leseprobe - Open Publishing

LESEPROBE
Angie Volk
ANNA (Arbeitstitel)
Novelle
Marmelade ist etwas sehr Tröstliches für mich. Ich denke dann an russische Zaren, die süße,
schwere Marmelade in Tee tunken, weiß nicht mal ob das stimmt, ob man das wirklich so
gemacht hat in Russland. Finde das Bild gut dahinter, finde es gut etwas zu pflücken, zu
waschen, zu kochen, zu verschrauben und es dann in Tee zu tun und am Ende ist es einfach nur
noch süß und Zucker hätte es auch getan. Juni-September konservieren, dabeihaben, auch das
ist tröstlich, auf so eine abgeschmackte Art. Kleine Sommerfossilien, dicke, zerschlissene
Erdbeeren, Brombeeren, Quitten.
An Oma denke ich gar nicht so sehr dabei, nicht an ihre alten, weichen, blassen Arme bis zum
Ellbogen in Hollunder und sauer blutende, ausgewrungene Küchenhandtücher, sondern
meistens wirklich an russische Zaren und das reicht dann um zu trösten.
Ich hatte heute morgen Apfelgelee, wollte eigentlich lieber Aprikose, dachte, jetzt bin ich
schon mal hier, wann gibt es schon mal irgendwo Apfelgelee.
Es war dann sehr dünn, fast durchsichtig, uringelb. Nach langen Tagen mit viel Trinken. Eine
Weile habe ich auf dieses dünne Zeug gestarrt und dachte, was soll denn das, warum geben sie
denen sowas. Warum Apfelgelee und Schinken und Kassler und Pute und anderes hellrosa
Zeug, aber dann so dünn. Oder mit dickem, grauem Faserstrang einmal durch das Fleisch, so
dass sich die Scheiben in zwei Hälften teilen, blass pinker Fettglanz und Zungenrot. Und
abends Salat mit Oliven und Feta und allem Drum und Dran, aber dann beißt man auf Pappe,
irgendein Stück Verpackung und man denkt was soll denn das. Dann lieber keine Oliven,
keinen Salat, dafür das Gefühl, jemand hätte das gemacht für jemanden und wusste das in dem
Moment.
Dass das teuer ist und was das wieder kostet, denke ich, kaue und schäme mich, weil es mir
doch eigentlich gar nicht zusteht hier zu essen, also was soll das Ganze. Ich hole mir
schließlich doch noch Aprikose, trotzdem, halte die zweite Tasse Kaffee dabei so weit weg von
der anderen, dass irgendwie klar wird, sie ist für Anna, nicht beide für mich.
Ich schmeiße die Zahnbürste weg und die Zahnpasta, die du mitgebracht hast. Muss die
Kleidung waschen, alles, getragen oder nicht, vor allem die Hose. Ich kann das Material nicht
mehr riechen, mir wird schlecht davon.
Sehr helles, gelbes Licht, alles klingt wie als Kind durch Shampoo. Der andere Arzt schreibt,
fragt nichts mehr, ich höre dem dumpfen Klackern seiner Computertatstaur zu. Denke, sie ist
alt, dicke, schwere Tasten, wie in den 90ern. Lese Handfixierung M und L, frage mich was mit
S ist. M muss dann wohl reichen, wird wohl einfach ganz eng geschnürt und dann hat es sich.
Wie oft das wohl vorkommt. Und ob dann L nicht eigentlich reicht für alle.
Ich lasse meinen Kopf zwischen die Knie sinken und rieche die verdammte Hose, das Plastik,
meinen Schweiß, bilde mir ein mich selbst zu riechen, meine Scham. Rieche plötzlich alles wie
durch ein Mikroskop, auch Tage später noch. Der andere Arzt fragt ob alles gut sei, sagt
meinen Nachnamen. Mir fällt auf, wie das aussehen muss, meine Stirn so zwischen den
Schenkeln. Ich richte mich auf, frage nach Wasser, so zivilisiert es geht, sage zweimal bitte.
Danke, danke, sehr gut, vielen Dank. Ich kann das Wasser nicht trinken, mir wird übel davon,
ich nippe, halte meinen Bauch, kann auch nicht nichts trinken, bin gierig vor Durst, wie das
aussehen muss. Nippen und Halten, mit Gier, so abwechselnd. Der andere Arzt hört auf zu
schreiben und misst meinen Puls. Haben Sie das immer so, will er wissen, so niedrig. An
meinem rechten Zeigefinger hängt eine Plastikklammer, auch für jeden eine neue,
wahrscheinlich. Ich nicke, soll mich hinlegen, es sei ja auch wirklich schon spät, es war viel
los. Er geht dann nochmal irgendwo hin und ich schiebe mich schwer hoch, bin erleichtert,
dass er weg ist, gehe zurück zum Papierkorb. Ich habe beim Reinkommen meinen Beutel
reingeworfen, drehe ihn jetzt so um, dass man das Erbrochene nicht sehen kann, der andere
Arzt das nicht sehen muss, wenn er was wegwirft später. Einen Handschuh, einen Becher,
einen leeren Kugelschreiber. Ich hatte mich vorhin schon daran gestört, habe mich nicht
getraut nochmal hineinzugreifen, wie hätte das denn ausgesehen. Ich beeile mich, der andere
Arzt kommt zurück, ich muss noch was unterschreiben, es ist mir egal. Meine Unterschrift
sieht komisch aus. Ich denke das manchmal, das sieht jetzt aus, als würde ich meine eigene
Unterschrift schlecht fälschen, das glaubt mir doch kein Mensch. Aber es ist auch egal.
Dann gehen wir durch die andere Tür hinaus und wieder bin ich erleichtert. Diesmal, dass ich
nicht nochmal an den ganzen andere vorbei muss. Den Mann, dem sie irgendwie ins Auge
gebissen haben, so sieht es jedenfalls aus, den ganzen alten Leute. Den alten Mann, der
aussieht, als wäre er mit der weißen Schicht von Orangen überzogen, überall, ich rieche ihn bis
hier. Vorbei an den kleinen, verschwindenden alten Damen, mit ihren wirren weißen
Clownshaaren. Mit einer stoße ich fast zusammen, mein Bett gegen ihrs, keine
Entschuldigung, der Pfleger ist auch müde oder routiniert, er schiebt weiter. Ich lächle für ihn.
Die Kleine hebt den Kopf, reißt die Augen auf, verzieht den Mund dann dankbar in beide
Richtungen nach oben, ohne Zähne. Sie sieht aus wie ein Tierchen aus einer Höhle oder
irgendein Gemälde, es fällt mir nicht ein, ich lasse den Kopf sinken.
Sie ist so komisch verschwitzt, so klebrig, sagt die Schwester sehr laut, und erzählt dann dem
einen Arzt alles. Und wie vorher, als der Sanitäter der Schwester erklärt hat wer ich bin, hören
alle zu, der Gebissene, die Alten und dieses eine Mädchen, das einfach nur nach vorne gebeugt
schweigt und vorsichtig schaut. Wahrscheinlich gibt es sehr gute Gründe, warum sie hier ist,
irgendwas mit Diabetes oder einer Wespenallergie. Wahrscheinlich hat sie irgendwo am
Wasser gesessen, in einer netten Runde, es ist schließlich eine der letzten warmen Nächte, man
muss den letzten Rest Sommer genießen. Wahrscheinlich hat sie ein Bier mit Limo getrunken,
immer mal wieder schüchtern gelächelt, sich Haare hinter das Ohr geschoben. Die Wespe nicht
bemerkt, die ihren Hals entlang gewandert ist, irgendwann irritiert zugestochen hat und dann
davon gebraust ist, in einem Affenzahn, selbst noch ganz perplex. Irgendwer hat dann wohl
einen Krankenwagen gerufen, ihr ein nasses Tuch auf die Stirn gelegt, keine Panik.
Ich bin sauer auf sie, denke, wie laut die Schwester über all das spricht, das Mädchen kann das
doch hören. Ich werde auch sauer auf den Sanitäter, weil er es der Schwester erzählt hat, fühle
mich verraten. Er hat alles aufgezählt, meine ganzen kleinen Geheimnisse, einen Euphemismus
benutzt und etwas, was er wohl Jugendsprache nennen würde. Sich fast verschwörerisch zur
Schwester gebeugt, dabei trotzdem geschrien, mit irgendeinem bitteren, weißen Geschmack in
den Mundwinkeln.
Ich denke an seine ernsten Augen im Wagen, seine Armbanduhr, an Micky Maus und ihre
Arme die Zeiger. Ich hatte auch mal so eine glaube ich, mit Minnie Maus und wo die hin ist,
frage ich mich. Schließe die Augen und versuche meine Unterlippe nicht vorzuschieben,
schlucke ein paar Mal.
