AZ Archiv http://services.a-z.ch/smd/smdDok.cgi?url=http://www.smd.ch/SmdSearch/SMDMediaLink?tsc=6d76814e89eff18... Schweiz am Sonntag, Nr. 30, 26. Juli 2015 58 REGIONEN | Sie entschied sich für ein Leben in Freiheit Chatera Amiri (23) ist seit 2007 in der Schweiz und wird jetzt eingebürgert VON JANINE MÜLLER I ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● m August 2007 hält ein Zug im Hauptbahnhof in Zürich. Eine junge Frau steigt aus. Via Frankreich ist sie von Afghanistan mit einem Teil der Familie in die Schweiz gereist. Mit der Hoffnung im Gepäck, dass sie hier ein Leben führen kann, das ihr in Afghanistan lebenslang verwehrt sein würde. Ein Leben in Freiheit. In einem Land, in dem Frauen Rechte haben, ihre Stimme zählt, in dem sie ohne Angst vor hochgehenden Bomben auf der Strasse spazieren kann. In Zürich trifft sie einige Afghanen. Du musst ins Asylzentrum, sagen sie ihr. Sie geht. Meldet sich an. Und wartet. Mittlerweile sind acht Jahre vergangen. Zum Gespräch erscheint die heute 23-Jährige in einem weissen Kleid mit dunkelblauen Tupfen. Sie ist etwas ausser Atem. «Sorry, chume grad vom Schaffe», entschuldigt sie sich. Knallroter Lippenstift betont ihren Mund. Die dunklen Augenbrauen, sorgfältig gezupft, schwingen sich in einem sanften Bogen über die mandelförmigen, braunen Augen. Beim Brunnen vor dem Gemeindehaus in Windisch erzählt sie von ihrer ersten Zeit in der Schweiz. WAS SIE ERLEBT, gefällt ihr nicht. In den Asylunterkünften ist es dreckig und laut. Die Betreuer sind oft unfreundlich. Dem Teenager ist es langweilig. Sie versucht, Deutsch zu lernen. Immer wieder fragt sie die Betreuer: «Ich möchte Deutsch lernen und zur Schule gehen.» Meistens wird sie mit harschen Worten abgespiesen. «Das bringt doch nichts, du bist ja sowieso nur zum Betteln da», bekommt sie zu hören. Oder: «Vielleicht kannst du mal putzen gehen, oder im Restaurant arbeiten.» Die Worte treffen sie mitten ins Herz. Es sind Worte, die sie nie vergisst. Aber sie stacheln die ehrgeizige Afghanin auch an. Mehrmals wird sie von einer Asylunterkunft in die andere versetzt. Zürich, Buchs, Gontenschwil. Immer wieder heisst es: warten. Wieder Dreck, wieder Lärm, wieder Formulare zum Ausfüllen, wieder nach Deutschkursen fragen. Dreck, Lärm, Formulare, warten. «Kein Wunder werden viele Asylbewerber psychisch krank», sagt sie. Und fordert: «Die Gesuche müssen viel schneller bearbeitet werden. Das würde der Ungewissheit schneller ein Ende bereiten.» Irgendwann kann Chatera Amiri Deutschkurse besuchen. Sie macht rasch Fortschritte, büffelt Vokabeln, um der Langeweile zu entfliehen. Wieder setzt sie sich ein Ziel: Arbeit finden. Sie erkun- nommen in dieser Woche, weil ich nichts essen konnte», scherzt sie. In einer Apotheke in der Region Brugg erhält sie dann eine Lehrstelle. Es werden die schlimmsten Jahre seit ihrer Ankunft in der Schweiz. Sie darf nur im Keller Schachteln auspacken und putzen. Immer wieder wird ihr gesagt: «Die Lehrabschlussprüfung schaffst du sowieso nicht.» Jeden Abend geht sie weinend nach Hause. In dieser Zeit hilft ihr der Windischer Walter Lüssi. Der betagte Mann lässt Chatera Amiri in einer Wohnung in seinem Haus in Windisch günstig wohnen. Er spricht ihr Mut zu, tröstet sie. «Walterli», wie Chatera Amiri ihn nennt, wird zum Grossvaterersatz. