Der schwere Anfang nach der Ansiedlung Im Jahre

Der schwere Anfang nach der Ansiedlung
Im Jahre 1813, nach dem schrecklichen, dem „Franzosenwinter“, waren die Ernteaussichten
schlecht, die Wintersaat, die ohnehin nur auf einer kleinen Fläche ausgesät werden konnte,
war erfroren. Die Not der Ansiedler war so groß, dass Richelieu, der Gouverneur für
Südrussland, zur Linderung der Not zusätzliches Geld in St. Petersburg anforderte. Doch dort
hatte man andere Sorgen. Der Krieg mit Napoleon war noch nicht zu Ende, Geld war knapp.
So schickte man zwei Revisoren nach der Molotschna, um nachzusehen, welche Gründe zu
dieser Forderung führten. Sie inspizierten zusammen mit Contenius1 534 Wirtschaften und ihr
Bericht nach St. Petersburg liegt in Übersetzung vor und soll zur Beleuchtung der Armut hier
im Wortlaut wiedergegeben werden:
„Mit dem Erlaß vom 18. April 1813 Nr. 226 hat der Minister des Innern den Staatsrat und
Oberrichter Samuel Contenius beauftragt, über die Lage der Kolonisten eine Untersuchung
zu führen und über deren Lage zu berichten. Solchen Kolonisten, die ihre Wirtschaften
vernachlässigen und somit kein Auskommen haben, sollen die Wirtschaften weggenommen
werden und, damit sie nicht verhungern, zu Staats- oder Gemeindearbeiten heranzuziehen.
Ähnliche Maßnahmen waren bereits 1775 an der Wolga durchgeführt.
Diese Untersuchung betraf 534 Familien in acht Kolonien.
Contenius, dem das Schicksal der Kolonisten niemals gleichgültig war und der sie zu allen
Zeiten mit Rat und Tat unterstützte, nahm diesen Auftrag „nicht auf die leichte Schulter.“ Es
ging schließlich um das Schicksal von 2 397 Menschen, die seit drei Jahren nicht nur um ihre
Existenz, sondern um ihr Leben und gegen Hunger und Kälte kämpfen mußten.
Gleich zu Beginn seiner Arbeit rief er in einem Bethaus die Schulzen und Beisitzer aller
betroffenen Kolonien zusammen und beauftragte sie, ihm schriftlich und ehrlich ihre objektive
Einschätzung der Lage in ihren Kolonien zukommen zu lassen. Es soll dadurch festgestellt
werden, wie viele Wirtschaften durch Faulheit oder Unerfahrenheit in der Landwirtschaft
kein Auskommen haben.
Bald kamen die ersten Listen, von den Schulzen geschrieben und vom Oberschulzen Walther
bestätigt:
1. Faule Wirte 10
2. Nicht genügend Fleißige 17
3.Unerfahren in der Landwirtschaft 11
4.Durch Unglück und Krankheit vernachlässigt 12
Contenius erschienen diese Zahlen zu gering, daher beschloß er, selbst alle Wirtschaften zu
inspizieren um mit eigenen Augen die Situation zu erkunden weil er wusste: „So rosig wie
dargestellt kann es nicht sein.“
Dabei legte er Listen an, in denen jede Wirtschaft genau mit der Zahl der
Familienmitglieder, der Zahl der Arbeitskräfte, der Arbeitsgeräte wie Pflug und Egge, Anzahl
Pferde und Vieh, angebaute Flächen von Winter - und Sommergetreide aufgeführt wurde.
Die Analyse und die Gespräche mit den Kolonisten ergaben folgendes Ergebnis:
200 gute Wirtschaften
16 gute Wirte, deren Wirtschaften noch nicht voll entwickelt waren, da sie
vorher übernommen worden waren
.
1
Teil 1 Seite 61
erst kurze Zeit
37 Wirtschaften, deren Zustand wegen Krankheit oder Verlusten beim Vieh zu beanstanden
waren.
4 Wirtschaften, die infolge Todesfalls der Wirte in Vormundschaft gegeben wurden.
5 Wirtschaften, die Besserung erwarten lassen
12 Handwerker, die teils von ihrem Handwerk, teils von der Landwirtschaft leben.
Einem Handwerker, der ohne Erfolg seine Wirtschaft geführt hatte, aber mit seinem
Handwerk seine Familie ernähren kann, soll seine Wirtschaft einem anderen übergeben
werden, der sie erfolgreich führen kann.
2 Wirtschaften, deren Wirte behindert sind und ihrer Arbeit nicht nachkommen können, sollen
diesen abgenommen und anderen übergeben werden.
