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Sascha Kirchhoff (Hg.)
Stimmgeber
Flüchtlingstexte
1. Auflage
© liegt bei den Autoren
Herborn, September 2015
Illustrationen (Innenteil & Cover): Mehrdad Zaeri
Korrektorat: Filomena Franke
Cover & Satz: Marvin Ruppert
Texte
Eine Bootsfahrt, die ist lustig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Sascha Kirchhoff
„Moudi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Mohammad Nassaj (geschrieben von Sascha Kirchhoff)
#neuland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Marco Michalzik
Wo kommst du her? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Siawash
Ich hab da was gehört . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Tristan Kunkel
Wolkenkratzerträumerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Livia Warch
Entidiotisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Lula Leitloff
An die empathische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Jakob Kielgaß
Vorwort
Stimmgeber ist ein durch Sascha Kirchhoff initiiertes Pro�
jekt. Gemeinsam mit namhaften und aufstrebenden Poetry
Slammern aus dem ganzen Bundesgebiet schreibt er für
Menschen, die sich selbst schlecht oder gar nicht mitteilen
können. Stimmgeber schafft für diese Menschen einen ver�
trauensvollen, freundlichen und unterhaltsamen Rahmen,
um auf deren Lebenslagen, Missstände und Weltanschau�
ungen aufmerksam zu machen. Gemeinsam geben sie
Menschen eine Stimme. Eine, die so laut ist, dass sie wieder
andere sprachlos macht.
Stimmgeber beschäftigen sich mit schwierigen Themen
und treffen die Menschen, die diese betreffen. Bei einer
Tasse Tee wird dann gesprochen und geschrieben. Der Text
wird dann schnellstmöglich ausgearbeitet. Stimme geben
kann Geld kosten, muss es aber nicht.
3
Eine Bootsfahrt, die ist lustig
SASCHA KIRCHHOFF
Ausländer vergewaltigen, klauen im Aldi, verbrennen klei�
ne Babys und Welpen und essen schwangere Frauen. So
denken viele. Die integrieren sich auch nicht! Das mit den
Flüchtlingen in der EU läuft daher auch eher schleppend.
Wir schaffen es nicht, uns mal für einen Herzschlagge�
danken lang zu öffnen, für Minderheiten wie Homosexuelle,
Ausländer oder die FDP. Für uns ist es in der Überflussge�
sellschaft die Qual der Wahl, für die FDP eine Qual, weil sie
keiner wählt, und für Flüchtlinge ein Gefühlscocktail aus Eu�
phorie, Freude, Trauer und Angst.
Wir haben Angst vor allem Neuen und dem schwarzen
Mann. Wir machen es anderen schwer, anstatt Einzigartig�
keit zu bewahren und Vielfalt zu schätzen. Wir leben in ei�
nem Land, in dem Heidis Topmodels ein Maßstab sind, wäh�
rend die Frauen in anderen Ländern genauso aussehen. Nur
hungern die nicht, um schön zu sein. Aber wirtschaftliche
Not, Hunger und Perspektivlosigkeit sind für uns noch lange
5
kein Grund, gleich wegzulaufen. Feige Schweine! Für Heidis
Mädels geht es um einen gut dotierten Modelvertrag. Für
die vor Hunger nach Deutschland fliehenden Frauen aus Af�
rika um den Traumjob bei McDonald’s. Für die gibt es auch
kein Foto am Ende der Challenge. N��������������������
ö�������������������
! Sondern das Rück�
flugticket. Rosen gibt’s auch nicht. Es sei denn, du verkaufst
die in Italien am Strand oder in deutschen Restaurants.
