Du wirst doch nicht mehr sündigen

Motto 2015: «NextStep – Jeder hat einen nächsten Schritt»
6. September 2015
Unmögliches wird möglich
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Meinrad Schicker
«Du wirst doch nicht mehr sündigen …»
Wir kennen die Szene mit Jesus und der beim Ehebruch ertappten Frau: Wer ohne Schuld
ist, werfe den ersten Stein. Nachdem dann die Frommen auf leisen Sohlen verschwunden
sind, endet die dramatische Szene mit folgenden Worten: Jesus richtete sich auf und sagte
zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner,
Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Das war in den letzten zwei Monaten immer wieder Gegenstand unserer Predigten: Bei Jesus ist Raum der Gnade. Ein Ort
der bedingungslosen Annahme, Liebe und Vergebung. Aber Jesus fährt fort: Geh und sündige von jetzt an nicht mehr (Johannes 8,10-11)!
«Sünde» ist in der Bibel aber kein abstrakter Begriff. Es geht hier Jesus nicht um ein allgemeines «Du wirst nie mehr sündigen». Allen ist klar, was Jesus meint. Und heute will
Jesus ebenso konkret zu uns sprechen: Wir sind nicht mehr Gefangene unserer alten Gewohnheiten. So wie Moses die Israeliten aus der Gefangenschaft Ägyptens in die Freiheit
des gelobten Landes herausgeführt hat, so hat uns Jesus von der Gefangenschaft der Sünde befreit: Wir brauchen uns nicht mehr von der Lüge, dem Egoismus, der Rechthaberei
oder vom Neid bestimmen zu lassen. Jesus schaut heute Morgen nicht nur der Ehebrecherin in die Augen, sondern uns allen: «Ich traue dir zu, dass das Alte nicht weiter über dich
herrschen muss. Du musst kein Wiederholungstäter sein.»
Lasst uns konkret werden
Die Ehebrecherin weiss nach dieser Begegnung mit Jesus genau, wie sie ganz konkret weiterleben soll. Wenn etwas nicht konkret – total praktisch wird, dann wird es auch keine
Auswirkungen haben. In Absprache mit meiner Frau darf ich ein Beispiel aus unserer Ehe
erzählen: Ich habe die Unart, ständig Türen offen zu lassen. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich diese offenen Türen nicht als wirkliches Problem gesehen habe – und darum
hat sich längere Zeit auch nichts geändert. Im tiefsten hatte ich sogar den Eindruck, meine
Frau sei etwas kleinlich. Erst nachdem wirklicher Schaden entstanden ist, begann ich
ernsthaft, die Türen zu schliessen.
«Sünde» ist kein abstrakter Begriff. Ich will uns einladen, total konkret zu werden, das
beim Namen zu nennen, was unsere Leben, Ehen, Familien … belastet. Je konkreter ein
Schritt – desto grösser die Chance, dass sich etwas wirklich verändert.
Überlass die Lösung des Sündenproblems Jesus
Sind aber diese offen gelassenen Türen nicht etwas banal? Darf man Unpünktlichkeit, Neid,
Eifersucht, mangelnde Ordnung oder die Abwesenheit bei der Erziehung der Kinder denn
Sünde nennen? Ist es weise, dass man solche Dinge in einer Predigt zum Thema «Geh und
sündige nicht mehr» erwähnt? Denn ich sehe schon, wie Ehepartner sich nach dem Gottesdienst zu Hause an die Kehle gehen: «Hast du in der Predigt von Meinrad gehört, dass
dein Liegenlassen der Unterwäsche, die Sauerei beim Fernseher nach dem Fussballmatch,
dein Umgang mit dem Computer (eigentlich alles, was mich stört) – dass das Sünde ist?
Wenn du es also ernst meinst, dann muss sich hier etwas ändern: Geh hin und räume
auf! …» Und ich höre dann die Erwiderung: «Ja, und du solltest aufhören, mich ständig zu
kritisieren. Das ist nämlich auch Sünde. ‚Geh hin und hör auf zu kritisieren!‘» Und schon
hätte ich mit meiner Predigt den schönsten Ehekrach provoziert …
Hier ist der geeignete Punkt, um eine zentrale biblische Wahrheit zu erwähnen: Sünde ist
in der Bibel auffällig zuerst eine Sache zwischen mir und Gott, zwischen Gott und dem anderen. Letztlich kann nur Jesus, nur Gott kann sagen: «Geh und sündige nicht mehr!» Alle
anderen waren ja gegangen. Oder kannst du mit Steinen werfen? Lass JESUS zum anderen
sprechen: Geh und sündige von nun an nicht mehr!
Nimm stattdessen deinen Auftrag wahr
Was wir zu tun haben, ist klar: Die Bibel fordert uns schlicht dazu auf, einander zu lieben,
einander zu ertragen, einander zu vergeben (vgl. Epheser 4,2; Kolosser 3,13). Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand (1. Korinther 13,7). Natürlich dürfen
wir einander auf Bedürfnisse hinweisen, die Probleme ansprechen, die Dinge beim Namen
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nennen – aber in einer Atmosphäre der Annahme und Liebe. Nicht fordernd. Ohne Steine
zu werfen. Wenn wir miteinander über schwierige Themen in unseren Leben und Beziehungen sprechen, dann bleibt um Gottes Willen in diesem Raum der Gnade. Gnade ist die
liebende Umarmung des Vaters, der seinen nach Schweinen stinkenden Sohn in die Arme
schliesst. Gnade ist freudige Tischgemeinschaft, die nicht verdient werden muss und kann.