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● DIE LEHRABSCHLUSSPRÜFUNG beendet sie übrigens mit einem Notendurchschnitt von 5,0. Sie bekommt eine Stelle in einer Apotheke in Zürich. Längst spricht sie einwandfrei Schweizerdeutsch. Wieder setzt sich Chatera Amiri ein Ziel: Geld sparen für eine Party. Chatera Amiri zeigt davon Fotos auf ihrem Smartphone. Sie trägt ein weisses Kleid, ihr Freund, ein Afghane, einen Anzug. Sie werden mit einem Oldtimer in einen schicken Saal gefahren. Es ist eine Art Hochzeit, allerdings nicht offiziell und auch nicht religiös. «Wir wollten unseren Freunden so zeigen, dass wir zusammengehören.» Gemeinsam haben sie in Windisch eine Wohnung. Im September 2014 beantragt Chatera Amiri das Einbürgerungsgesuch. Im Juni 2015 sagt der Einwohnerrat Ja dazu. Im Bulletin wird sie für ihre hervorragende Integration gelobt. Wieder ein Ziel erreicht. Das nächste? Ein Pharmaziestudium. Oder Chemie, oder Biologie. Doch dafür braucht sie zuerst noch die Matur. Das kostet Geld. Und vor allem muss sie noch Französisch lernen. Erstaunen wird es nicht, wenn Chatera Amiri mit ihrer beharrlichen und ehrgeizigen Art auch dieses Ziel erreicht. « Ich wollte etwas mit Medizin, Biologie oder Chemie machen.» CHATERA AMIRI ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● digt sich in der Nachbarschaft des Asylheims. Jemand gibt ihr den Tipp, zur Berufsberatung zu gehen. Ein Glücksfall. Der Berufsberater schickt die junge Frau in die Integrations- und Berufsbildungsklasse (IBK). Die Lehrerin merkt bald, dass Chatera Amiri begabt ist. Sie ist so gut in der Schule, dass sie schon nach einem Semester in das normale zehnte Schuljahr versetzt wird. Dieses absolviert sie in Baden. Gleichzeitig sucht sie sich Schnupperlehren. Am Ende sind es zehn als Pharmaassistentin. «Ich wollte etwas mit Medizin, Biologie oder Chemie machen», erzählt sie. Aber nicht im Krankenhaus. Kranke Menschen, tote Menschen, das könne sie nicht mehr sehen. Sie interessiert sich auch für Dentalassistentin. Schon am ersten Tag war ihr klar: «Das kann ich nicht. Ich ekelte mich. Der Geruch aus den Mündern fand ich schrecklich. Ich habe bestimmt abge- Chatera Amiri ist eine Kämpferin und verfolgt ihre Ziele hartnäckig. MARIO HELLER «Wir gehen nach dem Lustprinzip vor» Endspurt für das neue ThiK-Leitungsteam: Nadine Tobler und Markus Lerch stehen vor ihrer ersten Saison Projekts Szenotop an: Mit diesem will das Aargauer Kuratorium junge Compagnien über einen längeren Zeitraum strukturell fördern. VON ELISABETH FELLER ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Ein Tisch und zwei Stühle neben dem Eingang zum Theater im Kornhaus (ThiK) in Baden. Was fehlt? Kaffeetassen, die auf das neue Café ThiK verweisen. Dieses ist allerdings nur Wunschdenken der Besucherin, das Nadine Tobler und Markus Lerch amüsiert lächeln lässt. Das neue Co-Leitungsteam des ThiK setzt sich zwar gerne draussen hin, um den Groove der Kronengasse mit freundlich grüssenden Nachbarn zu spüren, doch das ist selten. Will man das Duo treffen, muss man das neue, dem Zuschauerraum im Keller nahe Theaterbüro aufsuchen. Dort läuft die Arbeit – vor dem Endspurt im Hinblick auf die Saisoneröffnung am 11. September – auf Hochtouren. Der Drucksachen-Versand ist beispielsweise ein Thema, der Aufbau einer neuen Administration, der