Sascha Kirchhoff (Hg.) Stimmgeber Flüchtlingstexte 1. Auflage © liegt bei den Autoren Herborn, September 2015 Illustrationen (Innenteil & Cover): Mehrdad Zaeri Korrektorat: Filomena Franke Cover & Satz: Marvin Ruppert Texte Eine Bootsfahrt, die ist lustig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Sascha Kirchhoff „Moudi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Mohammad Nassaj (geschrieben von Sascha Kirchhoff) #neuland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Marco Michalzik Wo kommst du her? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Siawash Ich hab da was gehört . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Tristan Kunkel Wolkenkratzerträumerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Livia Warch Entidiotisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Lula Leitloff An die empathische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Jakob Kielgaß Vorwort Stimmgeber ist ein durch Sascha Kirchhoff initiiertes Pro� jekt. Gemeinsam mit namhaften und aufstrebenden Poetry Slammern aus dem ganzen Bundesgebiet schreibt er für Menschen, die sich selbst schlecht oder gar nicht mitteilen können. Stimmgeber schafft für diese Menschen einen ver� trauensvollen, freundlichen und unterhaltsamen Rahmen, um auf deren Lebenslagen, Missstände und Weltanschau� ungen aufmerksam zu machen. Gemeinsam geben sie Menschen eine Stimme. Eine, die so laut ist, dass sie wieder andere sprachlos macht. Stimmgeber beschäftigen sich mit schwierigen Themen und treffen die Menschen, die diese betreffen. Bei einer Tasse Tee wird dann gesprochen und geschrieben. Der Text wird dann schnellstmöglich ausgearbeitet. Stimme geben kann Geld kosten, muss es aber nicht. 3 Eine Bootsfahrt, die ist lustig SASCHA KIRCHHOFF Ausländer vergewaltigen, klauen im Aldi, verbrennen klei� ne Babys und Welpen und essen schwangere Frauen. So denken viele. Die integrieren sich auch nicht! Das mit den Flüchtlingen in der EU läuft daher auch eher schleppend. Wir schaffen es nicht, uns mal für einen Herzschlagge� danken lang zu öffnen, für Minderheiten wie Homosexuelle, Ausländer oder die FDP. Für uns ist es in der Überflussge� sellschaft die Qual der Wahl, für die FDP eine Qual, weil sie keiner wählt, und für Flüchtlinge ein Gefühlscocktail aus Eu� phorie, Freude, Trauer und Angst. Wir haben Angst vor allem Neuen und dem schwarzen Mann. Wir machen es anderen schwer, anstatt Einzigartig� keit zu bewahren und Vielfalt zu schätzen. Wir leben in ei� nem Land, in dem Heidis Topmodels ein Maßstab sind, wäh� rend die Frauen in anderen Ländern genauso aussehen. Nur hungern die nicht, um schön zu sein. Aber wirtschaftliche Not, Hunger und Perspektivlosigkeit sind für uns noch lange 5 kein Grund, gleich wegzulaufen. Feige Schweine! Für Heidis Mädels geht es um einen gut dotierten Modelvertrag. Für die vor Hunger nach Deutschland fliehenden Frauen aus Af� rika um den Traumjob bei McDonald’s. Für die gibt es auch kein Foto am Ende der Challenge. N�������������������� ö������������������� ! Sondern das Rück� flugticket. Rosen gibt’s auch nicht. Es sei denn, du verkaufst die in Italien am Strand oder in deutschen Restaurants. Gut so! Ist doch eindeutig! Die wollen an unser Geld, die Schmarotzer. Völlig plausibel! Ich würde auch wochenlang durch verminte Wüsten laufen, meine Heimat und meine Fa� milie hinter mir lassen, um mich dann mit hundert anderen als Nichtschwimmer in ein seeuntaugliches Boot setzen und in der Hoffnung auf eine bessere finanzielle Zukunft nach Griechenland (!!!) fliehen. Völlig klare Sache! Na ja, wenn sie Glück haben, dann landen sie ja in Deutschland. Hier, das sage ich Euch, bekommt man noch was für sein Schlepper� geld geboten. Die Welt zu Gast bei Freunden. So verteilt z.B. der HSV Freikarten für seine Heimspiele an Flüchtlinge. Na, da fragt man sich doch, haben die nicht schon genug ge� litten!? Ja, deshalb kommen die ja überhaupt erst zu uns! Denn ihr Leid kennt nämlich keine Grenzen. Bei mir ist, Gott sei Dank, nur der Humor grenzüberschreitend. So wie die deutschen Medien. Der Express fragt beispielsweise nach einem Spiel des 1. FC Köln (die sollte mal einer integrieren), welches von Herrn Nishimura gepfiffen wurde, ob Sushi es� sen eigentlich blind macht. Subtiler Rassismus. Trotzdem 6 Rassismus! Aber ich kenne das selbst. Ich kann nicht einmal Laktose tolerieren. Ums Tolerieren geht es mir allerdings auch nicht, sondern darum, Einzigartigkeit zu bewahren und Vielfalt zu schätzen. Wer aber immer noch an die genetische Überlegenheit des deutschen Volkes glaubt, dem möchte ich die Kinder in meiner Nachbarschaft ans Herz legen. Jeremy Pascal ist kein Mythos und der Genpool vieler Familien der Beweis dafür, dass weniger nicht immer mehr ist. Ich verstehe allerdings, wenn man Angst vor dem sogenannten Flüchtlingsstrom hat. Ich frag mich selbst ja auch, wo der herkommt, dieser Flüchtlingsstrom, und wie der hergestellt wird. Bin mir al� lerdings ziemlich sicher, man könnte ihn mit etwas gutem Willen ins Netz einspeisen. Ich bin mir wie viele nur nicht so sicher, ob die nun unserem Sozialstaat auf der Tasche liegen wollen, oder ob sie uns die Jobs wegnehmen. Sicher ist nur, die wollten nie weg, sondern Frieden! Aber wie ist der denn so, dieser Flüchtling!? Ich denke, der Flüchtling ist so wie wir. Verschieden. Nur dass er vor Krieg und Hunger flieht. Wir fliehen vor der Verantwortung und einmal im Jahr vor un� serem Leben nach Malle. Stellt sich mir noch die Frage: Wer hat denn dann jetzt noch Angst vorm schwarzen Mann? Pegida, Pegida! Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Pe� gida, Pegida! Aber keine Angst, Pegida! Ihr wisst ja, egal wie schwarz jemand ist, Alice ist schwarzer! Lieblingsspruch zurzeit. Aber wir Deutschen haben Angst und wünschen 7 uns siebzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in Zeiten der Krim, alle Flüchtlinge wären wie Russland, denn die sehen zu, dass sie Land gewinnen! Ich frage mich, können wir die Vorurteile nicht mal sein lassen? Was soll das? Wir sollten nicht nur Vorurteile lassen, sondern uns am besten gar kein Urteil erlauben. Einzigartigkeit bewahren und Vielfalt schät� zen. Ich gebe es ja zu, ich mache da gerade ein ziemlich gro� ßes Drama draus. Ist doch ja auch kein Ding, wenn sich so viele Hungernde in ein kleines Boot quetschen. Die wiegen doch sowieso nichts. Wenn wir also schon kein Mitgefühl haben und Menschen ertrinken lassen – und versteht mich nicht falsch, wir können ihnen gerne auch helfen, dort wo sie herkommen – aber wenn wir schon kein Mitgefühl emp� finden können, vielleicht besitzen wir ja einen Funken Intel� ligenz. Stichwort demografischer Wandel! 8 „Moudi“ MOHAMMAD NASSAJ (geschrieben von Sascha Kirchhoff) Guten Tag, mein Name ist Mohammad Nassaj. Ich weiß nicht, welche Geschichten Ihr gerne lest. Es gibt viele Ge� schichten von vor und nach dem Krieg und ich kenne zu vie� le, die auch schon zu Ende erzählt sind. Aber es entstehen immer noch neue und Deutschland ist für die unzähligen Flüchtlingsgeschichten, die gerade erst geschrieben wer� den, bestimmt alles andere als das Happy End. Manchmal glaube ich, dass die Nachrichten in Eurem Land ständig übertreiben und manchmal habe ich Angst, einfach nur abgestumpft zu sein. Wie schlimm unser Leid ist, höre ich da immer und immer wieder. Dann denke ich zurück an die Tage, als die Mörser einschlugen und wir wie immer die Toten zugedeckt haben und weiter lebten wie bisher. Ich bin aus Syrien weg, weil dieser Ort zurzeit nicht mehr meine Heimat ist. Auch in Syrien bin ich heimatlos und wenn ich in Ihren Augen ein Sozialschmarotzer oder eine Bedrohung bin, dann kann ich Ihre Meinung nicht ändern. 10 Ich kann mich aber über alle die freuen, die sich die Mühe machen, die Geschichten der Flucht zu verstehen. Ich habe in Syrien gelernt, dass man mit seiner Meinung vorsichtig sein sollte. Denn für meine Meinung kommst du ins Ge� fängnis und wirst jahrelang gefoltert, solltest du so glück� lich sein und überhaupt leben. Verrückt daher, dass ich mit Sascha hier sitze und mit ihm darüber spreche, wie ich über den Krieg in Syrien und mein Leben in Deutschland denke. Die Wahrheit, lieber Leser, ist ganz einfach: Kein Mensch will Flüchtling sein. Hätte ich einen Wunsch frei, dann wäre alles wie früher. Ich würde in Allepo in Syrien als Arzt arbei� ten. Denn da wurde ich geboren und diesen Beruf habe ich gelernt. Ich würde dann mit meinen Freunden in Bars und Cafés gehen und mein Leben genießen. Aber der Krieg in meiner Heimat hat mir alles genommen. Um das Einzige zu retten, das ich noch habe, mein Leben, musste ich fliehen. Ich hatte dabei gewiss einen leichteren Weg als die vielen Menschen, die während ihrer Reise dem Tod näher sind als ihrem Ziel. Aber dazu ein anderes Mal mehr. In einem ande� ren Teil meiner Geschichte. Manche Menschen sagen sogar, die Flucht ist der einfachere Weg und man müsse für etwas kämpfen. In meiner Heimat machen das alle. Alle kämpfen für etwas. Die Truppen von Assad, die Freiheitsarmee, die die Truppen von Assad bekämpft, und ISIS. Menschen ster� ben auf allen Seiten und alle Seiten haben ihre vermeintli� chen Gründe. »The fighters are fighting and the people are 11 dying.« Da hat niemand was von. Es gibt viele Menschen mit vielen verschiedenen Gedanken und jeder versucht für sei� nen Glauben, seine Ideen und seine Meinungen einzuste� hen, ohne einzusehen, dass wir verschieden sind. Dass eben genau das menschlich ist. Verschieden dickköpfig zu sein scheint aber der menschlichste aller menschlichen Züge zu sein. Ich habe gelernt, dass andere Meinungen zu bekämp� fen keine gute Idee ist. »Cause to fight back is not good for the cause.« Aber was können wir denn dann machen? Wir können Vorbild sein und wenn wir kein Vorbild sein können, dann sollten wir lieber nichts sein. So wie die Dinge jetzt laufen, werden wir alle gemeinsam scheitern. Wir begegnen Hass mit Hass und wundern uns? Auch Ihr solltet Euren deutschen Hasspredigern vor den Flüchtlingsheimen nicht mit Hass begegnen. Warum macht Ihr Euch überhaupt Sorgen um Euer Land? Klar, Länder wie der Libanon sind ärmer und nehmen viel mehr Menschen auf. Aber die bekommen dort nichts. Hier bekommt man Geld und Kleidung. Das ist toll! Danke! Es stehen 300 Menschen in Berlin vor einem Flüchtlingsheim und demonstrieren. Das ist kacke, aber auf der anderen Seite stehen 3000, die für uns sind! Danke! Solange es mehr Leute gibt, die für uns sind, ist alles gut. Viele gute Herzen schlagen für uns. Ihr dürft denen, deren Herzen das nicht tun, aber nicht mit Hass begegnen. Dadurch wird es für uns alle nur noch schlimmer. Es gibt eben Menschen mit verschiedenen Gedanken und manche 12 davon sind dumm. Was aber wollt Ihr ihnen sagen? Würde das ihre Meinung ändern? Wenn ich mit ihnen rede, hat es der Ausländer gesagt und wenn Ihr mit ihnen redet, der Freund eines Ausländers. Sie suchen nach den kleinen Din� gen und alles, was wir machen können, ist, ihre Meinung nicht zu bestätigen. Menschen ändern sich und wir wissen nicht, was sie mal denken und tun können. Aber was ich ge� lernt habe ist, dass Menschen nicht ständig kämpfen soll� ten. Denn Hass ist auf beiden Seiten schlecht. Ich verstehe das auch nicht, denn in Deutschland scheint es