von Moscheen, Kliniken, Stiftungen, Unternehmen – bis hin zu Pfadfinderorganisationen. Eine solche Infrastruktur ist aber das Fundament der islamistischen Organisationen. Deshalb reagieren sie besonders stark, wenn die Regierung sie einschränkt – und sogar schon wenn sie damit droht. Mit einem geringen Grad der Einschränkung können sie leben, mit Angriffen auf ihre soziale Infrastruktur aber nicht. Deshalb tun sie ihr Möglichstes, die zu verhindern. Damit die Repressalien der Regierung als ungerechtfertigt und übertrieben wahrgenommen werden, präsentieren sie sich als gute Demokraten und demonstrieren ihr Engagement für den Pluralismus und die Rechte der Frauen. Sie bemühen sich um Bündnisse mit Gruppierungen außerhalb ihres Lagers. Denn solange sie isoliert bleiben, sind die Islamisten leicht angreifbar. Wenn sich akzeptierte Parteien und Individuen hinter sie stellen, sind sie besser geschützt. Um solche Bündnisse möglich zu machen, müssen sie das Bekenntnis zur Demokratie in den Vordergrund stellen und die eher kontroversen kulturellen und religiösen Aspekte ihres Programms herunterspielen. Dass die Islamisten die Demokratie akzeptierten und sich später zu ihr bekannten, hat einen weiteren Grund: Solange es keine Demokratie gibt, ist sie ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Es ist nur sinnvoll, sich für die Gewaltenteilung, die Ablösung von Regierungen, die Souveränität des Volkes und unabhängige Gerichte einzusetzen, wenn man all dies als gefährdet wahrnimmt. Wenn die Islamisten sich politisch bedroht sehen, werden demokratische Reformen für sie eine Forderung von geradezu existenzieller Bedeutung. Die britische Politologin Nancy Bermeo erforscht, welche politischen Lernprozesse die Erfahrungen mit autokratischen Regimen auslösen. Eine Diktatur könne dazu zwingen, „sowohl den Charakter bestimmter Regime oder politischer Gegner wie unsere eigenen Ziele und Verhaltensweisen neu zu bewerten“, erklärt sie. Auch die Strategien, mit denen man bestimmte Ziele erreichen will, könnten sich infolge politscher Erschütterungen, Krisen und Enttäuschungen verändern. D och wie verhalten sich Islamisten, wenn sich demokratische Spielräume öffnen und die staatliche Verfolgung nachlässt? Bei meinen Recherchen ging ich zunächst davon aus, dass sie radikale Positionen aufgeben, je stärker sie in den demokratischen Prozess integriert werden. In Westeuropa konnte man eine solche Entwicklung beobachten. Die Stammwählerschaft der Sozialdemokraten und der Christdemokraten (Arbeiter und Konservative) war begrenzt. Um Wahlen zu gewinnen, mussten sie ihre Ideologie in den Hintergrund stellen und sich zur Mitte orientieren, wo sie Durchschnittswähler zu gewinnen hofften. So führte die Demokratisierung zwangsläufig zu einer ideologischen Entschärfung. 9-2014 | islamismus welt-blicke Daraus schlossen viele politische Beobachter, dass unter ähnlichen Bedingungen auch die Islamisten zu gemäßigten Positionen gelangen würden. Im Westen gehen wir davon aus, dass Liberalismus und Demokratie zusammengehören. Doch im Nahen Osten werden islamistische Parteien in einem demokratischen Umfeld eher dogmatischer. In streng religiösen Ländern wie diesen wünscht ein großer Teil Bevölkerung nicht etwa die Entflechtung von Religion und Politik, sondern einen stärkeren Einfluss der Religion auf die Politik. So zeigen Umfragen in Ägypten eine hohe Zustimmung zur Scharia als Grundlage der Gesetzgebung, zu religiös begründeten Strafen für kriminelle Delikte, zur Ungleichbehandlung von Mann und Frau und zur Beteiligung religiöser Führer an der Gesetzgebung. Wenn in der Bevölkerung eine solche Nachfrage besteht, wird auch ein Angebot gemacht. Außerdem führt die Demokratisierung dazu, dass Gruppen wie die Muslimbrüder ihr Monopol auf die Stimmen der islamistischen Gläubigen verlieren. Sie müssen mit neuen salafistischen Parteien konkurrieren, die einen strengen und buchstabengetreuen Islam vertreten. So rückt die rechte Mitte immer weiter nach rechts, wie es auch in den USA aufgrund der Tea-Party-Bewegung der Republikaner zu beobachten ist. W schaftler Joseph Chinyong Liow diesen Vorgang nannte. Er beschreibt, wie die Konkurrenz zwischen der nominell säkularen Partei UMNO (United Malays National Organisation), die seit 1957 die Regierung an- Recep Tayyip Erdogan feiert am 10. August seinen Sieg bei der türkischen Präsidentschaftswahl. Sein islamischkonservativer Kurs wird von der Mehrheit in der Türkei unterstützt. Umit Bektas/Reuters enn die Bedeutung der Religion in allen Lagern zunimmt, versuchen nicht nur die islamistischen Parteien einer Region, sich an Frömmigkeit gegenseitig zu übertreffen. Das zeigen demokratische Experimente in den arabischen Ländern gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Da die Mehrheit der Ägypter offenbar wieder frömmer wurde, beschloss die ursprünglich nicht religiöse WafdPartei damals, sich stärker am Islam auszurichten. Das schlug sich in ihrem politischen Programm von 1984 deutlich nieder. Darin wurde ausgeführt, wie das islamische Recht anzuwenden sei. Und es hieß darin, der Islam sei nicht nur eine Religion, sondern auch Grundlage des Staates. Das Programm rief dazu auf, den moralischen Verfall in der Gesellschaft zu bekämpfen und die Medien von allem zu säubern, was der Scharia und der Moral im Allgemeinen widersprach. Das vorgeblich säkulare Regime von Staatspräsident Anwar as-Sadat unternahm Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre den ehrgeizigen Versuch, die ägyptischen Gesetze mit dem islamischen Recht in Einklang zu bringen. Auch das wurde von der Wafd-Partei unterstützt. Die Initiative ging von Sufi Abu Taleb aus, dem Parlamentsvorsitzenden und engen Vertrauten Sadats. Seine Kommissionen produzierten in mühevoller Arbeit auf Hunderten Seiten detaillierte Gesetzesentwürfe, die alle Bereiche der Rechtsprechung abdeckten, von der Zivilgesetzgebung über das Strafrecht bis zum Seehandelsrecht. In Malaysia lassen sich ähnliche Entwicklungen beobachten. Auch hier wurde die „Trumpfkarte der Frömmigkeit“ ausgespielt, wie der Politikwissen- | 9-2014 führt, und der islamistischen PAS (Pan-Malaysian Islamic Party) ein offenbar endloses Pendeln zwischen Islamisierung und Säkularisierung bewirkt. Demokratisierung führt also nicht notwendig zu einer größeren Mäßigung der islamistischen Parteien. Sie bewirkt auch nicht, dass ideologische Fragen in den Hintergrund treten. Was ist, wenn die Tunesier, Ägypter, Libyer und Jemeniten in demokratischen Wahlen entscheiden, dass sie lieber nicht liberal sein wollen? Ist das ihr Recht? Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vertritt dazu eine eindeutige Position. In einer Fußnote wird eine „rote Linie“ gezogen und festgestellt: „Das Recht auf die eigene Kultur endet, wo sie andere Menschenrechte verletzt. Nach dem internationalen Recht darf kein Recht auf Kosten eines anderen Rechts in Anspruch genommen werden oder ein anderes Recht untergraben.“ Westliche Politikstrategen und arabische Liberale setzen die Existenz von Prinzipien voraus, die für alle Menschen verbindlich gelten. Die liberale Demokratie baut auf der Anerkennung der Menschenrechte auf. Doch viele Islamisten teilen diesen Konsens nicht. 37 38 welt-blicke Islamismus Shadi Hamid arbeitet im Center for Middle East Policy der Brookings Institution. Er ist Autor des Buches „Temptations of Power: Islamists and Illiberal Democracy in a New Middle East“ (Oxford University Press, 2014). Dieser Konflikt war in den Kontroversen über die ersten Verfassungen in Ägypten und Tunesien deutlich zu beobachten. Die erste Verfassung nach dem Umsturz in Ägypten, die im Dezember 2012 in einem Referendum angenommen wurde, verstieß gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie enthielt keine rechtlichen Garantien für die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Gewissensfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung. Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über Zuständigkeiten und Aufgaben des säkularen Staates spiegelten sich in Auseinandersetzungen wider, die im Rückblick als unbedeutende Wortklaubereien erscheinen könnten – etwa die exakte Formulierung von Scharia-Vorschriften. F ür Liberale sind gewisse Rechte und Freiheiten nicht verhandelbar und sie sehen im Staat einen neutralen Schiedsrichter. Islamisten wollen – selbst wenn ihnen an einer gesetzlichen Regelung der Moral nicht viel liegt –, dass der Staat seine Institutionen und seinen Einfluss auf die Medien dafür nutzt, bestimmte religiöse und moralische Normen zu propagieren. Für sie entspringen diese konservativen Werte keiner Ideologie, sondern einem selbstverständlichen gesellschaftlichen Konsens über die Rolle der Religion im öffentlichen Leben. Der Wille des Volkes hat Vorrang vor allen mutmaßlichen Normen der international anerkannten Menschenrechte, umso mehr, wenn er mit dem Willen Gottes zusammenfällt. Wer die Islamisten als Radikale betrachtet, die eine ganz neue Gesellschaftsordnung einführen wollen, liegt falsch. Selbst die umstrittensten Positio- nen der Muslimbrüder wie ihre Auffassung, dass Frauen und Christen nicht Staatsoberhaupt werden dürfen, wurden von der konservativen Bevölkerungsmehrheit ihrer Region geteilt. Die Wahlsiege der Islamisten bedeuteten keinen Bruch mit der Vergangenheit. Sie bestätigten eine Einstellung, die schon seit einiger Zeit in der Gesellschaft verbreitet war. Es ist schwierig zu ermessen, welches Gewicht Ideen und Ideologien haben im Vergleich zum gesellschaftlichen Umfeld, den politischen Strukturen und den internationalen Machtverhältnissen. In der wissenschaftlichen Diskussion der vergangenen Jahre wurden die letzteren Faktoren tendenziell höher bewertet. Doch nachdem ich viel Zeit damit verbracht habe, mit Islamisten zu diskutieren und ihre Gedankenwelt kennenzulernen, bin ich sicher: Für Aktivisten, die Haftstrafen oder gar den Tod in Kauf nehmen, sind ihre Ideen, so vage sie auch sein mögen, von größter Bedeutung. Ihnen geht es um mehr als um Macht und Politik. Wie der Islamismus-Experte Richard Mitchell in den 1980er Jahren feststellte, wäre die islamistische Bewegung nicht so wichtig und würde keine so große Aufmerksamkeit verdienen, „wenn keine Idee und keine aufrichtige Überzeugung dahinter stünde“. Etwas, von dem eine genügend große Zahl von Menschen aufrichtig überzeugt ist, lässt sich nicht ohne weiteres aus dem öffentlichen Bewusstsein tilgen. Auf längere Sicht ist es daher unwahrscheinlich, dass der Islamismus oder sein kleinerer Bruder, die konservative Demokratie türkischen Stils, eine entscheidende ideologische Niederlage hinnehmen müssen. Aus dem Englischen von Anna Latz. Anzeige FÜR 5 EURO IM MONAT HINTER DEN KULISSEN DER ENERGIEWENDE Täglich Hintergründe, Debatten und Nachrichten: WWW.KLIMARETTER.INFO – DAS JOURNALISTISCHE ONLINE-MAGAZIN Sichern Sie die Arbeit der Redaktion von Klimaretter.info mit einem Förder-Abo www.klimaretter.info/unterstuetzen Oder spenden Sie einmalig an den Förderverein von klimaretter.info: Empfänger: Klimawissen e.V. 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Marlene Rabaud/Reuters | 9-2014 in umweltpolitischer Skandal, ein Symbol für Afrikas hell erleuchtete Zukunft, der ultimative weiße Elefant: Die Inga-Stromschnellen am Kongo-Fluss wecken bei Experten und Politikern starke Emotionen. 1,3 Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde fließen durch die 15 Kilometer lange Folge von Stromschnellen und überwinden ein Gefälle von 96 Metern. Nur etwa hundert Kilometer vom Atlantik entfernt ist dieser Abschnitt des Kongo einer der weltweit attraktivsten Standorte, um Wasserkraft zu erzeugen. Die Versuche reichen bis in die Kolonialzeit zurück, doch das Potenzial von Inga konnte bis heute nicht ausgeschöpft werden. Nun gibt es eine neue Initiative: Südafrika und die Demokratische Republik Kongo wollen gemeinsam das Projekt Inga III-BC verwirklichen, das 4800 Megawatt Strom vor allem für den Export produzieren soll. Das ist mehr als dreimal so viel wie das inzwischen stillgelegte Atomkraftwerk Krümmel in Schleswig-Holstein. Und doch nur ein Bruchteil der 44.000 Megawatt, die hier im komplett ausgebauten Zustand, genannt Grand Inga, erzeugt werden könnten. Noch sind Inga III-BC und Grand Inga nur ein Traum – und zudem einer, der sich für alle Beteiligten in einen Albtraum verwandeln könnte. Aufgrund schwerer Fehler in der Vergangenheit ist gegenüber Inga III-BC und den darüber hinaus vorgesehenen Ausbaustufen Skepsis angebracht. In der Nähe der geplanten Anlage existieren bereits zwei kleinere Wasserkraftwerke, Inga I und II, die zusammen bis zu 30 Prozent des Wassers des Kongo-Flusses abzweigen und daraus 1775 Megawatt Strom erzeugen könnten. Doch seit Jahren operieren die Anlagen auf der Hälfte ihrer Kapazität, denn seit ihrer Fertigstellung in den Jahren 1972 und 1982 wurden sie systematisch vernachlässigt. Gebaut unter der Herrschaft des Diktators Mobutu Sese Seko haben die Kraftwerke und 39 40 welt-blicke wasserkraft Staudämme in Afrika ÄGYPTEN Grand Inga könnte 44.000 Megawatt Strom produzieren und damit alle anderen Wasserkraftprojekte weltweit in den Schatten stellen. AFR I KA 2 7 SIERRA LEONE 6 ÄQUATORIAL GUINEA DR 1 KONGO Grand Inga im Vergleich zu anderen Staudämmen in Afrika 1 2 3 4 5 6 7 (Inga III) Inga (Inga I und Inga II) Grand-RenaissanceStaudamm AssuanStaudamm Batoka-GorgeStaudamm BujagaliStaudamm DjiblohoStaudamm BumbunaStaudamm 5 ÄTHIOPIEN 4 in Betrieb im Bau/geplant 1 Grand Inga 1.000 km 3 SIMBABWE Standort Status Kongo Baubeginn im Oktober 2015 1972 (Inga I) 1982 (Inga II) Im Bau Kapazität Potenzial: 44.000 MW Kongo Installiert: DR KONGO 1.775 MW Blauer Nil Potenzial: ÄTHIOPIEN 6.000 MW Juli 1970 Nil Installiert: ÄGYPTEN fertiggestellt 2.100 MW Sambesi Baubeginn 2014 Potenzial: SIMBABWE 1.600 MW August 2012 Nil Installiert: UGANDA fertiggestellt 250 MW Oktober 2012 Wele-Fluss Installiert: ÄQUATORIALGUINEA fertiggestellt 120 MW Seli-Fluss November 2009 Installiert: SIERRA LEONE fertiggestellt 50-85 MW DR KONGO MW = Megawatt Quelle: Congolese National Electricity (SNEL); Bujagali Energy Limited; Ethiopian Electric Power Corporation; Bumbuna Hydro Electric; lokale Medien. 11/2013 die 1770 Kilometer lange Stromtrasse zu den Kupferminen in Katanga im Südosten des Kongo erheblich dazu beigetragen, dass sich das Land hoch verschuldet hat. Gegenwärtig werden Inga I und II saniert, unter anderem mit Hilfe der Weltbank. Das Vorhaben hinkt seinem Zeitplan um Jahre hinterher und hat sich von anfänglich 200 Millionen US-Dollar auf inzwischen 883 Millionen US-Dollar verteuert. Inga III-BC und Grand Inga seien schon seit mindestens 2003 im Gespräch, sagt Peter Bosshard von der Umweltschutzorganisation International Rivers. 2004 unterzeichnete die damalige kongolesische Regierung eine Absichtserklärung mit fünf südafrikanischen Ländern über den Bau des Kraftwerks. 2009 kündigte der Kongo diese Abmachung wieder und suchte sich mit dem Minenkonzern BHP Billiton einen neuen Partner. Doch auch diese Kooperation hielt nicht lange. 2013 einigten sich Kongos Präsident Joseph Kabila und sein südafrikanischer Amtskollege Jacob Zuma schließlich darauf, dass Südafrika etwas mehr als die Hälfte der Gesamtleistung von 4800 Megawatt von Inga III-BC abnehmen solle. Peter Bosshard sieht die Chancen dieser jüngsten Übereinkunft skeptisch. Korruption habe frühere Versuche scheitern lassen, sagt er. Jede neue Regie- rung wolle von den Schmiergeldzahlungen profitieren, die mit Infrastrukturprojekten dieser Größenordnung verbunden seien. Beteiligte fühlten sich nicht an die Abmachungen gebunden, die frühere Regierungen und Minister geschlossen haben. Dieses Problem sei mit dem Einstieg von Südafrika nicht einfach aus der Welt geschafft worden. Die kongolesische Regierung räumt denn auch Probleme bei der Verwirklichung von Inga III-BC ein. Das Projekt sei „wegen fehlender Vision und Führungskraft in der Schublade geblieben“, sagt der Minister für Wasserressourcen und Elektrizität, Bruno Kapandji Kalala. Das werde sich nun ändern. Er macht für das bisherige Scheitern neben Korruption und Missmanagement vor allem unrealistische Pläne verantwortlich. „Man wollte den Fluss auf einmal stauen und den Grand-Inga-Damm komplett fertigstellen, um dann das Kraftwerk nach und nach mit 52 Turbinen mit einer Leistung von je 750 Megawatt auszustatten.“ Die bisherigen Machbarkeitsstudien hätten deshalb riesige Investitionen veranschlagt. Nun wolle man mit Inga III-BC eine Nummer kleiner und mit geringeren Kosten beginnen, ohne den Fluss komplett zu stauen. T atsächlich scheinen die Aussichten besser denn je, dass das Vorhaben Erfolg hat. Das ist vor allem dem Potenzial von Inga geschuldet, afrikanische Staaten mit dringend benötigtem Strom zu versorgen. „Um das wirtschaftliche Wachstum Afrikas anzukurbeln, müssen neue Energiequellen erschlossen werden. Inga ist eine solche Quelle, nicht nur für den Kongo, sondern für den gesamten Kontinent”, erklärt Claude Kabemba, Direktor der südafrikanischen Umweltorganisation Southern African Resource Watch. Afrika sei unter anderem deshalb nicht in der Lage, seine Rohstoffe selbst weiterzuverarbeiten und von der Wertschöpfung zu profitieren, weil es an Strom mangele, sagt Kabemba: „Inga kann dieses Problem lösen.“ Das sieht auch die südafrikanische Regierung so. Regierungsvertreter betonen, Inga IIIBC werde erneuerbare Energie für die Hälfte des afrikanischen Kontinents erzeugen. Das Kraftwerk werde Arbeitsplätze schaffen, für Weiterbildung und Technologietransfer in den beteiligten Ländern sorgen sowie Industrie und privaten Stromkunden Strom liefern. Ein weiteres Plus von Inga III-BC und Grand Inga: Die Kraftwerke können deutlich mehr Strom als die chinesische Drei-Schluchten-Talsperre erzeugen, doch die dafür benötigte Überschwemmungsfläche sei viel kleiner. Kongos Energieminister Kapandji meint, Inga III werde keine schädlichen Folgen für die Umwelt haben. Das sei richtig im Vergleich mit anderen Mega-Staudämmen, bestätigt Peter Bosshard von International Rivers. In der unmittelbaren Umgebung wären die ökologischen Auswirkungen „sehr bescheiden“. Mangels Studien könnten jedoch die Folgen für die Fischgründe vor der Atlantikküste und das Ökosystem des Kongo-Flusses nicht abgeschätzt werden. 