Der eine Arzt beugt sich über mich, sagt, dass er der leitende Stationsarzt sei heute Nacht. Ich
denke, dass kann doch nicht sein, haben wir nicht zusammen Abi gemacht, wie alt bist du, wie
kann das denn sein. Wahrscheinlich heißt du Florian oder Andreas oder Lorenz. Er sieht das in
meinem Blick und guckt beiseite, googelt die Medikamente und rechnet irgendwas mit
meinem Gewicht, meiner Größe. Sieht trotzig aus dabei. Haben wir nicht letztens zusammen
getrunken im Bertholds, uns vielleicht sogar kurz angeschaut, einfach weil man es so macht,
weil es sich anbietet wenn man aneinander vorbeigeht oder irgendwo steht, mehr Zählen als
echtes Interesse. Bist du nicht ein Bekannter von Peter oder über Ecken mit Britta verwandt
und wieso sind deine Zähne so so weiß, das kann doch nicht sein, ist das weil du Arzt bist, ist
das dann so. Er sieht auch alle weiteren Fragen und antwortet nicht, schiebt stattdessen den
Mauszeiger umher, lässt Filz auf meinen Brustkorb kleben. Die Schwester sagt dabei laut ihren
Vornamen, gibt mir die Hand und ich habe ihr schon verziehen, erleichtert, sie ist immer so
laut, scheinbar. Zumindest möchte ich das so. Zähne auf Papier, von Krokodilen, sachte
Wogen, es beruhigt mich und das ist ironisch. Die Schwester reibt sich die Augen, die
Kopfhaut, die Nase mit dem Handrücken, zieht das Papier aus dem Schlitz, ungeduldig, guckt
nicht drauf.
Der eine Arzt übergibt mich dem anderen, er hat jetzt nichts mehr mit mir zu tun, ich werde
ihn nie wieder sehen, höchstens mal bei Britta oder im Bertholds. Das wird dann komisch
werden. Erinnerst du dich, ein Metallknopf über meiner linken Brustwarze und klebriger
Schweiß überall. Was war denn da eigentlich los.
Der andere Arzt und ich gehen einen sehr leisen, sehr leeren Gang hinunter und ich denke, das
ist der leiseste Ort an dem ich je war, will das sagen und fragen, ob das immer so leise ist oder
nur nachts, ob tagsüber Menschen hier Sachen schreien, es dann schnell gehen muss,
Plastiksohlen quietschen, irgendwas metallisch klappert. Aber ich traue mich nicht, kriege kein
Wort raus. Dabei sage ich sowas doch immer, vor allem zu Fremden, damit sie kurz stutzen
und einen Augenblick mit mir über so kleine Dinge nachdenken und sich dann wundern
irgendwie und wissen wer ich bin. Aber heute sage ich nichts, versuche mich angemessen zu
verhalten, bin müde und denke, niemand muss sich wundern heute Nacht.
Der andere Arzt blättert, erklärt etwas, vergisst den Etagenknopf im Fahrstuhl, ich sage immer
noch nichts, warte bis er es bemerkt. Irgendwann fahren wir dann, sind wohl da, ein Mann
macht uns auf, hat runde, traurige Falten um die Augen.
Er sieht aus wie einer dieser Hunde mit den langen Ohren und den roten Lidern. Er tut mir leid.
Der andere Arzt erklärt alles nochmal, wiederholt was ich ihm erzählt habe, sagt oft Dinge
doppelt, es fällt mir auf und dem traurigen Mann auch, dem anderen Arzt nicht. Wir nicken
alle drei zusammen, verstanden, alles verstanden. Der andere Arzt geht dann und schüttelt mir
unbeholfen die Hand, alles Gute, er sagt meinen Nachnamen, passen Sie auf sich auf heute
Nacht, wir sehen uns morgen, die Tage.
Ob ich rauche, möchte der traurige Mann wissen als wir alleine sind, es ist fast eine Bitte, ein
Angebot. Ich sage ja, will dann aber keine Zigarette, obwohl ich mich fühle als ob ich einen
Pakt ausschlage. Will trotzdem nicht Rauchen und Halten, abwechselnd, den Bauch, mir ist
immer noch schlecht, der Gedanke an Nikotin fühlt sich chemisch an in meinem Mund und
falsch.
Der traurige Mann nickt, stellt sich dann etwas verloren vor eine Kreidetafel, runzelt die Stirn.
Eine große, schwere Schwester kommt von irgendwoher und stellt sich daneben, liest die
Namen fast tonlos vor sich hin. Sie hat einen osteuropäischen Akzent, ich mag sie auf Anhieb,
mag beide, den traurigen Mann und sie, würde mich am liebsten zwischen sie stellen, mich
kurz anlehnen, an jede Schulter. Es dauert lange, sie kneifen die Augen zu und sagen nichts,
oder vielleicht doch, sehen sich ab und an mal an, deuten immer mal wieder auf Namen.
Schließlich haben sie sich entschieden. Der traurige Mann nickt nochmal, winkt halb als er
sich wegdreht, geht irgendwo hin, wahrscheinlich nur, weil es gerade nicht mehr zu sagen gibt.
Ich möchte hinterher rufen, Morgen rauchen wir, morgen rauchen wir zusammen, bestimmt.
Besinne mich, lasse es, folge stattdessen der schweren Schwester.
Wir gehen ein paar Schritte, dann schiebt sie sich in ein Zimmer, sagt, Komm, komm. Sie ist
die erste die mich duzt. Ich möchte mich nochmal anlehnen, möchte kurz stehen bleiben,
möchte, dass sie mir irgendwas aus dem Gesicht wischt und ihre Hände dann nach Nivea
riechen oder nach Fenchel. Anna Anna, murmelt sie schließlich, gurrt fast. Anna Anna, sie
schnurrt es, Anna Anna, du musst heute nicht alleine schlafen.
Und dann sehe ich Anna zum ersten Mal.
Sie sieht wirklich wie Schneewittchen aus, sieht ganz besonders aus wie Schneewittchen in
dieser Nacht. Liegt auf dem Rücken, beide Hände vor dem Herzen, ihre schwarzen Haare wie
dickes, zähes Öl um ihr Gesicht gebreitet und die Haut dabei so blass und durchsichtig und
marode, wie Haut nur sein kann, wenn der Mond drauf scheint und lange schon nicht mehr
richtig Sonne. Fast andächtig sehen wir Anna an, dann sagt die schwere Schwester, Das Licht
lasse ich an und ich schaue immer mal nach euch, schaue ob ihr euch versteht. Brauchst du ein
Nachthemd, fragt sie und ich bin froh endlich aus der Hose rauszukommen, nicke, merke, dass
ich keine Unterwäsche trage, schäme mich, will nicht, dass die schwere Schwester es bemerkt.
Sie gibt mir ein großes, langes Nachthemd, das aussieht wie ein weißer U-Bahnsitz. Ich streife
es mir über im Badezimmer, ziehe die Tür zu und mache Krach dabei, erschrecke mich, hoffe,
dass Anna nicht wachgeworden ist, will nicht, dass das das erste ist, was sie von mir mitkriegt,
dass ich sie wach mache. Weiß da noch nicht, dass sie nicht geschlafen hat, nachts nicht
schläft, nie eigentlich, oder immer, dass sie nur auch einfach nicht wusste, was man sagt,
gelauert
hat,
irgendwie.
Die schwere Schwester verbessert mich, die Knöpfe kommen nach vorne, weißt du, ganz
normal, es drückt doch sonst beim Liegen. Sie sagt es geduldig damit ich nicht zu vorwurfsvoll
mit mir bin, es klappt nur halb, ich versuche zu grinsen, es klappt schlecht. Sie setzt sich kurz
zu mir, erklärt dass jetzt Wasser in meinen Arm läuft, dass das gut ist und wichtig und fast gar
nicht stören wird beim Schlafen. Lauscht kurz auf das Tropfen, wir lauschen gemeinsam, dann
drückt sie mein Handgelenk, geht und zieht die Tür hinter sich zu. Und das erste Mal bin ich
mit Anna alleine.
Ich habe Angst vor ihr. Schaue auf ihre pinken Turnschuhe, auf die Blumen, die Nüsse, den
Apfel vom Vortag. Habe Angst, weil das alles so selbstverständlich aussieht, wie eine
Mandeloperation, ein paar Tage Vanilleeis.
Weil sie so schön ist, dass man nicht wegschauen will und es dann irgendwann anstrengend
wird und ich es einfach nicht begreifen kann, was kann sie denn haben, so ein schöner Mensch,
welche Probleme kann sie denn haben, wieso ist sie hier. Ich liege eine Weile so da und starre
ihr ins Gesicht, frage mich, ob sie vielleicht heimlich auch schaut, durch die Wimpern
hindurch zurückschaut und denkt, Was will sie denn, warum starrt sie so, was will denn dieses
müde Mädchen in diesem albernen Hemd.
Nichts passiert für eine sehr lange Zeit außer das Tropfen und das es heiß wird, ich immer
mehr klebe unter der Decke, die mit dem Krankenhausschriftzug bedruckt ist und verschlissen
aussieht, als hätte man sie im Meer gewaschen und zum Trocknen in die Sonne gehängt, zu oft.
Ich kann mich nicht abdecken, ich habe Angst, dass ich mich im Schlaf zusammenziehe, meine
Knie halte und dann die schwere Schwester sieht, dass ich keine Unterwäsche trage, wenn sie
schaut, ob Anna und ich uns verstehen.
Man kann die Fenster nicht öffnen, natürlich nicht. Also liege ich da und atme einfach etwas
langsamer, Wasser schlägt auf Wasser auf, rhythmisch. Salziges Wasser rinnt in langen
Bahnen und ich schaue Anna weiter an.
Irgendwann schlafe ich doch ein.
Es ist kaum Zeit vergangen oder sehr viel auf einmal, zumindest ist es noch dunkel als ich
wach werde, oder wieder. Ich kann es nicht einschätzen, fast wie wenn man nachmittags
einschläft, es dann dämmert, und beides sein könnte, spätes oder frühes, fahles Licht. Dann
fällt es mir ein.