Gut so! Ist doch eindeutig! Die wollen an unser Geld, die
Schmarotzer. Völlig plausibel! Ich würde auch wochenlang
durch verminte Wüsten laufen, meine Heimat und meine Fa�
milie hinter mir lassen, um mich dann mit hundert anderen
als Nichtschwimmer in ein seeuntaugliches Boot setzen und
in der Hoffnung auf eine bessere finanzielle Zukunft nach
Griechenland (!!!) fliehen. Völlig klare Sache! Na ja, wenn sie
Glück haben, dann landen sie ja in Deutschland. Hier, das
sage ich Euch, bekommt man noch was für sein Schlepper�
geld geboten. Die Welt zu Gast bei Freunden. So verteilt z.B.
der HSV Freikarten für seine Heimspiele an Flüchtlinge. Na,
da fragt man sich doch, haben die nicht schon genug ge�
litten!? Ja, deshalb kommen die ja überhaupt erst zu uns!
Denn ihr Leid kennt nämlich keine Grenzen. Bei mir ist, Gott
sei Dank, nur der Humor grenzüberschreitend. So wie die
deutschen Medien. Der Express fragt beispielsweise nach
einem Spiel des 1. FC Köln (die sollte mal einer integrieren),
welches von Herrn Nishimura gepfiffen wurde, ob Sushi es�
sen eigentlich blind macht. Subtiler Rassismus. Trotzdem
6
Rassismus! Aber ich kenne das selbst. Ich kann nicht einmal
Laktose tolerieren. Ums Tolerieren geht es mir allerdings
auch nicht, sondern darum, Einzigartigkeit zu bewahren
und Vielfalt zu schätzen.
Wer aber immer noch an die genetische Überlegenheit
des deutschen Volkes glaubt, dem möchte ich die Kinder in
meiner Nachbarschaft ans Herz legen. Jeremy Pascal ist kein
Mythos und der Genpool vieler Familien der Beweis dafür,
dass weniger nicht immer mehr ist. Ich verstehe allerdings,
wenn man Angst vor dem sogenannten Flüchtlingsstrom
hat. Ich frag mich selbst ja auch, wo der herkommt, dieser
Flüchtlingsstrom, und wie der hergestellt wird. Bin mir al�
lerdings ziemlich sicher, man könnte ihn mit etwas gutem
Willen ins Netz einspeisen. Ich bin mir wie viele nur nicht so
sicher, ob die nun unserem Sozialstaat auf der Tasche liegen
wollen, oder ob sie uns die Jobs wegnehmen. Sicher ist nur,
die wollten nie weg, sondern Frieden! Aber wie ist der denn
so, dieser Flüchtling!? Ich denke, der Flüchtling ist so wie wir.
Verschieden. Nur dass er vor Krieg und Hunger flieht. Wir
fliehen vor der Verantwortung und einmal im Jahr vor un�
serem Leben nach Malle. Stellt sich mir noch die Frage: Wer
hat denn dann jetzt noch Angst vorm schwarzen Mann?
Pegida, Pegida! Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Pe�
gida, Pegida! Aber keine Angst, Pegida! Ihr wisst ja, egal wie
schwarz jemand ist, Alice ist schwarzer! Lieblingsspruch
zurzeit. Aber wir Deutschen haben Angst und wünschen
7
uns siebzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in Zeiten der
Krim, alle Flüchtlinge wären wie Russland, denn die sehen
zu, dass sie Land gewinnen! Ich frage mich, können wir die
Vorurteile nicht mal sein lassen? Was soll das? Wir sollten
nicht nur Vorurteile lassen, sondern uns am besten gar kein
Urteil erlauben. Einzigartigkeit bewahren und Vielfalt schät�
zen. Ich gebe es ja zu, ich mache da gerade ein ziemlich gro�
ßes Drama draus. Ist doch ja auch kein Ding, wenn sich so
viele Hungernde in ein kleines Boot quetschen. Die wiegen
doch sowieso nichts. Wenn wir also schon kein Mitgefühl
haben und Menschen ertrinken lassen – und versteht mich
nicht falsch, wir können ihnen gerne auch helfen, dort wo
sie herkommen – aber wenn wir schon kein Mitgefühl emp�
finden können, vielleicht besitzen wir ja einen Funken Intel�
ligenz. Stichwort demografischer Wandel!