9-2014 | wasserkraft welt-blicke Im März stimmte die Weltbank einer Teilfinanzierung über 73 Millionen Dollar zu. Die kongolesische Regierung muss noch einen Generalunternehmer bestimmen, der die Anlage bauen und betreiben soll. Das Interesse aller Beteiligten ist groß, es wird mit einer schnellen Entscheidung gerechnet. Die Arbeiten an Inga III-BC könnten dann schon 2015 beginnen. Nicht geklärt ist allerdings die Frage, ob Inga III-BC und Grand Inga im besten Interesse des Kongos ist und ob Südafrika das Risiko seiner Investition nicht unterschätzt. Am schwierigsten wird sein, Inga III-BC für die Bevölkerung nutzbar zu machen, betont Umweltaktivist Peter Bosshard. Denn während niemand bestreitet, dass die geplanten Kraftwerke das Potenzial haben, enorm viel Strom zu produzieren, gibt es große Uneinigkeit darüber, wer die Energie am Ende nutzen darf. Der größte Kritikpunkt von zivilgesellschaftlichen Gruppen an dem Projekt ist die Aufteilung des Stroms zwischen dem Kongo, Südafrika und den Minenkonzernen in der kongolesischen Provinz Katanga. „Von den 4800 Megawatt, die Inga III-BC erzeugen soll, sind 2500 für Südafrika reserviert, 1300 für die Bergbauindustrie in Katanga und 1000 für die Bevölkerung von Kinshasa und Bas-Congo durch den nationalen Energieversorger SNEL,“ rechnet Energieminister Kapandji Kalala vor. Südafrika und die Industrie müssten so hohe Anteile erhalten, weil es sonst keine Kredite von Geldgebern wie der Weltbank und privaten Geldinstituten für das Projekt gebe. Politiker und Umweltschützer sind sich einig: Die schädlichen Folgen des Projektes für die Natur wären gering. Peter Dörrie ist freier Journalist und berichtet über Ressourcen- und Sicherheitspolitik in Afrika. | 9-2014 Dass bisher nur etwa einer von zehn Kongolesen Zugang zu Elektrizität hat, ändert an diesen Plänen nichts. Es sei aber riskant, den Großteil der Bevölkerung von den Vorzügen des Projekts auszuschließen, warnt Claude Kabemba von Southern African Resource Watch. „Wenn der Strom an kongolesischen Städten und Dörfern vorbeigeleitet wird, dann werden Spannungen erzeugt, die die Überlebensfähigkeit von Inga gefährden können.“ Für Südafrika ist es ein Risiko, dass im Kongo keine Einigkeit über die Nutzung von Inga besteht. Sollte sich die innenpolitische Konstellation im Kongo ändern – angesichts der jüngeren Vergangenheit des Landes keine unwahrscheinliche Prognose –, könnte eine künftige Regierung die bisherigen Vereinbarungen kündigen. Dann müsste Südafrika im Kongo intervenieren – im äußersten Fall auch militärisch –, denn wenn es nach der südafrikanischen Regierung geht, wird die Wirtschaft des Landes bald vom Strom aus dem Kongo abhängig sein. Unter diesen Bedingungen, so Kabemba, sei es von grundlegender Bedeutung, dass „wir sicherstellen, dass durch unser Investment in Inga die Interessen der kongolesischen Bevölkerung nicht übergangen werden“. A uch die Finanzierung von Inga III-BC steht in der Kritik. Die Anlage soll von einem internationalen Firmenkonsortium betrieben werden. Der Kongo werde Dividenden in Höhe von etwa 400 bis 500 Millionen US-Dollar pro Jahr erhalten, erläutert Minister Kapandji Kalala. „Das entspricht ungefähr sechs bis sieben Prozent des aktuellen öffentlichen Haushalts.“ Die Regierung diskutiere derzeit darüber, den Gewinn in den Ausbau der Stromversorgung des Landes zu reinvestieren. Claude Kabemba ist skeptisch. Angesichts der grassierenden Korruption im Bergbausektor „können wir nicht sicher sein, dass das Geld reinvestiert wird“. Peter Bosshard von International Rivers findet Inga III-BC schlicht zu teuer. „Das Projekt wird 2944 US-Dollar pro Kilowatt Kapazität kosten“, sagt er. Das sei mehr als das Doppelte der von der Internationalen Energieagentur (IEA) veranschlagten 1278 Dollar pro Kilowatt für Wasserkraftprojekte. Meike van Genniken, Sektormanagerin für West- und Zentralafrika bei der Weltbank, widerspricht energisch. „Der Strom von Inga III-BC wird mit der billigste in ganz Afrika sein“, antwortet sie schriftlich auf eine Anfrage und macht eine andere Rechnung auf. Um eine Kilowattstunde Strom zu erzeugen, würden laut Finanzierungsmodell 2,5 bis 3,5 US-Cents fällig. „Die Kosten für die Abnehmer in Katanga und Südafrika werden natürlich höher sein.“ Laut van Genniken ist es ohnehin falsch, die Kosten von Inga III-BC an den Richtlinien der IEA zu messen – denn die beziehen sich nur auf das Kraftwerk selbst. In der Projektierung von Inga III-BC seien jedoch die Aufwendungen für die Staumauer und den Zuleitungskanal mit einberechnet. Außerdem sei der Standort bei den Inga-Stromschnellen besonders günstig, weil das Kraftwerk hier praktisch das gesamte Jahr ausgelastet werden könne. Zu der geringen Strommenge, die für private Verbraucher reserviert ist, sagt Energieminister Kapandji Kalala, der Kongo produziere derzeit nur etwa 1500 Megawatt Strom, selbst wenn Inga I und II komplett ausgelastet sind. Die zusätzlichen 1000 Megawatt von Inga III-BC verdoppelten die Versorgung damit fast und stellten „absolut ausreichend Strom für das Land“ bereit. Die größte Schwierigkeit bestehe darin, den Zeitplan einzuhalten, um 2015 mit den Fundamenten zu beginnen und Ende 2020 die ersten Megawatt zu erzeugen. Das ist in der Tat ambitioniert, auch im Vergleich zu ähnlichen Projekten in andern Ländern. Wenn es nach Claude Kabemba geht, sollte darum die Antwort auf die Frage nach möglichen Folgen Vorrang haben: „Inga ist ein wichtiges Projekt für den Kongo und den Kontinent. Wie stellen wir sicher, dass es den Frieden und nicht neue Konflikte fördert?” Peter Bosshard hat einen grundlegenderen Einwand: Inga sei nicht die ideale Lösung zur Elektrifizierung des Kongos. „Für die Versorgung einer großen Bevölkerung mit einer relativ geringen Bevölkerungsdichte ist ein zentrales Großkraftwerk keine günstige Wahl.“ Stattdessen sollten viele kleine Wasserkraftwerke an anderen Orten errichtet werden, findet der Umweltexperte. 41 42 welt-blicke peru Mutter Erde hilft beim Lernen Kleinbauern im Hochland Perus entdecken alte Kenntnisse über Handwerk, Landbau und Kleinbewässerung neu. Das bringt ihnen gute Ernten – und fördert den Zusammenhalt. Text und Fotos: Peter Strack G eduldig beobachtet Carlos Smit Callata Flores die Aymara-Frau. Zum ersten Mal webt sie ein Tuch an dem Webstuhl aus Holzpflöcken und Stöcken. Wenn sie nicht mehr weiter weiß, nimmt der Junge den Schlegel und ordnet die Fäden, die sich verwirrt haben. Kurz darauf ruft ihn ein junger Mann zu Hilfe, der an einem Schal sitzt. Eigent- Wolle der Tiere. Und die gibt in den zeitweise extrem kalten Nächten in mehreren tausend Metern über dem Meeresspiegel und selbst bei Schnee- oder Hagelstürmen den nötigen Schutz. In die Tücher werden außerdem Hinweise auf die Geschichten des Ortes oder der Familie eingewebt, die Wünsche für die Tochter bei der Heirat, die Rolle eines lich ist Carlos Vater der Ausbilder. Doch an dem Webkurs auf dem Feld neben der Schule von Umuchi im peruanischen Hochland nehmen 35 Schülerinnen und Schüler teil. Und alle wollen ihre Stücke fertigbekommen. Da ist der siebenjährige Carlos, selbst fast schon ein Meister, eine willkommene Unterstützung. Lange Zeit stand das Webehandwerk in der Gemeinde im Distrikt Moho nicht besonders hoch im Kurs. Die traditionelle selbst hergestellte Kleidung war wenig beliebt, es erschien einfacher und billiger, industriell gefertigte Kleider in der Stadt zu kaufen. Doch seit die Bauern wieder Lamas und Alpakas züchten, verfügen sie auch wieder selbst über die teure bestimmten Tieres im Agrarzyklus oder die Bedeutung des Amtes, das ein Dorfvorsteher gerade ausübt. Sie halten nicht nur warm, sondern werden auch als Ausdruck der kulturellen Identität wieder neu geschätzt. Trotz der eifrigen Arbeit am Webstuhl bleibt Zeit genug, gemeinsam Kartoffeln, Zwiebelsoße und Forellen aus dem in Sichtweite gelegenen Titicacasee zu essen. Und obwohl die Mehrzahl der Dorfbewohner Adventisten sind, die „heidnische Bräuche“ lange bekämpft haben, wird nach dem christlichen Gebet ein Koka-Ritual durchgeführt: Mutter Erde soll beim Lernen behilflich sein. Gilma Mamani Gutiérrez hat den Kurs in Umuchi organisiert. 9-2014 | 43 peru welt-blicke Sie ist ehrenamtliche Mitarbeiterin der nichtstaatlichen Organisation Chuyma Aru. In Puno, der Hauptstadt der gleichnamigen Region, hat sie eine Fortbildung darüber besucht, wie die andine Agrarkultur wiederbelebt werden soll. Für Gilma ist das nicht unbedingt neu: Ihr Vater hat ihr viel über traditionelle Landwirtschaft, Rituale und die Zeichen der Natur beigebracht – etwa, dass die Blüte der Tunas, der Kaktusfrüchte, die Menschen, die neidisch sind“, mehr will sie dazu nicht sagen. Die Besucher sollen in ihre mit Wellblech gedeckte Lehmhütte nicht hineinschauen. Dort bewahrt sie ihr Saatgut auf, und Blicke von Männern gelten als Gefahr für die Fruchtbarkeit. Die kleinen Gemüsefelder im Vorgarten sind von Steinwällen gesäumt, die bunten Blumen und kleinen Aprikosenbäumen Schutz geben. Sie stehen in sattem Grün, ver- men, deren Blüten Auskunft über das Wetter oder die Bodenbeschaffenheit geben, auch der Muña-Strauch, ein Heilmittel. „Hier gibt es eine Menge zu tun“, bemerkt Walter Chambi trocken. Gilma lächelt nur. Sie hat das bereits in die Wege geleitet. 25 Familien haben sich bereit erklärt, die Terrasse wiederherzustellen. Künftig soll dort unter der strahlenden Sonne wieder eine Vielfalt von Kartoffel- und Quinoasorten KOLUMBIEN Titicacasee ECUADOR KOLUMBIEN Manaus A Cusco n A BRASILIEN PERU n BRASILIEN Lima PERU Lima d d PERU Rio Apurimac Manaus ECUADOR Pazifik Pazifik e e Cusco Cusco n n BOLIVIEN BOLIVIEN TiticacaTiticacaseesee La Paz La Paz CHILE CHILE A n Arequipa d e Juliaca n Moho TiticacaPuno Desaguadero © Beim Webkurs in Umuchi: Die farbigen Tücher halten warm und sind zugleich ein Ausdruck der kulturellen Identität. vor ihrem Haus wachsen, Auskunft darüber gibt, wie die Kartoffelernte ausfallen wird. „Viele lange Stunden hat er mir erzählt“, erinnert sich Gilma, und ihrer Stimme ist noch immer die Trauer über den Tod des Vaters vor mehr als drei Jahren anzumerken. „Und er hat mich gelehrt, meine Pflicht zu erfüllen und zu den Versammlungen der Gemeinde zu gehen.“ Männliche Blicke sind eine Gefahr für das Saatgut Walter Chambi und die anderen Kollegen von Chuyma Aru haben Gilma motiviert, den Weg ihres Vaters weiterzugehen und selbst eine Führungsrolle in der Gemeinde zu übernehmen. Vor kurzem brannte ihr Haus aus. „Es gibt | 9-2014 50 km sorgt mit Wasser aus einem einfachen Erdkanal. Den habe es schon früher gegeben, berichtet Gilma, aber man habe ihn nicht mehr gepflegt. Vor ein paar Wochen setzten ihn die Nachbarn gemeinsam wieder instand. Am Kanal entlang führt Gilma auf die Bergkuppe, unter der sich die Weite des Titicacasees zeigt, des höchst gelegenen schiffbaren Binnensees der Welt. Früher habe man aus dem Totora-Schilf am Ufer noch Boote gefertigt, erzählt sie. Damals gab es bis zum See hinab Terrassen. Doch davon ist kaum mehr als ein Abhang voller Geröll zu erkennen. Die Erde ist weggeschwemmt. Zwischen den Steinen der zerfallenen Mauern wächst neben Blu- BOLIVIEN see La Paz wachsen, die auch bei schwierigen Wetterbedingungen eine sichere Mindesternte garantieren soll. Der Himmel ist nur leicht bewölkt und der See unter dem Hügel liegt in tiefem dunklen Blau. Bei diesem Anblick gerät leicht in Vergessenheit, dass das Wasser auf Quecksilber aus Goldbergwerken untersucht wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Forellen, die in den künstlichen Gehegen in dem paradiesisch erscheinenden See heranwachsen, mit Schwermetallen belastet sind. Langzeitschäden des Immun-, des HerzKreislauf- und des Nervensystems, die vor allem die Entwicklung der Hirnfunktion bei Kindern beeinträchtigen, sind nicht auszuschließen. 44 welt-blicke peru Die bolivianisch-peruanische Seebehörde hat zudem versucht, das Sinken des Wasserspiegels infolge der Klimawandels durch eine Staumauer am Abfluss des Sees auszugleichen. Die Folge: Die Fäkalien aus der Stadt Puno verfaulen jetzt im Wasser, erklärt Agraringenieur Walter Chambi, statt in der Trockenzeit am Flussufer getrocknet und von der Sonne desinfiziert zu werden. Auch können die Bauern während der Tro- wird der Regen, der zunehmend sturzbachartig vom Himmel fällt, in Teichen gesammelt. Er sickert in den Boden und tritt weiter unten, wo die Äcker liegen, in Form von neu entstehenden Quellen wieder zu Tage. Sie füllen kleine Tümpel, mit denen das Vieh getränkt und die umliegenden Weiden oder Äcker bewässert werden können. In den Tümpeln können Fische – ohne Quecksilber – aufgezogen werden. Mit der Zeit siedeln sich Frösche an, die auch in den Anden Wetterhinweise geben. Wild lebende Vögel bekommen eine Heimstatt und können im Schutz kleiner Sträucher oder der Heilkräuter, mit denen die Ränder der Tümpel bepflanzt werden, brüten. Natürlich nur, wenn alles gut geht – und das heißt auch: wenn die Bergbauunternehmen halt vor den kleinbäuerlichen Gemeinden machen. Walter Chambi führt uns in entgegengesetzter Richtung zum See ein kurzes Stück weiter, hoch auf einen Berggipfel. Ein Unternehmen soll Hinweise auf Erdölvorkommen in der Region gefunden haben, berichtet er. In der sauerstoffarmen Höhe ist er etwas kurzatmig geworden. Als der Bürgermeister von Moho mit der argentinischen Delegation verhandeln wollte, hätten sich die Bauern auf dem Hauptplatz der Provinzstadt zum Protest versammelt. Das Ölunternehmen sei danach erst einmal nicht mehr gesehen worden. Die Bauern wissen, welche Tage gut für die Ernte sind Oben: Das Koka-Ritual soll Mutter Erde gewogen stimmen. Rechts: Gilma Mamani Gutiérrez hat große Pläne – am Titicaca-See will sie Kartoffeln und Quinoa anbauen. ckenzeit, wenn die Erntevorräte knapp werden, keine anderen Produkte mehr auf diesen Flächen anbauen, die dann unter Wasser stehen. Da ist es umso wichtiger, dass die Familien mit Gilma durch die Terrassierung neues Ackerland gewinnen. Erfolgversprechender als den See zu stauen ist das, was die Mitarbeiter von Chuyma Aru „Wasser ernte“ nennen. Das Prinzip ist einfach: In den Hochlagen der Anden Die Organisation Chuyma Aru und die Bauern haben anderes vor. Chambi zeigt auf einen zerfallenen Steinwall und eine sparsam fließende Quelle. Hier soll das Rückhaltebecken wieder hergerichtet und erweitert werden, in dem früher schon das kostbare Nass zur Bewässerung gesammelt worden war. Die Methoden, die Chuyma Aru lehrt, sind nicht neu, und es ist etwas kurios, dass ein Agraringenieur aus Puno den Bauern das Wissen vermittelt, das aus ihrer eigenen Tradition kommt – selbst wenn er an den Ufern des Titicacasees in der Nachbarpro- vinz Conima aufgewachsen ist. Chambi erzählt, wie er vor vielen Jahrzehnten als staatlicher Mitarbeiter damit beauftragt war, den Bauerngemeinden am Titicacasee Entwicklung zu bringen. Große Eukalyptuswälder wurden aufgeforstet, der Boden trocknete aus, Ackerland verschwand. Doch etwas anderes machte Chambi, inzwischen im Pensionsalter, stutzig. Mit Kooperativen und technischem Fortschritt sollte die kleinbäuerliche Landwirtschaft produktiver gemacht werden. Doch nach anfänglichen Erfolgen mit neuen Hochertragssorten musste Chambi feststellen, dass die Erträge auf den von ihm nach dem neuesten agrarwissenschaftlichen Stand betreuten Gemeinschaftsfeldern geringer waren als auf den Parzellen der Kleinbauern. Zum einen waren den Bauern der Dünger und die chemischen Pflanzenschutzmittel zu teuer, sobald die staatlichen Subventionen wegfielen. Zum anderen kamen sie nur an bestimmten Tagen bereitwillig zur Arbeit auf das Land der Kooperativen, an anderen bestellten sie nur ihre eigenen Felder. Und diese Tage waren laut den natürlichen Wetterindikatoren und den Regeln über den Astralzyklus am günstigsten für die Aussaat, die Pflege und die Ernte. Nur die schlechten Tage widmeten sie der Kooperative, wie sie Chambi bereitwillig erzählten. Seit dieser Zeit lässt er sein akademisches Wissen ein wenig ruhen und interessiert sich sehr für die Kenntnisse der Kleinbauern, die, auch aufgrund solcher Projekte wie seinen eigenen in Vergessenheit zu geraten drohten. „Die Leute von Chuyma Aru haben uns an all das wieder erinnert“, heißt es eine gute Autostunde entfernt vom Titicacasee in Suyu, nachdem das übliche Ritual mit Kokablättern, Schnaps und einem billigen Wein das Gespräch mit einer Gruppe vor allem älterer Männer und vieler Frauen eröffnet hat. Anfangs seien sie sehr skeptisch gewesen. Aber nun seien sie zufrieden. Sie hätten andere Sorten Kartoffeln angepflanzt, die sie von Chuyma Aru erhielten, 9-2014 | peru welt-blicke Solche Rituale fördern nicht nur die Rücksicht auf die Natur und ihre komplexen Mechanismen, sondern auch den Zusammenhalt der Gemeinde. Der ist nötig, damit nicht einer das kaputt macht, was die anderen schützen möchten. Und Geld für ihre Arbeit zu fordern, wie in manchen Gemeinden, in denen Chuyma Aru deshalb erst einmal die Arbeit ruhen lässt – auf ne Zeit. Fische wollen sie keine aussetzen. Da kämen sofort die Vögel und würden alles auffressen, heißt es. So ganz vertraut sind sie in Suyu noch nicht wieder mit der traditionellen Agrarkultur, die darauf setzt, dass alle genug zu essen haben und deshalb eine Furche des Ackers für die wilden Tiere reserviert. Aber dass die Natur ein Geschenk ist, das es zu schützen gilt, und keine Ressource, um sie auszubeuten, wissen sie auch hier. Von oben über dem Dorf, wo es Goldvorkommen geben soll, führt ein Erdkanal ein paar Kilometer weiter in die Nachbargemeinde. Ob sie eine Entschädigung dafür bekommen, dass Nachbarn sich aus ihren Wasserquellen bedienen? „Wieso? Wasser ist Leben. Das diese Idee kämen sie hier nicht mehr, sagen sie. Was sie bekommen haben, sind guter Rat, Spitzhacken, Schaufeln und Schubkarren. Mit deren Hilfe haben die Bauern und Bäuerinnen schon zehn kleine Felder mit Steinwällen eingefriedet; 40 sollen es werden. Auch zehn kleine Tümpel zeigen die Bauern an den Hängen über dem Dorf. Heilpflanzen sind dort noch ebenso wenig zu sehen wie Frösche, aber das braucht sei- kann man nicht verkaufen.