GRIMM. EIN DEUTSCHES MÄRCHEN ein Theaterprojekt von Jan

DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN
GRIMM. EIN DEUTSCHES MÄRCHEN
ein Theaterprojekt von Jan-Christoph Gockel und David Schliesing
Recht früh an diesem Theaterabend fassen zwei junge Männer einen Entschluss, der ihr Leben
verändern und ihm eine deutliche Färbung geben wird. Sie rufen: „Mama! Wir wollen
Märchensammler werden. Von Beruf!“ Und auf die Entscheidung folgt die Umsetzung. So konkret
haben die beiden Brüder Grimm, von denen hier die Rede ist, sich natürlich nicht für eine
Gelehrtenlaufbahn entschieden, dies ist poetische Interpretation und Verengung dessen, was
Jacob und Wilhelm Grimm ihr Leben lang taten und wofür sie bis heute berühmt sind: der
Sammlung von Worten und Geschichten, von Sprache und ihren Ursprüngen. Die Grimms sind
jene Zeitgenossen des romantischen Deutschlands, denen wir das wohl meist gelesene und
bekannteste deutsche Buch zu verdanken haben: die „Kinder- und Hausmärchen“. Ihrem Leben,
ihrer Familie, ihrem Schaffen und ihrem politischen und literarischem Denken und ihrer Zeit widmet
das Projekt GRIMM. EIN DEUTSCHES MÄRCHEN einen ganzen Theaterabend, aus welchem
eben erfolgtes Zitat stammt und welcher am 8. März 2013 Premiere feierte und zum
Kassenschlager in Mainz wurde.
Die Welt der Märchen ist eine fantasievolle und moralisch ambivalente Welt, die in uns aber vor
allem nostalgische Gefühle weckt, wenn wir in Gedanken an jene Zeit zurückkehren, in der uns die
Geschichten um „Hänsel und Gretel“, „Aschenputtel“, die vom „Rotkäppchen“ und andere erzählt
oder vorgelesen wurden. Wir kennen diese Geschichten von Kindheit an, die prototypische Rituale
des Erwachsenwerdens, des Kämpfens gegen Angst, gegen Vorurteile, von Elternschaft und vom
Tod erzählen. Die „Kinder- und Hausmärchen“ sind das populärliterarische Erbe der Brüder
Grimm, neben ihrem Riesenprojekt, dem „Deutschen Wörterbuch“. Dass aber die Grimms viel
mehr sind als das, das zu zeigen, hat sich der Abend zur Aufgabe gemacht. Denn das Leben der
Brüder Grimm scheint nur wenig aufregend, auf den ersten Blick. Aber ihr kulturelles und
politisches Verständnis und Vermächtnis waren prägend und dem romantischem Zeitgeist
widersprüchlicher gegenüberstehend als man meinen mag.
GRIMM. EIN DEUTSCHES MÄRCHEN erzählt aber nicht von a nach b die Biografie der beiden
Brüder Grimm nach. Vielmehr setzt sich das Projekt mit Motiven des Grimm´schen Lebens
auseinander, und spinnt diese zu einem großen Panoptikum zusammen, das ein Lebens- und
Gegenwartsbewusstsein zeigt, welches sich gleichzeitig rückwärtsgewandt und fortschrittlich
darstellt, dabei zwischen Fakten, Märchenwelt und Psychologie herumspringend, ein
Verständnisbild der romantischen Epoche zum Leben erweckt und einen Sog erzeugt für eine Zeit,
in der „das Träumen noch erlaubt war“.
Würde man versuchen den Dreh- und Angelpunkt des Abends, würde man versuchen das
erzählende Moment in einem Wort zu beschreiben, so träfe der Begriff „Identität“ am besten den
Kern der Auseinandersetzung. Ein Wort im Übrigen, das sich im Grimm´schen Wörterbuch noch
nicht finden lässt. Einzig der Eintrag „Ider“, der synonym für das Wort „Jedermann“ steht, ist dort
aufzufinden. Aber der Abend beschäftigt sich mit dem Spiel um persönliche und kollektive Identität.