besonders im Osten schlimm zu sein. Müssten die Menschen dort es nicht eigentlich besser wissen? Wissen, wie es ist, von anderen getrennt zu sein und wie schön es ist, wenn man willkommen ist und an einem besseren Ort aufgenom� men wird? Doch sie haben Angst und wollen mich zurück schicken, an einen Ort, der nicht mehr existiert. Wo soll ich hin? Die Menschen in meiner Heimat sind geflohen oder tot. Meine Stadt gibt es nicht mehr und was von ihr übrig ist, ist das neue Berlin. Denn auch meine Stadt ist geteilt. Die Orte, die ich Zuhause nannte, sind zu Staub zerfallen und die wenigen Menschen, die noch da sind, können nicht vergessen. Die Kinder wachsen auf mit Krieg, und in ihren Herzen, in ihrer Seele ist der Krieg, sodass sie auch wieder Krieg führen werden. In allen Religionen ist die Vergebung das höchste Gut. Für die Menschen ist dies die schwerste aller Übungen. 13 Viele Menschen vergessen das Leid allerdings schon während es noch geschieht. Warum? Weil es nicht ihnen geschieht. Euch zum Beispiel interessiert dieser Krieg nicht wirklich und wenn doch, dann nur dann, wenn ISIS jeman� den werbewirksam köpft. Dann habt Ihr Angst, denn ISIS ist auch für Euch eine Gefahr. Assad und die Freiheitsarmee sind Euch egal. Deutsche Nachrichten sind deprimierend. 300 sterben und niemand sagt etwas. 3 sterben und alle flippen aus. Warum? »They belong to you!« Es muss Euch auch nicht interessieren. Nicht falsch verstehen. Ihr könnt nichts für uns tun. Die Menschen selbst müssen lernen. Wir wollen nicht, dass noch mehr Menschen nach Syrien kom� men und für etwas kämpfen. Es sind schon jetzt keine Syrer mehr, die dort kämpfen. ISIS besteht aus vielen Nationali� täten und Assads Armee nur noch aus Iranern und Irakern. Die Freiheitsarmee tötet Syrer. Außerdem gibt es nichts ge� schenkt in diesem Leben und wenn jemand kommt, um uns zu helfen, dann wird auch er etwas nehmen. Was Ihr aber tun könnt, ist, Menschen zu helfen. Den Kindern Syriens ein Zuhause geben, weil sie keines mehr haben und ihnen ein Vorbild sein. Liebe geben, wo nur Hass gesät wurde. Sie ausbilden und dann ganz vielleicht, so ist meine Hoffnung, bringen ein paar von ihnen in vielen Jahren, wenn die Waf� fen schweigen, all das zurück nach Syrien, was Ihr ihnen hier mitgegeben habt. Dann gibt es Hoffnung. Auch ich würde gerne zurück nach Syrien, mit meinen Freunden in Cafés 14 und Bars gehen, tanzen und als Arzt arbeiten. Aber das ma� che ich erst, wenn es dort sicher ist. Sicher ist, ich bin noch jung, aber der Krieg ließ mich alt werden und hat mich alles das und noch vieles mehr gelehrt. 15 #neuland MARCO MICHALZIK 1. Ich bin ein Wanderer, der den Weg oft verliert, der sich verwirrt in seinen Gedanken, oft selbst ganz verliert, bis er das Ziel nicht mehr sieht. 2. In diesem Land so schrecklich oft gegen Wände gerannt. Sackgassen wie Westentaschen gekannt. Auf der Suche nach diesem Land hinter dem Schrank, das dieses kleine Mädchen fand. Warte, wie haben sie das noch gleich genannt? 16 Als alle Stoppschilder endgültig überfahren waren, und als Gutenachtgeschichten nur Durchsagen von Gefahren kamen, zugespitzte Lagen und angstverschwitze Laken sprachen mittlerweile lauthals eindeutige Sprachen. Das Land verlassen, das doch so lange Heimat war. Letzte Pennys für perfekte Perspektiven in gierige Hände gezählt. In der Hoffnung auf ein fast magisches Portal in diese wunderferne Welt, von der man sich erzählt, wenn man Hände flüsternd vor die Lippen hält. Schau mich bitte nicht so an. Und nur weil du jetzt rot wirst, heißt das nicht, ich halte an. Karten studiert, von Wegen, von denen keiner weiß, ob sie wirklich existieren. Wie kalibriert man einen Kompass – auf dem der Norden fehlt? 17 Die Richtung aus der das Licht kommt – nur noch ganz schwach zu sehen, wenn man sich wirklich zwingt, angestrengt zum Horizont zu sehen. Mit extrem schwerem Rucksack einen Weg entlang zu gehen mit Fragzeichen als Straßenschilder – Fahrtrichtung wohin? Und bei jeder Rast und jeder Frage nach dem Weg, zurückgeschickt, entgegengesetzt, die Füße tun so weh. Bis jedes Licht an jedem Tunnelende fehlt, und „Spiel mir das Lied vom Tod“ als Ohrwurm durch den Kopf vibriert. Tunnelblick täglich. Darüber ein Berg! Erdrückende Tonnen – darunter ein Zwerg. Unüberwindbar! Ganz sicher zu schwer! Ergeben ins Schicksal – der Berg wird zum Meer. Sind Tunnel nicht Straßen? Und führen Straßen nicht immer irgendwo hin? Heißt das nicht Hoffnung, nicht Perspektive, vielleicht sogar Sinn? 18 Nur Mut der Verzweiflung, aber Mut immerhin! Der Weg führt sicher nach draußen, auch wenn das schwer ist zu glauben inmitten dieser staubigen Mauer. Der nächste Schritt, den er geht, ist der erste Schritt vom Ende des Weges. 3. So weit, so cool. Wenn du das hier liest oder hörst, sitzt du wahrscheinlich gemütlich auf ’nem Sessel oder Stuhl. Hast dir ’nen Kaffee oder Bier geholt, gerade nichts weiter zu tun und wartest nun halbwegs gespannt, wie es weiter geht. Gut, vielleicht auch nicht, aber das wär dann ja ein anderes Problem. Hier sind wir nun zusammen, lauschen gemeinsam seiner Geschichte, die ich erzähle, um zu unterhalten. Unterhalten! Dabei fehlt es wohl an denen, die sich nicht nur unterhalten, sondern was unternehmen. 