Stefanie Höfler: Mein Sommer mit Mucks. Ill. v. Franziska Walther. Beltz & Gelberg 2015 „Zonja, mit Z, das ist so ein Science-Fiction-Name, als sei ich eine Prinzessin aus einer fernen Sternengruppe, deren Galaxie erst in einigen Jahrhunderten entdeckt wird. Möglich, dass ich nur deshalb so versessen auf Statistiken bin, weil ich in meinem bisherigen Leben geschätzte tausendeinhundertmal sagen musst: „Zonja. Aber nicht mit S, sondern mit Z.“ Schon in ihrer Selbstbeschreibung erweist sich Zonja als reflektierte Zeitgenossin: Sie liebt Statistiken, Fakten, Fragen – vor allem aber Antworten. Mit ihrer Liste an Fragen zu Gott und die Welt wendet sie sich immer wieder an Expert_innen ihres Umfelds: Eltern, Lehrer_innen, Bekannte. Antworten bringen Ordnung ins alltägliche Chaos und geben dem klugen Mädchen Kontrolle in ihrer beschaulichen Welt, die mit Beginn der Sommerferien auf das Freibad verkleinert scheint: „Denn in den Sommerferien fehlt mir die Hälfte meiner Experten. Und überhaupt passiert in den Ferien einfach weniger. Vermutlich werde ich jeden Tag im Freibad verbringen. Leute beobachten. Einfach, weil dort die meisten Leute sind.“ Dementsprechend drastisch fällt der Junge namens Mucks in ihr Leben: Plötzlich steht da einer am Beckenrand, groß und dünn mit roten Haaren, abstehenden Ohren und einem blauen Fleck. Ein einziges großes Fragezeichen, bis hin zu seinem richtigen Namen. Und trotzdem werden die beiden Außenseiterfiguren in langen Freibadstunden ganz natürlich Freunde, so innig, wie man wohl nur als Kinder zueinander finden kann. Scrabble spielen, schwimmen lernen, besonnen über das Leben sprechen. Stefanie Höfler weiß die besondere Verbindung der beiden mit wenigen Dialogen und Szenen intensiv darzustellen und mit klugen Andeutungen von großen Dingen zu erzählen. Dinge, die bisweilen zu groß für kindlichen Aktionismus sind. Denn so behütet Zonjas Elternhaus ist, so verschlossen ist Mucks, wenn es darum geht, über seines zu sprechen. „Irgendwas stimmt nicht mit Mucks. Irgendwas stimmt überhaupt nicht.“ Mucks gibt Zonja, aber auch den Leser_innen Rätsel auf, denen man nicht mit empirischem Geist, wohl aber mit Empathie begegnen kann. Und so zeigt der Roman, dass es auf manche Fragen keine eindeutigen Antworten gibt, oder keine schönen, oder zumindest nicht solche, die zu einer Lösung führen. Stefanie Höfler literarisiert damit ein oft erzähltes Motiv der Kinderliteratur mit enorm viel Bedacht: Gewalt in der Familie. „Plötzlich verstehe ich. Mucks. Mäuschen. Still. Mucks ist also auch einer von denen, die sich Spitznamen selbst geben müssen, weil sie ihnen sonst keiner gibt.“ Als Ich-Erzählerin beginnt Zonja jedes Kapitel mit kurzen Gedanken zu wissenswerten und wissenschaftlichen Dingen, die sie auch auf ihr Leben hin bezieht. Eine scheinbar verlässliche Herangehensweise an die Welt, die der Roman in Kontrast setzt zu der Hilflosigkeit, die Zonja bald in zwischenmenschlichen Belangen spürt: Welche Öffnung ist ein Hilferuf, welche Einmischung geht aber zu weit? „Tut mir leid, wegen vorhin“, murmele ich, ziemlich leise. Obwohl ich nicht so genau weiß, was mir genau leidtut. Vielleicht, dass ich ihn gefragt habe, warum er nicht schwimmen kann. Oder einfach, dass ich Eltern habe, die Pfannkuchen backen. Und er Pfefferspray in der Tasche.“ Die Angst vor der Verfolgung durch seinen Vater, die sich Mucks langsam zu artikulieren traut, bestimmt bald nicht nur sein Familiengefüge, sondern auch das von Zonja. Denn irgendwann ist der kindliche Aktionsradius erschöpft und Hilfe kann nur dort passieren, wo man Erwachsene einschaltet. Menschen und Beziehungen sind unberechenbar. Ein nachhaltiger Eindruck, den der Roman hinter all seiner (Tragi-)Komik, seinen liebenswerten Figuren und skurrilen Szenen vermittelt. Mit schwingt dabei Bedrohung in Hinblick auf Mucks Familie, aber auch Hoffnung: Darauf, dass es Menschen gibt, die einander ein Stück weit begleiten und nicht nur das Beste für einen wollen, sondern auch vieles dafür tun. Selbst wenn irgendwann nur mehr die Erinnerung von ihnen bleibt. Den aus der innigen Freundschaft von Zonja und Mucks wird letzten Endes nur eine Kurze. Ein bittersüßer Kinderroman im besten Sinne, der hohen literarischen Anspruch mit einer wunderbar leichten Zugänglichkeit vereint. Und all die Härte, die dem übergeordneten Thema inne liegt, mit behutsamer Sprache und stilistischem Geschick zwischen den Zeilen versteckt. Christina Ulm / STUBE
© Copyright 2024 ExpyDoc