Er greift das auf, was die Brüder Grimms für sich selbst wie auch später für eine ganze Nation
gesucht haben wie nichts anderes: eine Suche nach dem, was uns alle eint.
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Ausgangspunkt für diese Suche nach dem Selbst beginnt in Jan-Christoph Gockels Inszenierung
wie folgt: Die Geschichte wird aus der Perspektive des Familienlebens der Grimms erzählt. Eine
Familie, so beginnt der Abend, die den Verlust des Vaters zu betrauern hat. Eine Familie, die
aufgrund des Ablebens des Familienoberhauptes, verarmt und kopflos zu sein scheint. Und hier
setzt auch die historisch soziologische Grundlage für das Verständnis der Brüder Grimm ein. Sie
wachsen im Zeitalter des Biedermeier auf. Eine Epoche, in der das bürgerliche Familienverständnis neu transformiert, einen anderen Charakter erhält. Die Familie ist nun keine reine
Zweckgemeinschaft mehr, sondern eine Gruppe von Menschen, die Verantwortung füreinander
übernimmt, die zu einem Ort der Geborgenheit und des Zusammenhaltes wird. Bildung bildet das
Zentrum bürgerlichen Familienlebens; die strafende Rute wird ersetzt durch gemeinsame Spiel-,
Lese- und Musikstunden.
„Mit dem toten Vater geht es also los.“ heißt es in der Inszenierung. Nun sitzen sie da, die Brüder
Jacob und Wilhelm Grimm. Um sie herum scharren sich ihre Geschwister: Ludwig Emil, Carl und
Ferdinand, Lotte Amalie, neben Mutter Dorothea, die einzig weitere Frau im Haushalt. Gockel
beginnt mit einer Familiengeschichte, die inszenatorisch durchaus sitcom-ähnliche Züge enthält;
spielt sich doch szenisch erst einmal hauptsächlich alles an einem Tisch ab, der wie in amerikanischen Sitcoms dem Sofa gleich in der Set-Deko das Zentrum des Geschehens darstellt. Der
Zuschauer erlebt das alltägliche Leben im Hause Grimm. Man zieht um, geht zur Schule und für
alles muss nun Jacob, der Älteste, der, elfjährig, den leeren Platz des Vaters einnehmen muss, die
Verantwortung tragen.
Das Leben geht mäßig weiter. Die Grimms versuchen sich abzuschotten vor dem, was um sie
herum passiert. Und das ist eine Menge. Gockel interpretiert es nämlich so: die Gegenwart der
Grimms ist konfrontiert mit revolutionären Umbrüchen, die 1789 in Frankreich ihren Anfang
nahmen und ganz Europa erfassen sollten. Mainz und die Region herum wurden 1793 für eine
sehr kurze Dauer zu einer der ersten parlamentarischen Demokratien im Heiligen Römischen
Reich Deutscher Nation. Deutschland war, damals eine Ansammlung von Kleinstaaten, keine
geeinte Nation. Die Literaten und Philosophen ihrer Zeit hießen die Umwälzungen brennend vor
Begeisterung willkommen. Anders die Brüder Grimm. Sie fühlten sich bedroht.