“ Noch ist nicht entschieden, was mit dem Gold geschehen soll. Einige der Jugendlichen möchten lieber in der Stadt leben als auf dem Land als Bauern. Sie hoffen auf einen Arbeitsplatz, falls der Bergbau in Suyu aufgenommen wird. „Gold kann man nicht essen“, sagen dagegen die anderen. Zwar bringe es heute ein Einkommen – aber den künftigen Generationen möglicherweise nicht. und gute Erfahrungen damit gemacht. Und sie hätten sich entschieden, ganz auf biologischen Anbau umzustellen. Vor jeder Gemeinschaftsaktion werde Mutter Erde um Erlaubnis und Unterstützung gebeten. Wasser ist Leben – das kann man nicht verkaufen | 9-2014 Der See und der Müll Drei große Gefahren bedrohen die Natur und die Lebensgrundlagen der Bauernfamilien an den Ufern und in den Bergen rund um den knapp 4000 Meter hoch gelegenen Titicacasee im bolivianisch-peruanischen Grenzgebiet. Bergbau: Beim Abbau von Gold wird Quecksilber eingesetzt, das Flüsse und See vergiftet. Die wachsende Nachfrage nach Rohstoffen hat außerdem dazu geführt, dass ganze Berge abgetragen werden, um Vorkommen auszubeuten, die früher aufgrund zu geringer Erzanteile uninteressant waren. Die Bergbau-Betriebe schaffen nur wenige Arbeitsplätze für die Einheimischen. Sie benötigen große Mengen Wasser, das in den Hochanden knapp ist. Flüsse werden umgeleitet und verschmutzt. Acker- oder Weideflächen gehen verloren. Auch die Prostitution von Jugendlichen im Umfeld der Bergleute haben Bauerngemeinden dazu gebracht, gegen die Erteilung neuer Konzessionen im Süden Perus zu protestieren. Verstädterung und Tourismus: Die Abwanderung vieler Menschen aus den Dörfern und das Bevölkerungswachstum überfordern die Entwicklung von Städten wie Puno. Sie produzieren immer mehr Müll und leiten Abwässer ungeklärt in den Titicacasee ein. In Ufernähe werden Hotels gebaut. Sie bieten den Dorfbewohnern nur wenige Arbeitsmöglichkeiten, nehmen aber Ackerland in Anspruch und verschmutzen die Umwelt. Klimawandel: Die Erderwärmung führt dazu, dass die Gletscher der Hochanden langfristig abschmelzen. Sie bilden das Wasserreservoir für Städte und Dörfer in der Trockenzeit. Die weniger als 5100 Meter hohen Gletscher in Peru sind bereits alle verschwunden, die zwischen 5100 und 5400 Meter gelegenen sind seit 1970 jährlich im Durchschnitt um 1,35 Zentimeter abgeschmolzen, bei den höhergelegenen geht es etwas langsamer. Wassermangel gefährdet die Artenvielfalt. Eine weitere Folge des Klimawandels sind längere Trockenphasen, vermehrter Hagel und sturzbachartige Regenfälle, die sich immer weniger an die gewohnten jahreszeitlichen Rhythmen halten. (ps) Peter Strack ist Koordinator des Südamerika-Büros von terre des hommes Deutschland. 45 46 welt-blicke brasilien Die Stadt der Mädchen Die Prostituierten im größten Rotlichtviertel von Rio de Janeiro sind schon häufig vertrieben worden. Zuletzt sollten sie einem neuen Schnellzug weichen. Doch ein junger Architekt hat das Viertel entdeckt und schmiedet mit den Frauen neue Pläne. Text und Fotos: Hanna Silbermayr A m Nachmittag ist die Sotero dos Reis-Straße noch feucht vom Regen der Nacht. Der beißende Geruch nach Alkohol und Urin liegt in der Luft. Auf den Gehsteigen sammeln sich Müllberge, dröhnende Musik beschallt die Umgebung. In den Bars sitzen die Frauen leicht bekleidet auf den Terrassen und warten auf Kunden. Vila Mimosa ist das größte und älteste Prostituiertenviertel von Rio de Janeiro. 1500 Frauen arbeiten hier in Schichten und bieten mindestens doppelt so vielen Männern täglich ihre Dienste an. Das Viertel hat Tradition, doch Politik und Gesellschaft würden seine Existenz am liebsten leugnen. In der Vergangenheit wurden die Sexarbeiterinnen immer wieder von ihren angestammten Plätzen vertrieben. 1996 mussten die Bordelle in der Nähe des Zentrums von Rio de Janeiro einem hochmodernen Telekommunikationszentrum weichen. Damals fanden die Frauen in einem alten Industrieviertel zwischen zwei Eisenbahnstrecken einen neuen Ort für ihre Arbeit. Vier Straßen umfasst die Vila Mimosa heute, inzwischen hat sie sich zu einem Mikrokosmos aus Bordellen, Bars, Verkaufsständen und kleinen Wohnhäusern entwickelt. Zuletzt drohte ein großes Verkehrsprojekt: Ein Schnellzug zwi- schen Rio de Janeiro und São Paulo sollte direkt durch das Viertel führen. Doch die Frauen der Vila Mimosa haben andere Pläne. In der Ceará-Straße, nur wenige Meter von den Bars entfernt, steht zwischen Motorradwerkstätten und Rockclubs ein unscheinbares Gebäude. Seit 20 Jahren arbeitet Cleide Almeida hier, ihre Gäste empfängt sie in einem der provisorisch eingerichteten Unterrichtsräume. Die 50-Jährige ist Sozialarbeiterin bei AMOCAVIM, der Interessenvertretung der Sexarbeiterinnen der Vila Mimosa. Die energiegeladene Frau mit rot gefärbtem Haar und blau lackierten Fingernägeln kennt die Vila Mimosa wie ihre eigene Westentasche. Viele bleiben im Viertel hängen Der Name des Viertels steht für 24-Stunden-Betrieb und billigen Sex. Umgerechnet zehn Euro kostet eine halbe Stunde Programm. Viel weniger als an der zehn Kilometer weit entfernten Copacabana. Vor allem Frauen aus armen Vororten kommen zum Arbeiten in die Vila Mimosa. Viele hätten sich von ihren Partnern getrennt und müssten plötzlich das Geld für die Kinder alleine aufbringen, sagt Almeida. „Sie kommen mit der Idee, vorübergehend hier zu arbeiten. Ein Großteil aber bleibt in der Vila Mimosa hängen.“ Cleide Almeida ist in dem Rotlichtviertel groß geworden. Der Vater war Alkoholiker, schlug die Mutter immer wieder. Als Cleide sieben Jahre alt war, verließ die Mutter mit den zehn Kindern den gewalttätigen Mann und begann zuerst als Schneiderin, später als Köchin in der Vila Mimosa zu arbeiten. „Mit 18 habe ich den Verkaufsstand übernommen“, sagt Cleide Almeida. In der Prostitution gearbeitet hat sie nie. Doch sie kennt die Frauen des Viertels, ihre Schicksale und Sorgen. Als die Sexarbeiterinnen 1996 umziehen mussten, ging sie mit und begann, für AMOCAVIM zu 9-2014 | brasilien welt-blicke Ursprünglich wollte Guilherme die Ceará- Straße neu gestalten. Je länger er sich aber mit deren Umgebung beschäftigte, umso deutlicher wurde ihm, dass in dem Viertel etwas anderes gebraucht wird. „Ich habe mich damals mit vielen Prostituierten unterhalten“, sagt er. Der heute 36-Jährige wollte herausfinden, welche Bedürfnisse diese Frauen, die von Politik und Gesellschaft verachtet werden, wirklich hatten. „Ich wollte etwas erschaffen, das ihnen das Überleben in der Vila Mimosa erleichtert und sie näher an die Gesellschaft rückt.“ Es war der Beginn der „Cidade das Meninas“, der Stadt der Mädchen. Platz zum Lernen und Wachsen Die Sozialarbeiterin Cleide Almeida (links) und Guilherme Ripardo (rechts), ein Architekt, wollen das Leben der Sexarbeiterinnen in der Vila Mimosa schöner und leichter machen – ein Modell dafür gibt es schon (oben). Hanna Silbermayr ist freie Journalistin aus Österreich. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Magazine über und aus Lateinamerika | 9-2014 arbeiten. Cleide Almeida koordiniert die Sozial- und Gesundheitsprojekte der Organisation. Viele der Frauen wollten aus der Prostitution aussteigen, sagt sie. Dazu gebe es nur einen Weg: Bildung. Genau darauf setzt AMOCAVIM und steht dabei vor allem für eines: Selbstermächtigung. Das erkannte auch Guilherme Ripardo, als er 2005 ein Thema für seine Abschlussarbeit suchte. Der Architekturstudent schlug sich die Wochenenden in den Rockbars der Ceará-Straße um die Ohren. „Dass sich gleich nebenan ein Prostituiertenviertel befindet, war mir lange nicht bewusst“, sagt er. Ripardo klappt sein Notebook auf und zeigt auf eine Zeichnung, auf der zwei Frauenkörper abgebildet sind. Einer ausgestreckt, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt. Der andere zusammengerollt, in Embryonalstellung. „Die meisten Prostituierten sind zugleich Mutter und Sexarbeiterin“, sagt er. Dieser doppelten Rolle will er gerecht werden. Er will die Gebäude, in denen sie sich aufhalten und arbeiten, freundlicher und einladender machen. Unzählige Stunden verbrachte er mit Cleide Almeida. „Es ging vor allem um eines: Wie soll die Zukunft aussehen?“, sagt sie. Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit überzeugt sie. Die Gebäude in Anordnung der beiden Frauenkörper, die Ripardo entworfen hat, bieten Platz für eine Vielzahl an Aktivitäten außerhalb der Prostitution. „Hüfte und Beine der sich hingebenden Frau können für Präsentationen und Veranstaltungen verwendet werden“, erklärt er. Aus hellem und transparentem Material soll dieser Teil sein, nicht abgeschottet vom Rest der Welt. Die Frauen der Vila Mimosa wollen ihn für eine Ausstellung über die Geschichte der Prostitution in Brasilien und ihrem Viertel nutzen. Kopf und Arme könnten das Weiterbildungszentrum beherbergen. Die andere Figur, die für die Rolle der Mutter steht, hat einen intimeren Charakter. Viele Prostituierte nehmen ihre Kinder zur Arbeit mit und geben sie in einer Art Kinderkrippe ab. Die soll nun im Schoß des zusammengerollten Frauenkörpers unterkommen. „Es muss einen organisierten, geschützten Raum für diese Kinder geben“, erklärt Ripardo. Der Bereich des Kopfes widmet sich dem Wohlergehen der Frauen selbst: ihrer Gesundheit. Hier soll der Arzt, der schon heute ehrenamtlich Untersuchungen anbietet, seinen Platz haben. Bis jetzt ist das Projekt nur ein Traum. Cleide Almeida hat eine Zeit lang gemeinsam mit Guilherme Ripardo nach Geldgebern gesucht. Doch keine politische Institution zeigte Interesse. Nur wenige Politiker engagieren sich für eine ausgegrenzte Gruppe wie die Prostituierten. „Das würde für sie das Ende ihrer Karriere bedeuten“, räumt Cleide Almeida ein, die ein großes Netz von Kontakten hat. Inzwischen scheint es zumindest, als hätte sich die Regierung von dem Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo verabschiedet. Der Baubeginn wurde mehrfach verschoben, zuerst auf das Jahr 2016, wenn in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele ausgetragen werden, dann auf 2020. Konkrete Informationen, wie es damit weitergeht, gibt es nicht. Cleide Almeida ist aber zuversichtlich, dass sie nicht um das Weiterbestehen der Vila Mimosa am jetzigen Ort kämpfen muss. Noch vor der Fußball-Weltmeisterschaft hat sich außerdem eine Firma mit Sitz in London bei ihr gemeldet, die Projekte im Bereich Museen und Ausstellungen entwickelt und umsetzt. Sie wollte mehr über die „Stadt der Mädchen“ erfahren und lässt – wie sie auf eine schriftliche Anfrage bekannt gibt – derzeit Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Für die Sozialarbeiterin Cleide Almeida und den Architekten Guilherme Ripardo ist das ein erster Erfolg. Und wenn die „Stadt der Mädchen“ Wirklichkeit wird, hätte Cleide Almeida endlich Zeit, sich voll und ganz auf Weiterbildungsprogramme zu konzentrieren – damit die Prostituierten die Chance haben, aus ihrem Leben noch mehr zu machen. 47 journal südsudan „Kiir und Machar sollten einer neuen Regierung nicht angehören“ Im Südsudan bemüht sich die Zivilgesellschaft um friedliche Konfliktlösungen Seit dem vergangenen Dezember tobt im Südsudan ein Bürgerkrieg. Rebellen unter dem früheren Vizepräsidenten Riek Machar kämpfen gegen Machthaber Salva Kiir. Rund 1,5 Millionen Menschen wurden vertrieben, es droht eine Hungersnot. Moses Monday John, Direktor der Friedensorganisation ONAD, erklärt, warum er auf Dialog und Versöhnung setzt. Worin sehen Sie die Ursachen des Konflikts? Das Land hat eine lange und bittere Geschichte der Marginalisierung hinter sich, und die Menschen wollen nicht von anderen beherrscht werden. In der Auseinandersetzung zwischen Präsident Salva Kiir und Vizepräsident Riek Machar geht es um die Macht und die Kontrolle der Ressourcen. Der Konflikt erhielt eine ethnische Dimension, weil Kiir Dinka ist, während Machar den Nuer angehört. Das aus der Guerilla SPLA entstandene südsudanesische Militär besteht zu zwei Dritteln aus Nuer, von denen nun viele für Machar Partei ergriffen haben. Wie hat die Zivilgesellschaft auf die Kämpfe reagiert? ONAD ist Teil des Netzwerks „Bürger für Frieden und Gerechtigkeit“. Das Netzwerk hat eine Erklärung verabschiedet, in der es seine Neutralität verkündete, einen Waffenstillstand, den freien Zugang für humanitäre Hilfe sowie eine Beteiligung an dem Friedensprozess forderte. Kiir und Machar haben sich beide bei einem Treffen Anfang Juni zu einem Friedensabkommen bereit erklärt, das innerhalb von 60 Tagen zu einer Regierung der nationalen Einheit führen sollte. Seit Anfang August wird erneut verhandelt. Das Netzwerk ist der Ansicht, Kiir und Machar sollten einer solchen Regierung nicht angehören. Stattdessen sollten sich Technokraten und Akademiker Moses Monday John ist Direktor der Friedensorganisation Organisation for Nonviolence and Development (ONAD) in Juba, Südsudan. Stephan Brües daran beteiligen sowie Mitglieder der inzwischen 20 Parteien im Land. Ihre Organisation wurde bereits 1994 in der sudanesischen Hauptstadt Khartum gegründet. Aus welchem Anlass? Viele Südsudanesen hatten wegen des Bürgerkriegs ihre Heimat verlassen und wurden am Rande von Khartum unter le- bensfeindlichen Bedingungen angesiedelt. Viele von ihnen waren jung und fühlten sich an den Rand gedrängt. Ihre Kultur, ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse wurden missachtet. Sie litten unter den gewaltsamen Konflikten zwischen den Ethnien und Religionen. Die Gründer, junge Studenten, erkannten vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit, diese Konflikte anzugehen und für einen gewaltfreien, friedlichen und demokratischen Sudan einzutreten. Unsere Organisation lehnt alle Formen der Gewalt ab und wünscht sich ein Land, in dem soziale Gerechtigkeit herrscht. Nach der Unabhängigkeit des Südsudan verlegte ein Teil der Organisation ihren Sitz nach Juba, während die Arbeit im Sudan weiter von Khartum aus koordiniert wird. Welche Wurzeln hat Ihre Arbeit? Viele Gründer waren Christen, und ihre Idee der Gewaltfreiheit ist christlich geprägt. Dennoch ist ONAD keine christliche Organisation, in ihr arbeiten auch Muslime und Menschen anderer Glaubensrichtungen. Wir richten uns besonders an Jugendliche und Frauen sowie an religiöse Führer und die Führer der Gemeinschaften. Wie arbeiten Sie? Wir veranstalten einen dreitägigen Grundlagenkurs in Gewaltfreiheit und ein zehntägiges Training für Trainer. Auf diese Weise erhalten wir einen Pool von Trainern, mit denen wir das Wissen über gewaltfreie Konfliktbearbeitung weiter verbreiten können – zum Beispiel, um Auseinandersetzungen zwischen Viehzüchtern und Bauern zu schlichten, die oft in Gewalt umschlagen. Außerdem initiieren wir Treffen zwischen der Verwaltung und Bürgermeistern mit Vertretern der Religionen, der Jugend, der Frauen und den traditionellen Führern, um Aktionspläne für eine nachhaltige Entwicklung voranzubringen. In unserem Jugendprojekt bilden wir junge Leute in Methoden der Gewaltfreiheit und der Versöhnung aus. Die Jugendlichen kämpfen in Kriegen, für die sie nicht verantwortlich sind. Mit unser „Schule für Demokratie“ sollen sie in die Lage versetzt werden, gewaltsame Konflikte in Zukunft zu verhindern. Wie kann die internationale Gemeinschaft helfen? Mit ihren Schutzcamps für Vertriebene macht die UN-Mission für Südsudan (UNMISS) eine wichtige Arbeit. Das gilt auch für ihre humanitäre, logistische und technische Hilfe. Aber ich habe starke Vorbehalte gegen militärische Interventionen. Denn die Erfahrung zeigt, dass das Militär nicht mit den Menschen vor Ort zusammenarbeitet. Genau das ist aber notwendig, um einen Konflikt langfristig zu lösen. Wolfgang Ammer 48 Das Gespräch führte Stephan Brües. Die Publikation wurde ermöglicht durch Mittel von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst. 9-2014 | journal 49 brics-entwicklungsbank Eine neue Bank für den Süden BRICS-Länder wollen eine Alternative zu Weltbank und IWF schaffen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (BRICS) haben auf ihrem Gipfeltreffen im brasilianischen Fortaleza im Juli eine neue Entwicklungsbank und eine Währungsreserve für Länder mit Zahlungsschwierigkeiten aus der Taufe gehoben. Fachleute orakeln nun, ob diese Institutionen eine andere Politik machen werden als Weltbank und Internationaler Währungsfonds. Kaum war die Fußball-Weltmeisterschaft vorbei, hatte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff den nächsten großen Auftritt auf der internationalen Bühne. Beim Gipfel der BRICS-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) in Fortaleza ging es jedoch um ernstere Themen. Die aufstrebenden Schwellenländer machen keinen Hehl daraus, dass die beschlossene Entwicklungsbank und die Währungsreserve eine Reaktion auf die aus ihrer Sicht unzureichende Reform von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) sind, in denen sie gern mehr Mitsprache hätten. Mit eigenen Institutionen wollen die BRICS-Staaten nun ihren Einfluss auf die internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen vergrößern. Kritiker sehen keinen Unterschied zur Weltbank Kritiker fürchten indes, dass die BRICS-Bank und die geplante Währungsreserve die gleiche Finanz- und Entwicklungspolitik betreiben werden wie die von den Industriestaaten dominierten IWF und Weltbank – mit ähnlichen oder sogar noch größeren schädlichen Folgen für Mensch und Umwelt. Vom parallel zum BRICS-Gipfel tagenden Gewerkschaftsforum hieß es etwa, man fürchte ein Unterlaufen von Arbeitnehmerrechten. Der Ökonom und Aktivist Patrick Bond aus Durban, der sich für „BRICS von unten“ einsetzt, kritisiert, die fünf Staaten befeuerten mit ihrem Handeln den westlichen Kapitalismus mit all seinen Auswüchsen. Als Beleg dafür wertet Bond die Tatsache, dass die geplante Währungsreserve krisengeschüttelte Länder ausgerechnet mit US-Dollar stabilisieren solle und die Kreditvergabe an zum Teil identische Bedingungen wie bei der Weltbank und dem IWF geknüpft sein wird. Bond fürchtet, dass die neue Entwicklungsbank vor allem Großprojekte von Konzernen der BRICS-Länder finanzieren wird. Peter Wolff vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) wertet es hingegen als erfreulich, dass es künftig neben der Weltbank sowie den regionalen und nationalen Entwicklungsbanken ein weiteres internationales Finanzinstitut geben wird. Das beschere den Nehmerländern zusätzliche Wahlmöglichkeiten – zum Beispiel in Bezug auf die Kreditbedingungen. Inwieweit sich die Politik der BRICS-Institutionen von der der Weltbank und des IWF unterscheiden werde, sei noch nicht absehbar, sagt Wolff. Die BRICS sprechen in ihrer Erklärung von Fortaleza von „Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen“. Das klingt wie aus dem chinesischen Weißbuch zur Entwicklungshilfe, das nur wenige Tage vor dem Gipfel herausgegeben wurde. Soziale Entwicklung, der Kampf gegen Armut und Ungleichheit sollen laut der BRICSErklärung eine wichtige Rolle spielen. Die Erklärung von Fortaleza spricht zwar durchweg vom Ziel einer „nachhaltigen und inklusiven Entwicklung“. Auf der anderen Seite ließen die fünf Staaten keinen Zweifel an ihren entwicklungspolitischen Prioritäten: „Fossile Brennstoffe bleiben eine Hauptquelle der Energieversor- gung“, heißt es etwa in der Erklärung. Mit Blick auf den Klimaschutz sprechen sie weiter von „gemeinsamer, aber unterschiedlicher Verantwortung“ zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Unklar ist, an welche Umweltstandards die Finanzierung von Projekten geknüpft wird. Über Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik haben die BRICS-Länder bislang überhaupt nicht gesprochen. Die neue Entwicklungsbank wird ihre ersten Kredite voraussichtlich erst in mehreren Jahren auszahlen. Nach Ansicht von Peter Wolff liegt der Fokus in der Debatte aber ohnehin zu stark auf den Finanzen. Es gebe derzeit nicht zu wenig Geld, sondern schlicht zu wenig gute Projekte, die finanziert werden könnten. Die Standards der etablierten multilateralen Entwicklungsbanken seien hoch. Anzeige Friedensarbeit – Ihr AnlIegen? Sie haben Sozialpädagogik, Politik- oder Sozialwissenschaften studiert und sind berufserfahren. Sie suchen eine Aufgabe, bei der Sie unsere Partner professionell dabei unterstützen, gewaltfreie Konfliktlösungen zu finden. Christliche Werte sind Teil Ihrer Motivation und Sie verstehen Ihr Tun als solidarischen Dienst. Dann sollten wir uns kennenlernen! Die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) ist der Personaldienst der deutschen Katholiken für Entwicklungszusammenarbeit. Wir bieten Ihnen die Chance, in Projekten des Zivilen Friedensdienstes in Afrika, Asien und Lateinamerika aktiv zu werden, auf der Grundlage des Entwicklungshelfer-Gesetzes. Informieren Sie sich auf www.ageh.de über unsere Stellenangebote im Zivilen Friedensdienst. Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) e.V. Ripuarenstraße 8 | 50679 Köln Tel. 0221 8896-270 www.ageh.de [email protected] AGEH_Anzeigen_WELTSICHTEN_96x158mm_mit Rand Dez2013.indd 1 | 9-2014 04.12.2013 15:46:12 50 journal studien | berlin Wolff glaubt nicht, dass die BRICSBank diese unterlaufen werde. Während in der von Argentinien und Venezuela weiter propagierten Regionalbank für Südamerika (Banco del Sur) jedes Mitgliedsland die gleichen Rechte haben soll, ist die Dominanz der BRICS in den Fortaleza-Institutio- nen programmiert. Obwohl die Entwicklungsbank allen Staaten offen stehen soll, beanspruchen die Gründer eine Mehrheit in den Entscheidungsgremien. Die Währungsreserve indes steht zunächst nur den BRICSStaaten offen. China hält hier bereits jetzt mit Abstand den größ- ten Anteil und wird beide Institutionen aufgrund seiner Finanzkraft mittelfristig ähnlich dominieren wie die USA den IWF und die Weltbank; die neue Bank hat ihren Hauptsitz folgerichtig in Schanghai. Die Parlamente aller BRICSStaaten müssen der Einrichtung von Entwicklungsbank und Währungsreserve noch zustimmen. Dann werden die Einzahlungen fällig. Der Bank sollen die fünf Staaten bis 2021 je 10 Milliarden US-Dollar Eigenkapital bereitstellen. Die Währungsreserve soll 100 Milliarden erhalten, davon 41 Prozent von China. Christoph Süß gramm verteilt elektronische Gutscheine an Flüchtlinge, mit denen sie anstelle von Hilfspaketen selbst Lebensmittel und Hygieneartikel einkaufen können. Es gehe nicht darum, dass der Privatsektor die traditionelle humanitäre Hilfe ersetzt, betont Steven Zyck. Sie könnten sich jedoch bestens ergänzen. Die Unternehmen stellten ihre technische Expertise und ihre Ressourcen bereit, die Hilfsorganisationen wüssten, welche Form der Hilfe gebraucht wird und wie man Menschen in entlegenen Gebieten erreicht. Auf dem Weg zu einer besseren Zusammenarbeit müssten allerdings einige Hindernisse überwunden werden, so die ODI-Wissenschaftler. Bislang tauschen Unternehmen und Hilfsorganisationen sich kaum aus – was wohl zum Teil daran liegt, dass beide Seiten ein spezielles Vokabular benutzen, das nicht von allen verstanden wird. (gka) studie Geld verdienen mit der Not In Krisen und Katastrophen Gewinne machen? Humanitären Helfern dürften sich bei diesem Gedanken die Nackenhaare sträuben. Zu Unrecht, sagt das britische Overseas Development Institute (ODI). Wenn private Firmen Katastrophen und Konflikte als Geschäftschance begreifen, helfen sie den Opfern mehr, als wenn sie spenden, zeigt ein neuer Bericht der Denkfabrik und belegt das unter anderem mit Beispielen aus Jordanien und Indonesien. „Die meisten Leute denken, Philanthropie oder Formen der verantwortungsvollen Unternehmensführung seien die besten Wege, zu helfen. Aber das ist nicht der Fall“, sagt der Autor des Berichts, Steven Zyck. Unternehmen könnten in Krisen Dienstleistungen anbieten, die stark nachgefragt werden, und damit die Lage der Notleidenden erleichtern. Dazu zählten Logistik, Telekommunikation und Systeme für Geldüberweisungen. Versicherungsunternehmen mildern die Folgen von Dürren und Wirbelstürmen in Afrika und Asien, Banken sorgen dafür, dass Katastrophenopfer schnell an Bargeld kommen, heißt es in dem Bericht. Nach den heftigen Überschwemmungen in Indonesien Anfang 2013 hätten private Firmen Nothilfe geleistet, indem sie Güter und Personen transportierten. Regionale Banken in Jordanien haben Zahlungssysteme eingerichtet, die es syrischen Flüchtlingen ermöglichen, finanzielle Hilfen an Geldautomaten abzuheben – auf solche Hilfen setzt etwa der Jordanische Rote Halbmond. Das Welternährungspro- Steven A. Zyck, Randolph Kent Humanitarian crises, emergency preparedness and response: the role of business and the private sector Overseas Development Institute, London 2014, 37 Seiten www.odi.org berlin Keine Techno-Lösung für versteckten Hunger Hilfswerke: Selbstversorgung in den betroffenen Ländern stärken Zwei Milliarden Menschen weltweit sind mangelernährt, das heißt es fehlt ihnen an wichtigen Nährstoffen. Angereicherte Lebensmittel können in der Not helfen, lösen das Problem aber nicht, erklärt eine Studie der beiden Hilfsorganisationen terre des hommes und Welthungerhilfe. Die Zahl unterernährter Menschen schrumpft. Die Welternäh- rungsorganisation FAO schätzt sie auf 842 Millionen weltweit. Aber diese Zahl täuscht darüber hinweg, dass etwa zwei Milliarden Menschen unter so genanntem verstecktem Hunger leiden: dem Mangel an Mikronährstoffen, also lebensnotwendigen Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen. Die möglichen Folgen sind schwere Erkrankungen und ein geschwächtes Immunsystem. Vor allem in Afrika, Süd- und Zentralasien sei die Ernährung oft einseitig. So essen die Menschen in Teilen Afrikas oft nur Maisbrei. Sie werden dadurch zwar satt, aber es fehlt an lebenswichtigen Vitaminen. Viele können sich Obst und Gemüse sowie hin und wieder Eier, Milch, Fisch und Fleisch nicht leisten – Lebensmittel, die notwendig wären, um den Nährstoffmangel auszugleichen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sterben jedes Jahr zwischen 300.000 und 700.000 Kinder unter fünf Jahren an Krankheiten, die zum Beispiel auf den Mangel an VitaminA und Zink zurückgehen. Weitere 300.000 Kinder erblinden. Daher empfiehlt etwa das medizinische Wissenschaftsmagazin „Lancet“, gezielt Mütter und Kinder mit Mikronährstoffen zu versorgen. 9-2014 | berlin journal bensphasen wie der Schwangerschaft notwendig, angereicherte Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. Das allein sei aber keine dauerhafte Lösung. Mangelernährung bleibe Ausdruck des Versagens von Ernährungssystemen. Der „Goldene Reis“ hat weniger Erträge erbracht UN-Hilfsorganisationen verteilen nach dem Erdbeben 2010 im haitianischen Port-au-Prince angereicherte Lebensmittel für Schwangere und Kleinkinder. Sophia Paris/Un Photo Wolfgang Jamann, Generalsekretär der Welthungerhilfe, hält die Anreicherung von Grundnahrungsmitteln prinzipiell für einen praktikablen Behelf – jedoch mit Einschränkungen. Sie sollte je nach Bedürfnis der einzelnen Länder gesetzlich reguliert werden. In Sambia etwa werde Mais per Gesetz mit Vitamin A und D angereichert. Auch sei es in Nothilfesituationen und in bestimmten Le- „Durch die Nahrungsmittelanreicherung wird nur an den Symptomen des Hungers herumgedoktert“, kritisiert auch die Vorstandsvorsitzende von terre des hommes, Danuta Sacher. Deshalb warnen die beiden Organisationen in ihrer Studie, die Anreicherung von Lebensmitteln dürften nicht einseitig zulasten von Maßnahmen gegen strukturelle Ursachen von Mangelernährung gefördert werden. Mit Mitteln der Entwicklungszuammenarbeit sollten nicht industrielle Produkte, sondern die Selbstversorgung und die Landwirtschaft in Ländern mit chronischer Mangelernährung gefördert werden. So werde im indischen Kalkutta ein Rezept aus Reis, Weizen und Gemüse getestet, das bei Kindern erfolgreich eine Gewichtszunahme bewirkt habe. Zudem bezweifeln die Welthungerhilfe und terre des hommes teilweise den Nutzen angereicherter oder technisch veränderter Lebensmittel. So wies Jamann darauf hin, dass der gentechnisch mit Betacarotin angereicherte „Goldene Reis“ gegen Vitamin-A-Mangel bei Feldversuchen niedrigere Erträge als herkömmliche Sorten erbracht habe. Fraglich sei auch, ob mangelernährte Körper das Betacarotin überhaupt wie vorgesehen umwandeln könnten. Auch eine mit Geldern der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung entwickelte gentechnisch veränderte Banane, die einen erhöhten Vitamin-A-Gehalt aufweist, steht erst kurz vor dem entscheidenden Test. Marina Zapf berlin Mehr Freiheit, weniger Fairness? Vertreter des fairen Handels kritisieren die Pläne für neue Freihandelsverträge Vertreter des Fairen Handels in Deutschland fürchten, dass Fortschritte zu gerechteren Produktionsbedingungen von dem geplanten Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen der Europäischen Union und den USA torpediert werden könnten. Eine wachsende Zahl von Kleinbauern und Arbeitern in armen Ländern profitiere vom zunehmenden Vertrauen der Verbraucher in fair gehandelte Produkte, hieß es am 5. August in Berlin bei der Jahrespressekonferenz des Forums Fairer Handel. Ihre Lebensund Arbeitsbedingungen hätten sich stark verbessert. TTIP werde sich jedoch „negativ auf die Handelsbeziehungen zu den Ländern des Globalen Südens auswirken und Kleinproduzenten unter Druck setzen“. Die Deutschen haben laut dem Forum im vergange- | 9-2014 nen Jahr fair gehandelte Produkte für insgesamt 784 Millionen Euro gekauft, 21 Prozent mehr als im Vorjahr. In vier Jahren habe sich der Umsatz mit fairen Waren verdoppelt. Über den Anteil fairer Produkte am Gesamtkonsum kann die Dachorganisation keine Angaben machen. Das lasse sich lediglich für Kaffee sagen, hier greifen rund drei Prozent der Konsumenten in Deutschland zu fair gehandelten Bohnen. Der wachsende Markt zeige, dass Menschen sich zunehmend über Produktionsbedingungen Gedanken machen. „Die Konsumentscheidung einzelner hat Auswirkungen“, sagte der Geschäftsführer des Forums Fairer Handel, Manuel Blendin. Gleichzeitig brauche es bessere politische Rahmenbedingungen, um den Welthandel gerechter zu machen. Durch den Abschluss von immer mehr bilatera- len Freihandelsabkommen drohten jedoch soziale und ökologische Mindeststandards zu verwässern. Solche Abkommen förderten zudem die Industrialisierung der Landwirtschaft. Fairer Kaffee ist bei den Deutschen besonders beliebt TTIP gefährde vor allem Agrarproduzenten in Entwicklungsländern, fürchten die Vertreter des fairen Handels. Darauf deuteten bereits Prognosen der EU-Kommission hin. So könnten etwa billige Baumwolle aus den USA oder Zucker aus der EU die Existenz von Kleinbauern in Afrika, Asien und Lateinamerika bedrohen. Laut Informationen könnten gerade die Umbruchländer Nordafrikas durch TTIP fünf Prozent ihres Außenhandels mit der EU einbüßen. „Ein präferenzieller Marktzugang zur EU wird gegenstandslos, wenn große Handelsteilnehmer in den USA auf einmal dieselben Präferenzen bekommen“, kritisierte der Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung, Jürgen Maier. Insgesamt 57 anerkannte FairHandels-Importeure des Forums beziehen Produkte von mehr als 780 Handelspartnern; mehr als ein Drittel davon kommt aus Asien. Lebensmittel machen mit drei Vierteln weiter den größten Anteil am Absatz aus, zwei Drittel davon sind biozertifiziert. Neben Kaffee mit 36 Prozent sind die absatzstärksten Produktkategorien Klassiker wie das Kunsthandwerk (18,5 Prozent) sowie Kakao und Schokolade (13 Prozent). Textilien haben mit fünf Prozent dagegen noch immer einen kleinen Anteil. Mengenmäßig sind Südfrüchte die Spitzenreiter mit 35.000 Tonnen im vergangenen Jahr und einem 51 52 journal berlin Zuwachs von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wichtigster Vertriebsweg im Einzelhandel sind nach wie vor die Weltläden. Zugleich nimmt die Gastronomie inzwischen ein Drittel mehr Produkte ab als 2012. Der Umsatz im Online-Handel habe sich sogar verdoppelt, sagte Geschäftsführer Blendin. Vertrauen schaffe auch das neue Zeichen der World Fair Trade Organisation (WFTO). Mit mehr als 400 Organisationen in über 70 Ländern, die sich ausschließlich dem Fairen Handel verschrieben haben, sorge es seit dem vergangenen Jahr mit einem Monitoringsystem für mehr Transparenz und Glaubwürdigkeit. Marina Zapf berlin Die Krisenanfälligkeit verringern Die Vereinten Nationen fordern mehr und bessere soziale Sicherung In den vergangenen Jahrzehnten sind weltweit die Lebenserwartung und die Einkommen gestiegen, der Zugang zu Bildung wurde verbessert. Doch solche Fortschritte sind bedroht, stellt der diesjährige UN-Bericht über die menschliche Entwicklung fest. Naturkatastrophen, Konflikte als Folge politischen Scheiterns, Flüchtlingsströme und zunehmende Ungleichheit sorgen dafür, dass sich das Wohlergehen der Menschen in fast allen Weltregionen seit 2008 langsamer verbessert als früher. Ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt in von Konflikten betroffenen Ländern, 1,2 Milliarden Menschen müssen mit 1,25 US-Dollar oder weniger am Tag auskommen. Doch das ist nicht das ganze Bild: Laut dem Index für mehrdimensionale Armut (Multidimensional Poverty Index, MPI), der neben dem Einkommen Indikatoren wie Zugang zu Nahrung, medizinischer Vorsorge und Bildung abbildet, sind fast 1,5 Milliarden Menschen in 91 erfassten Ländern arm. Und für 800 Millionen Menschen, die der Armut entkommen seien, bestehe die Gefahr, aufgrund von Rückschlägen wie stark schwankenden Nahrungsmittelpreisen wieder zu verarmen. Die Widerstandskraft verletzlicher Bevölkerungsgruppen gegen Finanz- und Wirtschaftskrisen, Bürgerkriege sowie Extremwetter wie Dürren und Fluten müsse gestärkt werden. So hätten vier von fünf der älteren Menschen auf der Welt keine soziale Sicherung. Besondere Phasen der Verwundbarkeit identifizieren die Autoren des UN-Berichts in den ersten drei Lebensjahren und beim Übergang von der Schule in den Beruf sowie vom Beruf in den Ruhestand. Die UN machen praktische Vorschläge, wie die Krisenanfälligkeit verringert werden kann, etwa mittels einer sozialen Grundversorgung wie Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Sie plädieren außerdem dafür, Vollbeschäftigung als übergeordnetes Ziel der Wirtschaftspolitik festzuschreiben – so wie in den 1950er und 1960er Jahren. Soziale Stabilität und gesellschaftlicher Zusammenhalt seien im Interesse aller Regierungen. In Entwicklungsländern müsse es vorrangig darum gehen, Jobs im informellen Sektor aus dieser Schattenwirtschaft herauszuholen. Langfristiges Ziel müsse der Übergang von der Landwirtschaft zu Industrie und Dienstleistungen sein. Eine Grundsicherung für die Armen würde weltweit nicht mehr als zwei Prozent der globalen Wirtschaftsleistung kosten, argu- Weiße Männer erklären die Welt Wenn in Fachzeitschriften für Entwicklungsfragen politische Lösungen für die Probleme armer Länder diskutiert werden, kommen dabei nur selten Wissenschaftler aus diesen Ländern zu Wort. Das ergab eine Auswertung von zehn führenden Zeitschriften für Entwicklungszusammenarbeit, darunter „World Development“, „The Journal of Development Studies“ und „Third World Quarterly“ über drei Jahre. Nur bei knapp jedem siebten der 1894 erfassten Artikel (14,5 Prozent) waren Experten aus Entwicklungsländern als Autoren oder Co-Autoren beteiligt, schreibt die Wissensmanagerin Sarah Cumming in ihrer Studie. Von rund 2500 Autoren kamen mehr als 1000 aus England und den USA (43,4 Prozent), aus Deutschland 99. Noch geringer ist der Anteil der Untersuchung zufolge unter den wissenschaftlichen Beiräten, die für die Auswahl und Bearbeitung der Artikel zuständig sind. Nur sieben Prozent der Herausgeber stammen demnach von Institutionen in Entwicklungsländern. Auch bei der Geschlechterverteilung ist es mit der oft geforderten Gleichberechtigung nicht weit her: Im Schnitt sind nur knapp ein Drittel der Herausgeber Frauen, in einem Fall sogar nur acht Prozent. Den eigenen Ansprüchen werden die Zeitschriften damit wohl kaum gerecht. Wie sich die einseitige Autorenschaft jedoch auf die entwicklungspolitische Praxis auswirkt, steht auf einem ganz anderen Blatt. (sdr) mentieren die UN-Fachleute. Sie sei nicht nur für reiche Länder erschwinglich: So hätten Länder wie Korea oder Costa Rica mit dem Aufbau einer Sozialsicherung begonnen, als ihre Wirtschaftskraft pro Kopf noch niedriger war als derzeit in Indien und Pakistan. Kostenschätzungen für zwölf afrikanische und asiatische Länder zeigten, dass etwa in Burkina Faso weniger als vier Prozent der Wirtschaftsleistung in eine Grundsicherung investiert werden müssten. Anlass zu Optimismus gibt dem Bericht zufolge, dass der Abstand zwischen den Ländergruppen mit höherer und niedriger menschlicher Entwicklung kleiner wird, obwohl die Annäherung seit 2008 langsamer vorangeht. Den Index für menschliche Entwicklung führen weiterhin Norwegen, Australien, die Schweiz, die Niederlande, die USA sowie Deutschland auf Platz 6 an. Schlusslichter sind unverändert Sierra Leone, der Tschad, die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo und der Niger. Besorgniserregend sei, dass sich das Einkommensgefälle in mehreren Regionen verschärft habe, darunter Lateinamerika und die Karibik. Die Ungleichheit wächst aber auch in Industrieländern. In Bezug auf Ungleichheiten beim Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Bildung sowie beim Einkommen fallen drei reiche Länder aus den Top 20 heraus: die USA von Rang 5 auf 28, Südkorea von 15 auf 35, Japan von Rang 