Anna steht neben meinem Bett, schräg zur Seite gedreht, scheint zu überlegen, wartet. Ich
warte auch, denke, Sieht sie mich, sieht sie mich, weiß sie, dass ich hier bin.
Sie beginnt ihre Routine. Geht zur Wand, die ohne Fenster und Tür, lehnt die Stirn an, seufzt,
einmal, zweimal, dreimal, hockt sich auf den Boden. Klettert sehr vorsichtig, sehr langsam
unter den Tisch und macht sich sehr sehr klein.
Ich denke, das ist schon okay, Anna, ich verstehe das, das ist wie Kind sein, ich kenne das. Ich
würde auch gerne manchmal unter dem Tisch schlafen, das ist schon okay. Viele wollen das
und die wenigsten machen das, hier darfst du, hier erwartet man es fast, also mach es doch
einfach. Ich jedenfalls verrate es nicht.
Irgendwann klettert sie wieder hervor, überlegt, legt sich wieder ins Bett, deckt sich sehr
mühsam zu. Ein paar Momente vergehen. Dann beginnt sie von vorne, aufstehen, warten,
seufzen, einmal, zweimal dreimal, der Tisch, aufstehen, überlegen, hinlegen, zudecken. Wieder
und wieder, ich schaue ihr dabei zu, es beruhigt mich, es erklärt irgendwas. Irgendwann fällt
ihr wohl etwas ein, sie seufzt nicht, greift dafür nach ihren Schuhen, nach Pullovern, ihrer
Jacke, zieht sich an, als ob sie Spazieren gehen will im Schnee.
Zieht den Reißverschluß bis zur Nasenspitze zu, die Kapuze tief in die Stirn, greift, tastet in
den Taschen und geht dann raus, sieht von hinten aus wie ein kleiner Eskimo. Ich warte.
Draußen vor der Tür sind Stimmen, eine davon gehört Anna. Ich will gehen, ich will nach
hause, lasst mich doch gehen, das ist doch mein Leben, lasst mich doch gehen. Die schwere
Schwester gurrt etwas, die Tür geht auf, Anna wird zurückgeschoben. Anna Anna, ein
Schnurren, ein Murmeln, Anna Anna, du musst doch schlafen, schau mal, das andere Mädchen
will doch auch schlafen. Ich presse meine Augen fest zusammen, will mich auszeichnen durch
ganz tiefen Schlaf, macht nur, mich stört es nicht, ich bin gar nicht hier, macht euch keine
Mühe. Guckt mal, ich schlafe wirklich wie ein Stein, keine Sorge.
Wahrscheinlich schaut Anna mich eine Weile an, überlegt, legt sich dann wieder hin, lässt sich
zudecken von der schweren Schwester, schaut zu wie sie das Tropfen zählt, mein Handgelenk
hält. Wie tief das Mädchen schläft, unglaublich. Ich hoffe, dass es sie erleichtert, dass sie weiß,
sie hat von mir nichts zu befürchten, dass ich sie nicht stören werde. Die schwere Schwester
geht und eine Weile ist es still zwischen Anna und mir. Dann sagt sie, sehr leise, Ich will nach
hause. Weißt du, ich will doch nach hause. Ich starre stumm, mir fällt keine richtige Antwort
ein.
Sie beginnt ihre Routine von vorn, immer wieder. Ich zähle mit, dämmere ab und zu weg,
werde wach, Anna neben mir, Anna auf dem Boden unter dem Tisch, Anna im Bett, seufzen,
seufzen, seufzen, Anna die kleine Schneefrau, die schwere Schwester, ihre Hand, die stumm
meinen dumpfen Blutschlag zählt und das Wasser. Es wird langsam hell, Annas Stimme wird
lauter, sie will wirklich gehen, sie will jetzt gehen, es reicht.
Irgendwann ist Frühstückszeit, vor der Tür verdoppeln, vervielfachen sich die Stimmen. Anna
kommt von ihrem Spaziergang mit duftenden, roten Tee zurück. Ich bilde mir rosa Wangen
ein, Frost in den Haarspitzen. Das ist natürlich Quatsch.
Wir haben uns jetzt offiziell bemerkt, Anna und ich, schauen aber noch aneinander vorbei. Sie
geht noch mehr Tee holen und ich ins Bad, bin neidisch auf ihre Zahnbürste, ihr Deo, ihr
Pfirsichduschgel.
Es sieht aus, als würde Anna ewig schon hier wohnen, die Kacheln tragen tiefe bunte Ringe
von ihrer Waschlotion, ein festes, schwarzes Gewebe aus Haaren wächst am Wasserhahn. In
einer nassen Ecke liegt ein Handtuch ohne Krankenhausschriftzug, sehr selbstverständlich, es
wirkt fast intim.
Ich stehe eine Weile da, sehe das alles, frage mich, kann ich die Dinge hier kaufen, habe ich
genug Geld dabei. Ich habe gestern mein Buch gegriffen, meine Brille sogar, meinen großen,
weichen Schal, aber keine Unterwäsche, keine Zahnbürste, kein Shampoo und zu wenig Geld.
Wie lächerlich.
Endlich traue ich mich in den Spiegel zu schauen. Erschrecke nur kurz, habe es ja vermutet,
große, graue Schatten, das ganze salzige Wasser der Nacht im Haar und dieses alberne
Nachthemd, wie inszeniert. Ich gehe zurück ins Bett, wickle meinen Schal eng um meine
Schultern. Ich muss dich wohl anrufen. Ob du was vorbei bringen könntest, so ein zwei Dinge.
Es beiläufig sagen, bloß keine Aufregung, bloß keine Panik, ein Handtuch wäre gut und
vielleicht eine Bürste.
Ich könnte auch meine Mutter anrufen und innerhalb kürzester Zeit wäre alles da,
wahrscheinlich mehr als ich brauche. Duschgel mit deutschen Vorstellungen von
orientalischem Duft, ein Stilkamm und Kniestrümpfe, Kreuzworträtsel und Zootiere aus
Butterkeks. Es wäre mir peinlich vor Anna und den anderen. Mein Vater würde traurig strafen
mit dem ganzen Gesicht und nichts sagen, furchtbar alt dabei aussehen, gealtert, es würde mir
nochmal auffallen, wie Zeit vergeht, vergangen ist. Vergänglichkeit ein immer kürzerer Strich
wird. Meine Mutter würde hysterisch Luft ein- und auspusten, dabei weinen, warum und wie
kannst du nur, du hättest anrufen können, ist es denn immer noch so schlimm, davon hast du
nichts, nie was gesagt, wir haben doch nachgefragt, oft genug. Aber jetzt ist ja alles gut. Eine
lange Umarmung, die riecht wie immer, nach Sofa und Garten, weichem Fleisch und Fanta
irgendwie.
Sie würden sich schnell sammeln und der Sache annehmen, jetzt sind wir ja da. Sie würden
bleiben, den ganzen Tag, mit Schwestern und Ärzten streiten, dem einen und dem anderen,
organisiert drängen, mit langen, müden Gliedern an meinem Bett sitzen und laut dabei sein.
Irgendwann würde ich mit schiefen Mund die ersten Witze machen, ein bisschen flaxen mit
dem Verband am rechten Arm, wie ein Pirat laufen und schielen, nach meinen Murmeln
fragen. Mama, hast du meine Murmeln.
Weil man das so macht bei uns, immer so gemacht hat, überall wahrscheinlich so macht,
manchmal ohne schiefes Gesicht, aber immer irgendwas machen, wegwischen, irgendwas was
Dinge zerstreut, sie klein macht und tragbar.
Ich rufe sie nicht an und warte stattdessen, dass du wach wirst, anrufst, fragst ob wir Kaffee
trinken oder irgendwas. Starre dabei aus dem Fenster, sehe nur Himmel, dünn aufragendes
Metall, alte, schwere Stadttauben ab und an, wie an schlaffen Seilen in die Luft gespannt.
Jemand schlägt irgendwo immer wieder gegen ein Heizungsrohr, warum auch nicht.
Ein Pfleger mit weiten, schwarzen Plastiklöchern in den Ohrläppchen kommt rein, sagt meinen
Nachnamen, guten Morgen. Er sieht aus wie jemand, der beim Tanzen die Augen angestrengt
schließt und es ernst meint, selbst wenn es nichts ist, Störgeräusche und digitaler Abfall. So als
hätte er auch schon mal irgendwo die Tür gemacht, dann irgendwas begriffen, über das Leben
oder Zeit oder Nächte, und es satt gehabt. Endgültig satt gehabt. Als ob er dann hergekommen
ist, sein Ohrläppcheninhalt irgendwo ohne ihn als Erinnerung an damals und jetzt schon wieder
die gleichen Leute sieht, nur anders beleuchtet.
Wie geht es denn heute, fragt er. Ich lüge, nicke, er erzählt was von Frühstück, Joghurt,
Schokomilch und Brötchen, sagt Annas Nachnamen. Ob sie sich denn benommen habe in der
Nacht, oder ob es anstrengend war. Ich denke an den traurigen Mann mit den Hundeaugen und
die schwere Schwester, die Kreidetafel, die angebotene Zigarette, wir sind Komplizen, also
schüttle ich den Kopf, nein, alles wunderbar. Es war alles okay.