8
„Moudi“
MOHAMMAD NASSAJ
(geschrieben von Sascha Kirchhoff)
Guten Tag, mein Name ist Mohammad Nassaj. Ich weiß
nicht, welche Geschichten Ihr gerne lest. Es gibt viele Ge�
schichten von vor und nach dem Krieg und ich kenne zu vie�
le, die auch schon zu Ende erzählt sind. Aber es entstehen
immer noch neue und Deutschland ist für die unzähligen
Flüchtlingsgeschichten, die gerade erst geschrieben wer�
den, bestimmt alles andere als das Happy End.
Manchmal glaube ich, dass die Nachrichten in Eurem
Land ständig übertreiben und manchmal habe ich Angst,
einfach nur abgestumpft zu sein. Wie schlimm unser Leid
ist, höre ich da immer und immer wieder. Dann denke ich
zurück an die Tage, als die Mörser einschlugen und wir wie
immer die Toten zugedeckt haben und weiter lebten wie
bisher. Ich bin aus Syrien weg, weil dieser Ort zurzeit nicht
mehr meine Heimat ist. Auch in Syrien bin ich heimatlos und
wenn ich in Ihren Augen ein Sozialschmarotzer oder eine
Bedrohung bin, dann kann ich Ihre Meinung nicht ändern.
10
Ich kann mich aber über alle die freuen, die sich die Mühe
machen, die Geschichten der Flucht zu verstehen. Ich habe
in Syrien gelernt, dass man mit seiner Meinung vorsichtig
sein sollte. Denn für meine Meinung kommst du ins Ge�
fängnis und wirst jahrelang gefoltert, solltest du so glück�
lich sein und überhaupt leben. Verrückt daher, dass ich mit
Sascha hier sitze und mit ihm darüber spreche, wie ich über
den Krieg in Syrien und mein Leben in Deutschland denke.
Die Wahrheit, lieber Leser, ist ganz einfach: Kein Mensch
will Flüchtling sein. Hätte ich einen Wunsch frei, dann wäre
alles wie früher. Ich würde in Allepo in Syrien als Arzt arbei�
ten. Denn da wurde ich geboren und diesen Beruf habe ich
gelernt. Ich würde dann mit meinen Freunden in Bars und
Cafés gehen und mein Leben genießen. Aber der Krieg in
meiner Heimat hat mir alles genommen. Um das Einzige zu
retten, das ich noch habe, mein Leben, musste ich fliehen.
Ich hatte dabei gewiss einen leichteren Weg als die vielen
Menschen, die während ihrer Reise dem Tod näher sind als
ihrem Ziel. Aber dazu ein anderes Mal mehr. In einem ande�
ren Teil meiner Geschichte. Manche Menschen sagen sogar,
die Flucht ist der einfachere Weg und man müsse für etwas
kämpfen. In meiner Heimat machen das alle. Alle kämpfen
für etwas. Die Truppen von Assad, die Freiheitsarmee, die
die Truppen von Assad bekämpft, und ISIS. Menschen ster�
ben auf allen Seiten und alle Seiten haben ihre vermeintli�
chen Gründe. »The fighters are fighting and the people are
11
dying.« Da hat niemand was von. Es gibt viele Menschen mit
vielen verschiedenen Gedanken und jeder versucht für sei�
nen Glauben, seine Ideen und seine Meinungen einzuste�
hen, ohne einzusehen, dass wir verschieden sind. Dass eben
genau das menschlich ist. Verschieden dickköpfig zu sein
scheint aber der menschlichste aller menschlichen Züge zu
sein. Ich habe gelernt, dass andere Meinungen zu bekämp�
fen keine gute Idee ist. »Cause to fight back is not good for
the cause.« Aber was können wir denn dann machen? Wir
können Vorbild sein und wenn wir kein Vorbild sein können,
dann sollten wir lieber nichts sein.
So wie die Dinge jetzt laufen, werden wir alle gemeinsam
scheitern. Wir begegnen Hass mit Hass und wundern uns?
Auch Ihr solltet Euren deutschen Hasspredigern vor den
Flüchtlingsheimen nicht mit Hass begegnen. Warum macht
Ihr Euch überhaupt Sorgen um Euer Land? Klar, Länder wie
der Libanon sind ärmer und nehmen viel mehr Menschen auf.