3 Wirten, die ebenfalls behindert sind, in deren Familien Unstimmigkeiten
herrschen und die nicht fähig sind, ihre Wirtschaften ordnungsgemäß zu führen, muss die
Wirtschaft abgenommen und anderen übergeben werden. Sie müssen mit
Gemeinschaftsarbeiten beschäftigt werden.
16 Wirte, denen man einen gewissen Fleiß nicht nachsagen kann, werden zu
Gemeinschaftsarbeiten gezwungen, ihre Wirtschaften aber nicht abgenommen, weil bei ihnen
Besserung zu erwarten ist.
5 Wirte, die bereits 1805 eingereist waren, werden wegen Faulheit zu Gemeinschaftsarbeiten
gezwungen.
9 Wirte werden wegen Faulheit und schlechtem Benehmen zu Strafarbeiten gezwungen.
Erklärung von Contenius zu den Ursachen dieser schlechten Lage der Ansiedler.
Der Getreideanbau und die ganze wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Kolonien ist
noch nicht weit fortgeschritten. Die Aussaat des Sommergetreides erfolgte in diesem Jahr in
wesentlich geringerem Ausmaß. Ein Teil des Saatgutes mußte im Winter, der sehr hart und
grausam war, an das Vieh verfüttert werden.
Die zuletzt angekommenen Siedler mußten einen Boden bearbeiten, der noch nie einen Pflug
gesehen hatte. Das nötige Zugvieh für Pflug und Wagen reichte nicht aus. So waren sie
gezwungen, für einen Pflug ihr Zugvieh zusammenspannen. Demzufolge konnte nur eine
geringe Fläche zur Aussaat genutzt werden.
Viele Wirte hatten drei und mehr Pferde, darunter waren jedoch viele Fohlen, die man erst
nach zwei oder drei Jahren einspannen konnte.
Von ihren russischen Nachbarn hatten sie gelernt, Lehmhäuser zu bauen. Die Arbeit ging
wegen Wassermangels mühselig und langsam voran, denn zum Bau eines Hauses brauchte
man das Wasser von drei bis vier Brunnen, die nicht vorhanden waren.2 Das Graben der 200
benötigten Brunnen kostete außerdem kostbare Zeit, die beim Ackerbau fehlte.
2
Teil 1 Seite 74
Mangel herrschte auch an Mühlen. Die wenigen vorhandenen lagen weit weg von den
Kolonien, der Weg dorthin nahm im Sommer ebenfalls viel Zeit in Anspruch, die bei der
Feldarbeit dringender gebraucht wurde. Im Winter war es noch schwieriger, denn ohne
Winterkleidung, an der es bei vielen mangelte, konnte man den langen Weg zur Mühle nicht
gehen ohne mit Erfrierungen an Händen und Füßen zurückzukommen. Damit war man dann
wieder im Frühling bei der Arbeit auf dem Feld behindert.
Viele Kolonisten, die in ihrem Herkunftsland bessere Verhältnisse hatten, waren der
Verzweiflung nahe. Durch den langen und schweren Weg hierher und das ungewohnte Klima,
das sie hier vorfanden, verloren viele Männer ihre Frauen und Kinder, viele Frauen ihre
Männer. Die Menschen verloren langsam ihre Lebensfreude verrichteten nur mühsam ihre
Arbeit, die ihre Existenz sichern sollte.
Doch die Zeit heilt alle Wunden, mit den Jahren werden sich die Schwierigkeiten
verringern und es wird sich ein besseres Leben einstellen. Nur ein Jahr mit guterErnte wäre
für den Anfang vonnöten. Doch dieses Jahr 1813 bringt nur eine mittelmäßige Ernte, da der
Regen erst im Juni kam.
Die zuletzt angekommenen Kolonisten kamen durch den vergangenen strengen Winter
besonders in Schwierigkeiten. Winterkleidung hatten sie keine mitgebracht, die für diesen
Winter geeignet gewesen wäre. Aus Mangel an Futter mußten sie ihre Vorräte mit dem Vieh
teilen. Strohdächer wurden abgedeckt und an das Vieh verfüttert. Die Dächer konnten im
Frühjahr nicht gedeckt werden, weil das Roggenstroh, das hierfür gebraucht wurde, wegen
Regenmangel zu kurz gewachsen war. Dazu ist ein großer Teil der Saatkartoffeln in diesem
strengen Winter erfroren und viele der Ansiedler verloren mehr als die Hälfte ihres Viehs.