Draußen ein Metallwagen mit Buffet am Ende des Ganges, wie im Ferienlager, und Kaffee. Ich
öffne die Tür ein bisschen, sehe Füße in Schlappen und Trainingshosen, zweimal 5Liter heißes
Wasser, einen schiefen Stapel Teekartons. Kräuter, Pfefferminze, Kamille, Hagebutte sogar,
weniger echte Blätter und Knospen, mehr Papier und Stofffäden. Ich höre Gefluchtes und
Gekeuchtes, muss die Tür wieder zu machen, kann noch nicht zu den anderen, traue mich
nicht.
Noch ein Arzt hat mich gesehen, ich ihn auch, er klopft trotzdem, kommt dann rein. Was seid
ihr bloß alle so jung hier, oder werde ich älter, denke ich und höre nicht zu als er sich vorstellt.
Er sieht müde aus, genervt, sehr braun in seinem Kittel, wie ein Arzt von einem
Kreuzfahrtschiff oder aus einer Werbung, in der Borsten gegen Tomaten gedrückt werden,
eigentlich aber so, als ob er lieber eine kleine Bar hätte, oder einen Fahrradladen mit einem
witzigen Namen, als hätte sich das verselbstständigt mit den weißen Klamotten.
Es ginge um Blut, ganz sachlich, nur nochmal schauen, Leber, Nieren und so weiter. Ich könne
gleich mitkommen. Als ich vor ihm stehe und mir der U-Bahnstoff bis über die Knie hängt,
sieht er auf eine komische Art überrascht aus. Ich habe mich hübsch gemacht für dich, denke
ich trotzig und streife über meine Knopfleiste, zum Glück vorne.
Er bringt mich in das Pflegerzimmer, geht an der Kreidetafel vorbei, ich traue mich nicht nach
meinem Namen zu schauen, weiß aber, er steht jetzt neben Anna. Frage mich, wie das ist,
wenn man morgens herkommt, ob man dann heimlich eine Wette abschließt, wie beim
Pferderennen, wie viele neue Kreidenamen, wie viele sind weg.
Der Kreuzfahrtarzt will wirklich nur Blut und nicht mal wirklich reden, muss es aber doch und
erklärt, den Arm können wir nicht nochmal nehmen, schauen Sie mal. Wir nehmen den
anderen. Es wird pieksen, gleich, nur kurz, Sie wissen schon, wissen Bescheid. Und als er
abklemmt, sprüht, ich meine Hand zu einer Faust balle ohne es so zu meinen, ich weggucke,
mehr aus Gewohnheit als aus Ekel und es dann wirklich piekst, aber auch wirklich nur kurz,
überkommt mich so eine Traurigkeit, so eine dicke Decke Traurigkeit, ich weiß nicht woher
sie plötzlich kommt. Ich blinzle, schaue hoch, mache alle möglichen Übungen mit meinen
Augen, aber es bringt nichts. Wasser fällt aus meinem Blick und der Kreuzfahrtarzt bemerkt
es. Erschrickt vielleicht kurz, so als hätte er was falsches angestochen, irgendwas das direkt in
die Pupillen führt, etwas kleines, unerforschtes, scharfes.
Was mache ich denn hier, weißt du was ich hier mache, möchte ich am liebsten fragen und wie
ist es dazu gekommen, wie konnte es, verstehst du das. Ich verstehe es nicht. Stattdessen
schlucke ich und schaue irgendwo hin, denke, wie dumm ich bin, ich kann hier doch nicht
weinen beim Blutabnehmen, wie sieht das denn aus. Ich möchte fast lachen über diese
Albernheit, denke dann, erst heulen und dann lachen, eine gute Idee, dann kann ich dir später
sagen, eine Zahnbürste, Deo und ein sehr dickes Buch, vielleicht einen Patiencekartenspiel,
wie bei den kleinen alten Damen. Ich bleibe noch ein bisschen länger, vielleicht über
Erntedank, die möchten das so.
Ob er noch irgendwas für mich tun kann, möchte der Kreuzfahrtarzt wissen, er meint das
Wasser an meinem Kinn. Ich schaue an ihm vorbei, schüttle den Kopf, wische mit dem
angezapften Arm, bin ein bisschen verlegen und irgendein anderes Gefühl, es fällt mir nicht
ein. Wir sagen beide nichts für einen rauen Moment, die Stille tickt und wartet, ich muss jetzt
doch zu dem Kreuzfahrtarzt rüberschauen, seine Augen wiegen ab, drängeln ein wenig, ich
schiebe zurück, schüttle den Kopf in Gedanken, stehe dann auf. Alles okay.
Es muss jetzt schnell gehen, die Decke wird wieder schwerer, schwer von seinem Blick, er
sieht fast gekränkt aus, dass ich sie nicht mit ihm teilen will, keinen Platz mache, nicht
Komplize sein will, nicht seiner. Jetzt schau doch nicht so, möchte ich sagen, nimm das nicht
persönlich. Alles kann man nicht immer erzählen, sonst hört einem irgendwann niemand mehr
zu, und sowieso, wir kennen uns doch gar nicht. Ich frage ja auch nicht, was dich alles nervt
und warum das jeder sehen muss, nach dem Fahrradladen oder dem ganzen Weiß, wie deine
Woche war, dein Jahr, wie es Steffi geht, oder Simone, dem Sportclub, deinen Eltern, ob dein
Vater noch segelt und deine Mutter wie immer zu laut lacht, warum du so müde bist und wann
du das letzte Mal grundlos glücklich warst, besoffen davon, einfach so. Ich muss jetzt auch
gehen, habe noch was vor, verstehst du, aber du hast ja das Blut, deswegen haben wir uns doch
getroffen. Ich hoffe es reicht, erfüllt seinen Zweck. Wir hören voneinander, ich melde mich,
bis dann.
Ich mache die Tür schnell hinter mir zu. Der Kreuzfahrtarzt bleibt sitzen, irgendwie krumm,
schaut eine Weile auf mein Rot in den Plastikfläschchen, denkt sich dann wahrscheinlich, Was
soll’s, zuckt vielleicht sogar mit den Schultern, Ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen, ein
Stück Obst und eine Brezel, eine Zigarette, heimlich irgendwo, seit Jahren könnte ich einen
Kaffee vertragen.
Es ist noch nicht mal neun, der ganze Tag liegt wie ein faules Tier vor seinen Füßen, vielleicht
erschreckt ihn das oder macht ihn wütend und schwer in den Knien, irgendwie. Vielleicht hätte
ich mit ihm reden sollen, vielleicht hätten wir beide etwas gelernt und gefunden, ein paar
blitzwache Momente oder staubige Ideen, wir hätten ehrlich zueinander sein können, uns dann
anlachen und gemeinsam gehen wie Bonnie und Clyde, uns umdrehen, fortgehen, ganz gerade
und aufrecht und vielleicht etwas summen, eine kleine Melodie.
Ich lege mich ins Bett. Höre auf mit den Übungen und dem Schlucken, lasse das Wasser los,
hoffe, dass ich nicht zu laut dabei bin, nicht einer kommt und Dinge wissen will, die ich selber
nicht verstehe. Bin froh über den Krach vor der Tür, bemerke erst jetzt Annas Stimme, viel
lauter als letzte Nacht.
Sie ruft nach Max. Klingt wie ein Kätzchen, ist sicher, dass er irgendwo ist. Max Max, ein
weiches Knacken, ich bin hier, ich bin jetzt fertig, wir können gehen, Max, komm doch bitte
her. Sie maunzt Liebe ganz mutig und kräftig, ich liebe dich, Max, wo bist du denn, lass uns
endlich endlich gehen, schreit es. Du fehlst mir so, du fehlst mir.
Ich denke an dich und muss mich zur Seite rollen, bin viel zu laut mit meinem Wasser, es
tropft auf das flache Krankenhauskissen, vermischt sich mit altem Salz und Partikeln von
anderen Menschen und Köpfen, schüttelt mich, schüttelt mich kräftig an den Schultern, lässt
mich jaulen innerlich.
Ich bemerke Anna erst als sie neben mir steht, sich auf dem Boden neben mein Bett setzt. Was
hast du denn. Sie lässt mich verstummen, verkorkt den Strudel irgendwie und ich überlege
kurz, was man da antworten kann.
Ich bin traurig, ich bin sehr traurig, besser kann ich das jetzt nicht sagen, einfacher
zusammenfassen. Anna schaut mich das erste mal richtig an, nickt, streckt vorsichtig und spitz
die Hand aus, berührt meinen Arm.
Das ist okay, weißt du, dann bin ich nicht mehr immer das Opfer, für dich nicht. Das ist gut,
dass du traurig bist. Ich verstehe das, ich bin auch traurig, es ist gut, dass ich das verstehen
kann. Traurig ist gut.
Ich nicke und bin seltsam erleichtert, wir verstehen uns. Anna nickt auch, steht wieder auf,
lässt mich noch eine Weile auf der Seite liegen, stört sich nicht daran.
Irgendwann geht es dann wieder, ich will ein Taschentuch, reibe mit dem U-Bahnärmel an
meiner Nase entlang, krame nach Tempos in meiner alten, schweren Tasche. Finde keins.
Traue mich trotz allem noch nicht Anna zu fragen, darf ich mal, darf ich eins von deinen
Taschentüchern.
Sie sind in bunten, schönen Verpackungen, solche bei denen man sonst immer denkt, was soll
denn das eigentlich, das sind Taschentücher, wozu den Blumenranken, man schnaubt da doch
rein, wischt über klebrigen, fließenden Saft, über dreckige, kleine Gesichter. Für Menschen
wie Anna hat sie sich jemand so ausgedacht, denke ich und fühle mich, als hätte ich
unfreiwillig etwas sehr wichtiges verstanden.