In Gockels Inszenierung erzählen sich die Grimms besonders im ersten Teil des Abends
gegenseitig viele Märchen, angefangen mit Ratespielen, bis hin zur Diskussion über deren
moralischen Gehalt. Alle haben aber eines gemeinsam. Es sind Geschichten, die von Generation
zu Generation weitergegeben werden. Und hier beginnt die Idee der Identifikation. Wilhelm Grimm
bemerkte begeistert über die Märchen, welche die beiden eifrig zu sammeln begannen – was in
Wahrheit bedeutete, dass sie sich die Märchen von Zuträgern, also Freunden der Grimms, in ihrer
warmen Kassler Stube erzählen ließen - in ihnen liege „lauter urdeutscher Mythos". Literatur war
für die Grimms Träger kollektiven Wissens, welche bewahrt werden musste vor den, mit der
Vergangenheit brechenden Veränderungen des revolutionären Geistes der Vormärz. Ganz
bewusst zogen sich die Grimms, Jacob mit scheinbar reaktionärer Haltung, zurück in die
Studierstube, schrieben ab, dichteten um - vornehmlich Wilhelm Grimm, der den Märchen ihren sie
berühmt machenden zauberhaften Ton verlieh. Sie verkrochen sich in die Vergangenheit, mit der
Absicht die Literatur und später die Sprache an sich für die Zukunft zu bewahren. Das kulturelle
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Erbe gegen die Umbrüche der Gegenwart zu schützen wurde ihre vornehmliche Aufgabe. Die
Grimms wurden berufstätige Märchensammler. Welchen Wert diese Arbeit hat, zeigt Gockel nun
am identitätsstiftenden Modell Familie. Eine Auswahl an Märchen werden erzählt und dadurch die
gesamte Familie Grimm vorgestellt.
Und hier kommt ein weiterer Clou der Inszenierung ins Spiel: die Handpuppen und Marionetten
von Puppenbauer und Schauspieler Michael Pietsch. Die Puppen gleichen von Kopf bis Fuß bis
hin zum Kostüm den Spielern auf der Bühne. Diese kleinen Homunkuli werden zu Doubeln ihrer
menschlichen fleischlichen Vorbilder. In der Inszenierung werden sie dadurch zu prototypischen
Reflektionen der einzelnen Familienmitglieder. Anhand der Märchen werden die Charaktere als
psychologische Fallbeispiele vorgestellt. Da ist z.B. Mutter Dorothea, die sich – hier wird das
Beispiel besonders klar -, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hat – in die böse Stiefmutter
aus „Schneewittchen“ verwandelt. Sie spricht in den Spiegel, beklagt ihre durch ihr Älterwerden
Abhandenkommen ihrer Schönheit. Der Spiegel antwortet in Form ihres Puppendoubles als sie
selbst aber vor allem als der Tod. Gockel mischt hier Märchen mit den Wünschen und
Sehnsüchten seiner Grimm´schen Figuren. Die Puppen werden zum unterbewussten Spiegel. So
z.B. auch Carl, der ewige Versager, der der Familie zur Last fällt, der seinen Charakter anhand der
entsetzlichen Geschichte von „Hänsel und Gretel“ erzählt. Die Geschichten, verbunden mit den
Puppen, werden zu Spiegelbildern, die Realität und Fantasie vermischen und dadurch einen
identitätsstiftenden Mehrwert erzeugen. Aber nicht nur das, sie versinnbildlichen auch die
archetypischen Funktionen der Märchen. Archetypen sind abstrakte kollektive Gestalten, die
Rituale, Erlebnisse und Begebenheiten erleben, die in allen Kulturen ähnlich verlaufen. Erlebnisse,
die alle Menschen und ihre Gesellschaften teilen. Sie sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses.
Was die Brüder Grimm in ihrer Märchenwerkstatt im ersten Teil vor allem anhand der Familie
erzählen: Identitätsstiftung im persönlichen kleinen Kreis, im individuellen Fall, wird im zweiten Teil
des Abends auf eine ganze Nation hin angewandt. Während im ersten Teil die Familie im
Vordergrund steht, steht im zweiten Teil Deutschland im Zeitalter der Romantik im Mittelpunkt.