19 Sind wir nicht süße, privilegierte Einzelkinder mit mehr Süßigkeiten, als wir jemals alleine essen können? Verteidigen anstatt zu teilen und sie anderen zu gönnen, aus Angst, das ich das, was ich habe, am Ende des Tages nicht festhalten kann. Aber kann ich das überhaupt? Oder unbewusst aus dem Verlangen, das alles so bleibt, wie es ist, weil sich der Wohlstand bedroht fand, wenn man ihn teilt. Privileg bleibt nur so lange Privileg, wie man es pflegt. Und wie leg ich es mir zurecht, dass mein Leben wertvoller wiegt, nur weil mein Geburtsort innerhalb bestimmter Landesgrenzen liegt. Das Eklige an Privileg ist, dass es nur so lange funktioniert, wie ich es bin und andere nicht. Wie überaus ironisch das ganze doch ist, denn am Ende sind wir irgendwie ja alle tot und sitzen darum also doch allesamt im selben Boot. 20 Als jemand sagte, dass das Leben wie ein Schachspiel sei, hat er sicher nicht damit gemeint, teil’ alles ein in schwarz und weiß, in Freund und Feind, in wir und die, ich bin ja kein …, ABER – das geht doch jetzt echt zu weit. Und ich denk so, beim überreichen Abendbrot, wieso fühl ich mich überhaupt bedroht von jedem Mittelmeerboot, voll mit Geschichten von dem, der mehr bot, als der, der am Ende am Ufer zurück blieb. Und ich seh Not auf gestochen scharfen Flachbildschirmbildern von einem Boot mehr in Seenot. Kinderbilderbuchmäßig unbewusst schon angefangen mir auszumalen, was wir wohl sagen, wenn sie dann an unseren Festungsküsten stranden. Irgendwas stammeln, von Ressourcen, die wir nicht haben, von Zumutung, Bevölkerungsangst und dass man ja schließlich auch nicht überall helfen kann. 21 Und dann denk ich kurz: dagegen sollte wirklich doch mal jemand was tun. Aber dann auch wieder: Gott sei Dank hat das ja nichts mit mir zu tun. 4. Und ich schreib das hier, bevor ich schließe als Teil eines Kollektivs, dass sich selbst namentlich auf den Zimmermann berief, dessen Vater schreiben ließ: »Unterdrückt die Fremden nicht, die bei euch leben, sondern behandelt sie wie Euresgleichen. Liebt sie wie euch selbst, denn auch ihr seid Fremde gewesen!«1 Hat der obdachlose Gott gesagt und wir haben’s offensichtlich überlesen. Übertrieben so getan, als würd’ es da nicht stehen und wenn dann doch, bedeutungslos und weg theologisierend. Alles Leben aus den Räumen gefegt, bis die gute Nachricht nur noch aus leeren Worten besteht. 1 Die Bibel, 3. Mose 19, 33–34 22 5. Ich bin ein Pilger, aber nach Haus unterwegs. Das Land, ich geb’s zu, hab ich noch nie gesehen. Ein Fuß vor den anderen auf diesem Weg. 23 Wo kommst du her? SIAWASH Wo kommst du her? Das ist eine einfache Frage und doch bringen heutzutage einfache Fragen zunehmend kompli� zierte Antworten mit sich. Leute fragen mich immer, wo ich herkomme und erwar� ten, dass ich sage, ich komme aus Griechenland oder der Türkei. Ich habe aber keinen einzigen Tag meines Lebens in Griechenland gelebt. Ich kann nicht einmal ein einziges griechisches Wort sprechen. Somit denke ich, dass ich nicht das Recht habe, mich selber als Grieche zu bezeichnen. Und wenn »Wo kommst du her?« bedeutet »Wo bist du geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen?«, so stamme ich voll und ganz aus dem lustigen kleinen Land, das sich Pakistan nennt. Pakistan verließ ich, sobald ich mei� nen Abschluss hatte. Und während meiner ganzen Kindheit war ich auch stets das einzige Kind in der Klasse, das nicht so auszusehen begann wie die klassischen pakistanischen Helden, die wir aus unseren Lehrbüchern kannten. 25 Wenn »Wo kommst du her?« bedeutet »Wo zahlst du dei� ne Steuern, wo gehst du zu deinem Haus- oder Zahnarzt?«, dann bin ich aus Deutschland und das bereits seit einein� halb Jahren. Und wenn »Wo kommst du her?« bedeutet »Welcher Ort ist am tiefsten in dir verankert und wo versuchst du, die meiste Zeit zu verbringen?«, dann bin ich Engländer. Dort war ich drei Jahre für meinen letzten Abschluss. Und ich bin mir sicher, nicht viele Engländer würden mich als einen vor ihnen ansehen wollen. Ich sage das alles nur, um zu betonen, wie äußerst altmo� disch und überschaubar meine Herkunft ist. Wenn ich nach Frankfurt oder Hamburg gehe, sind die meisten jungen Leute, die ich dort treffe, um einiges interna� tionaler und multikultureller als ich. Sie haben ein Zuhause, das sie mit ihren Eltern assoziieren, ein anderes, das sie mit ihrem Lebenspartner assoziieren, ein drittes verbunden mit dem Ort, an dem sie gerade leben, ein viertes, das mit dem Ort ihrer Träume zusammenhängt und mehrere darüber hinaus. Ihr ganzes Leben werden sie damit verbringen, ein� zelne Stücke aus den verschiedenen Orten zu nehmen und zu einem bunten Glas zusammenzufügen. Zuhause ist für sie in Wirklichkeit ein laufender Prozess.Es ist wie eine Art Projekt, welches sie stets aktualisieren, ver� bessern und korrigieren. Und für mehr und mehr Menschen hat das Zuhause tat� 26 sächlich nur wenig mit einem Stück Land zu tun und viel mehr mit einem Stück Seele. Wenn mich jemand plötzlich fragt: »Wo ist dein Zu� hause?«, denke ich am meine Freundin oder an meine engs ten Freunde oder an die Lieder, die mit mir reisen, wo auch immer ich gerade sein mag. Die Zahl der Menschen, die nicht in ihrem eigenen Land leben, beträgt heutzutage 220 Millionen, das ist eine na� hezu unvorstellbare Zahl. Das heißt, wenn man die Ein� wohnerzahl von Kanada nimmt und die von Australien, nochmal die von Australien, nochmal die von Kanada und diese Zahl verdoppelt, so hat man immer noch weniger Menschen als die, die zu diesem pendelnden Volk gehö� ren. Die Zahl der Menschen unter uns, die außerhalb der alten nationalstaatlichen Kategorien leben, steigt unfass� bar schnell. Bereits jetzt repräsentieren wir die fünftgrößte Nation der Erde. In Toronto, der größten Stadt Kanadas, ist der Durch� schnittsbürger heute, was man früher einen Ausländer ge� nannt hätte. Jemand, der in einem ganz anderen Land ge� boren ist. Viele Menschen, die in einem Land leben, das nicht ihr eigenes ist, sind Flüchtlinge, die niemals ihr Zuhause verlas� sen wollten und sich