17 auf 23. Deutschlands Position hat sich gegenüber dem Vorjahr nicht geändert. Marina Zapf 9-2014 | brüssel journal brüssel Streit um Saatgut Die EU-Kommission will den Handel neu regeln – mit Folgen für die ganze Welt Noch in diesem Jahr will die EUKommission den Handel mit Pflanzen und Saatgut neu regeln. Im März hatte das EU-Parlament einen ersten Entwurf nach Protesten von Bauern-, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen mit großer Mehrheit abgelehnt. Mehr als 70 EU-Vorschriften regeln den Handel mit Saatgut in Europa, dazu kommen noch mehr verschiedene nationale Bestimmungen. Gewachsen ist das über Jahrzehnte zu einem Filz, auf dem die Marktherrschaft einer Handvoll Großfirmen prächtig gedeiht. In der EU kontrollieren fünf Konzerne fast 95 Prozent des kommerziellen Saatguts. Nachdem der Europäische Gerichtshof 2012 der Klage eines französischen Saatgutherstellers wegen Widersprüchen in diesem Regeldickicht stattgegeben hatte, geriet die Kommission in Zugzwang, eine sich schon Jahre hinschleppende Reform voranzubringen. Die Klage des französischen Großhändlers richtete sich gegen eine kleine franko-belgische Biobauern-Kooperative, die traditionelle, nicht registrierte und somit in der EU illegale Saaten kostenlos an Kleinbauern in Senegal und Burkina Faso verteilt hatte. Die Kommission legte daraufhin im Mai des vorigen Jahres dem Ministerrat und dem EU-Parlament den Entwurf einer Regelung vor, die dergleichen nicht registrierten Saatenaustausch unterbinden sollte – und zugleich die restlichen fünf Prozent der nicht von Großkonzernen kontrollierten Saatguthersteller aus dem Markt zu drängen drohte. Denn die Vorlage der Kommission hätte die unzähligen Varianten lokaler und regionaler Saaten den teuren Verfahren von jährlich neuer Registrierung, mikrobiologischer Begutachtung und Zertifizierung unterworfen. Bauern-, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen aus | 9-2014 ganz Europa protestierten gegen den Entwurf. Ende 2013 unterstützten mehr als eine Viertelmillion Menschen einen ersten Aufruf für eine Eingabe an das EUParlament; weitere solcher Aufrufe folgten. Der Agrarausschuss im Parlament, der der Kommission gewöhnlich recht freundlich gesonnen ist, sprach sich daraufhin im Januar dieses Jahres gegen die Vorlage aus und versuchte mit Änderungsanträgen einige der ärgsten Mängel zu korrigieren. Als Agrarkommissar Dacian Ciolos in der Plenardebatte Anfang März alle Änderungen ablehnte, stimmte das Parlament mit 650 zu 15 Stimmen – und damit so deutlich wie fast nie – gegen den Entwurf der Kommission. Inzwischen ist das Parlament neu gewählt, die amtierende Kommission wird im Oktober abtreten. Die Neuregelung des Saatguthandels ist damit allerdings nicht vom Tisch. Die lückenlose Erfassung des Saatguts ist notwendig für das Geschäft mit dem geistigen Eigentum, etwa an Hybridsorten und an genveränderten Organismen, das immer mehr zum Kern der Handels- und Entwicklungspolitik der EU wird. Der Ausgang des Verfahrens wird auch für die übrige Welt Folgen haben: 60 Prozent des weltweit gehandelten Saatguts kommen aus der Europäischen Union. Heimo Claasen brüssel Endloser EPA-Endspurt Brüssel schließt Abkommen mit Afrikas wichtigsten Regionen Die EU-Kommission bemüht sich, vor Jahresende wenigsten zwei sogenannte wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen (EPA) mit Afrika zu schließen. Beide Seiten mussten dafür Zugeständnisse machen. Am 10. Juli erklärten sich die Chefs der 15 Staaten der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS sowie Mauretanien bereit, das in fast zehn Jahren mit der EUKommission ausgehandelte Wirtschaftsabkommen zu unterzeichnen. Allerdings ist der Text offenbar noch nicht ganz fertig; die Juristen und Übersetzer in den Kommissionen von EU und ECOWAS feilen noch an den Feinheiten. Zudem ist es noch nicht das „umfassende“ Abkommen, Wein aus Südafrika ist in Europa beliebt und darf bald in größeren Mengen zollfrei eingeführt werden. Alexander Joe/Afp/Getty Images das die EU-Kommission tags darauf feierte: Geregelt ist vorerst nur der Warenhandel, inklusive einer Verpflichtung, binnen sechs Monaten nach dem Inkrafttreten über weitere Bereiche zu verhandeln, darunter Dienstleistungen und Zugang zum Finanzmarkt, öffentliche Beschaffungen, Schutz von geistigem Eigentum und von Investitionen. Es war Eile geboten und sicherheitshalber hatte die ECOWASKommission schon Ende Juni bei der Welthandelsorganisation (WTO) das Abkommen angemeldet: Mindestens zwei der westafrikanischen Staaten, Ghana und die Elfenbeinküste, die nicht mehr zu den ärmsten Ländern zählen, würden ab Oktober ihre Vorzugstarife beim Export nach Europa verlieren, weil dann die Ausnahmeregeln der WTO enden. In zwei Verhandlungsrunden Anfang des Jahres hatten die Westafrikaner erreicht, dass die EU ihre Forderung auf Marktöffnung von 85 Prozent auf 75 Prozent des Warenhandels senkte. Brüssel willigte zudem ein, dass Westafrika für einige sensible Agrargüter weiter 53 54 journal brüssel | schweiz Schutzzölle erheben darf. Auch die Zusage der EU über Handelshilfen in Höhe von 6,5 Milliarden Euro für die Jahre 2015 bis 2020 war sicher hilfreich, wenngleich das Abkommen dieses Geld nicht ausdrücklich als „zusätzlich“ zu den Mitteln für Westafrika aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) festschreibt, wie das die ECOWAS ursprünglich wollte. Die UNWirtschaftskommission für Afrika hatte berechnet, dass das Abkommen die ECOWAS-Länder durch den Wegfall von Zolleinnahmen im selben Zeitraum acht Milliarden Euro kosten wird. Entscheidend für die Zustimmung der ECOWAS-Chefs war schließlich auch die Zusicherung Brüssels, die Militäreinsätze der ECOWAS in Mali und Niger zu finanzieren. Zivilgesellschaftliche Organisationen der Region, von Kirchen über Gewerkschafts-, Bauern- bis sogar zu Handelsverbänden, sind indes empört über die Zustimmung ihrer Regierungen zu dem EPA. Das Economic Justice Network in Ghana befürchtet, dass dem Abkommen der industrielle Sektor in Westafrika geopfert werde: Die für Importe aus der EU freigegebenen Bereiche wie Textil, Aluminium, Zement oder Metallverarbeitung seien „entscheidend für die industrielle Entwicklung“, und die ECOWAS-Verhandler hätten mit der Freigabe „alle Aussichten auf die industrielle Transformation der westafrikanischen Wirtschaft aufgegeben“. Ähnlich das Bild im südlichen Afrika: Dort haben sechs der 14 Mitgliedsländer der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika (SADC), nämlich Botswana, Lesotho, Mosambik, Namibia, Swasiland und Südafrika, ein Wirtschaftsabkommen mit Brüssel geschlossen, wie die Kommission Ende Juli mitteilte. Wie von der ECOWAS verlangt die EU von den SADC-Ländern, dass sie die sogenannte Meistbegünstigungsklausel akzeptieren: Günstige Handelsbedingungen, die sie anderen Ländern einräumen, müssen demnach automatisch auch der EU zugestanden werden. Für das südliche Afrika ist das eine besonders bittere Pille, da sie die in der SADC angestrebte Süd-SüdZusammenarbeit vor allem mit Indien und Brasilien berührt. Im Gegenzug erreichten die SADC- Verhandler Zugeständnisse seitens der EU. Für 22 Agrarprodukte, darunter Wein, Zucker und Rindfleisch, akzeptierte die EU bedeutend größere Mengen für die zollfreie Einfuhr in Europa. Zudem gesteht Brüssel den SADC-Ländern nun „Flexibilität“ bei der Regulierung von Rohstoffexporten zu, etwa durch Steuern oder gar Verbote. Ursprünglich wollte die EU solche Handelsbeschränkungen für unzulässig erklären. Die zwei Wirtschaftsabkommen mit dem westlichen und südlichen Afrika binden nun die wirtschaftlich wichtigsten Regionen an den EU-Markt, während die Verhandlungen etwa mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft oder mit Zentralafrika nicht vorankommen. Heimo Claasen schweiz Dunkle Geschäfte mit schwarzem Gold NGOs fordern mehr Transparenz im Ölhandel der Schweiz mit Afrika Schweizer Rohstoffhändler haben staatlichen Erdölkonzernen in Afrika in den vergangenen drei Jahren Öl im Wert von rund 55 Milliarden US-Dollar abgekauft. Die Geschäfte laufen weitgehend im Verborgenen ab. Ein Viertel des aus Afrika exportierten Öls fließt über Schweizer Handelsfirmen. Das entspricht rund zwölf Prozent der Gesamtbudgets der zehn größten ölexportierenden Staaten in Afrika. Zu diesem Ergebnis kommen die Erklärung von Bern (EvB) und Swissaid in einem neuen Bericht (siehe Kasten). Er erfasst die von Schweizer Rohstoffhändlern zwischen 2011 und 2013 getätigten Ölgeschäfte mit den Regierungen der untersuchten Länder. In Äquatorialguinea, Gabun, Kamerun, Nigeria und Tschad waren Schweizer Handelsfirmen gar die größten Abnehmer von staatlichem Öl. Die Milliardenzahlungen trügen „maßgeblich zum Staatshaushalt einiger der ärmsten Länder der Welt bei“, heißt es in dem Be- richt weiter. Die Institutionen dieser Staaten seien aber oft schwach und für Korruption anfällig. Diese Kombination bezeichnen die Studienverfasser als „äußerst brisant“: Oft versickern die wichtigen Einnahmen, ohne dass die Bevölkerung etwas davon hat. Aufgrund der „existenziellen Bedeutung und der notorischen Intransparenz dieser Geschäfte“ fordern sie, Licht in die Zahlungen zu bringen. Die Schweiz müsse ihre Verantwortung als größter Rohstoffhandelsplatz der Welt wahrnehmen und ihre Handelsfirmen gesetzlich zur Offenlegung aller Zahlungen an Regierungen und staatliche Firmen verpflichten. Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Länder hätten so die Möglichkeit, ihre Regierungen für das Management der wichtigsten Einnahmequelle ihres Landes zur Verantwortung zu ziehen. Doch diese Forderung hat in der Schweizer Politik keinen leichten Stand. Erst Ende Juni empfahl der Bundesrat, vorläufig auf neue Regeln für den Rohstoffhandel zu verzichten. Nach Ansicht der Bürgerlichen würden solche Regeln die Schweiz im internationalen Vergleich benachteiligen. Handelsplätze wie London würden das Geschäft übernehmen, wenn die Schweiz sich in Sache Transparenz „als Musterknabe der Welt“ aufspiele. Die Rohstoffhändler setzen auf Selbstregulierung. Man befolge die Gesetze und halte frei- willige Standards ein, erklären sie. Aus dem linken Lager hingegen kommt Unterstützung für die Forderung nach mehr Transparenz. Politiker verweisen auf die Gefahr, dass der Schweiz beim Rohstoffhandel das gleiche Szenario drohe wie im Bankensektor: Erst wachsender internationaler Druck werde sie schließlich zu strengeren Regeln zwingen. Kathrin Ammann Öl für 250 Milliarden US-Dollar Die Erklärung von Bern, Swissaid und die US-Partnerorganisation Natural Ressource Governance Institute haben den Fokus ihrer Untersuchungen auf die zehn größten ölexportierenden Länder Afrikas gerichtet: Nigeria, Tschad, Guinea, Gabun, Kamerun, Kongo-Brazzaville, Angola, Südsudan, Elfenbeinküste und Ghana. Sie werteten Daten über 1500 individuelle Ölverkäufe durch staatliche afrikanische Ölfirmen zwischen 2011 und 2013 aus. Demnach haben diese Staaten insgesamt 2,3 Milliarden Barrel Öl verkauft und dafür über 250 Milliarden US-Dollar eingenommen. Das entspricht 56 Prozent ihrer gesamten Staatseinnahmen. (kam) 9-2014 | schweiz journal schweiz Wenig humanitär Die Militärjustiz untersucht die Rückführung einer hochschwangeren Syrerin nach Italien Die Schweizer Justiz muss sich mit dem Fall einer Syrerin auseinandersetzen, die bei der Rückführung durch Grenzwächter nach Italien eine Fehlgeburt erlitten hat. Der Zwischenfall wirft ein Schlaglicht auf die hochpolitisierte Debatte über die humanitäre Tradition der Schweiz. Das Drama der schwangeren Syrerin ereignete sich im Juli. Die Frau und ihre Familie gehörten zu einer Gruppe von 36 Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea und Äthiopien, die im Zug von Mailand nach Paris aufgegriffen wurde. Schweizer Grenzwächter nahmen die Flüchtlinge in Vallorbe an der Grenze zu Frankreich in Empfang und fuhren sie mit Kleinbussen nach Brig im Süden der Schweiz, wo die Gruppe in einen Zug zurück nach Italien gesetzt wurde. Die syrische Familie wirft den Grenzwächtern vor, der Schwangeren während der Rückführung medizinische Hilfe verweigert zu haben. Erst bei der Ankunft in Domodossola wurde die Frau in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr Kind tot zur Welt kam. Nun prüft die Militärjustiz, die für das Grenzwachtkorps zuständig ist, den Fall. Ein Urteil dürfte erst in einigen Monaten vorliegen. Relativ zur Einwohnerzahl hat die Schweiz viele Asylsuchende Menschenrechtsorganisationen kritisierten das technokratische Vorgehen bei der Rückführung heftig. Auch das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) zeigte sich „sehr beunruhigt“ und erinnerte daran, dass Flüchtlingen in einem kritischen medizinischen Gesundheitszustand unverzüglich Hilfe geleistet werden müsse. Zudem forderte das UNHCR mehr legale Einreisemöglichkeiten vor allem für Syrien-Flüchtlinge. Die Schweiz hat im vergangenen Herbst rund | 9-2014 Schweizer Grenzwächtern wird vorgeworfen, einer schwangeren Syrerin medizinische Hilfe verweigert zu haben. Sie erlitt eine Fehlgeburt. Peter Schneider/Keystone 3000 Flüchtlingen aus Syrien die erleichterte Einreise gewährt. Zudem nimmt das Land bis Herbst 2016 weitere 500 Kontingentflüchtlinge auf. Gemessen an den Forderungen des UNHCR, wonach Europa in den nächsten zwei Jahren mindestens 100.000 Syrerinnen und Syrer aufnehmen soll, ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Das UN-Flüchtlingshilfswerk räumt zwar ein, dass die Schweiz im Vergleich zur Bevölkerungszahl eine hohe Zahl von Asylsuchenden aufweise. Vergleiche man aber das Pro-Kopf-Einkommen mit der Anzahl der Flüchtlinge, hinke das Land im Vergleich mit anderen Ländern „sehr hinterher“, erklärte Susin Park, die Leiterin der Schweizer Vertretung des UNCHR in einem Radiointerview. Bei der zuständigen Bundesrätin Simonetta Sommaruga sto- ßen diese Forderungen auf offene Ohren. Nur sieht sich die sozialdemokratische Justizministerin einer bürgerlichen Mehrheit in Regierung und Parlament gegenüber, die stark unter rechtspopulistischem Druck steht. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) will mit einer Initiative die Schraube sogar noch weiter anziehen. So sollen Flüchtlinge konsequent nur noch im ersten Ankunftsland ein Asylgesuch stellen können. Bei Syrien-Flüchtlingen würde dies bedeuten, dass sie nur bei einer Einreise mit dem Flugzeug eine Chance hätten, in der Schweiz aufgenommen zu werden. Bei der Schweizer Flüchtlingshilfe hofft man, dass eine solche Volksinitiative gar nicht erst zur Abstimmung kommt: Sie sollte vom Parlament als verfassungswidrig und ungültig erklärt werden. Bundesrätin Sommaruga ihrerseits bezeichnet die Forderung, das Asylrecht in der Schweiz faktisch abzuschaffen, als „beschämend“. Vor allem verstoße sie gegen die humanitäre Tradition, die genauso wie die vielbeschworene Neutralität zur Schweiz gehöre, betonte die Sozialdemokratin in einer Rede zum Nationalfeiertag am 1. August. Theodora Peter schweiz – kurz notiert Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GsSA) hat die Regierung aufgefordert, alle Waffenlieferungen in den Nahen Osten zu stoppen. Bern solle zudem die militärische Zusammenarbeit mit Israel einstellen, solange die Zivilbevölkerung in Gaza unter Beschuss stehe, forderte die GSoA Ende Juli während der Kämpfe in dem Küstenstreifen. Die Gruppe hat dazu im Internet eine Petition lanciert. Die Schweiz solle auf den geplanten Kauf von Drohnen aus Israel verzichten. Ausgerechnet der Nahe Osten sei zum stärksten Wachstumsgebiet der Schweizer Rüstungsindustrie geworden, kritisieren die Verfasser der Petition. (tp) Der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter hat beim Internationalen Filmfestival von Locarno im August die Initiative „Demokratie ohne Grenzen“ gestartet. Ziel ist die Stärkung der Demokratie, des Friedens und der Menschenrechte in Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit. Geschehen soll dies mit Hilfe von sogenannten Projektbotschaftern – bekannten Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Gesellschaft. Im Rahmen der Initiative soll unter anderem der demokratische Transformationsprozess in Tunesien durch den Austausch mit Parlamentariern und Parteivertretern unterstützt werden. (tp) 55 56 journal österreich österreich Entwicklungspolitische Mängelliste Die OECD nimmt die österreichische Entwicklungszusammenarbeit unter die Lupe Im Dezember legt der Entwicklungsausschuss (DAC) der Industrieländer-Organisation OECD seinen nächsten Prüfbericht über die österreichische Entwicklungszusammenarbeit vor. Der letzte Bericht stammt aus dem Jahr 2009. Ein Zwischenbericht zeigt, was seitdem erreicht worden ist. In dem im Juni der österreichischen Bundesregierung zuge- stellten Papier zeigt sich die OECD zufrieden damit, dass Wien die Zahl der Schwerpunktländer reduziert hat. Nicaragua wurde abgenabelt, das Koordinationsbüro 2012 geschlossen. Damit konzentriert sich die österreichische Entwicklungszusammenarbeit jetzt auf eine Handvoll afrikanische Länder und das Himalaya-Königreich Bhutan. Gewürdigt wird auch das neue Dreijahrespro- Anzeige 2 nd InternatIonal SympoSIum on ClImate JuStICe Common aims and shared responsibility Bremerhaven, november 18-19, 2014 gramm, das alle Ministerien einbezieht, die entwicklungspolitisch tätig sind. Gegenüber früheren Programmen des Außenministeriums (BMeiA) wird es als „strategischer und ergebnisorientierter“ beurteilt wird. Auch die neue Strategie für entwicklungspolitische Bildung und Kommunikation wird gewürdigt. Die Österreichische Entwicklungsbank sei eine kleine, aber wachsende Institution, die mit Erfolg die Privatwirtschaft in die Entwicklungspolitik einbezogen habe. Die Aufzählung der Defizite beginnt damit, dass sich Österreich – trotz gegenteiliger Beteuerungen – dem Ziel, 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für Entwicklungszusammenarbeit zu geben, nicht genähert hat und auch keinen Stufenplan vorgelegt habe, wie das gelingen soll. Obwohl die Leistungen seit 2009 bereits schrittweise reduziert worden seien, seien ab 2015 weitere Einschnitte geplant. Das werfe die Frage auf, ob der institutionelle Rahmen „angemessen und kosteneffizient“ sei. Im Klartext: Der Apparat der Austrian Development Agency (ADA), die die staatliche bilaterale Hilfe abwickelt, ist für das ständig schrumpfende Budget viel zu groß. Ein großer Teil der Hilfe sind erlassene Schulden the speakers will include: • artur runge-metzger