Ein langer, dicker Speichelfaden fällt aus ihrem Mund, auf ihre Fußspitzen, ich weiß noch
nicht, dass das Medikamente sind. Denke, so oder so, gehört das dazu. Anna setzt sich unter
den Tisch.
Schließlich rufst du an.
Deine Stimme klingt wie immer, hat noch ein bisschen Schlaf in den Rändern, hört sich etwas
erschöpft an, aber ansonsten vertraut, spröde, ein wenig weiter weg höchstens. Wie kann dass
denn sein, dass du so normal klingst während ich mich so fühle, denke ich und schäme mich
für meinen inneren Hochsitz.
Na, du sagst meinen Namen mit einem vorwurfsvollen kleinen, aber zärtlichen Ton in der
Mitte. Ich echoe zurück, stolpernd. Was war denn das gestern, warum war denn irgendwann
dein Telefon aus. Ich weiß nichts zu antworten, hoffe es klingt nicht allzu verbissen, das
Schweigen, die Lücke in der Leitung. Ist ja auch egal, sagst du irgendwann, keine Ahnung,
trinken wir einen Kaffee in der Sonne oder was.
Mir sackt ein Stück Stirn weg, mein Brustkorb kippt nach unten, ich würde so gerne einen
Kaffee mit dir trinken, irgendwo das Gesicht in den warmen Himmel strecken und ein bisschen
grinsen, einfach so. Tabak zu kleinen Hügeln schieben oder Wachs mit den Fingernägeln von
der Tischplatte schaben. Vielleicht deine Hand halten, dich mit zusammengekniffenen Augen
angucken, dabei eine ganz zackige Nase bekommen und irgendwas belangloses sagen, mich
innerlich leise vor und zurück wiegen.
Ich kann keinen Kaffee mit dir trinken, sage ich und es klingt wie Stubenarrest. Ein paarmal
atme ich komisch ein und aus, dann sage ich dir wo ich bin. Du verstehst sofort, mein Name
überschlägt sich in deinem Mund, du jaulst jetzt auch. Nicht dein Ernst, sagst du ein paar Mal,
nicht dein Scheißernst, Silbe für Silbe.
Für einen Augenblick sagen wir nichts, dann fragst du ganz viel auf einmal, ein paar mal
warum und immer wieder ob das mein Ernst sei, ich entschuldige mich, bei dir und irgendwie
im allgemeinen, auch bei mir, für die Situation. Dass das jetzt dein Sonntag ist, obwohl es
draußen so schön ist, warm, einfach. Du sagst ein paar Mal meinen Namen, wie ein Mantra,
das du anzweifelst. Fragst dann nach den ganzen erwachsenen Dingen, wo genau, ob man
vorbei kommen kann, ob man dich überhaupt reinlassen wird, egal eigentlich, du kommst so
oder so. In zwanzig Minuten bist du da. Legst auf und deine Wut brummt noch ein bisschen
weiter in meinem Ohr, meinem Kopf.
Ich gehe ins Bad, wasche meine Haare heimlich mit Annas Honigschampoo unter dem
Wasserhahn und trockne meinen Kopf mit meinem Nachthemd ab, steige zurück in die
dampfende Plastikhose, will irgendwas machen damit ich schön aussehe für dich. Krame
wieder in meiner Tasche, finde eine Probe Augencreme und etwas altes Puder, schmiere mir
beides ins Gesicht, sehe genauso aus wie vorher, bloß mit orangen Flecken in den Wimpern.
Eine andere schwere Schwester kommt herein, schaut auf die feuchten Flecken auf meinem
Pullover, meine nassen Haare, das triefende Nachthemd am Bettende. Sie lächelt, sieht aus als
ob sie es ernst meint, ich finde das komisch irgendwie. Wir haben aufgehört den Dingen ein
Fragezeichen zu geben, denke ich, hängen keine Frage an unsere Münder und Gedanken, es
macht mich kurz müde, alt und staubig in der Brust.
Die andere schwere Schwester will wissen ob ich schon gefrühstückt habe, Zwieback
vielleicht. Ob ich ein wenig Zwieback möchte. Mir sei doch sicher schlecht. Um irgendwas zu
antworten frage ich nach Joghurt, vielleicht gibt es ja Joghurt, Zwieback lieber nicht. Sie ist
damit zufrieden, geht ohne mich zum Metallwagen, kommt wieder mit zwei kleinen Bechern
und einem Plastiklöffel, bringt einen kleines Tütchen mit, gegen Übelkeit. Es sieht aus wie
Astronautennahrung, ist gefüllt mit irgendwas chemischen, das nach beiger Zahnpasta
schmeckt, irgendwie so, wie man sich vorstellt, das Beige mit etwas Minze schmeckt, und das
man auslutschen muss, umständlich. Sie sieht mir dabei zu, ist zufrieden, wenn ich noch etwas
brauche, irgendwas, ich soll Bescheid geben. Sie zeigt auf einen roten Knopf über meinem
Kopf, ich denke an Flugzeug oder Reisebus, Leselicht und Klimaanlage. Sie sagt dann ihren
Namen, hat es vorhin vergessen, lächelt nochmal warm und beiläufig und ich lächle irgendwie
zurück.
Ich löffle den Joghurt vorsichtig, er schmeckt nach Erdbeere, ist aber offiziell ein
Maracujamolkeprodukt, ich gebe mir Mühe dabei, mir ist fast gar nicht schlecht, das Tütchen
hat geholfen, zum Glück. Den zweiten Becher hebe ich dir auf, reibe den Löffel an meinem
Nachthemd sauber, sortiere die Dinge auf meinem Nachttisch.
Er sieht karg aus, mein Buch etwas verloren, ich schiebe die Brille auf meine Nase, versuche
zu lesen. Schaffe es nicht. Denke, gestern noch war es ganz einfach, ein bisschen Hineinfallen
in fremde Worte, Geborgenheit in anderen Sätzen, jetzt gerade begreife ich sie nicht.
Eine Weile starre ich auf meinen Tabak, lausche dem Poltern vor der Tür, den dichten
Stimmen. Atme dann lange aus. Weiß, früher oder später muss ich zu den anderen. Richte
mich auf, drehe eine dünne, schiefe Zigarette, sitze ein paar leise Momente lang da, schließlich
kommt Anna zurück.
Darf ich auch eine, sie guckt ein bisschen an mir vorbei, darf ich auch eine Kippe, fragt sie,
setzt sich neben meine Füße. Ich bin ein wenig überrascht, frage mich, ob sie das überhaupt
darf, Rauchen, bei dem ganzen anderen Gift. Denke dann, Klar und, Sie ist doch erwachsen,
trotz allem, sage es auch, Klar, beeile mich mit dem Drehen, ihre Zigarette wird hübscher als
meine. Sie nickt, schiebt sie sich hinter das linke Ohr, grinst irgendwie, komm. Und nimm
Feuer mit.
Ich bin dankbar, dass wir zusammen rausgehen, Anna und ich. Sie kämmt sich vorher noch
vorsichtig mit den kleinen, dünnen Fingern durch das schwarze, starre Haar, rauft es irgendwie
zu einem Bündel zusammen, es hält nur gerade so, fällt in einem dicken Klumpen zwischen
ihre Schulterblätter, ich frage mich ob Max wirklich draußen ist, ob es ihn wirklich gibt.
Wo darf man denn hier rauchen, Anna, frage ich um mich selbst von dem Gefühl abzulenken,
nicht mehr in unserem Zimmer zu sein. Sie läuft irgendwie gebückt, schlurft nach rechts, zeigt
irgendwie vor sich, schlurft weiter.
Zum ersten Mal sehe ich die anderen, traue mich, sie anzuschauen. Sie starren zurück, manche
ein wenig erschöpft, einige sehr wach. Hallo Anna, guten Morgen Anna, wie geht es heute,
geht es dir gut. Viele Blicke voller Schweigen, auch misstrauisch, aber dann doch zu müde.
Wozu die Mühe eigentlich.
Sehr weiße Turnschuhe, feuchte Münder, fleckige Stoffhosen, Sportsocken in Hausschlappen,
viele Kapuzenpullover und Rücken, nie so richtig gerade.
Ich kenne sie alle, kenne sie schon aus der U-Bahn und von Hauptstraßen, aus Eckkneipen und
Straßencafés, kenne ihre Geschichten, ihre lauten Monologe und Sorgen, ihren Zorn und ihre
genuschelten Ängste. Habe bestimmt noch eine Notiz von dem einem in der Tasche, über die
Worte des anderem mit dem Hut und der offenen Hose habe ich doch letztens so lange
nachgedacht, oder nicht, war es nicht so. Ich nicke ihm zu, er erkennt mich nicht.
Der Gang ist sehr gelb, quietscht unter den Füßen, am Ende Musik aus einem Radio und
Fenster, Scheiben, fast wie auf einem Außendeck. Und dann wirklich rechts ein großer, leerer
Raum, ein paar Tische, es dampft, der Rauch hängt zwischen den Stühlen, zwischen den
Köpfen, schwer und abgenutzt. Tabak überall, weiche, eingedellte Aluaschenbecher. Hallo,
man grüßt sich, wünscht den anderen guten Morgen, wozu die Etikette, egal, wir setzen uns
hin, Anna und ich.