danach sehnen, nach Hause zurückzu� kehren. Doch für die Glücklichen unter uns bringt das Zeital� ter der Bewegung aufregende neue Möglichkeiten mit sich. 27 Ich hab da was gehört TRISTAN KUNKEL Ich hab da was gehört. Sie kommen aus dem Nahen Osten und nehm’ hier alles ein, kein Dorf, kein Ort und keine Gemeinde soll vor ihnen sicher sein. Tragen komische Gewänder, die Denkweise beengt. Ich weiß ja nicht wie’s euch geht, aber ich fühl mich bedrängt. Ich hab’ da was gehört. Legen einfach Arbeit nieder, wann es ihnen gefällt, mischen sich in die Politik ein, ich hab die nicht gewählt?! Leben auf Kosten aller, von Steuern und vom Staat, 28 sind mit ihrer Einstellung in alter Zeit verharrt. Rufen von ihren Türmen Ihresgleichen aus. Ich will keine Protzbauten neben meinem Haus. Ich hab’ da was gehört. Die sollen wohl mal gekämpft haben, einen heiligen Krieg. Und in den Schulen sind sie auch, Kinder werden manipuliert. Und deren Behandlung der Frau! Bah! Da muss man doch was tun! Raus aus Deutschland – mit diesem gottverdammten Christentum! Früher haben Generäle Schwerter getragen. Und auch heute sind Generalisierungen immer noch zweischneidig. Sie funktionieren in beide Richtungen. Denn wenn ich alle Leute einfach so in einen Topf schmeiße, dann versalzt das die Suppe aber ordentlich. Religion ist eigentlich wie Quark. Da gibt es von der Stärke her auch die Light-Variante mit wenig Fett, den ganz normalen und die Doppelrahmstufe. Und nur, weil die Doppelrahmstufe zwangsläufig ungesund ist, wenn man 29 sie jeden Tag ins Essen kippt, schwört meine Oma immer noch auf Quark. Und das ist auch okay. »Junge, haste dich verbrannt? Tu Quark drauf. Ach, du hast Fieber? Tu Quark drauf. Wie, du hast eine Schusswun� de? Tu Quark drauf.« Dabei finde ich für mich persönlich Quark jetzt gar nicht so geil. Aber das ist okay. Ich muss ja auch Religion nicht so geil finden, auch wenn ich dafür von den uns geläufigsten Religionen wahlweise den Tod verdiene, zu Tode gestei� nigt oder mit dem Schwert niedergestreckt werden soll. Aber das macht hier ja zum Glück niemand mit mir. Aber ich hab da was gehört. Das macht man wirklich noch irgendwo. Da werden Leute von der Doppelrahmstufe verfolgt. Und da ist es egal, ob es Kaymak oder einfacher Ja-Quark ist. Wenn ich in meiner Heimat Angst haben muss, für meinen Glauben oder meine Überzeugungen getötet zu werden, dann habe ich das Recht, tausende Kilometer unter LKWs gen Westen zu reisen, auf sogenannten »Boo� ten« über das Mittelmeer zu fahren, von privaten Grenz diensten wie Abfall behandelt zu werden und in gut be� heizten, weil brennenden Unterkünften eingelagert zu werden. Und dann kommt man an in Deutschland. 30 Und wird unter dem Deckmäntelchen der Religion wie� der verfolgt. Wenn man das Radio anmacht, hört man nur noch eins: Pegida, Dügida, Bogida, Legida, Bagida, Dagida, Ogeda HEY Pegida, Dügida, Bogida, Legida, Bagida, Dagida, Ogeda HEY Aber ich hab da was gehört. Die Leute haben gar nichts gegen den Islam. Zumindest nichts Begründetes. Ich glaube – ich weiß, das mag jetzt komisch klingen –, die haben einfach was gegen Ausländer. Doch da schallt es schon von allen Seiten im Chor: »Deut� sche haben nichts gegen Ausländer. Das können wir gar nicht. Das dürfen wir gar nicht. Guck dir doch mal unsere Geschichte an, das wurde uns ja verboten!« Und dann habe ich mal in die Geschichte geschaut: Ich hab da nämlich was gehört. Bis vor 25 Jahren soll da nämlich eine Grenze mitten in Deutschland existiert haben. Und dann wurde diese Grenze ganz friedlich entfernt. Vielleicht wurde sie zerbrüllt, vielleicht auch zerkuschelt, man weiß das nicht so genau. Diese Grenze ist weg. Sie exis tiert nicht mehr. Es gibt nur noch dieses eine Deutschland. Und trotzdem kommen »diese Ossis« immer noch »von drüben«. Sogar hochoffiziell ist immer wieder die Rede von alten und neuen Bundesländern. 31 Man will so verkrampft gegen Ausländerfeindlichkeit sein, dass man nicht mal bemerkt, dass es schon schwer fällt, nett zu allen Inländern zu sein. Ich hab da was gehört. »Grenzen sind nur Linien im Sand, die dann in den Köpfen zu Mauern werden.« Ich weiß nicht, von wem dieses Zitat stammt. Vielleicht von einem Deutschen, vielleicht von einem Syrer. Vielleicht von einem Iraner, vielleicht von einem Afghanen. Vielleicht von einem Christen und vielleicht von einem Muslim. Viel� leicht von einem Mann und vielleicht von einer Frau. Doch das ist mir egal. Denn der Inhalt zählt. Ich hab da was gehört. Alle Menschen lieben das Leben. Und viele glauben, dass irgendwer über ihrem Leben wacht. Und manche passen lieber selbst auf sich auf. Und das ist gut so. Denn anders wäre es langweilig. Und wenn jeder an das glauben würde, was die Grundaussage seines Glaubens ist – egal ob Bibel, Koran, Talmud oder Kants Kritik der Vernunft –, dann ginge es uns besser. Ich hab da was gehört. Hoffnung. Hört ihr es auch? 32 Wolkenkratzerträumerei LIVIA WARCH Und solange diese Welt zum Kotzen ist, bleibe ich mit dir hier oben sitzen. Lassen uns die Beatles und Madonna durch die Ohren dudeln, sehen zu, wenn die Lichter wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln, wenn fremde Gesichter schlaftrunken durch enge Gassen trudeln, verdrücken wir hier oben Cocktailwürstchen und Melonenkugeln. 