visuelle Auftritt, das Programmheft-Texten, aber auch die Gestaltung einer neuen Website. Die Aufzählung könnte beliebig fortgesetzt werden, doch die Besucherin kann ihre Neugier nicht länger zügeln. Was halten Nadine Tobler und Markus Lerch für die Saison 2015/16 in petto? Viel, nämlich über 100 Anlässe sogenannter Kleinkunst wie etwa poetisches Musiktheater, schrullig-clowneske Komödien oder bildstarke Tanzperformances. DIE VORSCHAU LIEGT, frisch ab Presse, auf dem Tisch. Vor dem Studium die Frage: Welche Ausrichtung verfolgt das Duo To- 1 von 1 UM AN DAS OBIGE (Tradition) anzuknüpfen. Die beliebten PhiloThiK-Veranstaltungen bleiben, «aber nun gesellt sich ‹Die blaue Lunte› dazu; eine Reihe, die in Zusammenarbeit mit Hugo Anthamatten, Karl Werner Modler sowie Schülerinnen und Schülern der Philosophieklasse der Kantonsschule Baden konzipiert worden ist», betont Nadine Tobler. « ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Das ThiK ist einerseits ein Haus mit einer Tradition, was wir in der Programmation berücksichtigen.» MARKUS LERCH ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Kommen derzeit nur selten dazu, den Sommer vor dem ThiK zu geniessen: Nadine Tobler und Markus Lerch. ALEX SPICHALE bler/Lerch? «Das ThiK ist einerseits ein Haus mit einer Tradition, was wir in der Programmation berücksichtigen; andererseits wollen wir dort auch Neues er- proben und sehen, ob wir damit neue Zuschauer gewinnen können», sagt Markus Lerch und führt als Beispiel die erste, vom ThiK verantwortete Ausgabe des Einem Leitmotiv ist die Saison 2015/16 übrigens nicht zugeordnet. «Wir gehen nach dem Lustprinzip vor», bekennt das Leitungsteam lächelnd. Lust bereiten wird wohl die Krimi-Satire «Medea INC in Switzerland» von und mit Werner van Gent, dem Griechenland-Experten des Schweizer Fernsehens – mit Überraschungsgast. Neben bekannten Gästen und Autoren tauchen neue Namen auf, zu denen auch Lukas Linder zählt. Nadine Tobler kennt den knapp über 30-jährigen Schweizer seit langem und schätzt seine Stücke, – «eine Mischung aus Melancholie, feiner Ironie und Heiterkeit» – sehr. Im ThiK wird Linders amüsant-melancholische Milieustudie «Es wird sicherlich bald sehr still sein in mir» gespielt. DER BLICK DER Besucherin bleibt lange auf der Ankündigung «Werkschau Nikolaus Habjan» haften. Figura-Fans werden da bestimmt feuchte Augen bekommen. Der 27-jährige Wiener Regisseur, Kabarettist, Puppenspieler und Kunstpfeifer hat das Publikum im ThiK mit «Peter Pan» (eine Hommage an den alternden Popstar Michael Jackson) und insbesondere mit der 2014 mit dem Grünschnabel-Preis ausgezeichneten Produktion «F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig» im Sturm erobert. Wer die herzzerreissende Aufführung verpasst hat, kann sie, sowie ausserdem Habjans Inszenierung von Helmut Qualtingers «Herr Karl» im März 2016 sehen. Natürlich birgt das ThiK-Programm noch viele weitere Perlen, doch mehr wollen Nadine Tobler und Markus Lerch erst im August verraten. Apropos: Wie fühlt sich eine Intendanz an? «Toll», sagt Nadine Tobler strahlend. «Jetzt kann ich einen Ort selbst gestalten.» Saisonausblick Präsentation des neuen Spielplans 2015/16 im Theater am Kornhaus, am Montag, 10. August, 18 Uhr. Eintritt frei. 01.08.15 14:43
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