of the European Commission • prof Dr Walter Kaelin of the Nansen Initiative, Switzerland • Jan Kowalzig of Oxfam, Germany • Dr Debra roberts from Durban, Republic of South Africa www.klimahaus-bremerhaven.de/climatejustice In cooperation with: Supported by: Dazu kommt, dass ein hoher Anteil der ausgewiesenen Entwicklungshilfe gar nicht aus frischem Geld für Projekte besteht, sondern aus dem Erlass uneinbringlicher Schulden. Das ist nach den Regeln der OECD zwar erlaubt, doch schade das der Glaubwürdigkeit Österreichs und mache künftige Leistungen schwerer vorhersehbar. Bemängelt wird auch, dass der Anteil der Hilfe, die nicht an die Lieferung von Waren und Dienstleistungen aus Österreich gebunden sei, von 95 Prozent seit 2010 auf 77 Prozent gesunken sei. Das liegt unter dem OECD-Durchschnitt. Der Entwicklungsausschuss der OECD hat das Ziel, diese Art liefergebundene Hilfe möglichst abzuschaffen, weil sie weniger effizient ist als ungebundene Hilfe. Die ständigen Budgetkürzungen verschlechtern nach Ansicht der OECD-Experten auch die Fortbildung von Personal und schaden der technischen Expertise in der ADA. Die österreichische Entwicklungspolitik solle die Armutsreduzierung nicht aus den Augen verlieren, zudem müsse die Koordination zwischen den beteiligten Ministerien verbessert werden. Entwicklungspolitische Kohärenz werde zwar ständig betont, aber von anderen Ministerien, namentlich dem Finanzministerium, nicht beachtet. Auch die statistische Berichterstattung habe sich verschlechtert, was die Leistungen schwerer überprüfbar mache. Besonders lang ist die Liste von Aufgaben, die zwar angegangen, aber noch nicht zur Zufriedenheit der OECD erfüllt worden sind. Die Evaluierung etwa habe Fortschritte gemacht, Evaluierungsergebnisse würden aber nicht ausreichend umgesetzt. Die Maßnahmen der sogenannten Busan-Agenda für eine wirksamere Entwicklungszusammenarbeit müsse Wien konsequenter befolgen und sich in die in Busan zu diesem Zweck geschaffene globale Partnerschaft aus Regierungen, Zivilgesellschaft und Wirtschaft stärker einbringen. Geschlechtergerechtigkeit und Umweltschutz seien zwar auf dem Papier als Querschnittsthemen anerkannt, doch müsse sich auch das Personal dahinter stellen und ein ausreichendes Budget dafür bereitgestellt werden. Österreich tue auch zu wenig, um seine Stärken wie Zivilschutz bei Katastrophen zu einem echten Schwerpunkt der Auslandshilfe zu machen. Ralf Leonhard 9-2014 | kirche und ökumene journal kirche und ökumene Freikirchlicher Wildwuchs Burundi will die Gründung neuer Kirchen regulieren In Burundi sind in den letzten Jahren Hunderte von Freikirchen entstanden. Jetzt will der Staat mit einem Gesetz die Neugründung erschweren – auch aus politischen Gründen. Vor 20 Jahren gab es in Burundi 45 Konfessionen. Heute existieren in dem kleinen zentralafrikanischen Land von der Größe Brandenburgs mehr als 550 verschiedene Kirchen. Das Land ist keine Ausnahme in Afrika. Überall auf dem Kontinent mischen neue Freikirchen die religiöse Landschaft auf. Neu ist allerdings, dass ein Parlament mit einem Gesetz den willkürlichen Kirchengründungen einen Riegel vorschieben will. Einstimmig haben die Abgeordneten Anfang Juli eine Gesetzesvorlage verabschiedet, die von Priestern oder Pfarrern einen gewissen Bildungsgrad verlangt. Auch sollen neue Freikirchen erst nach einem Jahr Probezeit offiziell anerkannt werden und müssen mindestens 500 Mitglieder haben. Diese letzte Hürde verstößt nach Auffassung des Senats allerdings gegen die Religionsfreiheit, weswegen das Gesetz noch einmal im Parlament beraten werden muss. Dass das Parlament ein Gesetz zur Regelung von Kirchengründungen für nötig hält, hat verschiedene Gründe. Zum einen ist es in der Vergangenheit immer wieder zu teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Konfessionen oder mit Anwohnern gekommen. Viele der neuen Freikirchen, die oft selbst weder Ordnung noch Satzung kennen, praktizieren ihren Glauben in Wohnvierteln und das zum Teil sehr lautstark. Die burundische Zeitung „Iwacu“ berichtet beispielsweise von zahlreichen nächtlichen Ruhestörungen durch lang andauernde und laute Gottesdienste. Nach der Gesetzesvorlage müssen Kirchen künftig ein eigenes Gebäude vorweisen, in | 9-2014 dem die Gottesdienste stattfinden können. „Das hat auch einen Sicherheitsaspekt“, sagt Réginas Ndayiragije, der in Burundis Hauptstadt Bujumbura für die deutsche katholische Entwicklungshilfe-Organisation AGEH arbeitet. Es sei schwerer, eine Veranstaltung unter freiem Himmel zu kontrollieren als in einem geschlossenen Raum. Ndayiragije sieht bei vielen Kirchengründun- gen aber auch einen wirtschaftlichen Hintergrund. Die selbsternannten Priester oder Pfarrer verlangten von ihren Anhängern oft hohe Beiträge. „Eine Kirche zu gründen ist mittlerweile eine gute Möglichkeit, um schnell an viel Geld zu kommen“, sagt Ndayiragije. Sonst gebe es in Burundi nicht viele Möglichkeiten zum Geldverdienen. Die Regierung wolle mit dem neuen Gesetz aber nicht nur den religiösen Sektor regulieren, sondern auch mehr Kontrolle über die Bevölkerung haben, vermutet Ndayiragije. Burundi sei nach wie vor ein Land mit sehr begrenzter politischer Freiheit. Der Staat habe die Sorge, dass aus den kleinen Hauskirchen Orte werden, an denen politische Ideen diskutiert werden, die nicht mehr kontrollierbar seien. Katja Dorothea Buck kirche und ökumene Joint Venture der Tropenmedizin Akademie für Gesundheit und Entwicklung weitet Kursprogramm aus Wer als Arzt, Pfleger oder Pharmakologe in die Entwicklungshilfe gehen will, muss über Tropenkrankheiten und die Arbeitsbedingungen vor Ort Bescheid wissen. Die Akademie für Globale Gesundheit und Entwicklung (AGGE) bietet seit anderthalb Jahren Fortbildungen dazu an, neben Grundlagenkursen neuerdings auch „maßgeschneiderte“ Kurse. Ende 2012 haben das Missionsärztliche Institut Würzburg, das Deutsche Institut für Ärztliche Mission in Tübingen und das Institute of Public Health der Universität Heidelberg die Akademie offiziell gegründet. Auf ihrem gemeinsamen Internetportal lassen sich alle tropenmedizinischen Kurse der drei Institutionen auf einen Blick finden. Das Spektrum der AGGE umfasst momentan sowohl mehrwöchige Fortbildungen in Tropenmedizin, Labordiagnostik und im Management von Gesundheitsprojekten als auch vertiefende Wochenendseminare zu HIV/Aids oder Mutter-Kind-Gesundheit. Neben den Kenntnissen über Tropenkrankheiten erfahren die Ärzte, Pflegefachkräfte, Labortechniker und Public-Health-Experten, wie Patienten unter einfachen Bedingungen versorgt werden und ein funktionsfähiges Gesundheitssystem aufgebaut werden kann. 2013 wurden unter dem Dach der AGGE mehr als 30 verschiedene Kurse in Würzburg, Tübingen, Heidelberg oder direkt bei den jeweiligen Entsendeorganisationen durchgeführt. Die AGGE verfügt mittlerweile über eine Datenbank mit mehr als 50 Referentinnen und Referenten, die mehrjährige Praxiserfahrung in der Entwicklungshilfe haben und ein breites tropenmedizinisches Themenspektrum abdecken. Auch Fortbildungen zu weniger geläufigen Themen wie Augenheilkunde in den Tropen oder vernachlässigte Krankheiten wie Dengue-Fieber oder Schlafkrankheit können damit angeboten werden. Bei akuten Krisen wie jetzt bei der Ebola-Epidemie in Westafrika zeigen sich die Vorteile des tropenmedizinischen Joint Ventures deutlich. Bereits Anfang August veranstaltete die AGGE in Würzburg das erste Tagesseminar zu Ebola, weitere Termine seien für Herbst geplant, sagt Silvia Golembiewski, Koordinatorin bei der Akademie. Die Einschätzung eines Tropenmediziners aus Würzburg, der vor kurzem in Sierra Leone war, habe man gleich auf die Homepage der AGGE gestellt. Künftig will die Akademie stärker in die Betreuung von medizinischem Fachpersonal während des Einsatzes einsteigen und Rückkehrende bei der Auswertung unterstützen. „Wir gehen davon aus, dass in Zukunft mehr Kurzseminare insbesondere für Mediziner und Pharmakologen angefragt werden, die entweder bereits im Pensionsalter oder kurz davor sind und noch einmal etwas Neues machen wollen“, sagt Golembiewski. Katja Dorothea Buck 57 58 journal kirche und ökumene | global lokal kirche und ökumene Die Menschenrechte als Richtschnur Kirchliche Hilfswerke legen ihre Bilanzen vor Brot für die Welt hat 2013 im Vergleich zum Vorjahr sein Spendeneinkommen auf 55,8 Millionen Euro leicht erhöht. Misereor musste leichte Einbußen hinnehmen und kam auf Spenden in Höhe von 54,3 Millionen Euro. Die Präsidentin von Brot für die Welt, Cornelia Füllkrug-Weitzel, kritisierte bei der Vorstellung des Jahresberichtes in Berlin das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union (TTIP). Es könne die Existenz von Kleinbauern gefährden, sagte sie. Mit TTIP regelten EU und USA nicht nur den Handel untereinander, sondern indirekt auch ihren Handel mit Drittstaaten. Sie könnten damit verstärkt Druck auf Staaten außerhalb des Abkommens ausüben, ihren Schutz und ihre Förderung für die eigenen Märkte aufzugeben. Alle künftigen internationalen Handelsabkommen sollten eine Menschenrechtsklausel enthalten, um Vertragsbestimmungen auszusetzen oder zu ändern, die die Menschenrechte gefährden. Brot für die Welt hat laut eigenen Angaben im vergangenen Jahr seine Spendeneinnahmen gegenüber dem Vorjahr um rund 600.000 Euro auf 55,8 Millionen Euro erhöht. Insgesamt standen 263,4 Millionen Euro für Projekte in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa zur Verfügung. Neben Spenden und Kollekten (21,2 Prozent) stammt das Geld unter anderem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (46,6 Prozent) und dem Kirchlichen Entwicklungsdienst (24,9 Prozent). 2013 wurden weltweit 598 neue Projekte mit insgesamt 196,7 Millionen Euro bewilligt. Europa muss Flüchtlinge besser unterstützen Bei der Jahrespressekonferenz von Misereor forderte Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel in Bonn die EU und Deutschland dazu auf, mehr für Menschen zu tun, die vor Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat fliehen müssen. „Wir sind davon überzeugt, dass Deutschland 100.000 Flüchtlinge aufnehmen kann“, betonte er. Angesichts der Gewalt in Syrien, in Gaza und im Irak rief Spiegel zu Spenden für die Notleidenden auf. Insgesamt habe Misereor seit 2012 drei Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt. Zu den Programmen zählen unter anderem Unterricht für Flüchtlingskinder und die Betreuung traumatisierter Menschen. Das katholische Hilfswerk hat im vergangenen Jahr Einnahmen in Höhe von 179,3 Millionen Euro verzeichnet, im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang um 3,4 Millionen Euro. Die Spenden und Kollekten haben sich gegenüber 2012 um 3,9 Millionen Euro auf 54,3 Millionen verringert, die öffentlichen Mittel hingegen stiegen um 1,3 Millionen Euro auf 115,1 Millionen Euro. Misereor hat 2013 insgesamt 1342 Projekte in Afrika, Asien und Lateinamerika neu bewilligt. (gka) global lokal Ein Zeichen gegen Antisemitismus In Mannheim fordern Juden, Christen und Muslime gemeinsam Frieden in Nahost Die israelische Militäroffensive diesen Sommer im Gazastreifen hat in Deutschland zu Übergriffen auf Juden und zu antisemitischen Parolen bei Anti-Israel-Demonstrationen geführt. Mannheim zeigt, wie Städte ihre internationalen Kooperationen für ein Klima der Toleranz nutzen können. Mannheim hatte vor einer geplanten „Free Palestine“-Demonstration am 19. Juli in der Stadt mit einem Friedensappell ein Signal gegen Gewalt und Antisemitismus gesetzt. Die Stadt will auf beiden Seiten die Stimmen unterstützen, die sich für einen Dialog und eine friedliche Lösung aussprechen. Neben Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) und den Fraktionen von CDU, SPD und Grünen im Stadtrat haben die Jüdische Gemeinde sowie alle großen Moscheegemeinden und die christli- chen Kirchen in Mannheim den Aufruf unterzeichnet. Es sei nicht akzeptabel, wenn in Mannheim die eine oder andere Seite herabgewürdigt oder diffamiert werde, heißt es in dem Appell: „Hetzparolen oder rassistische Provokationen gegen einzelne Gruppen – gleich ob Juden oder Muslime, Palästinenser oder Israelis – treffen auf unseren schärfsten Widerspruch – erst recht jeder Aufruf zu Gewalt.“ Es ist schwierig, Verständnis aufzubringen Flagge zeigen: Ein junger Demonstrant lässt sich in Berlin die palästinensische Fahne auf das Gesicht pinseln. Jörg Carstensen/picture alliance/dPa Mannheim ist schon lange in der interkulturellen und interreligiösen Zusammenarbeit engagiert; das hat die Beteiligung jüdischer und muslimischer Vertreter an dem Friedensappell möglich gemacht. „Toleranz bewahren, zusammen leben“ ist eines von sieben strategischen Zielen, die die Stadtspitze zur Modernisierung 9-2014 | global lokal | personalia journal Mannheims ausgerufen hat. Dennoch war es nicht einfach, angesichts der Eskalation im Nahen Osten die verschiedenen Parteien von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Signals zu überzeugen, sagt David Linse, der Leiter des Fachbereichs Internationales, Integration und Protokoll in Mannheim. „Wir haben mit dem Friedensappell einen Grundkonsens erzielt, obwohl es angesichts der Umstände schwer ist, für die jeweils andere Seite Verständnis aufzubringen.“ Unter den Muslimen in Mannheim sei die Bestürzung über die vielen zivilen Opfer in Gaza groß. Aber die Imame riefen beim Freitagsgebet vor der „FreePalestine“-Demonstration in den Mannheimer Moscheen dazu auf, friedlich zu demonstrieren. In der Jüdischen Gemeinde habe es hef- Mannheim kann auf Kontakte nach Israel und in die palästinensischen Gebiete zurückgreifen. Die Stadt hat seit 2009 eine Partnerschaft mit Haifa und seit dem vergangenen Jahr eine Kooperationsvereinbarung mit Hebron, der größten Stadt in den palästinensischen Gebieten. Im März war Oberbürgermeister Peter Kurz in der Region und hat die Partnerkommunen besucht, beide jeweils für genau zwei Tage. In Haifa wird nicht gerne gesehen, dass Mannheim auch eine palästinensische Partnerstadt hat. Umgekehrt sind auch die Vertre- ter von Hebron alles andere als begeistert über die Verbindung der deutschen Partner mit der israelischen Hafenstadt. Jetzt haben die Ereignisse Mannheim auch direkt getroffen: Ein für Ende Juni geplanter Besuch palästinensischer Wirtschaftsfachleute in Deutschland musste verschoben werden, weil die israelische Militärverwaltung nach dem Mord an drei israelischen Talmud-Schülern eine 14-tägige Ausreisesperre für den gesamten Großraum Hebron verhängt hatte. Der Besuch soll im Herbst nachgeholt werden. Die Demonstration am 19. Juli in Mannheim indes verlief friedlich. Rund 3000 Bürger protestierten gegen die israelische Offensive in Gaza. Die überwiegend türkischen Organisatoren des Protestes hatten zu Beginn der Demonstration nochmals gebeten, auf Beleidigungen und Gewalt zu verzichten. Ob es antisemitische Parolen gab oder nicht, wird in den sozialen Netzwerken kontrovers diskutiert. David Linse ist aber mehr denn je davon überzeugt, dass die Beziehungen zu beiden Seiten des Dauerkonflikts Sinn machen. Es schärft die Sensibilität für die jeweiligen Sichtweisen der Konfliktparteien und dient so dem friedlichen Zusammenleben in einer multikulturellen Stadt. Außerdem wolle Mannheim die gemäßigten Kräfte auf beiden Seiten stärken, sagt Linse. „Jetzt dominieren die Scharfmacher die Diskussion. Für Kräfte, die den Frieden wollen, ist es schwierig.“ Aber genau diese Kräfte werden dringend gebraucht. kam 2003 zur KAS als Leiter der Arbeitsgruppe Innenpolitik in der Hauptabteilung „Politik und Beratung“. Von Dezember 2003 bis Mitte 2014 war Borchard Leiter dieser Hauptabteilung. na. Der bisherige Regionalleiter, Ronald Meinardus, ist in gleicher Funktion an das Regionalbüro „Südostasien“ in Neu-Delhi, Indien, gewechselt. René Klaff war zuvor dreieinhalb Jahre Leiter des Büros in Sofia, Bulgarien. Interimsleiter des Regionalbüros „Zentral-, Ost- und Südosteuropa, Südkaukasus und Zentralasien“ (CESE) in Sofia ist bis auf weiteres Charles du Vinage. tige Diskussionen gegeben, aber am Ende habe sich niemand dem Ansinnen der Stadt entzogen, sagt Linse. Wirtschaftsfachleute aus Hebron werden erwartet Claudia Mende personalia Menschen für Menschen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Die von dem kürzlich verstorbenen Schauspieler Karlheinz Böhm vor mehr als 30 Jahren gegründete Hilfsorganisation für Äthiopien hat die beiden bisherigen Geschäftsführer, Peter Renner und Peter Schaumberger, in den Vorstand berufen. KfW-Entwicklungsbank Zum 1. August hat die KfW mehrere Büroleiterposten neu besetzt: In Ouagadougou, Burkina Faso, ist Rebekka Edelmann die neue Vertreterin. Birte Schorlemmer leitet jetzt das Büro in Accra, Ghana. In Lusaka, Sambia, ist Stephan Albrecht der neue Repräsentant der Entwicklungsbank. Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Seit August leitet Michael Borchard das Büro der Stiftung in Jerusalem. Der Politologe | 9-2014 Das Büro in Douala, Kamerun, leitet seit Juli Susanne Stollreiter. Ihr Vorgänger Denis Tull verlässt die FES und kehrt zur Stiftung Wissenschaft und Politik nach Berlin zurück. In Kolumbien wurde Lothar Witte neuer Repräsentant der FES. Er löst Hans Matthieu ab, der demnächst nach Mexiko wechselt. Das regionale Medienprojekt in Namibia wird jetzt von Sarah Natalie Brombart geleitet. Ihre Vorgängerin Mareike Le Pelley wird nach Uganda versetzt. Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit René Klaff ist seit Anfang August neuer Leiter des Regionalbüros „Mittelmeerländer“ der Stiftung in Kairo, Ägypten. Das Büro ist zuständig für Ägypten, Tunesien, Marokko, Algerien, Jordanien, die Türkei sowie Israel und Palästi- Mani Stenner ist tot Der langjährige Geschäftsführer des Netzwerkes Friedenskooperative, Mani Stenner, erlag Ende Juli im Alter von 60 Jahren einem Herzinfarkt. Er war über 25 Jahre der zentrale Koordinator der Friedensbewegung in Deutschland. In Bonn hat er mit dem „Bonner Forum für BürgerInnen und Polizei“ eine deeskalierende Strategie für problematische Demonstrationen entwickelt. Sie wurde als „Bonner Modell“ bundesweit bekannt. Stenner setzte sich stets für die Nutzung ziviler statt militärischer Mittel ein und kämpfte unter anderem für die Rechte von Flüchtlingen sowie gegen Rechtsextremismus, Rüstungsexporte und Atomwaffen. „Mani war ein Realist, der jedoch unermüdlich für seine Ideale eintrat. Wir haben einen wichtigen, absolut verlässlichen Bündnispartner und klugen Mitstreiter verloren“, sagte Werner Rätz von Attac Deutschland in einem Nachruf. 