33 Und während uns der kühle Sommerwind um die Nasen weht, beobachte ich dich, stelle fest, wie gut dir dein dunkelbunter Teint steht, wie hübsch sich dein krauses Haar über deinen vollen Kopf legt und die Nacht vor deinen leeren trüben Augen schwebt. Und dann zerpflückst du die Stille, weil du mir sagst, dass du keine Würstchen isst, dass du das nett von mir findest, aber eigentlich kein Fleischesser bist, und ich sehe dir an, dass du unangenehm berührt über das Dächermeer wegblickst, lächle stumm, während ich einen Cocktailwürstchenzipfel auf die Straße schnipps’. Und dann muss ich mir vorstellen, wie du als Kind aussahst, wie du auf Bildern in Kinderfotoalben klebst, als du noch zuhause warst, wie du beim Spieleabend mit deiner Familie Nüsse knuspernd auf Decken lagst, wie ihr zusammen gelacht habt, während ihr euch gegenseitig Witze vorlast. 34 Wie das Radio spielte, als deine Mutter euer Lieblingsessen kochte, und der Kochduft auf die Straßen zog und an alle fremden Fenster pochte, wie du deiner kleinen Schwester im Morgenschimmer Zöpfe flochtest, mit bunten Spangen und sie immer die mit Knöpfen mochte. Wie deine Oma immer wollte, dass du mit ihr alte Lieder singst, wie du dich mit kirschroten Wangen zierst und sie so zum Lachen bringst, stell mir vor, wie du beim Kichern klingst, wenn alle Stricke reißen, und dir das Glück durch die Zahnlücken grinst. Und dann dein Familienbild, alle hübsch gekleidet, wie das krause Haar euren breiten Lächeln schmeichelt, wie dein Dad dir kumpelhaft über die Schulter streichelt und deine kleine Schwester unter der neuen Brille leidet. 35 Und ich sehe dich an und frage mich, wen sie wohl zuerst gekriegt haben. Wer zuerst gehen musste und ob du gesehen hast, wie sie starben. Ob es deine Mutter war, mit der du dich zuletzt verstecken musstest, als sie kamen. Und woran du sie erkannt hast, als sie da lag, im Dreck des Grabens. An ihrem Muttermal auf der Wange, oder doch an all ihren Narben. Und solange diese Welt zum Kotzen ist, bleibe ich mit dir hier oben sitzen. Lassen uns die Beatles und Madonna durch die Ohren dudeln, sehen zu, wenn die Lichter wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln, wenn fremde Gesichter schlaftrunken durch enge Gassen trudeln, verdrücken wir hier oben Cocktailwürstchen und Melonenkugeln. 36 Wie es wohl sein muss, alles, und wirklich alles, hinter sich zu lassen, die Straße, in der du groß wurdest, mit all den Nachbarn und Steinterrassen, das Haus, in dem du lebtest, dessen Regenrinnen warmes Wasser fassten, die Bilder, die du deinen Eltern mal schenktest, mit dem roten Strich, der der Sonne das Lachen verpasste. Und dann tauen wir langsam auf, erzählen uns wortkarge Geschichten, vom Wetter und von allem, was wir von hier oben aus sichten, von der Nacht, den Sternen und den Zipfeln der Fichten, müssen lächeln und das Hupen der Autos macht unsere Nostalgie zunichte. Und ich habe den größten Respekt vor dir, weil du hoffst, nach vorne blickst, deine Heimat verlierst, weil du in Herzenswärme gebadet hast, Familienliebe im Visier, und jetzt alleine zwischen Tautropfen und Weltfrost frierst. 37 Zwischen frisch gezischten Schüssen, und spitz zerriss’nen Stützen, stürzen dicht verblichene Hütten, zwischen Blitzen in winz’ge Ritzen. Und solange diese Welt zum Kotzen ist, bleibe ich mit dir hier oben sitzen. Lassen uns die Beatles und Madonna durch die Ohren dudeln, sehen zu, wenn die Lichter wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln, wenn fremde Gesichter schlaftrunken durch enge Gassen trudeln, verdrücken wir hier oben Cocktailwürstchen und Melonenkugeln. Und ok, wie werden lange hier sitzen müssen, werden uns Melonenkugeln aufheben müssen in Melonenkugelnschüsseln, 38 Bis diese Welt nicht mehr zum Kotzen ist und hinter ihren Kulissen doch irgendwie alles ok ist und nicht unterstrichen von Schüssen. Und ich schwöre mir noch einmal, dass solange diese Welt zum Kotzen ist, ich mit dir hier oben sitzen bleibe. Und wir lassen uns die Beatles und Madonna durch die Ohren dudeln, sehen zu, wenn die Lichter wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln, wenn fremde Gesichter schlaftrunken durch enge Gassen trudeln, verdrücken wir hier oben Cocktailwürstchen und Melonenkugeln. Und es wird lange Zeit vergehen, bis sich mein Wunsch zwischen Kriegen erhebt, aus Schnee wird Wasser und aus Blättern dann Schnee, aber noch mehr wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass du nie erlebst, dass dort unten auf den Straßen Menschen laufen, die wollen, dass du gehst. 39 Entidiotisierung LULA LEITLOFF Somalia, Mogadishu, 3;00 Uhr Ortszeit. Herzschlag – Herzschlag – Herzschlag – Herzschlag. 24.672. Ungefähr 100 Schläge pro Minute. Etwas über vier Stunden liegt er also schon so da. Er darf jetzt nicht anfan� gen nachzudenken, muss seinen Kopf ausschalten, sich aus dem Gedankenlabyrinth befreien und aufstehen. Seine Tasche steht schon gepackt unter dem Bett, von dem er hofft, nie wieder darin schlafen zu müssen. Nur noch dieser eine Schritt und er kann weg. Raus aus dem Elend und fort von dem Töten, das ihm so zuwider ist. Wieder be� ginnen seine Gedanken zu kreisen, erneut wägt er ab. Doch er hat keine Wahl, sie lassen ihm keine Wahl. Es ist schon entschieden. Langsam rollt er sich aus dem Bett, greift unter seine Ma� tratze, geht hinüber zum Bett seines Bruders und legt sich zu ihm. Mit jeder Bewegung wächst der Schmerz, überkommen 40 ihn die Schuldgefühle und die Angst. Er nimmt den Kleinen in den Arm, drückt ihn fest an sich. In der Schule hatte er ihn schon immer vor den großen Jungs beschützt und auch jetzt musste er ihn beschützen. Er muss sich beeilen, die großen Jungs, die vor der Tür warten, sind ernstzunehmen� der als die damals in der Schule. Er spürt den sanften Atem des schlafenden Kindes, wäh� rend die scharfe kalte Klinge durch dessen Hals gleitet. Ali hält seinen elfjährigen Bruder im Arm, streicht ihm durch sein krauses Haar und flüstert ein letztes Mal: »Mo� hammad ... ich, ich liebe dich.