Zu diesen Mißständen kam noch hinzu, dass die Einwanderer, die in den Jahren 1809 und
1810 angekommen waren, alle ihre Anschaffungen nicht nur teurer als ihre in den Jahren
zuvor angekommenen Landsleute erwerben mußten, sie bekamen dadurch für ihr
Darlehensgeld, das sie vom Staat erhalten hatten, demnach auch weniger Ware.
Die Androhung von Strafen machte großen Eindruck auf die Kolonisten und die Betroffenen
gelobten Besserung, denn ihnen war klargemacht worden, dass nur erfolgreiche Arbeit ein
dauerhaftes Fortkommen ermöglicht. Alle versprachen, in Zukunft die Regierung nicht um
Hilfe zu bitten.
Obwohl dieses Jahr keine große Getreideernte zu erwarten ist, verspricht die Kartoffelernte
gut zu werden, so dass die neuen Kolonisten es schaffen können, ohne Hilfe des Staates ihre
Existenz zu sichern.
Nach meiner Ansicht hat die ständige staatliche Hilfe auf einen Teil der Kolonisten keinen
guten Einfluß gehabt. Viele verließen sich darauf und ließen es an Eigeninitiative fehlen. Nur
eine solche Prüfung durch Not kann denen helfen, die selbst schuld an ihrer Not haben.
In meiner, gemeinsam mit dem Oberschulzen, den Schulzen und dem Gebietsinspektor
Sieber Analyse aller vorgelegten Protokolle, die die Lage der Kolonisten schildern, zeigt sich,
dass 33 Familien selbst schuld an ihrer mißlichen Lage sind, von denen 9 faul sind und 24
Familien sich nicht genügend in der Landwirtschaft auskennen. Dadurch bekamen der
Oberschulz und die Schulzen das Recht, die ersteren zu Strafarbeiten heranzuziehen und die
anderen zu Gemeindearbeiten zu verpflichten.
Die Schulzen waren von dieser Entscheidung nicht sehr angetan, da sie um das Schicksal
der Familien besorgt waren. Ich teilte die Sorgen der Schulzen voll und ganz, deshalb bitte
ich Euer Hochwohlgeboren um Erlass dieser Strafmaßnahmen.
In diesem Zusammenhang erhielt ich von drei Siedlungen Bittschreiben. 22 Wirte aus
Heidelberg baten um Gnade für den Wirt Franz Glaub. Aus Hochstätt setzten sich 19 Wirte
für ihren Landsmann Friedrich Schill und in Reichenfeld 17 Wirte für Johann Beck und
Martin Baerbach ein.“
Contenius seinerseits unterstützte nicht nur die Bitte der Landwirte aus diesen Dörfern,
sondern setzte sich voll und ganz für sie ein und bat den Innenminister, das Bürge der
Kolonisten anzuerkennen und ihre Bitte zu erfüllen.
In diesem Zusammenhang bat er den Innenminister, aus gesundheitlichen Gründen von
seinem Amt entbunden zu werden.
Dieses wohl einzigartige Dokument sei hier als Bestätigung des an anderer Stelle bereits
ausführlich beschriebenen Zustandes der Kolonien im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens
ungekürzt wiedergegeben. Die Not setzte sich auch im zweiten Jahrzehnt fort, denn bei allem
guten Willen, der in diesem Dokument zum Ausdruck kommt, war es den Kolonisten noch
lange nicht gegönnt, sich auch nur annähernd auf Lorbeeren ausruhen zu können. Ein paar
gute Ernten brachten sie tatsächlich voran, wie von Contenius in obigem Dokument
vorausgesagt. Brunnen wurden gegraben, Häuser gebaut und die Feldarbeit ging mit neuem
Arbeitsgerät besser voran. Ein gewisser Ansatz von Wohlhabenheit machte sich bemerkbar,
auch gegenüber den umliegenden Russen - und Ukrainerdörfern, die noch immer in Unfreiheit
lebten und durch ein anderes Gemeindesystem (Mirsystem)3 in ihrem Fortkommen behindert
waren. Neidvoll blickten alle auf die Mennonitendörfer auf der gegenüberliegenden Seite der
Molotschna. Diese waren schon unter besseren Bedingungen eingewandert, brachten
größtenteils ansehnliche Vermögen mit ins Land und verstanden es, diese sinnvoll und
ertragreich einzusetzen, was schon ihre Religion gebietet.
Die Hilfeleistung der Kolonisten während des Krimkrieges
Auch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, wie sollte es anders sein, mit Krieg.
Diesmal war es ein Krieg, der die deutschen Kolonien in Taurien zum ersten Male direkt
betreffen und ihnen Opfer abverlangen sollte. Unter der Bezeichnung „Krimkrieg“ ging er in
die Geschichte Russlands und auch in die Weltgeschichte ein, denn Russland war darin direkt
mit westeuropäischen Mächten konfrontiert.
