Bunt_statt_Braun_12. März - Dessau

Es gilt das gesprochene Wort!
Grußwort „Bunt statt Braun“ 2016
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
zum Wochenbeginn am Montag, dem 7. März, beging die Stadt Dessau-Roßlau
einen zutiefst traurigen Jahrestag, an dem es nichts zu beschönigen gibt, ganz gleich
aus welcher Perspektive man die Zerstörung unserer Heimatstadt Dessau auch
betrachten mag. An jenem 7. März 1945 traf die jahrhundertealte und ehrwürdige
anhaltische Residenzstadt ein Todesstoß aus der Luft, und über das historische
Antlitz Dessaus hinaus war es die zivile Bevölkerung, die von den Auswirkungen der
alliierten Bombenangriffe existentiell betroffen war. Jahrzehnte später waren die
Erinnerungen Dessauer Bürgerinnen und Bürger, die diese zerstörerische Nacht
durchlebt haben, in einer durch die Intensität ihrer Berichte beeindruckenden
Broschüre veröffentlicht worden. In Einzelschicksalen wurde das Grauen dieser
Nacht ablesbar.
Wenn wir jährlich am 7. März in einem abendlichen Gedenkgottesdienst uns der
Opfer erinnern und zu ihren Ehren die Glocken läuten, dann geschieht dies aus tiefer
Trauer für alle, die von den Auswirkungen des 2. Weltkrieges nicht verschont
geblieben waren. Es gibt verschiedene Gedenktage, in denen wir uns mit Themen
wie Krieg, Vertreibung, Zerstörung und politische Willkür auseinandersetzen. Der
Volkstrauertag oder der 27. Januar können hier beispielhaft erwähnt werden. Was
wir, und mit „wir“ meine ich uns demokratisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger,
dabei stets ablehnen, ist die Instrumentalisierung der Opfer. Doch das geschieht
jedes Jahr – nicht nur in Dresden, auch hier in Dessau – wenn rechtspopulistische
oder auch rechtsextrem orientierte politische Gruppierungen die Bombennacht vom
7. März für ihre eigene Geschichtsdeutung auslegen. Mit Krokodilstränen und voller
nationalistischem Pomp lenken sie plakativ ihre falsch verstandene Trauer auf die
einheimische Bevölkerung. Deren Leid wird von uns, die wir heute hier stehen, aber
gar nicht bestritten.
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Schon der Ansatz dieser so unheimlichen wie auch abstoßenden „Trauermärsche“ ist
deshalb falsch gewählt, an Aufklärung ist man in diesen Kreisen jedoch überhaupt
nicht interessiert.
Wenn wir auf ehrliche Art und Weise uns der Opfer der Zerstörung Dessaus erinnern,
dann tun wir das mit freiem Blick auf die historischen Ursachen, die diese Zerstörung
überhaupt erst möglich gemacht haben. Denn die Fackel des Krieges wurde 1939 in
Deutschland entzündet. Und ja: Nach Deutschland kehrte diese unheilvolle Fackel
mit aller Wucht auch wieder zurück. Wie viel Leid wurde aber bis dahin über ganz
Europa, über weite Teile der Welt gebracht?!
Bleiben wir bei dem Beispiel der verheerenden Luftangriffe auf viele deutsche Städte,
nicht nur Dessau. Wie groß ist denn das Schuldbewusstsein jener vorgeblich
Trauernden über die Luftangriffe 1940 auf das englische Coventry, das nach London
ebenfalls Ziel deutscher Bomberverbände war? Rund 1.200 Einwohner kamen bis
1941 auf diese Weise um. „Coventry Blitz“ hießen die Luftangriffe in England, vom
deutschen Wort „Blitzkrieg“ abgleitet. In der deutschen NS-Führung sprach man
zynisch vom „Coventrieren“ weiterer, insbesondere englischer Städte. Oder wie
verhält es sich mit der Bombardierung von Rotterdam, ebenfalls 1940? Mehr als 800
Zivilisten verloren dabei ihr Leben, die Altstadt wurde komplett zerstört und die
niederländische Regierung erklärte kurz darauf die Kapitulation. Welcher aufrichtige
Mensch kann die einen Opfer, nur weil sie deutsch sind, bedauern und das Leid der
anderen einfach kalt ausblenden? Humanitas ist nicht teilbar, meine Damen und
Herren. Hier wird die ganze Unaufrichtigkeit der Trauer rechter Kameradschaften
deutlich und es ist reines politisches Kalkül, das sie diesen Mummenschanz
veranstalten lässt, der in diesem Jahr für den 19. März erneut angekündigt ist.