Aber die bekommen dort nichts. Hier bekommt man Geld
und Kleidung. Das ist toll! Danke! Es stehen 300 Menschen
in Berlin vor einem Flüchtlingsheim und demonstrieren. Das
ist kacke, aber auf der anderen Seite stehen 3000, die für uns
sind! Danke! Solange es mehr Leute gibt, die für uns sind, ist
alles gut. Viele gute Herzen schlagen für uns. Ihr dürft denen,
deren Herzen das nicht tun, aber nicht mit Hass begegnen.
Dadurch wird es für uns alle nur noch schlimmer. Es gibt
eben Menschen mit verschiedenen Gedanken und manche
12
davon sind dumm. Was aber wollt Ihr ihnen sagen? Würde
das ihre Meinung ändern? Wenn ich mit ihnen rede, hat es
der Ausländer gesagt und wenn Ihr mit ihnen redet, der
Freund eines Ausländers. Sie suchen nach den kleinen Din�
gen und alles, was wir machen können, ist, ihre Meinung
nicht zu bestätigen. Menschen ändern sich und wir wissen
nicht, was sie mal denken und tun können. Aber was ich ge�
lernt habe ist, dass Menschen nicht ständig kämpfen soll�
ten. Denn Hass ist auf beiden Seiten schlecht. Ich verstehe
das auch nicht, denn in Deutschland scheint es besonders
im Osten schlimm zu sein. Müssten die Menschen dort
es nicht eigentlich besser wissen? Wissen, wie es ist, von
anderen getrennt zu sein und wie schön es ist, wenn man
willkommen ist und an einem besseren Ort aufgenom�
men wird? Doch sie haben Angst und wollen mich zurück­
schicken, an einen Ort, der nicht mehr existiert. Wo soll ich
hin? Die Menschen in meiner Heimat sind geflohen oder
tot. Meine Stadt gibt es nicht mehr und was von ihr übrig
ist, ist das neue Berlin. Denn auch meine Stadt ist geteilt.
Die Orte, die ich Zuhause nannte, sind zu Staub zerfallen
und die wenigen Menschen, die noch da sind, können nicht
vergessen. Die Kinder wachsen auf mit Krieg, und in ihren
Herzen, in ihrer Seele ist der Krieg, sodass sie auch wieder
Krieg führen werden. In allen Religionen ist die Vergebung
das höchste Gut. Für die Menschen ist dies die schwerste
aller Übungen.
13
Viele Menschen vergessen das Leid allerdings schon
während es noch geschieht. Warum? Weil es nicht ihnen
geschieht. Euch zum Beispiel interessiert dieser Krieg nicht
wirklich und wenn doch, dann nur dann, wenn ISIS jeman�
den werbewirksam köpft. Dann habt Ihr Angst, denn ISIS ist
auch für Euch eine Gefahr. Assad und die Freiheitsarmee
sind Euch egal. Deutsche Nachrichten sind deprimierend.
300 sterben und niemand sagt etwas. 3 sterben und alle
flippen aus. Warum? »They belong to you!« Es muss Euch
auch nicht interessieren. Nicht falsch verstehen. Ihr könnt
nichts für uns tun. Die Menschen selbst müssen lernen. Wir
wollen nicht, dass noch mehr Menschen nach Syrien kom�
men und für etwas kämpfen. Es sind schon jetzt keine Syrer
mehr, die dort kämpfen. ISIS besteht aus vielen Nationali�
täten und Assads Armee nur noch aus Iranern und Irakern.