Was Zar Alexander I begonnen hatte, führte sein Bruder, Nikolaus I fort und machte
Russland zur beherrschenden Macht in Europa, nichts ging ohne ihn.
1831 war er sehr nahe dran, den Traum aller seiner Vorfahren zu verwirklichen, einen freien
Zugang zum Mittelmeer zu haben. Russische Truppen hatten sogar Konstantinopel besetzt
und kontrollierten somit die Durchfahrt durch die Dardanellen. Daß sich damit Russland als
einzige Schutzmacht der Türkei aufführte und dadurch die Möglichkeit hatte, die Dardanellen
für fremde Schiffe zu sperren, das behagte den anderen europäischen Mächten nicht. Russland
wurde gezwungen, seine Truppen aus der Türkei zurückzuziehen und England, Österreich und
Preußen ein Mitspracherecht in diesem Zipfel Europas einzuräumen.
Trotzdem blieb Russland in Europa für viele Jahre ein bestimmender Faktor in der
europäischen Politik. Doch immer mehr zeichnete sich ab, daß alle europäischen Staaten mit
Ausnahme der Balkanstaaten bestrebt waren, Russlands Einfluß abzuschütteln und „Russland
hinter seine natürlichen Grenzen zurückzudrängen“.4
3
4
Siehe Teil 1 Seite 127
Hans v. Rimscha: Geschichte Russlands
Aber erst einmal bewies Nikolaus seine Stärke, als er während der 48er-Wirren den
europäischen Staaten Österreich zu Hilfe kam und in Ungarn half, einen Aufstand
niederzuschlagen. Man kann sagen, Nikolaus I. war 1850, im Jubiläumsjahr seiner
Regierungszeit (25 Jahre seit seiner Thronbesteigung), auf dem Gipfel seiner Macht.
1853 setzte Nikolaus wiederum, diesmal unter dem Vorwand, die verloren gegangenen
Rechte der orthodoxen Christen in der Türkei wiederherzustellen, seine Truppen gegen die
Türken und in Richtung Konstantinopel in Marsch.
Dieser Krieg weitete sich zum so genannten Krimkrieg aus, als die Westmächte militärisch
eingriffen, um Russlands Vormachtstellung endgültig zu brechen und seine Kontrolle über
den Zugang zum Mittelmeer für alle Zeiten zu verhindern. Sie zwangen Russland, seine
Truppen aus dem Balkan zurückzuziehen.
Diese wurden auch woanders dringend gebraucht. Ein englisch – französisches
Expeditionskorps war auf der Halbinsel Krim gelandet. Die Kämpfe dort gipfelten in der
Belagerung von Sewastopol, das nach 349tägiger Belagerung im August 1855 kapitulieren
mußte.
Damit war der Krieg für Russland verloren, es mußte sich dem Diktat der Westmächte
beugen und unter anderem folgenden Bedingungen zustimmen: Neutralisierung des
Schwarzen Meeres, freie Schiffahrt mit Ausnahme von Kriegsschiffen, kein Bau von
Festungsanlagen an den Küsten.
Soweit ein Ausflug in die Geschichte Russlands zum besseren Verständnis des
nachfolgenden Berichtes.
Die taurischen Kolonien beiderseits der Molotschna und auch die weiter östlich gelegenen
Planerkolonien, die deutschen Kolonien um Berdjansk und die in der Krim wurden zum
ersten Mal seit ihrer Gründung direkt in eine kriegerische Auseinandersetzung hineingezogen.
Die Molotschnaer Kolonien lagen an der Durchzugstraße der Militärkolonnen nach Süden
zur Krim. Es waren die alten Tschumakenstraßen, die Jahre später durch den Bau der
Eisenbahn an Bedeutung verlieren sollten. Der gesamte Nachschub führte über dieses Gebiet
und der überaus schlechte Zustand dieser Straßen, aufgewühlt durch viele tausend Fahrzeuge,
war sicher mit ein Grund für die Niederlage der russischen Armee in der Krim.
Unsere Kolonisten, mitten drin im Geschehen, hielten sich nicht zurück und bewiesen ihre
patriotische Gesinnung durch tätige Hilfe, die später durch allerhöchstes Lob ausgezeichnet
wurde.
Truppeneinquartierungen nahmen sie klaglos hin. Sie versorgten die Truppen mit
Verpflegung, Pferdegespannen und Wagen. Vorwiegend bei den Mennoniten bezogen viele
höhere Offiziere Quartier, unter denen eine ganze Anzahl, auch Generäle, deutsche Namen
trugen.