Die Zigarette tut gut, rinnt warm in die Lungen, ich schließe die Augen, klappere ein wenig mit
den Gelenken, unfreiwillig.
Anna nimmt nur ein paar hektische Züge, hat schnell genug von ihrer schönen Zigarette, hebt
sich aus dem Stuhl, sagt nichts, geht dann einfach weg, ich bin mit den anderen alleine. Fühle
mich, als hätte Anna mich pflichtbewusst abgeliefert wie an irgendeinen ersten Schultag, als
hätte sie gemurmelt, den Rest schaffst du, da bin ich ganz sicher, dafür brauchst du mich nicht.
Die Gespräche sind laut und energisch, drei reden miteinander, jeder für sich.
Man müsste alle in ein Raumschiff bekommen, alle Menschen, die Schlauen und die Dummen,
keine Auslese oder sowas, alle, verstehst du. Die Erde einfach zurücklassen, irgendwo neu
anfangen, sagt der Lange mit dem dicken Machogürtel. Diesen verbrannten Planeten räumen,
ins Weltall verschwinden.
Die Idee erinnert mich an mein letztes Semester Uni, an den einen witzigen Professor mit dem
pfeffergrauen Bart und dem glänzenden, halbnackten Kopf. Er hat ähnliche Dinge gesagt, in
längeren Sätzen, im Grunde aber mit dem gleichen Inhalt, vielleicht weniger roh.
Einfach ins Weltall verschwinden, sagt der Lange nochmal. Der andere, kleine, geduckte sagt
erst gar nichts und dann, ziemlich leise, Aber wir sind doch schon im Weltall, das ist doch alles
Weltall, oder nicht.
Ein erster Impuls zu lachen, ich bin ein bisschen überrascht, dankbar dafür, der Lange schaut
ganz betroffen. Ich denke, das stimmt, der Geduckte hat recht, verstecke mein Gesicht zur
Hälfte mit meiner Hand, in einer Bewegung zur Seite.
Sie plaudern dann noch ein wenig über die Verlagerung der Welt und die Milchstrasse, ich
höre zu, dem Langen fehlt irgendwann ein Wort, ich warte einen Augenblick, helfe dann nach,
sage Galaxie, der Lange nickt begeistert, genau, Galaxie. Wir nicken zusammen, die drei
schauen mich an wie stolze Väter. Ich ziehe an meiner Zigarette, wippe noch ein wenig nach,
alles wird gut. Die Stimmung ist fast heiter.
Nach und nach gehen sie, einer nach dem anderen, in ihre Zimmer, rüber zum Fernseher oder
für einen Nachschlag an den Wagen. Schließlich bin ich alleine mit dem einen, der sein Kinn
auf der Brust trägt, er schaut aus den Ecken seiner Augen, glasig, hat dann auch genug, ist das
Alleinsein mit so einer wie mir nicht gewohnt, macht die Tür hinter sich nicht zu, will dann
doch nicht zu endgültig sein.
Auf dem Rückweg zu Anna traue ich mich an die großen Kaffeekannen, pumpe in
vorsichtigen, kleinen Bewegungen, meine Arme sind so schwer heute, mein Verband rutscht,
die Tassen sind hübsch und der Kaffee schmeckt wie Kaffee wenn er das erste mal schmeckt,
nicht mehr komisch und bitter, unglaublich gut.
Zurück im Zimmer ist Anna am Schreiben, konzentriert über welliges Papier gebeugt, sie
notiert mit kleinen, bunten Textmarkern schnörkelige Buchstaben. Ich will sie nicht stören,
lege mich leise ins Bett.
Neben Anna steht ein voller Teller, sie hat kleine Stapel Frühstück gemacht, nichts gegessen,
dafür sehr viel Tee gesammelt, die Pfützen stapeln sich neben ihren Ellbogen. Irgendwann ist
sie fertig, liest nochmal drüber, streift das Papier glatt und kommt zu mir.
Angst vor zu nahen Rollen, steht da in neongrün.
Sie wartet geduldig, schaut mich dann an, oder irgendetwas neben meiner Stirn, Verstehst du,
fragt sie, das ist mein Problem.
Was heißt nahe Rollen, Anna, es tut mir leid, ich begreife nicht ganz, das musst du mir
erklären.
Ich weiß nicht mehr, was echt ist, sagt Anna, was wahr und was gespielt, es verschwimmt so
schnell, irgendwie. Wer einmal lügt, den glaubt man nicht, so ist das auch mit der Realität.
Inzwischen verstehe ich ihre mit Wasser gefüllten Worte besser, höre an den Speichelfäden
vorbei, nicke und möchte sagen, das weiß man doch nie, Anna, oder, wann weiß man das
schon. Traue mich nicht, will ihr keinen Grund geben zu verzweifeln, sie sieht so verloren aus
gerade, merkt, dass ich nichts beruhigendes erwidern werde, es macht sie wohl müde, sie legt
sich ins Bett.
Ich falte ihren Satz behutsam, lege ihn zwischen ein paar Buchseiten, presse und trockne seine
Essenz wie eine kostbare Blume. Erinnere mich an die schwere Schwester und den Mann mit
den Hundeaugen. Ein gefährliches Paar haben sie aus Anna und mir gemacht, denke ich, ohne
es zu wissen oder vielleicht doch ganz absichtlich.
Dann klopft es an der Tür und du bist da.
Die andere schwere Schwester kommt vor dir rein, sagt erst meinen Nachnamen und dann
deinen, da möchte mich jemand sehen, ob das okay ist. Ich nicke, richte mich schnell auf, dein
Kopf erscheint neben ihrer Schulter, du grinst irgendwie wie immer, siehst etwas blasser aus
als sonst, aber vielleicht ist das auch bloß das Licht hier oder das Ende des Sommers.
Wir umarmen uns lange und mit rauer Übung, die andere schwere Schwester verschwindet
leise und vorsichtig, freut sich für dich und für mich. Anna muss ihr gefolgt sein, ist dann
irgendwie weg.
Du riechst wie immer, es ist mindestens zehnmal so gut wie der Kaffee von vorhin, beruhigt
mich. Ich presse mein Gesicht fest gegen dein warmes T-Shirt, höre deinem strammen, ernsten
Takt zu für einen langen Moment.
Wie es mir geht, fragst du schließlich, schaust auf die Stoffbahnen, die das tropfende Wasser
der Nacht festhalten, den Stich vom Kreuzfahrtarzt auf der anderen Seite, der schillert wie eine
kleine Forelle, auf meinen delligen Blick.
Gut sage ich, meine jetzt gerade, es ist nicht gelogen, du fragst nach gestern, ich zucke
irgendwie asymmetrisch, erzähle dann alles was sein muss.
Du hörst zu und bist sehr geduldig auf eine vorwurfsvolle Art, ich fühle mich nur ein wenig
ausgeschimpft, weiß es zu schätzen, rechne dir deine spröde Gefasstheit hoch an. Ach, du sagst
meinen Namen, was soll denn sowas und musste das sein. Ich weiß nicht genau, weiß nichts zu
erwidern, trotz allem schaust du sanft, legst dich dann neben mich, eine Weile liegen wir so
nebeneinander, zusammen und jeder für sich.
Irgendwann kommt Anna zurück. Wir sind schon dabei unsere Zigaretten zu drehen, kurz vor
dem Rundgang für dich, ich stelle dich vor, sage deinen Namen, dann, das ist Anna, ich hoffe,
wir stören nicht. Anna schüttelt den Kopf, sehr fein, kaum merklich, alles okay, schon gut,
schon gut, alles gar kein Problem.
Möchtest du auch rauchen, Anna, frage ich, aber sie möchte diesmal nicht, nicht mal nur kurz,
sitzt lieber auf ihrem Bett, sortiert ihre Papiere, ernst und sorgfältig.
Der Raucherraum ist gleich da rechts, sage ich, bin froh, was zu wissen, wir stehen draußen
und es ist gelb, du siehst ein bisschen ratlos aus, ein wenig zu groß oder klein, so oder so, du
passt hier nicht her.
Eine lockige Araberin kommt an uns vorbei, guckt erst gefährlich, dann plötzlich nett.
Haben sie dir auch was gespritzt, sie meint meinen rechten Arm, hebt ihren schräg zur Seite. Er
sieht genauso aus wie meiner, wir grinsen uns an, haben etwas gemeinsam, finden das gut so,
den Umständen entsprechend, voll affig und krass und irgendwie witzig.
Wir gehen weiter, kommen vorbei an einem Paar Scheinwerferaugen, sie fixieren mich, der
Mund schenkt ein breites Lächeln, keine Sorge. Das Mädchen dazu wiederholt es, keine Sorge,
ich starre nur so, weil es Spaß macht dich anzusehen, weil du schön bist, hab keine Angst. Das
sei nichts bedrohliches, nichts mit homo, oder so, keine Sorge. Ich verstehe nicht ganz, denke,
Und wenn schon, weiß auch nicht, was man auf sowas entgegnet, lächle, zucke wie eine
schlecht geführte Marionette, gehe schnell weiter. Das Mädchen wirft noch ihren Namen
hinterher, in einem langen, schnellen Bogen. Du lachst leise und gütig, schlägst freundlich
zurück.