Das Zeitalter der Romantik war geprägt von Umbrüchen auf politischer Ebene, auf kultureller
jedoch, gab es eine Hinwendung zur Natur, zum Ursprünglichen und zum Völkischen. Die Literatur
ignoriert die Epoche der Klassik und wendet sich der volkspopulären Erzählung zu. So auch die
Grimms. Die, wie schon eingangs erwähnt, den Umwälzungen nur wenig abgewinnen konnten. Die
Devise nach dem Tod des Vaters war: Raushalten. Aber das konnten sie nicht ewig. Spätestens
mit ihrer Petition gegen Ernst August von Hannover, der das demokratisch gewählte Parlament in
Hannover kurzerhand wieder abgeschafft sehen wollte, wurden sie auch als politische Helden
gefeiert. Ihr Schreiben machte sie als die „Göttinger Sieben“ bekannt. Ihre Anstellung als
Professoren in Göttingen mussten sie aufgeben. Aber sie wurden als politische Aktivisten berühmt.
Gockel stellt diese Szene naturgemäß märchenhaft dar. Die Motive, die einerseits mit Wolf
Biermanns „Warte nicht auf bessre Zeiten“ gemischt werden, greifen das Märchen „Der Wolf und
die sieben Geißlein“ auf. Wer hier für was steht, scheint klar zu sein. Ein Motiv, das musikalisch
noch durch Dmitri Shostakovichs Elfter Sinfonie, die vom Niederschlag der Kommunisten durch die
Zarenarmee erzählt, unterstützt wird. Plötzlich fanden sich die Grimms auf der politischen Bühne
wieder. Aber – wenn auch Jacob Grimm als Abgeordneter an der Nationalversammlung 1848
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teilnahm – suchte er auf sprachlich-literarischen Weg die Einigung der Nation. „Was haben wir
denn gemeinsames als unsere Sprache und Literatur“ heißt es bei Jacob Grimm. In dem was seit
Jahrhunderten erzählt wird, finden wir uns wieder. Und so beginnt das wohl größte Literaturprojekt
der Grimms: die Verfassung des Grimm´schen Wörterbuchs. Ein Projekt das erst 1977 wirklich
abgeschlossen wurde. Ein Buch, das der deutschen Sprache bis zu ihren Ursprüngen auf den
Grund gehen sollte. Zu Wissen wer wir sind, liegt für die Grimms in der Vergangenheit. Das zu
beweisen, führte sind in die entlegensten Winkel unseres kulturellen Erbes.
Jan-Christoph Gockels Theaterprojekt lässt Revolutionen, Geschichte und das Studium der
Sprache Revue passieren, mixt Sitcom und Prolo-Widerstand, Grimm´sche Familienidylle und
Gangsta-Style. Dabei graben sich die Spieler Henner Momann, Michael Pietsch, Daniel Friedl,
Matthias Lamp, Felix Mühlen, Ulrike Beerbaum und Monika Dortschy wie einst die Grimms in den
dunklen Wald Deutschland hinein, den Bühnenbildnerin Julia Kurzweg samt Märchenwerkstatt und
mit Raffinesse ausgestatteten Grimm´schen Wohnhauses auf die Bühne gebracht hat. Und
gemeinsam mit Michael Pietschs Puppen und in Sophie du Vinages Kostümen blasen sie die 200
Jahre alte Staubschicht von den Märchen - Geschichte und Geschichten als Tiefenpsychologie
und Identitätsstifter begreifend - auf der Suche nach dem, was uns alle eint.
Der Abend, der ca. 3 Stunden inklusive einer Pause dauert, schließt am Ende den Kreis. Zu
Beginn erzählt Mutter Grimm das Märchen vom Riesen im Zweikampf mit dem Tod, der Riese
gewinnt. Und eben dieser steht am Ende des Abends auf der Bühne, zum Sinnbild der
Inszenierung geworden: die Grimms haben ihren Zweikampf mit den Umbrüchen ihrer Zeit
bestanden. Und wenn sie auch gestorben sind, so leben sie noch heute.
Oktober 2015
Jörg Vorhaben
Staatstheater Mainz