Die Freiheitsarmee tötet Syrer. Außerdem gibt es nichts ge�
schenkt in diesem Leben und wenn jemand kommt, um uns
zu helfen, dann wird auch er etwas nehmen. Was Ihr aber
tun könnt, ist, Menschen zu helfen. Den Kindern Syriens
ein Zuhause geben, weil sie keines mehr haben und ihnen
ein Vorbild sein. Liebe geben, wo nur Hass gesät wurde. Sie
ausbilden und dann ganz vielleicht, so ist meine Hoffnung,
bringen ein paar von ihnen in vielen Jahren, wenn die Waf�
fen schweigen, all das zurück nach Syrien, was Ihr ihnen hier
mitgegeben habt. Dann gibt es Hoffnung. Auch ich würde
gerne zurück nach Syrien, mit meinen Freunden in Cafés
14
und Bars gehen, tanzen und als Arzt arbeiten. Aber das ma�
che ich erst, wenn es dort sicher ist. Sicher ist, ich bin noch
jung, aber der Krieg ließ mich alt werden und hat mich alles
das und noch vieles mehr gelehrt.
15
#neuland
MARCO MICHALZIK
1.
Ich bin ein Wanderer,
der den Weg oft verliert,
der sich verwirrt in seinen Gedanken,
oft selbst ganz verliert,
bis er das Ziel nicht mehr sieht.
2.
In diesem Land so schrecklich oft gegen Wände gerannt.
Sackgassen wie Westentaschen gekannt.
Auf der Suche nach diesem Land hinter dem Schrank,
das dieses kleine Mädchen fand.
Warte, wie haben sie das noch gleich genannt?
16
Als alle Stoppschilder
endgültig überfahren waren,
und als Gutenachtgeschichten
nur Durchsagen von Gefahren kamen,
zugespitzte Lagen und
angstverschwitze Laken sprachen
mittlerweile lauthals
eindeutige Sprachen.
Das Land verlassen, das doch so lange Heimat war.
Letzte Pennys für perfekte Perspektiven
in gierige Hände gezählt.
In der Hoffnung auf ein fast magisches Portal
in diese wunderferne Welt,
von der man sich erzählt,
wenn man Hände flüsternd vor die Lippen hält.
Schau mich bitte nicht so an.
Und nur weil du jetzt rot wirst,
heißt das nicht, ich halte an.
Karten studiert,
von Wegen, von denen keiner weiß,
ob sie wirklich existieren.
Wie kalibriert man einen Kompass –
auf dem der Norden fehlt?
17
Die Richtung aus der das Licht kommt –
nur noch ganz schwach zu sehen,
wenn man sich wirklich zwingt,
angestrengt zum Horizont zu sehen.
Mit extrem schwerem Rucksack einen Weg entlang zu gehen
mit Fragzeichen als Straßenschilder –
Fahrtrichtung wohin?
Und bei jeder Rast
und jeder Frage nach dem Weg,
zurückgeschickt, entgegengesetzt,
die Füße tun so weh.
Bis jedes Licht
an jedem Tunnelende fehlt,
und „Spiel mir das Lied vom Tod“
als Ohrwurm durch den Kopf vibriert.
Tunnelblick täglich. Darüber ein Berg!
Erdrückende Tonnen – darunter ein Zwerg.
Unüberwindbar! Ganz sicher zu schwer!
Ergeben ins Schicksal – der Berg wird zum Meer.
Sind Tunnel nicht Straßen?
Und führen Straßen nicht immer irgendwo hin?
Heißt das nicht Hoffnung,
nicht Perspektive, vielleicht sogar Sinn?
18
Nur Mut der Verzweiflung,
aber Mut immerhin!
Der Weg führt sicher nach draußen,
auch wenn das schwer ist zu glauben
inmitten dieser staubigen Mauer.
Der nächste Schritt, den er geht,
ist der erste Schritt vom Ende des Weges.
3.
So weit, so cool.
Wenn du das hier liest oder hörst,
sitzt du wahrscheinlich gemütlich
auf ’nem Sessel oder Stuhl.
Hast dir ’nen Kaffee oder Bier geholt,
gerade nichts weiter zu tun
und wartest nun halbwegs gespannt,
wie es weiter geht.
Gut, vielleicht auch nicht,
aber das wär dann ja ein anderes Problem.
Hier sind wir nun zusammen, lauschen gemeinsam seiner
Geschichte, die ich erzähle, um zu unterhalten. Unterhalten!
Dabei fehlt es wohl an denen, die sich nicht nur unterhalten,
sondern was unternehmen.