« Er steht auf, gibt dem Jungen einen Kuss, dreht den leb� losen Körper zur Seite, sodass man den Schnitt nicht sofort sieht. Er sammelt all seine Wut auf die grauenhaften Men� schen, die ihn zu dieser Tat gedrängt haben, schließt die Augen und beginnt zuzustechen. Immer und immer wieder, dreimal, viermal, fünfmal. Es musste brutal und kaltblütig aussehen. Er tritt auf ihn ein, schlägt zu, bis sein ganzes Gesicht aufgeplatzt ist. Ohne noch einmal hinzusehen, nimmt er seine Tasche und verlässt die Wohnung. Er hätte ihn nicht retten können, in zehn Minuten wären sie beide tot, hätte er es nicht getan. Er konnte es nur weniger qualvoll machen. Sie würden dahinter kommen, was er getan hatte, doch bis dahin konnte er schon an der Grenze sein. Ab Kenia konnte es nur besser werden. 41 Lasst uns aufhören, defensiv zu sein. warum wahren wir immer noch den Schein, zu einer Gesellschaft zu gehören, deren Ansichten uns so widerstreben? Insgeheim führen wir doch alle ein Doppelleben. Irgendwie verbiegt sich jeder, um sich selbst in eine Rolle zu zwängen, die schlussendlich doch nur einzuengen droht. Ich will, dass wir anfangen auszubrechen, ich wünsche mir, dass wir anfangen, offen zu sprechen. Sprechen über das, was uns ganz tief drin beschäftigt. Nehmen wir die Hände aus den Hosentaschen, Zeigen wir, was uns wirklich bewegt. Lasst uns doch mal andere, vor allem aber uns selbst überraschen, vielleicht merkt Mensch dann, wofür er wirklich lebt. 42 Deutschland, 1:00 Uhr. Wir sitzen in einer pseudoschicken Bar, du mir gegen� über mit deinem iPhone, auf dem du gelangweilt herum hackst in der einen und einem Sex on the Beach in der ande� ren Hand, der mich selbstgefällig anzugrinsen scheint und sagen will: »Wenigstens gibt ihm einer von uns beiden das, was er braucht!« Da wir uns schon seit einer geschlagenen Dreiviertel� stunde nichts mehr zu sagen haben, versuche ich, wenn ich mich schon physisch nicht au dieser peinlichen Situation be� freien kann, mich wenigstens gedanklich abzuwenden. Also belausche ich die Schickimickitruppe am Nachbartisch, auf meinem Handy rumdrücken fände ich jetzt unangebracht. Sieben Jungs und Mädchen Mitte zwanzig in RalphLauren-Hemden und Lacoste-Blusen, die so aussehen, als hätten sie in ihrem Leben noch nichts geschafft, außer mit Daddys Benz zu protzen und gut auszusehen. Ich höre, wie einer der Schönlinge sagt: »Tja, ganz ehrlich, was erwarten die denn?! Ich meine, wenn die schon ihr eigenes Land verlassen, dann müssen sie ja wohl eine Menge Dreck am Stecken haben, oder? Da ist es ja wirklich nicht verwunderlich, wenn das hier so wei� ter geht. Kriminelles Pack, falls das die nächsten Jahre so bleibt mit den ganzen Zuwanderern, dann überlege ich mir noch mal ganz genau, ob ich in Deutschland Kinder in die Welt setze. Vielleicht gehe ich ja lieber in die Schweiz. An 43 denen sollten wir uns ein Beispiel nehmen!« Er hebt seine Weißweinschorle. »Auf die Schweizer, die haben es richtig gemacht!« Ja, du bist ein ganz Intelligenter, denke ich. Bekomm du mal deiner Kinder in der Schweiz, da freuen sich die Schwei� zer. Am besten du gibst diese Gene gar nicht erst weiter. Ich bin in einem inneren Zwiespalt. Gerne würde ich dem jungen Mann erklären, welchen widersprüchlichen Senf er da grade von sich gegeben hat, andererseits habe ich die Befürchtung, dass ich mich dann nicht beherrschen kann und dem Drang erliege, seinen Kopf so lange auf die Tisch� platte zu schlagen, bis er auch nur annähernd eine Vorstel� lung von dem Schmerz hat, den jemand erleidet, der sein Vaterland verlassen muss. Ich komme zu dem Schluss, dass wohl beides verschwen� dete Energie wäre. Lasst uns aufhören, defensiv zu sein. Warum wahren wir immer noch den Schein, zu einer Gesellschaft zu gehören, deren Ansichten uns so widerstreben? Insgeheim führen wir doch alle ein Doppelleben. 44 Irgendwie verbiegt sich jeder, um sich selbst in eine Rolle zu zwängen, die schlussendlich doch nur einzuengen droht. Ich will, dass wir anfangen auszubrechen, ich wünsche mir, dass wir anfangen, offen zu sprechen. Sprechen über das, was uns ganz tief drin beschäftigt. Nehmen wir die Hände aus den Hosentaschen, Zeigen wir, was uns wirklich bewegt. Lasst uns doch mal andere, vor allem aber uns selbst überraschen, vielleicht merkt Mensch dann, wofür er wirklich lebt. 45 An die empathische Vernunft JAKOB KIELGASS Ich bin Künstler. Ich liebe Sprache, ich liebe Worte und weiß darum, dass sie niemals jemandem gehören können. Denn Worte sind flüchtig, zum Glück, sie sind nichts Starres, sie verweilen einen Augenblick in unseren Köpfen, aber schon beim nächsten Atemzug sind sie verflogen, überdeckt von neuen Worten. Für diesen einen Atemzug sammle ich Worte. Für diesen einen Atemzug, der den Unterschied ausmacht, zwischen Lebendigkeit und Ersticken. Genau diesen einen Atemzug lang habe ich Zeit, mei� nem Gegenüber Fragen zu schenken, ihn zu irritieren und zu berühren. Ebenso lang kann ich berührt, irritiert und hinterfragt werden. Immer wieder und immer neu ist das notwendig. Für mich selbst, für jede und jeden. Damit die Worte nie erstarren, sondern ihre Lebendigkeit behalten. Indem Menschen sich von Worten treffen lassen, indem sie anrufbar sind, wird in genau dieser Anrufbarkeit ihre 46 Menschlichkeit offenbar – sie spüren nicht mehr nur sich selbst, sondern: sie spüren ihre Gegenüber und sich selbst durch ihre Gegenüber. Lauschend, spürend, fühlend offen sein für die Wirklichkeit, von der das Gegenüber spricht, gleich, ob es eine ganze andere ist, als die selbst erlebte. Da aber, wo die Anrufbarkeit die Empathie geringge� schätzt und verlacht, wo