Special Prozessautomation Modularisierung der Produktion und ihre Auswirkungen Modulare Anlagen sind mittlerweile in der Prozessindustrie eine ernst zu nehmende Option. Mit einer zunehmenden Modularisierung werden sich voraussichtlich die Architekturen von Leitsystemen und Sensoren sowie die Geschäftsmodelle und die Anbieterstruktur verändern. Die Konsequenzen und Chancen wurden in einer Expertenrunde diskutiert. Ronald Heinze Expertenrunde für modulare Anblagen in der Prozessindustrie: Prof. Leon Urbas, Professur für Prozessleittechnik der TU Dresden und Mitglied des Namur-Arbeitskreises AK1.12 Modularisierung; Dr-Ing. Jörn Oprzynski, Director R&D Process Automation in der Vorfeldentwicklung bei der Siemens AG; Dr.-Ing. Sven Lohmann, Business Development Management bei der Emerson Process Management GmbH & Co. OHG; Axel Haller von ABB, Dr. Thomas Albers von Wago und Johannes Kalhoff von Phoenix Contact (v. l.) Wer über Modularisierung der Produktion spricht, meinte bisher vor allem die Fertigungsindustrie. Aber auch in der Prozessindustrie kann die Modularisierung unter be- 42 stimmten Voraussetzungen die Effizienz erhöhen. „Aus der Sicht der Verfahrenstechnik ist Modularisierung immer dort sinnvoll, wo es eine Lücke zwischen flexiblem Batch-Be- trieb mit niedriger Raum-Zeit-Ausbeute und kontinuierlichem Betrieb mit hoher Produktivität gibt“, erläutert Prof. Leon Urbas. „Modularität soll dazu führen, dass Flexibilität 3/15 Special Prozessautomation Dr. Thomas Albers, Geschäftsleitung Automation bei der Wago Kontakttechnik GmbH & Co. KG in Minden Johannes Kalhoff ist bei Phoenix Contact im Bereich Corporate Technology tätig Axel Haller ist bei ABB im Kompetenzcenter Chemie für die Betreuung der Kunden aus der Prozessindustrie zuständig und Quantität sich gegenüber, aber nicht gegeneinander stehen. Auch für kleine Chargen soll effizient produziert werden.“ Für Dr. Jörn Oprzynski spielt noch ein weiterer Aspekt eine wesentliche Rolle: „Es geht vor allem darum, die Zeit für das Engineering von der Produktidee bis zur industriellen Produktion zu verkürzen.“ Er nennt in diesem Zusammenhang die auf dem Tutzingen Symposium 2009 geborene 50-%-Idee: „Vom Produkt zur Produktionsanlage in der halben Zeit.“ Den Lösungsweg dafür ebnet die modulare Produktion. Visit us at ACHEMA 2015 Frankfurt/Main Stand A85, Hall 11.1 THERE IS NOTHING IN THE AIR TONIGHT. From power generation and cement production to waste treatment and the distribution of natural gas – the more complex a plant, the greater the demands on systems engineering and services. When it comes to monitoring emissions, evaluating gases for optimal process control, and ascertaining custody transfer measurements for pipelines, SICK is a step ahead in every segment of the industry. 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Oprzynski weiter. „Die Module können überall auf der Welt aufgestellt werden und sind jederzeit skalier- und veränderbar.“ Dr. Sven Lohmann erwähnt „eine deutliche Steigerung der Produktivität“ mithilfe der Module. Außerdem ist er überzeugt, dass kleinere Anlagen die Effizienz steigern und den Energieverbrauch minimieren. Was versteht man überhaupt unter einem Modul in der Prozessindustrie? „Ein Modul ist eine Package Unit, die sich durch einfache Integration auszeichnet“, erklärt Axel Haller. „Es beinhaltet eine verfahrenstechnische Funktion oder einen verfahrenstechnischen Schritt, der von einem Extruder bis zum Reaktor reichen kann.“ Dr. J. Oprzynski bestätigt: „Ein Modul realisiert eine oder mehrere verfahrenstechnische Funktionen. Zum Modul gehört aber auch die digitale Beschreibung des Moduls einschließlich seiner Schnittstellen, seiner Automatisierung und seines HMI.