In
dem
alten,
schweren,
blaugrauen
Nebel,
zwischen
den
verhallenden
Milchstrassengesprächen und umgeworfenen Gedanken, siehst auch du ein wenig munterer
aus, hörst zu, warm und zutraulich, auch dafür bin ich dir dankbar, anders ginge es nicht. Wir
sind trotz allem Fremdkörper, du und ich noch ein bisschen mehr als ich alleine, weil an dir
keine schillernden Löcher, deine Bewegungen so klar und überzeichnet deutlich sind.
Irgendwann gewöhnen sich die anderen dann doch an unseren Anblick, fast spürbar, lassen es
zu, dass wir unsere Köpfe aneinander drücken, etwas Wand sind füreinander.
Der Pfleger mit den leeren Ohrläppchen kommt rein, setzt sich, sein Weiß ist grell im Kontrast,
tut weh in den Augen. Die anderen mögen es nicht, schaben mit den Sohlen, ich schabe
innerlich mit.
Er sagt ein paar Nachnamen, fragt wie es so geht, ob jemand was vom Kiosk braucht, er habe
eine Liste dabei, geht gleich mal raus, erwähnt es ganz beiläufig. Vielleicht eine Schachtel
Zigaretten, ein Feuerzeug, etwas Kaugummi. Ihr wisst schon Bescheid, einen Korn und ein
Heft mit Brüsten und Pobacken wohl eher nicht.
Der Lange muss irgendwas machen gegen das Schaben und die Beiläufigkeit, irgendjemand
muss irgendwas machen, ich merke es auch. Also greift er nach einen zerfledderten Karton
voller Spielsteine, eine zerstückelte, zerschlissene Erinnerung an ein paar echte, vergangene
Abende irgendwo anders, setzt sich schräg auf den Boden, wirft Plastik gegen das Beton neben
der Tür.
Der Pfleger reagiert schnell und wie verabredet genervt. Was das denn soll, fragt er breit und
gedehnt, ey Langer, was soll das, muss das jetzt sein. Der Lange schaut wie ein zorniger Junge,
ja, das muss jetzt sein, warum denn auch nicht, man muss sich beschäftigen. Es stört ja auch
nicht, knurrt er wie ein zorniger Mann. Doch sagt der löchrige Pfleger, es stört, ist Provokation
und Randale. Deswegen bist du hier, Langer, genau deswegen bist du hier. Raus kommst du so
jedenfalls nicht.
Der Lange lässt sich nicht beirren, wirft weiter Stein für Stein, der löchrige Pfleger stößt
schließlich scharf Luft aus, guckt kurz zu dir und mir, rollt mit den Blick, geht dann nach
draußen. Wir gucken und rollen nicht mit.
Noch etwas mehr Nebel, dann gehen wir nach nebenan auf das Außendeck, bewundern
tatsächlich den Ausblick und meinen es ernst. Die Stadt sieht gar nicht so weit weg aus, denke
ich, nicht so weit weg wie sie sich anfühlt. Trotz der Scheiben und Türen und allem von
gestern.
Irgendein schwarzer Flussarm gräbt sich unter uns durch einen tiefen, rostroten Schacht, drum
herum zerschlissenes Blattgrün, ein paar hüpfende Hunde und stolpernde Kinder, angewinkelte
Knie und ausrangierte Wolldecken. Es ist wirklich Sonntag und alles wie immer, alles okay.
Irgendwann kommt einer in einem alten Sportanzug, dreht an dem Radio, stellt es lauter, leiser,
springt zwischen den Kanälen und Frequenzen, hat dann irgendwas gefunden. Erhebt sich,
lauscht kurz. Eine Liebeserklärung an was auch immer, bestimmt über dreißig Jahre alt, sie
klingt nach Rückbank und Kindheit, der Sportler kippt ein bisschen vor und zurück, schnippst,
ist zufrieden.
Irgendjemand könnte tanzen, wir könnten tanzen mit langen Armen, uns an den Händen halten,
laut mitsingen und albern stampfen. Du könntest mich ein paar mal drehen, mein Kleid würde
schwingen wie eine Blüte von einer großen, dicken Blume, samtrot, alle könnten dazu
kommen, die schwere Schwester, lachend, und die Pfleger, sogar der löchrige. Es könnte wie
in einem Film sein, ein Abspann von irgendwas, ein Ende.
Du atmest lange aus, streichelst meinen Kopf, guckst weit raus, durch die Scheiben in die
Ferne, stehst auf.
In Anna und meinem Zimmer schaust du auf meinen Nachttisch, Annas Blumen, den Apfel. Sagst
dann, Also, und was ich denn brauche, nimmst meinen Schlüssel, willst später nochmal
wiederkommen, so in zwei, drei Stunden. Mit ein paar Klamotten, vielleicht etwas Kuchen, einem
warmen Getränk aus unserem Stammcafé. Ich möchte dich nochmal das erste Mal treffen, dich
erkennen und auszeichnen, weil du bist, wie du bist, kriege das alles nicht richtig runter von
meiner Zunge, sage stattdessen, Kaffee und Kuchen lieber nicht, aber guck mal, ich habe noch
einen kleinen Joghurt für dich.
Du bleibst noch ein wenig damit es nicht nach Flucht aussieht, gehst mit mir die Liste der Dinge
durch, die du mitbringst später, ich will sie nicht zu lang werden lassen, habe Angst, dass es sonst
die Tage hier potenziert.
Anna geht immer wieder rein und raus, hört zu oder auch nicht, will uns wohl ein bisschen Platz
für uns geben, oder einfach nicht sehen. Irgendwann verabschiedest du dich, Anna winkt fast
lässig, ich versuche zu grinsen, schaffe es nicht.
Bin ich tot, fragt Anna nachdem wir eine Weile schweigend dagelegen haben. Ich schaue zu ihr
rüber, sie sieht aus wie immer, relativ lebendig, tot jedenfalls nicht. Ich stehe trotzdem auf und
vergewissere mich. Beuge mich über ihren ölschwarzgerahmten Kopf, ihre pergamentbespannten
Lippen und den leeren, dunklen Blick. Lächle schwach aber tapfer, streiche etwas Öl zur Seite,
nein
Anna,
tot
bist
du
glaube
ich
nicht.
Passt du ein bisschen auf, wieder zwischen sehr viel Wasser, fragt Anna, passt du auf mich auf,
das Wasser rinnt auf ihre Brust. Na klar, sage ich mit stärkeren Mundwinkeln, was denkst du
denn, natürlich, spüre das Versprechen einrasten zwischen uns, höre es klicken, Stück für Stück.
Bist du deswegen hier, Anna guckt jetzt fast gerade in mein Gesicht, bist du ein Schutzengel, bist
du mein Schutzengel.
Ich denke, wer weiß das schon, vielleicht, sage es auch, sind wir nicht immer irgendwie
Schutzengel für einander, alle manchmal und jeder für jeden. Es beruhigt sie, sie schließt die
Augen, die Gedanken. Murmelt nochmal etwas kleines, leises, schläft dann ein und ich schaue
einfach nur, schaue mit eingesunkenen, schweren Schultern dabei zu.
Irgendwann kommt Annas Mutter und sie ist kein bisschen wie meine. Sieht aus wie ihre Tochter,
nur älter und selbstgemacht blonder, trägt einen großen Korb in der Armbeuge, verteilt erst mal
Tupper, frische Sträuße und Taschentücher, hier und da eine Nuss, schiebt Annas Schuhe
zusammen, redet wie nach einem Tag in der Kita. Wir nicken einander zu, ihr Blick fliegt schnell
über meine Züge, will stumm wissen wer ich bin und warum, wieso ich in dem Bett neben Annas
liege. Sie sucht eine gute Erklärung, einen beruhigenden Grund. Findet vorerst keinen, hat ihre
Ohren nach hinten geklappt wie ein wachsamer Hund.
Sie erzählt von zuhause, von Carmen und Kati, vom Vater, er lässt grüßen. Hat wie immer viel zu
tun, meint es nicht böse, die Lüge schwappt dick durch die Luft, aber schau mal Anna, ich habe
hier seinen Lieblingsteil aus der Zeitung, ein paar Karotten aus dem Garten für dich. Anna will
etwas erwidern, schafft es nicht, Speichelfäden fallen aus ihrem Gesicht, die Mutter schaut
verlegen. Ach Anna, das ist ein bisschen eklig, sie schaut schräg zu mir rüber, wie sieht das denn
aus vor dem anderen Mädchen, igitt. Ja, denke ich, eklig, meine nicht Anna, drehe mich langsam
zur Seite, möchte mit Plastikdosen werfen und die Zeitung zerknüllen, lese stattdessen mein Buch,
probiere Verständnis, höre dafür weg so gut es geht.
Ich werde dann doch weicher nach einer Weile, Annas Mutter gibt sich viel Mühe mit ihrer Rolle
und der Zeit, die so langsam vergeht, als würde jemand einen Holzstab hineinstechen. Nur noch
ein wenig Geduld, es ist gleich fertig, ist gleich soweit, diesmal wirklich, ich bin mir ganz sicher,
nur einen kleinen Moment noch, wieder und wieder und wieder.
Sie erzählt und ich höre zu, finde es auch ganz toll was Kati alles so schafft neben der Uni, trotz
des Pensums und so weiter, denke, stimmt ja, eine Scheibe könnte man sich abschneiden von Kati,
oder zwei, schön auch das Carmen und Robert jetzt bauen, na endlich, bald dann Richtfest,
vielleicht schon das erste Weihnachten im wärmeisolierten Neubaunest. Das wird jetzt alles sehr
schnell gehen, Herbst, Katis Prüfungen und soweiter, Annas Genesung, Vatis Bandscheibe, Mutti
hat da ein Kohlrabiprojekt.