sie unterdrückt und nicht mehr praktiziert wird, da sind Wörter korsettiert, da gibt es die Wahrheit, da ist Gleichgültigkeit – das Vergessenmachen al� ler Wahrnehmung. Gleichgültigkeit – der Tod allen Spürens, der Tod im Leben. Da werden die Menschen nicht mehr für das geachtet, was sie sind und was sie fühlen, doch nur dafür, was sie ha� ben und was sie zu leisten imstande ist. Menschenverach� tende Systeme aller Zeiten haben die Gleichgültigkeit als Mittel der Unterdrückung und der Separation genutzt und versuchen es mit aller Macht noch immer. Umso wichtiger ist es, an die Anrufbarkeit der Menschen zu glauben, sie feiernd zu leben und genauso einzufordern! Gerade heute, gerade hier! Wo fleißig, indifferent und an jedem Argument vorbei in den Straßen wild gewutbürgert wird. Denn wir sind immer noch Schlafende, ohne zu träumen, wir dämmern im Schlaf der Gleichgültigkeit. Ein Schlaf, der uns vergessen gemacht hat, was wir eigentlich zu fühlen fä� hig sind, was wir zu wollen einmal wussten. 47 Empörung nun ist der Moment des Aufwachens. Ein un� angenehmes Aufwachen, wie nach einer zu kurzen Nacht; einem Morgen, an dem der Wecker zu früh klingelt und die Wärme des Bettes verlockender, bequemer scheint als das noch kühle Zimmer. Ein unangenehmes Aufwachen, weil wir nicht wissen, wie wir in dieses Bett gekommen sind. Der Schlaf ist allzu süß und das Bett noch warm, aber Leben und seine vielfältigen Möglichkeiten überkommen uns nicht, sie ereignen sich nicht da, wo wir eh immer schon sind; die Möglichkeiten lassen sich erst im kühlen Raum, jenseits des bequemen Bettes finden und verwirklichen. Dahin zu ge� langen, heißt nun zweierlei: Anrufbar zu sein und empört zu sein! Es bedarf, dass wir empört sind – zuallererst von uns selbst –, weil wir vergessen haben, dass unser Schlaf keine Wirklichkeit, nicht einmal eine Wirklichkeitsmöglichkeit ist. Weil wir zu gleichgültigen Wesen geworden sind, weil wir zugelassen haben, dass man uns Empathie als Albernheit verkauft, weil wir starr die Welt in wahr und falsch einteilen, weil wir glauben, es gäbe die eine Wahrheit und ausgerech� net wir kennten sie. Wir müssen empört sein! Weil unsere Solidarität zum leeren Symbol geworden ist; weil sie mehr, nein, erst den Toten gilt. Die, die grad verrecken, sind noch keine Helden. Schmarotzer vielleicht. Deserteure und VerräterInnen. Wir haben lieber Angst vor Männern mit langen Bärten, 48 die Arabisch oder Türkisch oder Persisch oder Kurdisch oder Sonstwas sprechen – es klingt doch alles gleich – und trau� en dann den glattrasierten Männern, die Bomben-Waffen bauen, nur weil sie unsere Sprache sprechen. Wir sehen die Freiheitsrechte eingeschränkt bei Frauen, die einen Schleier tragen, die diesen natürlich immer tra� gen müssen und kämpfen dagegen! Nackt versteht sich. Denn das ist Liberalismus, das ist Freiheit. Doch Freiheit bleibt ein wohliges Gefühl. Ein Gefühl, welches uns zu Recht antreibt und welches wir in uns spü� ren müssen, um das Lebendige im Leben zu fühlen. Doch Freiheit, die ihren eigenen Grund nicht kennt, bleibt immer nur gefühlt und ist keine Freiheit. Sie bleibt immer Freiheit von etwas, etwas, von dem wir befreien wollen, was uns bedrückt, sie wird niemals Freiheit für etwas. Etwas, das uns so lohnend, so wertvoll erscheint, dass wir bereit wä� ren, etwas von unserer Freiheit hinzugeben. Und weil wir uns sogar emotional isoliert haben las� sen, brauchen wir die ritualisierten Emotionen, die die wir kaufen können. Abgepackt zu Weihnachten, an Ge� burtstagen, portioniert und in hübsches Papier verpackt. Doch einmal ausgepackt, sitzen wir ratlos da, mit den lee� ren Kartons und Schachteln, weil das wohlige Gefühl mit dem Öffnen verfliegt und keinekeiner mehr ahnt, dass Freude nicht unter dem Geschenkpapier lauert, sondern zwischen uns Menschen entsteht. Aber wir, wir fühlen uns 49 selber nicht, wir empören uns nicht mehr, wir sind kaum noch anrufbar. Wir kämpfen dafür, an allen Tagen Schnitzel zu essen können, dafür, dass auf unserem Kaffee »fair« und unseren Erdbeeren »bio« steht. Dafür, dass wir über unsere Autobah� nen rasen können und kostenloses WLAN haben. Hauptsache, es ändert sich nichts. Denn das ist ja das Gute an Worten, sie sind flüchtig und in wenigen Tagen schon löst der in den Himmel gestreckte Mittelfinger irgendeines Menschen vor irgendeiner Kamera unser schlechtes Gewis� sen und unsere Angst wieder ab. Da haben wir ein Feindbild, da können wir uns ein bisschen aufregen. Und fast fühlt es sich so an, als wären wir empört. Und der Wecker von vorhin fliegt nach bestem Wissen und Gewissen wieder in die Ecke. Jetzt nochmal die Augen zugekniffen. Vielleicht unterzeichnen wir ja später noch ein paar Onlinepetitionen gegen Markus Lanz, die Rundfunk� gebühren, oder einfach dafür, dass das Böse in der Welt endlich aufhört, aber vor allem, dass diese kleinen, süßen, plüschigen Robbenbabys mit diesen putzig großen Augen endlich freundlicher abgeschlachtet werden. Lasst uns empört sein! Aber richtig und damit wirklich; aus dem Mark der Menschlichkeit heraus und aus vollem vernunfterfülltem Halse. Denn wir sind keine ChristInnen, keine JüdInnen, keine Moslems, keine AtheistInnen. Wir sind Menschen unter Menschen. 50 Stimmgeber schafft einen Rahmen, um auf Lebenslagen, Missstände und Weltanschauungen von ganz besonderen Menschen aufmerksam zu machen. Gemeinsam geben die Autoren diesen Menschen eine Stimme. Dieses Büchlein umfasst Texte von: Sascha Kirchhoff Marco Michalzik Tristan Kunkel Jakob Kielgaß Livia Warch Lula Leitloff Siawash www.stimmgeber.de /stimmgeber
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