“ Folgen auf die Automatisierung Die Modularisierung hat selbstverständlich Folgen auf die Automatisierung. Laut Johannes Kalhoff muss dafür die gesamte Prozesskette betrachtet werden – vom Engineering bis zur Bedienung im Be- 44 trieb. „Vor den Ausw irkungen für die Zukunft sollten wir die Auswirkungen für die Gegenwart betrachten“, teilt Dr. Thomas Albers mit. „Es geht darum, die Package Units so intelligent zu machen, dass sich der Engineering-Aufwand bei der Integration reduziert. Dazu muss die verfahrenstechnische Automatisierung mitsamt ihre kommunikationstechnischen Komponenten modular gestaltet werden.“ A. Haller erwartet, dass die Standardisierung dazu führen wird, dass sich proprietäre Systeme öffnen müssen. Weiterhin sind „Services erforderlich, damit die Datenmengen der intelligenten Module innerhalb des Systems ausgewertet werden können“. Dr. J. Oprzynski rechnet sogar mit einem neuen Marktsegment für die Automatisierung: „Der Grad der Automatisierung steigt, die Automatisierung selbst wird intelligenter.“ Wird die Intelligenz im Leitsystem oder in den Modulen zunehmen? „Die gesamte Anlage muss intelligent werden“, weiß Dr. T. Albers. „Wie die verteilte Intelligenz gemanagt wird – ob verteilt oder zentral, bleibt dann eine Kernfrage. Mit dezentraler Intelligenz wird die Zustandsüberwachung verbessert.“ In die gleiche Kerbe schlägt J. K alhoff: „Die Module müssen für den Gesamtprozess optimiert werden.“ Sie müssen einfach in die Anlage integrierbar sein. Wich- tig dabei ist die Handhabung des G esamtprozesses über das Be diensystem. Ähnlich sieht dies A. Haller: „Leitsysteme wird es weiter geben, aber sie werden sich zu einer Automatisierungs- und Inte grationsplattform entwickeln. Die Module werden intelligent, können aber allein keinen kompletten Prozess steuern.“ Konsequenzen auf die Anbieterstruktur Dr. Thomas Albers ist überzeugt, dass sich die heutigen Anbieter am Markt auch in Zukunft bewähren werden. Allerdings werden auf dem Gebiet der Module neue Anbieter auftauchen. „Die Verantwortlichkeiten im Anlagenbau verschieben sich“, betont Dr. J. Oprzynski. „Modulanbieter werden Verantwortung übernehmen müssen, denn der Systemintegrator muss sich ohne Re-Engineering auf die sichere Funktionalität des Moduls verlassen können.“ Dr. Sven Lohmann ist hingegen der Meinung, dass der Know-how-Träger für das Verfahren der Hersteller eines Produkts selbst bleiben wird. „Wenn wir eine Anlage in wiederverwendbare Teilanlagen zerlegen, müssen wir lernen, nicht in einmaligen Umsetzungen zu denken, sondern in Familienkonzepten“, räumt Prof. L. Urbas ein. Dabei stellt sich die Frage nach den Freiheitsgraden, die zu erreichen sind. Fernziel 3/15 Special Prozessautomation sollte das Zero-Engineering sein. Laut Dr. T. Albers geht es dabei nicht nur um die Verfahrenstechnik: „Das Modul verfügt über gekapseltes Know-how und langfristig sprechen wir von einer ‚Black-Box-Automatisierung‘, auf Basis welcher sich die Anwender nicht mehr mit jedem Detail beschäftigen müssen.“ Der Vorteil dabei: Die Time-to-Market wird verkürzt. J. Kalhoff nennt dazu einen weiteren Aspekt: „Das Universalmodul bildet eine verfahrenstechnische Grundfunktion und kann nur unter bestimmten Rahmenbedingungen angewendet werden. Der Kunde kann hier sein Prozesswissen mit einbringen, um ein Modul an den spezifischen Prozess zu adaptieren und ergebnisorientiert zu optimieren.“ Dr. J. Oprzynski ist überzeugt, dass sich für die erfolgreiche Etablierung einer modularen Produktion in der Prozessindustrie das Marktsegment der Modulhersteller herausbilden muss: „Die Modulhersteller liefern eine Lösung zur sicheren Beherrschung bestimmter verfahrenstechnischer Prozessschritte.“ In diesem Zusammenhang ergänzt A. Haller, dass die Intelligenz im Modul mehr umfasst als das, was der Verfahrenstechniker für die Anlage braucht: „Die vorhandene Intelligenz bietet eine hohes Maß an Flexibilität, sie muss nur vom Anwender richtig eingesetzt und genutzt werden.