Liebe Dessau-Roßlauerinnen und Dessau-Roßlauer,
noch bis morgen feiern wir in Dessau und in der Region das 24. Kurt Weill Fest unter
dem Titel „Krenek, Weill & Die Moderne“. Wie ich auch in meiner Begrüßungsrede
am 26. Februar im Anhaltischen Februar dargestellt habe, ist der Komponist und
Sohn unserer Stadt Kurt Weill ein prominentes Beispiel dafür, wie Menschen aus
ihrer Heimat zu Unrecht vertrieben werden. Weill hatte aufgrund seiner Erfahrungen
mit seiner deutschen Heimat persönlich abgeschlossen. Es wäre heute natürlich
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interessant zu wissen, wie er die aktuelle politische Lage in Deutschland und Europa
interpretieren würde. Ich glaube und kann mir gut vorstellen, dass sein damals
berechtigter düsterer Blick auf die verlorene Heimat einem ziemlichen Erstaunen
darüber weichen würde, dass gerade Deutschland Ziel von Flüchtlingen ist, und nicht
mehr der finstere Ort, vor dem man flieht. Allerdings würde er sicher auch die
Herausforderungen nicht weg reden wollen, die vor den politischen Akteuren heute
stehen und denen viele Menschen mit Sorge begegnen. Doch damals wie heute gilt
generell: Mit schnellen Lösungen und einfachen Parolen kann man die aktuelle
Flüchtlingslage nicht beherrschen, es sei denn, man reiht sich wissentlich ein in die
Schar der Rattenfänger, die jetzt gerade wieder laut agitierend unterwegs ist, ob als
AfD oder NPD oder als Pegida-Ableger. Selbstverständlich kann man die
Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kritisieren und anderer Meinung sein, aber am
Ende – und das betrifft uns ganz konkret auf kommunaler Ebene - steht immer ein
Mensch vor uns, der seine Heimat nicht freiwillig verlassen hat und zumeist die
Familie zurückließ. Wir dürfen nie aufhören, im Flüchtling den Menschen zu
erkennen, der unsere humanitäre Hilfe dringend benötigt.
Ich bin übrigens auch für Obergrenzen, aber freilich nicht im Sinne von Herrn
Seehofer. Ich bin für Obergrenzen für Ignoranz, Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus.
Mit Blick auf die morgige Landtagswahl möchte ich deshalb die Zweifler aufrufen, die
sich noch nicht entschieden haben: Bitte nutzen Sie Ihr Wahlrecht aktiv aus, treten
Sie für Ihre demokratischen Grundrechte ein und lassen Sie sich von einfachen
Lösungen nicht verführen. Demokratie ist, was man daraus macht! Und ich kann nur
appellieren, diese Verantwortung dem Gemeinwesen gegenüber nicht aus der Hand
zu geben. A propos Hand: Um dies zu signalisieren – sowohl in unsere Stadt hinein,
aber auch über ihre Grenzen hinaus – rufe ich die Bürgerinnen und Bürger, Besucher
und Gäste dazu auf, sich heute Mittag u. a. an der Menschenkette zu beteiligen, sich
also einzureihen, wenn es wieder heißt „Bunt statt Braun –zusammen für eine
tolerante, offene und demokratische Stadtgesellschaft.“ Folgen Sie mit mir
gemeinsam dem Aufruf des Netzwerkes „Gelebte Demokratie“ zu einem bunten und
fantasievollen Protest als Zeichen gegen die verlogene Trauer von Neonazis, für die
in unserer Stadt nach wie vor kein Platz ist.