59 60 service filmkritik filmkritik Kein Entkommen Der kurdische Regisseur Hisham Zaman widmet seinen ersten langen Spielfilm dem Thema Ehrenmord: Eine Verfolgungsjagd quer durch Europa. Der Junge Syiar Norwegen/ Deutschland/ Irak, 2013 105 Minuten, Kinostart: 11. September 2014 Er wird in Plastikfolie eingewickelt, von Kopf bis Fuß. Atmen kann er nur durch einen schmalen Riss über dem Mund. Im Bauch eines Tanklasters gelangt Siyar über die irakisch-türkische Grenze. Dann schlägt er sich nach Istanbul durch, wo er in einer schäbigen Pension unterkommt. In der Rückblende wird der Grund für seinen Aufbruch aus dem Dorf im kurdischen Norden des Irak erzählt: Seine ältere Schwester hat sich geweigert, einen einflussreichen Mann aus dem Nachbardorf zu heiraten. Sie ist mit ihrem Liebsten geflohen. Der 16-jährige Siyar, seit dem Tod seines Vaters das Familienoberhaupt, muss sie töten, um die Familienehre wiederherzustellen. Der Clan des enttäuschten Bräutigams hilft ihm dabei – und sein Einfluss reicht weit: von Istanbul über die türkisch-griechische Grenze bis in die norwegische Hauptstadt Oslo. Der Film begleitet Siyar auf seiner Odyssee. Bereits in Istanbul hätte sie zu Ende sein können, dort trifft er seine Schwester, ent- schlossen, sie umzubringen, doch sie kann ihm entwischen. So muss er weiter – der enorme soziale Druck, seine Pflicht zu tun, lastet schwer auf ihm und treibt ihn gleichzeitig an. Dann lernt er das Straßenmädchen Evin kennen und ganz allmählich vollzieht sich ein Wandel. Siyars finstere Miene hellt sich auf, sie freunden sich vorsichtig an. Gemeinsam begeben sie sich auf den gefährlichen Weg nach Europa – auf dem Siyar einen folgenschweren Fehler macht, um Evin zu retten. Der Filmemacher Hisham Zaman, der im Irak geboren wurde und in Norwegen lebt, erzählt Siyars Geschichte in eindrucksvollen Bildern. Die Dialoge sind knapp, oft schroff, vieles spielt sich zwischen den Zeilen ab. Vor allem die beiden jungen Hauptdarsteller überzeugen: Ihr Spiel macht den Film anrührend und erschütternd, aber nie rührselig oder banal. Der Film hält seine Spannung bis zum Schluss. Hisham Zaman zeichnet ein differenziertes Bild von todbringenden Traditionen, sozialen Regeln und Clan-Bindungen, denen der Einzelne kaum etwas entgegensetzen kann. Das ist der düstere Befund dieses sehenswerten Films. Gesine Kauffmann Spannende Geschichtsstunde Die Grenzen, die die Kolonialmächte oft willkürlich durch Afrika zogen, haben sich lange auf das politische Gefüge des Kontinents ausgewirkt. Der schwedische Filmemacher Göran Hugo Osson blickt zurück auf den Kampf der Befreiungsbewegungen. Concerning Violence. Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence Schweden/USA/Dänemark/Finnland 2014, 91 Minuten, Kinostart: 18. September 2014 Sein mosaikartiger Dokumentarfilm befasst sich mit der Geschichte der afrikanischen Befreiungsbewegungen und der Nationen-Bildung in den 1960er und 1970er Jahren. Wie in seinem aufsehenerregenden Vorgängerfilm „The Black Power Mixtape 19671975“ (2011) hat der erfahrene Dokumentarist TV-Reportagen, Interviews und Dokumentarfilme aus dem Archiv des schwedischen Fernsehens für eine detailreiche historische Rückschau zusammengetragen. Das Besondere: Olsson kombiniert die teils unbekannten Fundstücke mit Auszügen aus dem Buch „Die Verdammten der Erde“ des französischen Psychiaters, Schriftstellers und Politikers Frantz Fanon, der 1925 in Fort-de-France auf Martinique geboren wurde und als Vordenker der Entkolonialisierung gilt. Fanon starb 1961 mit 36 Jahren in den USA an Leukämie. In derselben Woche erschien sein Hauptwerk „Die Verdammten der Erde“, das in Frankreich sofort verboten und beschlagnahmt wurde. Darin rechtfertigt er in klaren Worten die Gewalt der Unterdrückten gegen die Gewalt der Kolonialherren. Olssen lässt zentrale Passagen der umstrittenen Schrift von der Musikerin Lauryn Hill einlesen, die als Lead-Sängerin der Popband „Fugees“ bekannt wurde. Die 1975 geborene Amerikanerin und erste fünffache Grammy-Gewinnerin bildet die Brücke zu einem jüngeren Publikum, das den Kolonialismus nur noch aus dem Geschichtsunterricht kennt. Zusätzlich zu ihrer engagierten Präsentation auf Englisch werden einige der provokanten Postulate Fanons eingeblendet, was dem Filmessay streckenweise den Charakter eines Thesenfilms verleiht. Olssen präsentiert in neun Kapiteln Filmdokumente aus den Jahren 1966 bis 1984, die den Befreiungskampf unter anderem in Angola, Mosambik, Rhodesien und Guinea-Bissau beschreiben. Dazu kommt eine scharfsinnige Reportage über einen niedergeschlagenen Streik in einer schwedischen Mine in Liberia und ein Interview mit einem schwedischen Missionarspaar in Tansania, das durch kluge Fragen mehrfach ins Schlingern gerät. Der Film liefert leider keine historischen Hintergründe mit. Für den Einsatz in der Bildungsarbeit empfiehlt sich deshalb eine Einführung in die Thematik. Olssen verzichtet auch auf einen Off-Kommentar zu den Thesen Fanons, so dass sich die Zuschauer eine eigene Meinung bilden müssen. Lohnenswert sind seine Fundstücke allemal: Etwa wenn der junge Robert Mugabe Propagandasprüche deklamiert oder Thomas Sankara, der rhe- 9-2014 | rezensionen service torisch hochbegabte sozialistische Offizier und Präsident Burkina Fasos, die Schattenseiten der westlichen Entwicklungshilfe analysiert. Die emotional stärkste Szene enthält der Bericht über den Krieg der Befreiungsbewegung Frelimo gegen die Kolonialherrschaft in Mosambik 1972: Eine junge Mutter, der man einen Arm abgehackt hat, stillt ihr Baby. Der Film hat den Preis „CINEMA fairbindet“ erhalten, den das Bundesentwicklungsministerium seit 2011 im Rahmen der Berlinale vergibt. Die Auszeichnung beinhaltet den Verleih und die bundesweite Roadshow des Films. Geplant sind Veranstaltungen in mehr als 20 deutschen Städten. Reinhard Kleber rezensionen Das Böse siegt Der beninische Autor Ryad Assani-Razaki schickt zwei Jungen auf die Reise durch ein hartes Leben. Das liest sich spannend, steuert aber auf ein allzu düsteres Ende zu. Ryad Assani-Razaki Iman Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014, 320 Seiten, 22,90 Euro Zu den reizvollsten Charakteren in Büchern und Filmen gehören die, die Gutes und Schlechtes in sich vereinen. Sie beschützen andere, helfen, zeigen Empathie. Und sie setzen trotzdem rücksichtslos ihren Willen durch. Der beninische Schriftsteller Ryad Assani-Razaki verleiht seinen Protagonisten eine solche Ambivalenz. Der Autor erzählt von Toumani, der als Kind von seinen Eltern verkauft und als Haussklave misshandelt wird. Mehr tot als lebendig ist er, als Iman ihn findet und ihm von da an ein guter Freund ist in einem harten Leben einer namenlosen afrikanischen Großstadt. Nun sind die beiden unterwegs als Kleinkriminelle ohne Perspektive. Iman, der einen unbekannten französischen Vater hat, sieht schließlich nur noch die Flucht in die Festung Europa als Ausweg. Der Roman hat in den vergangenen Monaten positive und teilweise begeisterte Kritiken bekom- men. Spannend sind die anfänglichen Kapitel, in denen sich der Autor seinen Protagonisten über den Umweg der Eltern und ihrer nicht weniger verzweifelten Biografien nähert. Hier beeindruckt etwa, wie unterschiedlich eine streng gläubige muslimische Mutter und ihre Tochter das Leben der Mutter bewerten. Dabei ist „Iman“ von Anfang an eine Geschichte der Gewalt: Schläge, Tritte, unappetitliche Wunden, Beleidigungen, Demütigungen und Hass schüttet der Autor über seinen Figuren aus. Und er macht eindringlich auf die Lage der Millionen Armen in Afrikas Slums aufmerksam, auf Unfreiheit, fehlende Perspektiven, Leben im Elend. Zum Ende hin mag man den Protagonisten allerdings einige Gedanken und Handlungen nicht mehr so recht abnehmen. Es scheint, als wiege für den Autor ein unausweichlich düsteres Ende schwerer als die einzelne Figur. Hoffnung gibt es am Ende keine mehr, bei Toumani und Iman siegen Egoismus und Misstrauen. Das macht ein wenig traurig, denn die Freundschaft der beiden war bis dahin das einzige, das in diesem Buch Mut gemacht hat. Felix Ehring Nur Langeweile ist verboten Autorinnen und Autoren aus Lateinamerika erzählen wahre Geschichten aus ihren Ländern. Ihre Reportagen liefern ein erfrischend vielfältiges Bild des Kontinents. Carmen Pinilla, Frank Wegner (Hg.) Verdammter Süden Das andere Amerika Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014 315 Seiten, 20 Euro | 9-2014 Anthropologische Forensiker suchen nach verschwundenen Opfern der argentinischen Militärdiktatur, Migranten aus Zentralamerika versuchen verzweifelt, in die USA zu gelangen, ein Grundschullehrer in der kolumbianischen Provinz betreibt eine mobile Leihbibliothek auf Eselsrücken und versorgt seine ABC-Schützen mit Literatur. Diese und ein Dutzend weiterer wahrer Geschichten liefert der vorliegende Reportage-Band, in dem eine junge Generation lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren überraschende Einblicke in die Gesellschaften ihrer Länder gewährt. Die literarischen Reportagen, in Lateinamerika „crónicas“ genannt, sind unterhaltsam, investigativ, kritisch und hochpolitisch. Die crónica ist wie das cuento (Erzählung) eine spezielle Gattung der hispanischen Literatur. Ihre Historie reicht von den Chroniken der spanischen Eroberer über die Sittengemälde des späten 19. Jahrhunderts bis zu den literarischen Reportagen der modernen lateinamerikanischen Klassiker Gabriel García Márquez, Elena Poniatowski und Eloy Martínez. Die Chronik ist „eine Erzählung, die wahr ist“, erklärte ihr Altmeister García Márquez, „eine literarische Rekonstruktion von Ereignissen oder Personen, bei der die Form die Information dominiert“, sagt der mexikanische Journalist Carlos Monsiváis. Alle Themen sind erlaubt, die Leserinnen und Leser werden sie konsumieren – vorausgesetzt, sie werden kurzweilig präsentiert. Um das zu gewährleisten, setzen Autorinnen wie die Argentinierin Leila Guerriero und die Mexikanerin Marcela Turati auf außer- 61 62 service rezensionen ßergewöhnliche Blickwinkel, um mit ihren Reportagen über die Vergangenheitsbewältigung in Argentinien oder das Stranden junger Mittelamerikaner in der Wüste Arizonas die Leserinnen und Leser zu ködern. „Verdammter Süden“ liefert ein umfassendes Bild der literarisch-journalistischen Produktion der vergangenen Jahre. 13 Autorinnen und Autoren berichten von erstaunlichen Begebenheiten, seltsamen Zuständen, extremen Situationen und Landschaften oder überraschenden Personen. Sie schreiben meist für Zeitschriften, die auf Chroniken spezialisiert sind, etwa „SoHo“ und „Malpensante“ in Kolumbien, „Gatopardo“ in Mexiko oder „Orsái“ in Argentinien. Vor allem in diesen drei Ländern boomt die crónica, von dort stammen die meisten Beiträge. Oft geht es um Gewalt, Migration, das Bandenwesen und die Jugendkriminalität. Aber die positiven Geschichten kommen nicht zu kurz: Reportagen über außergewöhnliche Menschen, das Überleben bewährter Traditionen oder erfrischenden Erfindungsreichtum machen den Charme des Buches aus. Die Auswahl der Herausgeber spiegelt die Vielfalt des Subkontinentes wider und korrigiert unser oft etwas zu negatives Lateinamerikabild. Klaus Jetz Mit Macht für die Menschenrechte? Menschenrechtsschutz gehört zu den Kernaufgaben der Vereinten Nationen. Doch deren aufwendiges System bewirke wenig, schreibt die Politikwissenschaftlerin Emilie Hafner-Burton. Emilie M. Hafner-Burton Making Human Rights a Reality Princeton University Press, Princeton und Oxford 2013, 276 Seiten, ca. 19,85 Euro Der UN-Menschenrechtsrat und zahlreiche Komitees, die sich zum Beispiel mit Folter, Kinder- oder Frauenrechten befassen, lassen sich von den Mitgliedstaaten berichten, was sie für den Schutz der jeweiligen Rechte tun. Sonderberichterstatter werden entsandt, nichtstaatliche Organisationen (NGOs) angehört. Hafner-Burton hält den internationalen Menschenrechtsschutz für eine wichtige Errungenschaft, diagnostiziert aber eine Art Lähmung durch Überdehnung. So würden immer mehr detaillierte Normen festgeschrieben wie Rechte auf Nahrung oder Wohnraum – verbunden mit zusätzlichen Überwachungsgremien, denen die Staaten Berichte vorlegen sollen. Das überfordere auch gutwillige Regierungen und verschlimmere den Mangel an Geld und Personal im System. Zugleich sollen sich möglichst viele Staaten an allen Menschenrechtspakten und Gremien beteiligen. Dieser universale Ansatz führt laut Hafner-Burton dazu, dass die größten Übeltäter in den Kontrollgremien sitzen und sich gegenseitig vor Kritik schützen. Gerade Staaten, die am stärksten die Menschenrechte verletzen, stünden in den UN daher am seltensten am Pranger. Das alles untergrabe die Legitimität des Systems. Die Beachtung der Menschenrechte lasse sich selten international erzwingen, schreibt Hafner-Burton, Gesellschaften müssten vom Wert dieser Rechte überzeugt werden. Da helfe es nicht, wenn immer neue Normen verkündet, aber viele nicht eingehalten werden. Statt das System auszuweiten, solle man sich darauf konzentrieren, mit den verfügbaren Mitteln besonders wichtige Rechte besser zu schützen. Doch auch ein reformiertes UN-System hätte nur begrenzte Wirkung. Hafner-Burton zeigt, dass internationale Normen vor allem Staaten beeinflussen, in denen Demokratisierungsprozesse begonnen haben. Die schlimmsten Rechtsverletzungen finden aber nicht dort statt, sondern in Kriegen, Diktaturen und sehr armen Ländern. Dort sei der UN-Menschenrechtsschutz am nötigsten – und helfe wenig. Hafner-Burton hält deshalb „steward states“ für entscheidend. Darunter versteht sie Staaten wie europäische Länder und die USA, die ihre Macht außenpolitisch zur Förderung der Menschenrechte einsetzen. Sie fordert, dass sie dies künftig stärker, besser abgestimmt und auf der Basis von langfristigen Strategien tun. Dabei sollten sie mit örtlichen NGOs zusammenarbeiten, die die Menschenrechte in den lokalen Kontext übersetzen und die „stewards“ anleiten, diesen Kontext zu berücksichtigen. In der Zusammenarbeit von NGOs und Staaten für die Menschenrechte liegt in der Tat eine Chance. Auf manche Gefahren dieser Allianzen weist HafnerBurton selbst hin – etwa dass Menschenrechtsgruppen, statt die Geldgeber im Ausland anzuleiten, sich umgekehrt an deren Interessen ausrichten und Glaubwürdigkeit verlieren. Ihr ist auch klar, dass „steward states“ nur da für Menschenrechte eintreten, wo es ihrem nationalen Interesse entspricht; NGOs sollten das wissen und nutzen. Nur können stattdessen große Staaten die NGOs benutzen und sie diskreditieren – umso mehr, als Staaten wie die USA im „Krieg gegen den Terror“ zum Beispiel das Verbot der Folter selbst aufgeweicht haben. Es überrascht, dass Hafner-Burton sie dennoch wie selbstverständlich für Anwälte der Menschenrechte hält. Gerade da, wo Großmächte starke eigene Interessen verfolgen, werden Menschenrechte oft sekundär. Hafner-Burton führt Ergebnisse aus mehreren Fächern zusammen. Ihr Buch ist verständlich und lesbar, aber unnötig lang – ständig werden frühere Argumente zusammengefasst und der Fortgang skizziert. Statt eines Literaturverzeichnisses gibt es nur Endnoten, so dass man sich in den zahlreichen Nachweisen schwer zurechtfindet. Das wichtige Buch arbeitet jedoch schwierige Fragen heraus, denen sich Menschenrechts-Aktivisten stellen müssen – auch wenn die Empfehlungen der Autorin nicht restlos überzeugen. Bernd Ludermann 9-2014 | 63 Jetzt chrismon plus gratis testen! chrismon plus – Das evangelische Magazin bietet Ihnen jeden Monat: Geschichten über Menschen in außergewöhnlichen Situationen, hintergründige Reportagen, fundierte Kommentare. chrismon plus ist: unterhaltsam, informativ und dialogfreudig. chrismon plus regt an: zum Nachdenken, Weiterdenken und Miteinanderreden. Bestellen Sie gleich Ihr Probeheft – kostenlos und unverbindlich. Gleich bestellen: Post: Einfach den Coupon ausfüllen und abschicken an: chrismon-Leserservice, Postfach 500550, 60394 Frankfurt ✔ Ja, ich bestelle das kostenlose Probeheft Name | Vorname E-Mail: [email protected] Telefon: 0800 / 758 75 37 (gebührenfrei) Fax: 069 / 580 98 - 226 | 9-2014 Straße | Hausnummer PLZ | Ort Datum | Unterschrift 64 service rezensionen Fenster nach Afrika Dies ist ein ungewöhnliches Buch: 40 afrikanische Autoren und Autorinnen porträtieren selbst gewählte afrikanischen Persönlichkeiten aus Gegenwart und Vergangenheit. So entsteht ein Kaleidoskop vielfältiger Lebenswege. M. Moustapha Diallo (Hg.) Visionäre Afrikas. Der Kontinent in ungewöhnlichen Porträts Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2014 366 Seiten, 29,90 Euro Der Herausgeber Moustapha Diallo ist ein Publizist und Wissenschaftler aus dem Senegal, der in Deutschland lebt. Alle Autoren und Autorinnen des Bandes haben sich als Schriftsteller bereits einen Namen gemacht. Das Besondere an dem Konzept des Buches – die Autoren haben die Protagonisten ihrer Porträts selbst gewählt – führt zu einer zufälligen Auswahl, die aber gewollt ist. Auf diese Weise werden Menschen in den Vordergrund gestellt, die aus afrikanischer Sicht Bemerkenswertes geleistet haben. Das verleiht der Auswahl eine selten erreichte Authentizität. Die Abfolge der Texte macht den Leser mit Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern bekannt: Musik, Kunst, Literatur, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Frauenrechte, Umweltschutz, antikolonialer Widerstand, aber auch Auflehnung gegen nachkoloniale staatliche Willkür. Es ist ein Lesebuch im besten Sinn des Wortes, das man immer wieder aufschlagen kann, um Einblicke in neue spannende Facetten der Lebenswelt Afrikas zu gewinnen. Für alle an Afrika Interessierte wird es eine Quel- le vielfältiger Neuentdeckungen sein – und Afrikakenner werden Personen kennenlernen, die ihnen bis dahin unbekannt waren. Neben international bekannten Afrikanerinnen und Afrikanern stehen „Helden des Alltags“. Zu Ersteren zählen etwa Fela Kuti, Musiker, Erfinder des Afrobeat und politischer Rebell in Nigeria sowie Wangari Maathai aus Kenia, die gegen Widerstände für Frauenrechte und den Schutz der Umwelt eintrat und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Zu Letzteren gehören Youssouf Tchatchédré aus Togo, der nach Abschluss seines Studiums in sein Dorf zurückkehrt und mit seinen Projekten Kinder und Jugendliche fördert, sowie Sophia Kawawa, Mutter und in der tansanischen Frauenbewegung