“ Im Gegensatz zu heutigen Anlagen, wo jede Änderung sehr aufwendig ist, werden im Zuge der Modularisierung Kosten minimiert. „Die Package Units der Pharmaindustrie sind heute schon gut organisiert, aber die Integration in übergeordnete Systeme lässt sich noch optimieren“, weiß Prof. L. Urbas. Zum Beispiel zeige der Blick nach Leverkusen auf das dortige F3-Factory-Projekt, dass am ehesten dort modularisiert und standardisiert werden kann, wo klare Unit Operations mit wenigen Abhängigkeiten von den Produkteigenschaften vorliegen. Die hohe Geschwindigkeit, Verfügbarkeit und Austauschbarkeit werden die Konkurrenzfähigkeit der Produkte auf dem Markt erhöhen. Modularisierung der Prozessindustrie und Industrie 4.0 „Industrie 4.0 ist zunächst ein Förderprogramm der Bundesregierung, um die deutsche Wirtschaft auf die Folgen der Digitalisierung einzuschwören“, berichtet Prof. L. Urbas. „Digitalisierung in der Prozessindustrie ist hinsichtlich der vertikalen Vernetzung schon vorhanden. Hinsichtlich der horizontalen Vernetzung in Bezug auf Anlagenplanung und Instandhaltungszyklen gibt es noch viele ‚Datensilos‘; das Potenzial dieser Daten wird noch nicht vollständig genutzt. Aber auch unter dem Aspekt der Assistenzsysteme zur Entscheidungsfindung kann die Modularisierung und die damit einhergehende Wiederverwendbarkeit von Komponenten einen weiteren Schritt nach vorne ebnen. Dies unterstreicht auch A. Haller: „Modularisierung unterstützt die Idee von Industrie 4.0, reale Objekten mit einem virtuellen Abbild zu versehen, um eine frühzeitige und effiziente Simulation sowie Analyse zu ermöglichen.“ www.openautomation.de Frankfurt am Main · 15 – 19 June 2015 ➢ World Forum and Leading Show for the Process Industries ➢ 3,800 Exhibitors from 50 Countries ➢ 170,000 Attendees from 100 Countries Be informed. Be inspired. Be there. www.achema.de45 Special Prozessautomation Es werden Informationen über die Leistungsfähigkeit des Moduls und über den Prozess, in welchen es integriert ist, zur Verfügung gestellt. „Industrie 4.0 ist kein Selbstzweck, sondern eine Marktentwicklung“, setzt Dr. T. Albers fort. „Letztlich geht es um die Individualisierung von Produkten, die kostenneutral gefertigt werden sollen. Um als Unternehmen auf dem Markt bestehen zu können, müssen auch Klein- und Kleinstserien effizient produziert werden.“ Diese Individualisierung wird durch Modularisierung und die damit einhergehende flexible Fertigung sowie kurze Umrüstzeiten ermöglicht. Modularisierung erfordere wiederum dezentrale Intelligenz. „Industrie 4.0 wird es ohne Modularisierung nicht geben“, fasst er zusammen. Dr. J. Oprzynski bestätigt, dass für Industrie 4.0 in der Prozessindustrie neben der Digitalisierung der Produktion sowie der Generierung und Auswertung von Daten die Modularisierung eine wichtige Rolle spielt. Selbstverständlich sind die Auswirkungen in der Fertigungsindustrie andere als in der Prozessindustrie. J. Kalhoff erinnert daran, dass hinter Industrie 4.0 Wertschöpfung steckt: „Mit einer daten- und menschenzentrierten Automatisierung basierend auf Digitalisierung und Modularisierung sind Steigerungen der Wertschöpfung um bis zu 30 % möglich.“ Modularisierung im Sinne von Industrie 4.0 hat zum Ziel, modularisierte Prozessschritte adaptiv zu verwenden, um das Engineering und den Anlagenanlauf zu verkürzen und eine flexible Skalierung der Produktionsressourcen, auch unterschiedlichster Hersteller, zu vereinfachen. Zeitliche Umsetzung Bleibt die Frage nach der zeitlichen Umsetzung von modularen Anlagen: „ZVEI und Namur sind eng an diesem Thema dran“, weiß Dr. J. Oprzynski. Der entsprechende ZVEI-Arbeitskreis bestätigt: Modulare Automatisierung ist möglich. „Ein Whitepaper aus Lieferantensicht wird im Februar 2015 veröffentlicht.