Die Weisheit der Vielen

Bringt kollektive Intelligenz bessere Anlageentscheide?
Die Weisheit der Vielen
Ein Viehmarkt in England. Wir schreiben das Jahr 1906. Ein Statistiker lässt von
allen rund 600 Besuchern – vom Metzger bis zum gewöhnlichen Passanten –
das Schlachtgewicht einer Kuh schätzen. Der Durchschnitt aller Schätzungen liegt
gerade mal ein Pfund daneben und ist damit präziser als die beste Einzel­schätzung.
Lässt sich diese Erkenntnis auch auf Prognosen für Finanzmärkte übertragen?
Von Klaus Theiler,
Leiter Asset Management und Services,
Luzerner Kantonalbank AG (LUKB)
Warum sind Gruppen klüger als Einzelne? Dieser
Frage geht der US-amerikanische Journalist James
Surowiecki1 in seinem Bestseller «The wisdom of
crowds» nach. Eines der populärsten Beispiele
der jüngeren Literatur zu diesem Themenbereich.
Auf über 300 Seiten nennt er zahlreiche Situa­
tionen, Versuche und Beispiele, welche belegen
sollen, dass die Masse klüger sein kann als jede
noch so schlaue Einzelperson. Ein Beispiel: Die
Suche nach einem im Atlantik verschwundenen
U-Boot, welches von Amerika Richtung Mittelmeer unterwegs war. Man liess eine Menge U-Bootund Bergungsexperten sowie Seefahrer vermuten,
wo das Boot wohl hätte gesunken sein können.
Der berechnete Mittelwert bezeichnete einen
Punkt 650 Kilometer östlich der Azoren. Der aus
den vielen Meinungen aggregierte Koordinatenpunkt lag 200 Meter (!) neben dem Wrack in
3000 Metern Tiefe. Und schliesslich, um mit etwas
Aktuellem die Illustration abzurunden, kann man
auch den Publikums-Joker beim Fernsehspiel «Wer
wird Millionär?» erwähnen. Er ist in aller Regel
deutlich erfolgreicher als der Telefon-Joker, bei dem
jeweils nur ein einzelner, externer Experte befragt
wird. Weitere Feststellungen können die These stützen, beispielsweise der Erfolg von «Open Source»Technologien wie Linux oder auch die Verbreitung
kollektiven Wissens, Stichwort Wikipedia. Es lässt
sich offensichtlich auch darlegen, wie die Dezentralisierung von Entscheidungsstrukturen zum
Erfolg von Geheimdiensten beiträgt.
Wenn es also darum geht, bestmögliche Entscheidungen oder Annahmen zu treffen oder Vermutungen oder Schätzungen abzugeben, stellt sich die
Frage, ob die kollektive Intelligenz allenfalls eine
höhere Leistungsfähigkeit aufweist als individuelle
Expertenmeinungen.
Die Voraussetzungen für
kollektive Intelligenz
Kollektive Intelligenz enthält im eigentlichen
Wortstamm «collectivus», also: «angesammelt».
Eine angesammelte Intelligenz trifft genau den
Vorgang, der entsteht, wenn intelligente Entscheidungen von einer Masse von Personen getroffen
werden. Wenn also zu jeder Schätzfrage immer
Antworten aus den verschiedensten Blickwinkeln
heraus getroffen, und diese dann summiert und
aggregiert werden. Das Ergebnis ist kollektive Intelligenz beziehungsweise soziale Kognition – oder
umgangssprachlich: eine Weisheit der Vielen. Zuverlässig. Und immer wieder.
Doch welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein,
damit kollektive Intelligenz wirklich einen Mehrwehrt schaffen kann? Grundsätzlich kann man
sagen, dass ein brauchbares Ergebnis bei einer von
vielen Personen getroffenen Entscheidung entsteht, wenn
1.die Personen unabhängig voneinander ihre Meinung preisgeben – bei allen eingangs erwähnten
Beispielen wurden Personen separat und unabhängig voneinander befragt.
2.Meinungsvielfalt vorliegt, also möglichst verschiedenartige Personen an einer Schätzfrage
teilnehmen – sowohl das bunt gemischte Pub­
likum bei «Wer wird Millionär?», die U-BootBefragten aus verschiedenen Berufsbereichen,
als auch all die Jahrmarktbesucher bei der
Schätzung des Kuhgewichts tragen durch unterschiedlich geprägte Meinungen zur Vielfalt
und damit zu einem präzisen Ergebnis bei.