aktiv, die über Jahre für bessere Bildungschancen für Frauen eintrat. Auch an historische Personen wird erinnert, etwa an Yennenga, Königstochter und Amazone, deren Leben im frühen Mittelalter zum Gründungsmythos des Mossi-Volkes in Burkina Faso gehört. Es ist unmöglich, allen Beiträgen hier gerecht zu werden. Jedes Porträt eröffnet ein neues Fenster zu einem weiteren Aspekt der vielfältigen gesellschaftlichen Realitäten Afrikas. Nur die eigene Lektüre kann die Vielfalt in ihrer Gesamtheit erschließen. Diesem informativen und lehrreichen Band sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Peter Meyns kurzrezensionen Mensch und Umwelt Ende November stimmen die Schweizer über eine Volksinitiative des Vereins Ecopop ab. Er will die Umwelt durch eine Verringerung der Bevölkerungszahl schützen – die Schweiz soll eine strenge Zuwanderungsbeschränkung erlassen und sich außerdem dazu verpflichten, zehn Prozent der staatlichen Entwicklungshilfe für die Geburtenkontrolle einzusetzen. Die Initiative hat eine Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen. Zu ihnen gehört Balthasar Glättli, Nationalrat und Fraktionspräsident der Grünen. Gemeinsam mit seinem Co-Autor Pierre-Alain Niklaus nutzt er die aktuelle Debatte für eine Auseinandersetzung mit der Umweltbewegung und ihren ideologischen Ausprägungen. Umweltpolitik müsse die Emanzipation und Selbstbestimmung des Menschen fördern, betonen Glätt- li und Niklaus. Sie analysieren die „menschenfeindlichen Denktraditionen“ bevölkerungspolitisch orientierter Ökologen und verfolgen deren Wurzeln bis zu Thomas R. Malthus und Paul Ehrlich. Sie zeigen mit Hilfe von Gastautorinnen und –autoren, warum die Strategien der Bevölkerungspolitiker die Welt nicht umweltfreundlicher gemacht haben. Zum Schluss plädieren sie für technische Innovationen, eine gerechte Nutzung globaler Güter und Suffizienz als eine andere Art von Wohlstand, um die Zukunft nachhaltig zu gestalten. Das ist nicht neu – aber die kritische Reflexion der Vermischung von Umwelt- und Bevölkerungspolitik ist lesenswert. Nicht nur für die Schweizer. (gka) Balthasar Glättli, Pierre-Alain Niklaus Die unheimlichen Ökologen Rotpunktverlag, Zürich 2014, 176 Seiten, 19,90 Euro Anleitung zum Ungehorsam Die jüngere Geschichte der gewaltfreien Demokratiebewegungen erzählt die Dokumentation „Everyday Rebellion“. Zu Wort kommen Protagonisten aus aller Welt: Die hippen Großstadtkrieger der Occupy-Bewegung, die wütenden Indignados in Spanien, die Oben-Ohne-Aktivistinnen von Femen, die liberalen Protestsprayer des ägyptischen Frühlings. Das verbindende Element sind die kreativen Taktiken des Widerstands und die Entstehung neuer kollektiver Bewegungen – an ihnen ist der Film ganz nah dran. Auch das Schicksal der Oppositionellen in ihrer iranischen Heimat verfolgen die beiden Filmemacher Arash und Arman T. Riahi und zeigen, wie der Widerstand nach den blutigen Protesten 2009 im Untergrund leise aber beharrlich fortbesteht. Die zentrale Botschaft des Films lautet: Der gewaltfreie Widerstand ist nicht nur ethisch überlegen sondern auch wirksamer. Das klingt gut, aber die Entwicklungen in Ägypten oder noch mehr in Syrien zeigen, wie schwer oder unmöglich das in der Praxis sein kann. Wann schlägt der friedliche Protest in Gewalt um? Und welche Verantwortung tragen die Protestler dafür? Für die Ursachenforschung und die kritische Distanz zu den Protagonisten ist im Film wenig Raum. Es bleibt ein bildstarker und geschickt montierter Lehrfilm über den gewaltfreien Protest zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Weiteres Material liefert das ständig aktualisierte Portal www.everydayrebellion.net. (sdr) Everyday Rebellion Schweiz, Österreich, 2013 111 Minuten Kinostart: 11. September 2014 9-2014 | termine service tv-tipps termine – veranstaltungen 19. bis 21. September 2014 Doch zu kurz gesprungen? Ökumenische Sozialinitiative der Kirchen auf dem Prüfstand Evangelische Akademie Baden Kontakt: Tel. 0721-9175-361 www.ev-akademie-baden.de Bonn 26. bis 27. September 2014 Abhören, überwachen, spionieren Haben Daten- und Persönlichkeitsschutz im digitalen Zeitalter noch eine Chance? Evangelische Akademie im Rheinland Kontakt: Tel. 0228-9523204 www.ev-akademie-rheinland.de Frankfurt am Main 26. bis 27. September 2014 Afrika-Konferenz Afrika neu denken Bilder – Macht – Interessen Trägerkreis Afrika-Konferenz Kontakt: Tel. 06221-4333617 www.afrika-im-zentrum.de Kochel am See 15. bis 19. September 2014 Afrika südlich der Sahara Verantwortung Europas angesichts von Staatsversagen und Demokratisierungsversuchen 19. bis 21. September 2014 Für Frauenrechte, Brot und Frieden Zur Geschichte der Frauenbewegung von ihren Anfängen bis heute Georg-von-Vollmar-Akademie Kontakt: Tel. 08851-780 www.vollmar-akademie.de Münster 29. bis 30. September 2014 Migration nach Deutschland gerecht gestalten Akademie Franz Hitze Haus Kontakt: Tel. 0251-98180 www.franz-hitze-haus.de Tutzing 18. bis 19. September 2014 Resilienz und Verwundbarkeit 10. bis 11. Oktober 2014 Reif für die Wachstumswende? Evangelische Akademie Tutzing | 9-2014 Kontakt: Tel. 08158-251146 www.ev-akademie-tutzing.de Wittenberg 29. September bis 1. Oktober 2014 Gerechter Frieden in Ostasien Pilgerschritte auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt Kontakt: Tel. 03491-49880 www.ev-akademie-wittenberg.de Würzburg 17. bis 19. September 2014 Über die Arabellion hin zu funktionierenden Demokratien? Dienstag, 16. September 17:15-17:45, Phoenix Die Propagandaschlacht um die Gentechnik. Wie Politik und Verbraucher manipuliert werden. Die Reportage gewährt einen Einblick in umstrittene Lobbykampagnen. Die Reporter untersuchen in Deutschland, Europa, USA und Südamerika, ob die Versprechen der Gentechnik gehalten werden – oder nicht. Freitag, 26. September 22:50-23:45, ARTE Irbo, der Imker. 6. bis 10. Oktober 2014 Lebensquelle und Menschenrecht Wasser Akademie Frankenwarte Kontakt: Tel. 0931-80464-0 www.frankenwarte.de Schweiz Engelberg 15. bis 17. Oktober 2014 13. Wissenschaftsdialog Nahrungssicherheit/Food Security Academia Engelberg Kontakt: Tel. 0041(0)41-6017520 www.academia-engelberg.ch © Frame-Film Bad Herrenalb Die Dokumentation erzählt das berührende Schicksal des Bienenzüchters Ibrahim Gezer. Die Wirren des türkisch-kurdischen Krieges haben ihm alles genommen: seine Frau und seine Kinder, seine Heimat Impressum Redaktion: Bernd Ludermann (bl, verantw.), Tillmann Elliesen (ell), Gesine Kauffmann (gka), Sebastian Drescher (sdr, Volontär) Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main; Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162 E-Mail: [email protected] Ständige Mitarbeitende: Kathrin Ammann (kam), Bern; Katja Dorothea Buck (kb), Tübingen; Heimo Claasen (hc), Brüssel; Ralf Leonhard (rld), Wien; Claudia Mende (cm), München; Theodora Peter (tp), Bern; Rebecca Vermot (ver), Bern; Marina Zapf (maz), Berlin und mit über 500 Bienenvölkern auch die Lebensgrundlage. Geblieben ist ihm nur seine Liebe zu den Bienen und das unerschütterliche Vertrauen in den einzelnen Menschen, egal welcher Herkunft. radio-tipps Freitag, 12. September 23:05-23:30, hr2 ARD Radiofestival 2014. Der Schriftsteller Ilija Trojanow im Gespräch mit Frank Meyer. Trojanow hat sich über die schöne Literatur hinaus immer wieder eingeschaltet in Debatten: über Sicherheitswahn und Überwachungsstaat, über Sozialstaat und Teilhabe. Und er schreibt über die Schattenseite des materiellen Überflusses: überflüssige Menschen. Sonntag, 28. September 20:05-21:00, DLF Freistil. Höher, breiter, schneller, weiter? Vom Wachstum auf Gedeih und Verderb. Weitere TV- und Hörfunk-Tipps unter www.welt-sichten.org www.welt-sichten.org Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt/Engagement Global gGmbH. Anzeigenleitung: Yvonne Christoph, m-public Medien Services GmbH, Zimmerstraße 90, 10117 Berlin, Telefon: 030-325321-433, www.m-public.de Grafische Gestaltung: Angelika Fritsch, Silke Jarick Druck: Strube Druck&Medien OHG, Stimmerswiesen 3 34587 Felsberg Ansprechpartner in Österreich: Gottfried Mernyi, Kindernothilfe Österreich, 1010 Wien, Dorotheergasse 18 Verlegerischer Dienstleister: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH, Frankfurt am Main Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP), Hans Spitzeck (Vorsitzender), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, CarolineMichaelis-Straße 1, 10115 Berlin Preis der Einzel-Nr.: 5,20 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten Preis im Jahresabonnement: 47,40 Euro, ermäßigt 35,55 Euro. Preisänderungen vorbehalten. Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), Christoffel-Blindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern), Kindernothilfe (Duisburg), Misereor (Aachen) ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“ und „eins Entwicklungspolitik“. ISSN 1865-7966 „welt-sichten“ 65 66 service termine termine – kulturtipps Faszinierende Naturgewalten Spektakuläres Schauspiel: Reisende beobachten den Ausbruch des Vesuvs. Gemälde von Pierre-Jaques Volaire von 1771. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis oder Stürme: Die zerstörerische Gewalt der Natur hat die Menschen schon immer fasziniert. Die Mannheimer Reiss-Engelhorn- Freiburg Museen widmen den Katastrophen der Weltgeschichte eine Sonderausstellung. Sie schildert Auslöser, Folgen und Reaktionen. Ausgangspunkt der Schau ist das Hamburg Inselreich Atlantis, von dessen Untergang der griechische Philosoph Platon berichtet. Zudem geht es um Vulkanausbrüche in Europa und Asien, Bergstürze, die Erdbeben in Lissabon, San Francisco und Kanton sowie die Überschwemmungen der 1960er Jahre in Florenz und Hamburg. Die Präsentation vereint rund 200 Exponate, das Spektrum reicht von historischen Gemälden, römischen Büsten und japanischen Holzschnitten über Alltagsgegenstände, Naturalien und wissenschaftliche Messinstrumente Köln bis hin zu Originalberichten und Fotos. Panoramen, Filme, Hörbeispiele und interaktive Stationen ergänzen den Rundgang. Dass Katastrophen globale Auswirkungen haben, zeigt der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815. Riesige Aschewolken führten zu einer weltweiten Klimaveränderung: 1816 ging in Europa und Nordamerika als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte ein. Es kam zu Missernten, Hungersnöten und die Sterblichkeitsrate stieg. Mannheim 7. September 2014 bis 1. März 2015 Von Atlantis bis heute Mensch.Natur.Katastrophe Reiss-Engelhorn-Museen Kontakt: Tel. 0621-2933150 www.rem-mannheim.de Leipzig 13. September bis 11. Oktober 2014 Ömie Artists Zeitgenössische Tapa-Kunst aus Papua-Neuguinea Die Künstlerinnen der ÖmieKooperative aus der Provinz Oro erorbern mit ihren unregelmäßigen geometrischen Werken die globale Kunstwelt. Die Arbeiten greifen auf Stammesmythen und lokale Traditionen zurück und bewahren zugleich alte TattooMotive. Die Frauen präparieren den Rindenstoff, indem sie die innere Schicht der Rinde von Regenwaldbäumen ernten, abspülen, falten und schließlich mit schwarzen Palmklopfern bearbeiten, bis ein fester, faseriger Stoff entsteht. Er wird in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet. Eine ergiebige, erdige Palette natürlicher Buschfarbstoffe mit roten, gelben, grünen und schwarzen Pigmenten wird aus Früchten, Farnen, Blättern und Kohle angerührt. bis 23. November 2014 Tibet – Nomaden in Not Nahezu die Hälfte aller Tibeter waren einmal Nomaden. Nun will die chinesische Regierung alle tibetischen Nomaden bis zum Jahr 2015 in „sozialistischen Dörfern“ zwangsansiedeln. Damit steht eine jahrhundertealte Tradition vor dem Aus. Das Leben der Nomaden ist geprägt vom starken Familienzusammenhalt und einer engen Beziehung zu ihren Tieren und zu Umwelt. Nachhaltigkeit ist für sie ein lebensnotwendiges und in ihrer Religion verankertes Prinzip. Sie achten darauf, dass das Grasland nicht überweidet wird und ziehen weiter, wenn es an der Zeit ist. Eine Zwangsumsiedlung verdrängt die über Jahrhunderte bewährte Lebensform. Die Ausstellung zeigt das Leben, die Traditionen und die Bedrohung der tibetischen Nomaden mit Fotos und Alltagsgegenständen aus der Tibet-Sammlung des Museums. 18. bis 29. September 2014 13. Afrika-Film-Festival Das Festival präsentiert in diesem Jahr 85 Filme aus 27 afrikanischen Ländern. Im Fokus „Queer Africa“ sind Filme gegen die Verfolgung von Homosexuellen aus Ländern wie Malawi, Südafrika, Kenia, Kamerun, Marokko und Tunesien zu sehen. Regisseure und Aktivisten sind zu Filmgesprächen zu Gast. Im Länderschwerpunkt werden neue Spiel- und Dokumentarfilme aus Madagaskar und preisgekrönte Abschlussfilme aus der ghanaischen Filmschule „Nafti“ gezeigt. Eine „Night oft the Shorts“ lädt zu einer filmischen Erkundung durch elf Länder des afrikanischen Kontinents ein. Im Begleitprogramm sind zwei Ausstellungen zu sehen: Fotos von afrikanischen Filmstars und Cartoons zum Thema „Afrikanische Einheit“. Außerdem sind während des Festivals Lesungen und Workshops geplant. bis 5. Oktober 2014 Schneemann im Quadrat Moderne Kunst aus Ostafrika Farbenfrohe Werke der sogenannten Quadratmalerei, filigrane Makonde-Schnitzereien sowie Skulpturen, Malerei und Grafik: gezeigt wird die Vielschichtigkeit der zeitgenössischen Kunst in Ostafrika. Die Arbeit „African Tales“ des Leipziger Künstlers Maix Mayer schafft eine Verbindung zur europäischen Kunst. Zu sehen sind rund 60 Bilder der Tingatinga-Schule aus Tansania mit Tieren, Alltagsszenen und magisch-religiösen Handlungen. Hinzu kommen Masken und Skulpturen der Makonde, einem Volk, das in Mosambik und Tansania lebt. In Mayers Präsentation steht der DDRKinderfilm „Ein Schneemann für Afrika“ (1977) im Zentrum, der in einem kleinen Videokino in Dar es Salaam von dem tansanischen Kinoerzähler Captain Mukandala übersetzt und performt wird. Galerie ARTKELCH Kontakt: Tel. 0761-704327 www.artkelch.de Museum für Völkerkunde Kontakt: Tel. 040-4288790 www.voelkerkundemuseum.com FilmInitiativ Köln e.V. Kontakt: Tel. 0221-4696243 www.filme-aus-afrika.de Grassi Museum für Völkerkunde Kontakt: Tel. 0341-9731-900 www.mvl-grassimuseum.de 9-2014 | Verschenken Sie Es lohnt sich! 8-2014 5,20 € | 7,80 sFr ichten www.welt-s Unser Dankeschön: aug ust .org der Geber Interesse äch Nicht im im Gespr HN IK: ffe r Müller SSTE TEC Rohsto Ministe AN GEPA NGSPO LITIK: setzt auf ierung LU Reg ICK Die ENTW OR: ECUAD 5,20 € | 7,80 sFr Maga glo ba zin für ick le en tw uM un d ök lun g zu saM en ische www.welt-sichte Mena rbe n.org it 9-2014 septe mber Rüstun g: Stoppt die Isla mIsten Killerroboter : Dem ! stauda mm okratie stärkt die Radi kalen : Die Kraf t des Kongo zähmen Mag azin für glo bale ent wicklu ng und öku Men isch e zus aMM ena rbei t aribik er der K Gesicht sachlich kritisch gründlich . Sie machen mit einem -Abonnement jemandem eine Freude – wir bedanken uns dafür mit einem Buch. Sie haben die Wahl: Lesen Sie den preisgekrönten Bestseller „Die Donnerstagswitwen“ aus Argentinien oder den spannenden Krimi „Der Schwanz der Schlange“ aus Kuba, in dem ein Detektiv in der geheimnisvollen Welt von Havannas Chinatown ermittelt. at abrüstung omwaf fe n nicht in si cht Im nächsten Heft MITTELSCHICHT Immer mehr Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern erarbeiten sich einen – oft noch bescheidenen – Wohlstand. Entsteht so etwas wie eine „globale Mittelschicht“? Welche Bedeutung hat das für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Und welche Verantwortung übernimmt die Mittelschicht in ärmeren Ländern für die Armutsbekämpfung? ARGENTINIEN Das Land kämpft mit der Staatspleite – ein Problem, das auf die Wirtschaftskrise von 1998 bis 2002 zurückgeht. Damals besetzten Arbeiter Fabriken und begannen, sie selbst zu verwalten. Wie stehen diese Betriebe heute da? Sie schenken Denkanstöße: analysiert, hinterfragt, erklärt und macht neugierig. Die Zeitschrift bietet Reportagen, Interviews und Berichte über die Länder des Südens und globale Fragen. Jeden Monat direkt ins Haus. Claudia Piñeiro Die Donnerstagswitwen Unionsverlag, 2012 320 Seiten Leonardo Padura Der Schwanz der Schlange Unionsverlag, 2013 180 Seiten Ihre Bestellmöglichkeiten: Ich bezahle das Geschenkabonnement. Telefon: 069/58098-138 Fax: 069/58098-162 E-Mail: [email protected] Post: Einfach den Coupon ausfüllen und abschicken an: Redaktion „welt-sichten“ Postfach 50 05 50 60394 Frankfurt/Main Ausgabe 11-2014 Bitte schicken Sie die Zeitschrift an: Name, Vorname StraSSe, Hausnummer Postleitzahl, Ort „Die Donnerstagswitwen“ von Claudia Piñeiro „Der Schwanz der Schlange“ von Leonardo Padura An diese Adresse erhalte ich meine Buchprämie und die Rechnung: Name, Vorname Ja, ich verschenke ein Jahresabonnement von (12 Ausgaben). Es beginnt mit Ausgabe 10-2014 Es kostet 47,40 Euro inklusive Porto in Deutschland, bei Versand in Europa (Landweg) kommen 12 Euro hinzu. Das Geschenkabonnement läuft ein Jahr und verlängert sich nicht automatisch. Als Dankeschön erhalte ich, sobald das Abonnement bezahlt ist: StraSSe, Hausnummer Ausgabe ___-2014 Postleitzahl, Ort Datum, Unterschrift Sie möchten lieber online bestellen oder per Bankeinzug zahlen? Auf unserer Website www.welt-sichten.org können Sie unter „Abonnement“ ein Abo verschenken. Dort finden Sie ein Formular für ein Sepa-Mandat, mit dem Sie bequem per Bankeinzug bezahlen können. Anzeige Paten Coupon220x238_Anzeige 22.08.14 10:10 Seite 1 Hoffnung gesucht! Foto: CBM Machen Sie die Welt besser für Kinder mit . Behinderungen ✁ Ja, ich interessiere mich für eine CBM-Kinderpatenschaft. Bitte senden Sie mir Informationsmaterial zu. Meine Anschrift: Vorname: Name: Straße: PLZ, Ort: AC 0015880 Coupon einfach an die CBM zurückschicken oder faxen! CBM Deutschland e.V. Patenbetreuung · Nibelungenstraße 124 64625 Bensheim · Telefon (0 62 51) 1 31 - 4 56 Fax (0 62 51) 131-1 89 E-Mail: [email protected] www.cbm.de/Patenschaft Ihre Daten werden durch die CBM erhoben und gemäß des evangelischen Datenschutzgesetzes elektronisch verarbeitet und genutzt, um Ihnen über Ihre Spenden eine Zuwendungsbestätigung zu erstellen. Zudem verwenden wir Ihre Kontaktdaten, um Sie weiter über die Arbeit der CBM schriftlich, telefonisch oder per E-Mail zu informieren. Ihre Daten werden nicht an Dritte zu Werbezwecken weitergegeben. Sie können dieser Nutzung Ihrer Daten für weitere Informationszwecke jederzeit widersprechen. Werden Sie Pate! www.cbm.de/patenschaft
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