Gnade ist Liebe, die – vielleicht mit Tränen in den Augen – den anderen annimmt, so wie
er ist. Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat (Römer 15,7).
Unsere Aufgabe ist es zu lieben, ehrlich zu sein, zu vergeben, zu ertragen. Aber nur Gott,
nur Jesus kann sagen: «Geh hin und sündige von nun an nicht mehr». Letztlich muss Jesus
zum anderen sprechen: «Geh und schliesse von jetzt an die Türen!»
Wer geliebt ist, wird anders leben wollen!
Die Erfahrung der Liebe Gottes, das Ankommen in den gnädigen Armen des Vaters, das
Kreuz als Ort der Vergebung und Annahme sind im tiefsten die Voraussetzung dafür, dass
es zu wirklich freier und darum auch nachhaltiger Veränderung kommt. Wenn Gott in den
Zehn Geboten zu uns sagt: «Du sollst nicht ehebrechen … morden … lügen … stehlen»,
dann fehlt hier eine zentrale Ergänzung zum Verständnis der biblischen Gebote: Die Zehn
Gebote hängen nicht im luftleeren Raum als blosse Forderung oder gar Überforderung. Der
Zusammenhang ist unendlich wichtig: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten
aus der Sklaverei befreit hat. Darum wirst du doch nicht mehr fremden Göttern nachlaufen
… ehebrechen … lügen … morden (2. Mose 20,1ff). Genau gleich ist es in unserer Geschichte bei Jesus: «Jetzt, wo du meine Liebe, Annahme und Vergebung erlebt hast, jetzt kannst
du doch nicht mehr weiterfahren wie vorher und die Ehe brechen wollen.»
Es geht also nicht um Forderungen, sondern um logische Konsequenzen: Wer von dieser
Gnade Gottes berührt worden ist, wird anders leben wollen/können. Tauche gerade auch
im Abendmahl in Gottes Liebe, Annahme und Vergebung ein: Das Brot der Hingabe aus
Liebe und der Kelch der Bundestreue sind die Kraftquellen zur Überwindung der Sünde.
… und lass dich von der Gnade überraschen!
Wenn in unseren Ehen, Familien und Freundschaften diese Liebe, Annahme und Vergebung
herrschen, wenn diese Atmosphäre der Gnade erlebt wird – dann passiert etwas höchst
Spannendes: Wir beginnen zwar über die mühsamen offenen Türen oder über ständig laufende Computer oder über diese ständige «Kritisirerei» zu sprechen. Aber plötzlich merken
wir, dass uns Gott noch tiefer führt. Vielleicht stecken hinter diesen ‚offenen Türen‘ ganz
andere Ursachen. Könnte es sein, dass jemand ständig mit seinen Gedanken abwesend ist
und darum die Türen zu schliessen vergiesst: Hat er zu viel um die Ohren? Sucht er in der
Arbeit ungesunde Bestätigung? Ist es Menschenfurcht, die ihn unfähig macht, Nein zu sagen? Und könnte die Flucht in die Computerwelten nur Symptom für ein viel grundsätzlicheres Leiden sein? Oder steckt hinter diesem ständigen Kritisieren vielleicht eine tiefe
Angst und Frustration, dem anderen nicht (mehr) zu genügen? Die Angst, nicht mehr geliebt zu sein – verlassen zu werden? Oder geht es um Neid und Eifersucht?
Wenn wir in dieser Atmosphäre der Gnade beginnen, ehrlich miteinander zu reden, könnte
Überraschendes geschehen: Es entstehen plötzlich aufwühlende Gespräch über Ängste,
Überforderungen, Verletzungen, Schuld und Sünde. Im Raum der Gnade können unsere
Gespräche über offene Türen plötzlich in die Tiefe führen, wo wir mit unseren Ängsten und
Hoffnungen, unseren Verhärtungen, Narben und Gebundenheiten in Berührung kommen.
Zusammenfassung
Nur Jesus kann sagen: «Geh und sündige von nun an nicht mehr!» Unsere Aufgabe ist es,
in einer Atmosphäre der Liebe und Annahme ehrlich zueinander zu sein und den Rest Jesus
zu überlassen. Lassen wir uns überraschen – dann können wundersame Dinge passieren.
Aus «Geh und schliess die Türen» könnte dann werden: «Weil du IHM begegnet bist, wirst
du nun deine Grenzen ernst nehmen.» «Weil du in der Gnade deinen Wert erkannt hast,
wird du in Zukunft Nein sagen können.» Aus «Geh und kritisiere nicht ständig deinen Ehemann» könnte dann werden: «Geh und stell dich deiner Eifersucht und Angst, nicht zu genügen!»
Liebe und Ehrlichkeit, Annahme und Vergebung sind die Voraussetzung, dass Jesus uns
befreiend sagen kann: «… darum wirst du doch nicht mehr sündigen!» 