Es ist bekannt, daß sich General Totleben, der Verteidiger Sewastopols, mehrmals in den
Kolonien aufhielt. Ebenso lernten sie auf diesem Weg den Oberbefehlshaber der russischen
Krimarmee, General Graf Lüders und den Kommandeur der Artillerie General Scheidemann
kennen.
Die Mennoniten richteten Lazarette ein und auch die Kolonisten rechts der Molotschna
standen ihnen an Opferbereitschaft nicht nach. Allein in Prischib wurden drei Lazarette
eingerichtet und insgesamt 1 500 Verwundete versorgt.5
In diesem Zusammenhang sei ein Hinweis aus dem „Unterhaltungsblatt“ aus dem Jahre
1857 zitiert. Daraus ist ersichtlich, daß zum Jahresschluß 1855 in allen deutschen Kolonien
der Pferdebestand 97 836 betrug mit dem Zusatz: „Die Zahl der Pferde und Ochsenhat sich
gegen das vorhergehende Jahr vermindert in Folge von Entkräftung, der das Vieh in den
Frohndienstleistungen der Kolonisten für das Militär bei äußerst schlechten Wegen
unterlag.“
5
Stach: die deutschen Kolonien in Südrussland
Es gibt einen Zeitzeugen, der dies oben Gesagte in einem Brief an seine Verwandten in
Deutschland bestätigt. Es war der Lehrer Franz Huth aus Alt – Nassau, dessen Briefe, die er
laufend in die alte Heimat geschickt hatte, bis heute erhalten geblieben sind:
„... Aber Gott sei Dank haben wir noch nicht das Geringste gelitten. Unsere Kolonisten
haben fast den ganzen Winter und auch noch jetzt, Proviant, der aus dem Inneren Russlands
kommt, nach der Krim gefahren. Aber die Regierung bezahlt alles und so fehlt es hier nicht an
Geld, obgleich der Getreidehandel ins Ausland nicht geht. Militärdurchmärsche haben wir
nur im vorigen Jahr gehabt und die Soldaten wurden von den Kolonisten mit Enthusiasmus
aufgenommen, verpflegt und zu Wagen weiterbefördert. Und auf den Wunsch der Kolonisten
sind einige tausend Mann, kranke und verwundete Krieger, hierher in Pflege gegeben
worden, welche sich die Kolonisten in der Krim abholten, die leicht Verwundeten in je ein
Haus einquartiert, die schwer Verwundeten aber in eigens dazu eingerichteten Lazarette
untergebracht worden sind. Eines dieser Lazarette haben wir hier in Alt - Nassau gehabt.
Von den Gestaden des Asowschen Meeres liegen Meldungen von Zerstörungen vor, die die
Feinde in den friedlichen Handelsstädten dieses Gebietes angerichtet haben, wo sie doch
früher ihr Getreide holten. Man rechnet ihnen nicht viel Humanität zu, wie aus der Stadt
Kertsch berichtet wurde, wo hauptsächlich die Engländer mit den Türken wetteiferten, die
dortigen Bewohner zu berauben und zu mißhandeln. Viele dieser Kertscher haben sich, von
allem entblößt, hier in den Kolonien ein Unterkommen gesucht.“
Im Jahre 1855 starb Zar Nikolaus I. Ihm folgte sein ältester Sohn als Alexander II. auf den
Thron.
Dieser galt als sanftmütig, nachgiebig, aber auch gerechter als sein Vater, ja, er war das
genaue Gegenteil von ihm. Aber, und das unterschied ihn von den früheren Thronfolgern, er
war auf das für ihn bestimmte Amt bestens vorbereitet. Sein Vater ließ ihn rechtzeitig an allen
politischen Entscheidungen teilnehmen und so brachte er jetzt im Alter von 38 Jahren
genügend Erfahrung mit für sein neues Amt als „Zar aller Reußen usw.“
Er beendete den Krimkrieg nach längerem Zögern, lockerte z. B. die von seinem Vater
eingeführte Zensur, sorgte dafür, daß mehr Studenten an die Universitäten kamen (bei seiner
Thronbesteigung gab es im gesamten russischen Reich lediglich 2 900 Studenten), gründete
Schulen und Gymnasien und gestattete wieder Auslandsreisen für die geistige Elite.
Erwähnenswert ist weiterhin die Abschaffung der Prügelstrafe, die sogar gesetzlich verankert
war.
Anläßlich seiner Krönung erließ er eine Amnestie, die unter anderen auch den Dekabristen
zugute kam.