Es dauert jetzt alles nicht mehr so lange, sagt Annas Mutter und wie auf Stichwort schiebt die
andere, schwere Schwester zwei wackelnde, graue Tabletts mit Hauben in den Raum.
Ach, sie benutzt Annas Nachnamen jetzt für die Mutter, wie geht es denn so, schön Sie zu sehen.
Hebt eine der Plastikkuppeln, zeigt blassgelbe Nudeln, weiches Gemüse und Pudding, ein kleines
Marzipangebäck. Annas Mutter nickt, denkt wahrscheinlich wieder igitt, hat diesmal sogar recht,
unter meiner Kuppel verstecken sich verschwitzer, dunkler Brokkoli und eine sehr pragmatische
Interpretation von Hack.
Ich setzte mich so hin, dass der Nachttisch mein Mittag halten kann, mit dem Rücken zum Fenster,
überlasse Anna und ihrer Mutter den Tisch. Schiebe pulvrigen Kartoffelbrei gegen sehr
durchsichtige, braune Soße, forme grüne, salzige Happen, ignoriere das Fleisch. Denke nun doch
an Oma und ihren Braten mit dem Ei mittendrin, denke kurz, wie geht denn das eigentlich und
dass ich mal wieder anrufen sollte, na Oma, wie geht’s und wie macht man das, dass das Ei da so
drin steckt, was ist dein geheimer Altedamentrick.
Den Pudding hebe ich dir auf, eine erste vorsichtige Regelmäßigkeit, bei jedem Besuch einen
Becher für dich, eigentlich will ich sie nicht.
Annas Mutter schimpft jetzt ein wenig, ach Anna, warst du wieder duschen, duschen mit allem
Drum und Dran, ohne dich vorher auszuziehen, schau mal, dein Nachthemd, es ist ja ganz nass.
Ich springe schnell ein, nein, das ist meins, ich hatte kein Handtuch, verzeihung, raffe das Hemd
zusammen, nehme es beiseite, raus aus dem strafenden Blickfeld. Die Mutter nickt misstrauisch,
wittert Komplizenschaft, arrangiert etwas Gemüse, Kissen und Teetassen, bastelt weiter an ihrer
Erklärung für meine Existenz, schiebt Anna dabei Gabeln mit Teig ins Gesicht.
Irgendwann klopft es wieder und die andere schwere Schwester sagt deinen Nachnamen, du bist
zurück. Hast meinen Rucksack vollgepackt mit T-Shirts und Socken, ein paar von meinen
Waffeln, hast im Bad Duschgel gegriffen und Shampoo, meine Zahnbürste. Mein Deo liegt in
einem kleinen Schließfach am Eingang, sagst du, grinst. Man könnte damit schließlich ein Feuer
machen, eine kleine Feuershow auf dem Außendeck. Ich bin jetzt Fachnummer 61, könnte da auch
andere Dinge reinschließen, Schmuck und mein Telefon zum Beispiel, für den Fall der Fälle. Falls
der Lange wieder Quatsch macht, wir grinsen jetzt beide, schütteln dabei etwas benommen unsere
Köpfe.
Annas Mutter nimmt dich als Beweis dafür, dass ich nicht gefährlich sein kann für Anna, weil da
jemand kommt mit Socken und Waffeln und so mit mir spricht. Sie lächelt erleichtert, klappt die
Ohren zurück, redet jetzt mit uns beiden über das Wetter und Wochenendverkehr, reicht uns ein
paar Wurzeln, gibt Anna einen Riegel Schokolade und etwas Saft.
Ob ich auch etwas Süßes möchte, fragst du, vielleicht ein Eis aus dem Kiosk, dem vom löchrigen
Pfleger, vielleicht was von unten, vielleicht gibt es ja noch was. Vielleicht darf ich selber eine
Runde mit dir drehen, vielleicht runter ans Wasser zwischen dem ganzen Grün, du fragst mal
nach, fragst auch gleich mal, ob du mich nicht einpacken, ganz mit nach hause nehmen darfst.
Vielleicht schaffst du es ja.
Ich kreuze die Finger unter der Bettdecke, zähle ein paar Momente, lasse die Tür nicht aus den
Augen. Hoffe ganz starr und angestrengt, vielleicht hast du ja, habe ich Glück.
Anna schläft jetzt und ihre Mutter sitzt einfach nur da, hat wohl zugehört, schaut irgendwie matt
und mitleidig, lächelt wie ein müdes Orakel als du wieder kommst, die Schultern hebst und sagst,
das ginge leider leider nicht.
Du greifst mit einer großen Hand in meine Haare, ein Eis gibt es trotzdem, du bringst es gleich
mit. Ich versuche nicht zu sehr wie ein störrisches Kind auszusehen, nicke so gut es eben geht,
sage danke, meine so insgesamt. Du fragst, Anna, willst du ein Eis, fragst auch Annas Mutter. Sie
schüttelt für beide den Kopf, nicht nötig, aber sehr freundlich, sie findet dich den Umständen
entsprechend wirklich nett. Vielleicht erinnerst du sie an jemanden von damals, von früher, von
draußen oder auch nicht.
Als du Eis holen gehst sagt die Mutter zu Anna, was für ein Glück Anna, so nette Leute in deinem
Zimmer, meinst du nicht. Anna antwortet nicht laut, schreibt dafür wieder in Neonfarben ein paar
Sätze, reicht sie der Mutter.
Die liest schnell und leise, sagt dann, so ein Quatsch, Anna und darüber haben wir doch geredet,
das sind schlechte Gedanken, die bringen doch nichts. Niemand denkt sowas über dich, wieso
denn auch Anna, das ist doch nicht dein Fehler, das ist eine Krankheit, wie ein Schnupfen,
höchstens ein klein wenig schlimmer, deshalb bist du doch, sind wir doch hier.
Sie nimmt Annas Ängste, reißt sie durch in der Mitte, sagt, ich nehme die mit, nehme alle
schlechten Gedanken mit und schmeiße sie weg, ganz weit weg.
Ich finde das mutig von ihr, das Reißen und das Wegstecken, habe plötzlich, trotz allem,
Sehnsucht nach meiner eigenen Mutter, nach kleinen, krümeligen Zootieren, nach ihrem süßen,
warmen Limonadenatem.
Anna und ihre Mutter machen einen Spaziergang, ziehen Anna dafür umständlich die Turnschuhe
an, nehmen etwas Tee mit für den Weg. Ich frage mich, wie ist das hier für Annas Mutter, wie
wird sie von den anderen angesehen, was sieht sie in den Augen und Mündern, kann sie manchmal
grinsen zwischen den Sätzen, kann sie das noch. Wie lange ist Anna eigentlich schon hier. Wie
lange sieht sie schon Fenster ohne Klinken und die Tauben, wie lange übt sie schon ihre Routine,
wieso schreit sie nicht öfter, wie kann das denn sein.
Ich gehe ins Bad, nehme mein Telefon mit, rufe zuhause an, bei dem alten. Meine Mutter hebt
schnell ab, plappert vertraulich wie ein alter Spatz, erwähnt den blauen Himmel und die kurzen
Hosen, wie schön das sei, ob es mir gut gehe. Klar, sage ich, Mama, pass auf, ich bin gerade auf
dem Sprung, wir machen eine kleine Tour, gerade die erste Rast, es ist super, der Himmel, die
Hosen, ich wollte nur mal kurz hören was ihr macht, deine Stimme, wie es so geht.
So komisch schlecht sei ihr, sagt meine Mutter, ganz unerklärlich, seit letzter Nacht. Immer mal
wieder in komischen Schüben, sie habe wohl was falsches gegessen. Ich schlucke, sage, da gibt es
doch so Tütchen, so beige mit Minze, die helfen ganz gut, habe ich irgendwo mal gelesen. Spreche
extra laut damit sie keine Außengeräusche, keinen Wind oder Sonne in der Leitung vermisst. Ich
muss jetzt auch wieder weiter, die anderen warten schon. Mama, bis die Tage, gute Besserung, ich
dich auch, grüß mir den Paps.
Einen Moment starre ich mir selber an Annas Tuben und Haarspangen vorbei ins Gesicht, brauche
ein wenig, erinnere mich dann an den Rucksack voll frischer Baumwolle und Bürsten, hole alles
und betaste es lange und vorsichtig. Stelle meine Zahnpasta zu Annas, hänge mein Handtuch
neben ihren dicken, weichen Morgenmantel, gehe endlich richtig duschen, denke nicht mehr an
meine Mutter und ihre Zwerchfellahnungen, versuche es.
Schlüpfe danach in mein Kleid aus der Kindheit, das scheinbar mitwächst, höchstens ein bisschen
heller und dünner wird, jede Bewegung inzwischen ganz automatisch mitmacht. Du hast es
wohlwissend mitgebracht, weißt, dass ich es gerne trage, am liebsten barfuss, manchmal tagelang
und ganze Nächte. Ich sehe aus wie ein großes kleines Mädchen in dem Kleid, als hätte sich
jemand nach dem Nachthemd das nächstlogische Kostüm ausgedacht, die winzigen Blumen
ergeben keinen Sinn. Ich behalte es trotzdem an, weil es zu der klebrigen Wärme überall passt,
weil es sich nach zuhause anfühlt, dem neuen und alten.