3.die Informationen dezentralisiert sind, was auto­
matisch dadurch zustande kommt, wenn Personen möglichst unterschiedlicher Hintergründe
eine Einschätzung abgeben.
1 James Surowiecki: Die Weisheit der Vielen. Die Weisheit der Vielen, warum Gruppen klüger sind als Einzelne und wie wir das kollektive Wissen für unser
wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln nützen können (Originaltitel: The wisdom of crowds, übersetzt von Gerhard Beckmann), Bertelsmann, München,
2005, ISBN 3-570-00687-5; Heyne Taschenbuch, München 2007, ISBN 978-3-442-15446-3
4.die Informationen gleichberechtigt sind – jede
Schätzung muss also gleichermassen zum Gesamtergebnis beitragen.
5. die Informationen aggregiert werden durch Mit­
­telwerte – wie im Falle des Jahrmarkts oder des
U-Boots – oder dem statistischen Median – wie
im Falle von «Wer wird Millionär?»
Je weitergehend diese Bedingungen erfüllt sind,
desto wirkungsvoller ist das zusammengetragene
Wissen beziehungsweise die kollektive Intelligenz.
Beeinflussen sich Teilnehmer
untereinander, leidet das Ergebnis
Sowohl bei Entscheidungen im Schwarm als auch
bei Entscheidungen in kleineren Gruppen: Entstehen Informationen durch Absprache oder gegenseitige Beeinflussung, verschlechtern sich die
einzelnen Aussagen, die letztlich zur kollektiven
Intelligenz führen sollen. An den Finanzmärkten
führt Schwarmintelligenz nicht selten zu Herdentrieb und zu schädlichen Informationskaskaden.
Die Anleger richten sich überwiegend blind nach
der Meinung des Schwarms, sie blenden ihre ei­
gene Meinung aus und es kommt zu nachteiligen
Übertreibungseffekten. Auch die Gruppenintel­
ligenz, also die Entscheidung innerhalb einer
Gruppe, verzerrt die eigene Meinung. Denn naturgemäss bestimmt die Person, welche die grösste
Überzeugungskraft hat, die Gruppenmeinung
massgeblich.
fache Regel befolgt: «Beweg Dich wie dein Nachbar». Mit Intelligenz im eigentlichen Sinne hat
das nur bedingt zu tun.
Das «Delphi-Prinzip» als Methode
zur Nutzung kollektiver Intelligenz
Wie auch immer die Definitionen lauten mögen:
Zentrale Punkte zur Erzielung gemeinschaftlicher oder kollektiver Intelligenz sind die Vielfalt
der Gemeinschaft sowie die Sicherstellung der
Unabhängigkeit zwischen den Mitgliedern. Zudem ist eine neutrale Aggregationsinstanz erforderlich. Sollte der Vorgang ein Prozess sein, bei
dem die Mitglieder von den anderen lernen dürfen, sind die Fremdinformationen zu anonymi­
sieren, um Gruppen- oder Schwarmverhalten beziehungsweise das Nachahmen des Inputs des
Lautesten, Charismatischsten oder hierarchisch
Überstellten zu verhindern. Die zwei- oder mehrstufige Delphi-Methode4 geht entsprechend vor
und kann so durchaus kollektive Intelligenz respektive eine erhöhte kognitive Leistungsfähigkeit
generieren.
Internet-Plattform Crowders setzt
auf Vielfalt und Unabhängigkeit
Schwarmverhalten ist nicht
gleich Schwarmintelligenz
Die Weisheit der Vielen nutzt die Luzerner Kan­
tonalbank auf einer elektronischen Plattform.
Dort prognostiziert eine Internet-Community die
Kurs­entwicklung der 30 Titel des Swiss Leader
Index SLI®. Die «Crowders» genannte Plattform
(www.crowders.ch) steht allen Interessierten offen,
also nicht nur Bankkunden. Sie ist die erste Umsetzung der Crowdstrategie der Bank.