“ Es liegen bereits erste Konzepte für die Weiterentwicklung 46 der Automatisierung vor. „Wir hoffen, dass der ZVEI-Arbeitskreis zusammen mit der Namur in 2015 die Konzepte für die modulare Automatisierung weiter vorantreiben werden“, schließt der SiemensMann an. Dr. S. Lohmann ist ebenfalls überzeugt, dass die Anforderungen in Form von Meilensteinen definiert und Schritt für Schritt umgesetzt werden. Ebenso bestätigt Dr. T. Albers, dass derzeit Konzepte aufgebaut und in Kürze auch deren Umsetzung in der Praxis gezeigt werden. Wie dann die herstellerunabhängige und herstellerübergreifende Umsetzung der Beschreibung der Module aussieht, muss noch erarbeitet werden. Diskutiert wird laut Dr. J. Oprzynski über OPC UA und andere Schnittstellen sowie Datenmodelle. Allerdings müsse nicht nur die Modularisierung, sondern auch das Engineering von Anlagen optimiert werden: „Konzepte zur einheitlichen Beschreibung der einzelnen Module, inklusive Engineering und HMI, müssen im nächsten Schritt standardisiert und umgesetzt werden“, unterstreicht Dr. J. Oprzynski. In Bezug auf Feinchemie und Pharma kann sich A. Haller vorstellen, dass in zehn Jahren bis zu einem Viertel aller Anlagen modularisiert sein wird: „Ein wichtiger Grund ist, dass Modularisierung dabei hilft, Anlagen auch bei kurzlebigen Produkten in Betrieb zu halten, denn die Umrüstung auf ein neues Produkt ist schnell möglich.“ Prof. L. Urbas verweist in diesem Zusammenhang auf den hohen Wettbewerbsdruck in der Chemieindustrie, die Kosten zu optimieren. Er sieht erste Anwendungen zunächst im Neuanlagengeschäft: „Gerade bei einem hohen Investitionsrisiko spielt die Modularisierung ihre Trümpfe aus.“ Dr. J. Oprzynski bestätigt: „Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit sind die Treiber für das Konzept der Modularität.“ Dr. S. Lohmann ist überzeugt, dass „modulare Anlagen das Investitionsrisiko senken.“ Als Beispiel nennt er den Markt personenbezogener Medikamente, die flexibel und individuell produziert werden müssen. „Weitere Felder und Märkte werden sich auftun. Es steckt sehr viel mehr Potenzial darin, als wir heute glauben.“ Plug-and-produce als Zukunftsoption? „Plug-and-produce ist durchaus umsetzbar, aber der Zeithorizont kann nicht eindeutig festgelegt werden“, glaubt Dr. S. Lohmann. Laut A. Haller muss dafür eine modulare Verfahrenstechnik vorhanden sein. „Die technologischen Grundlagen sind vorhanden“, setzt er fort. „Die Automatisierer stehen in den Startlöchern, die Anlagenbauer müssen nun modulare Anlagen bauen.“ Dr. T. Albers sieht das kritischer: „Ein USB-Stick hat exakt nur eine Aufgabe zu erfüllen. Ein Modul ist sehr viel vielfältiger.“ Das Ziel sei ein erheblich vereinfachtes Integrationsengineering. Aber das wird nicht dazu führen, dass es kein Engineering mehr gibt. Daher werde es im eigentlichen Sinne auch kein echtes Plug-and-produce geben. Dem schließt sich J. Kalhoff an: „Wir haben zwar einen Bedarf an einfacher Funktionalität, die Form eines vollständigen Plug-and-produce ähnlich dem USB-Drucker am PC wird eher mittel- als kurzfristig machbar sein.“ Für Prof. L. Urbas ist das eine Definitionsfrage: „Im Prinzip haben wir Plug-and-produce bereits realisiert. Es handelt sich aber um Plug, Configure, Check and Produce. Und dabei ist das Engineering ein wichtiger Bestandteil. „Risiken müssen beherrschbar bleiben“, warnt er dabei. „Es muss immer festgestellt werden können, ob alles richtig gemacht wurde. Selbst wenn jedes Modul über alle Zertifikate verfügt, bleibt der Check extrem wichtig.“ Für Dr. J. Oprzynski ist Plug-and-produce ein Leitbild. Auf den Weg dahin sind noch einige Hürden, zum Beispiel in Bezug auf HMI und einheitliche Beschreibungssprache, zu nehmen. Literatur [1] Z VEI-White Paper „Modulbasierte Produktion in der Prozessindustrie – Auswirkungen auf die Automation im Umfeld von Industrie 4.0, www.zvei.org 3/15
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