Die Ökonomen Felicitas Morhart, Christian
Schimmelpfennig und Wolfgang Jenewein (Universtität St. Gallen HSG) haben sich im Kontext
der individuellen und kollektiven Intelligenz intensiv mit dem Thema Führungskompetenz und
Leadership befasst. Abgesehen davon, dass eine
hohe Treffsicherheit aus der Schätzbefragung
Vieler wohl eher dem Gesetz der grossen Zahlen2
zuzuschreiben ist, warnen die drei unter anderem
davor, Schwarmverhalten a priori mit Schwarmintelligenz gleich zu setzen3. Einfache Organisationsregeln, die bei Einhaltung durch Viele zu
einem Erfolg führen, dürften bisweilen eher ein
Schwarmverhalten bezeichnen, und nicht Schwarmintelligenz. Beispiel: Als Element eines Riesenschwarms von Staren ist man sich des Überfalles
von Greifvögeln dann sicher, wenn man die ein­
Das Konzept der Internet-Plattform «Crowders»
enthält einige Aspekte der Delphi-Methode: Es
basiert auf einer Vielzahl von Teilnehmern, die
sich ihre Meinung ohne gegenseitigen Austausch
bilden. Die diversen individuellen Eingänge erfolgen nicht mündlich, sondern schriftlich respektive durch Software-Unterstützung. Diese werden
dann konsolidiert. Das Konsolidierungsergebnis
steht allen zur Verfügung, allerdings ohne Benennung der Lieferanten der Inputs. Es gibt aber (im
Gegensatz zur Delphi-Methode) keine Rückkopplung beziehungsweise zusätzliche Runden. Ein
weiterer Unterschied besteht darin, dass beim
Delphi-Ansatz Experten befragt werden, die in
ihrer Anzahl überblickbar sind. Beim CrowdersPlattformkonzept kann die Anzahl der Teilnehmer
2 Das Gesetz der grossen Zahlen besagt, dass sich der Mittelwert einer grossen Zahl von Schätzungen dem tatsächlichen Wert annähert, obwohl einzelne Schätzer weit
danebenliegen. Je höher die Zahl an Meinungen, desto höher also die Güte und Aussagekraft der kumulierten Einschätzung. Statt Schwarmintelligenz erklärt also
vielmehr eine stochastische Gesetzmässigkeit dieses Phänomen.
3 Aus dem Blog von Christian Schimmelpfennig und Wolfgang Jenewein; «Harward Business Manager»; 18.8.2014
4 Die Delphi-Methode (auch Delphi-Studie, Delphi-Verfahren oder Delphi-Befragung genannt) ist ein systematisches, mehrstufiges Befragungsverfahren mit
Rückkopplung und ist eine Schätzmethode, die dazu dient, zukünftige Ereignisse, Trends, technische Entwicklungen und dergleichen möglichst gut einzuschätzen.
Namensgeber der Methode ist das antike Orakel von Delphi, das seinen Zuhörern Ratschläge für die Zukunft erteilte.
hingegen beliebig gross sein und es ist sogar erwünscht, dass die Teilnehmer nicht alles Experten sind, sondern ihre Erwartungen methodisch
in unterschiedlicher Weise bewusst oder sogar
bloss nach Gefühl kundtun.
Die Crowders-Plattform lässt zum Schätzobjekt
(Aktienkursentwicklung) keine Diskussion unter
den abstimmenden Mitgliedern zu. Darüber hinaus
müssen die Teilnehmer auch nicht LUKB-Kunden
sein. Damit sind die wichtigsten Voraussetzungen
für das Funktionieren geschaffen: Vielfalt, Unabhängigkeit, Verhinderung gegenseitiger Beeinflussbarkeit und Gruppendruck sowie Dezentralität.
Vielversprechender Feldversuch
Die Hochschule Luzern beziehungsweise das Institut für Finanzdienstleistungen IFZ hat im Juni
2015 eine Studie zu einer ähnlichen Internet-Plattform wie die von Crowders veröffentlicht. Dies unter dem Titel «Ein Kollektiv aus privaten Anlegern
vs. Experten: Wer trifft die besseren Investitionsentscheide?».5 Die Studie kommt zu folgendem
Schluss: «Bei der Betrachtung der Preisentwicklung kann man erkennen, dass crowdinvest.ch (…)
über dem Vergleichsindex liegt». Und dies obwohl
die Anzahl der aktiven Nutzer zur Zeit des Versuchs «sicherlich noch am unteren Ende der dafür
notwendigen Personen liegt». Die Studie liefert
damit wissenschaftlich belegbare Anhaltspunkte,
dass die Weisheit der Vielen das Genie des Einzelnen
schlägt. Das war schon 1906 auf dem Viehmarkt in
England der Fall. Und das will die Luzerner Kantonalbank nun auch für ihre Prognosen nutzen.
9. März 2016
5 Nicolas Bürkler (6-2015): «Ein Kollektiv aus privaten Anlegern vs. Experten: Wer trifft die besseren Investitionsentscheide?»; Hochschule Luzern Wirtschaft / IFZ