19
Sind wir nicht süße, privilegierte Einzelkinder
mit mehr Süßigkeiten, als wir jemals alleine essen können?
Verteidigen anstatt zu teilen
und sie anderen zu gönnen,
aus Angst, das ich das, was ich habe,
am Ende des Tages nicht festhalten kann.
Aber kann ich das überhaupt?
Oder unbewusst aus dem Verlangen,
das alles so bleibt,
wie es ist, weil sich der Wohlstand bedroht fand,
wenn man ihn teilt.
Privileg bleibt nur so lange Privileg,
wie man es pflegt.
Und wie leg ich es mir zurecht,
dass mein Leben wertvoller wiegt,
nur weil mein Geburtsort
innerhalb bestimmter Landesgrenzen liegt.
Das Eklige an Privileg ist,
dass es nur so lange funktioniert,
wie ich es bin und andere nicht.
Wie überaus ironisch das ganze doch ist,
denn am Ende sind wir irgendwie ja alle tot
und sitzen darum also doch allesamt im selben Boot.
20
Als jemand sagte,
dass das Leben wie ein Schachspiel sei,
hat er sicher nicht damit gemeint,
teil’ alles ein in schwarz und weiß,
in Freund und Feind,
in wir und die, ich bin ja kein …, ABER –
das geht doch jetzt echt zu weit.
Und ich denk so, beim überreichen Abendbrot,
wieso fühl ich mich überhaupt bedroht
von jedem Mittelmeerboot,
voll mit Geschichten von dem, der mehr bot,
als der, der am Ende am Ufer zurück blieb.
Und ich seh Not
auf gestochen scharfen Flachbildschirmbildern
von einem Boot mehr in Seenot.
Kinderbilderbuchmäßig unbewusst schon angefangen
mir auszumalen, was wir wohl sagen,
wenn sie dann
an unseren Festungsküsten stranden.
Irgendwas stammeln, von Ressourcen,
die wir nicht haben,
von Zumutung, Bevölkerungsangst und dass man
ja schließlich auch nicht überall helfen kann.
21
Und dann denk ich kurz:
dagegen sollte wirklich doch mal jemand was tun.
Aber dann auch wieder:
Gott sei Dank hat das ja nichts mit mir zu tun.
4.
Und ich schreib das hier,
bevor ich schließe
als Teil eines Kollektivs, dass sich selbst
namentlich auf den Zimmermann berief,
dessen Vater schreiben ließ:
»Unterdrückt die Fremden nicht, die bei euch leben, sondern
behandelt sie wie Euresgleichen. Liebt sie wie euch selbst, denn
auch ihr seid Fremde gewesen!«1
Hat der obdachlose Gott gesagt
und wir haben’s offensichtlich überlesen.
Übertrieben so getan,
als würd’ es da nicht stehen
und wenn dann doch,
bedeutungslos und weg theologisierend.
Alles Leben aus den Räumen gefegt,
bis die gute Nachricht nur noch aus leeren Worten besteht.
1 Die Bibel, 3. Mose 19, 33–34
22
5.
Ich bin ein Pilger,
aber nach Haus unterwegs.
Das Land, ich geb’s zu,
hab ich noch nie gesehen.
Ein Fuß vor den anderen auf diesem Weg.
23
Wo kommst du her?
SIAWASH
Wo kommst du her? Das ist eine einfache Frage und doch
bringen heutzutage einfache Fragen zunehmend kompli�
zierte Antworten mit sich.
Leute fragen mich immer, wo ich herkomme und erwar�
ten, dass ich sage, ich komme aus Griechenland oder der
Türkei. Ich habe aber keinen einzigen Tag meines Lebens
in Griechenland gelebt. Ich kann nicht einmal ein einziges
griechisches Wort sprechen. Somit denke ich, dass ich nicht
das Recht habe, mich selber als Grieche zu bezeichnen.
Und wenn »Wo kommst du her?« bedeutet »Wo bist du
geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen?«, so
stamme ich voll und ganz aus dem lustigen kleinen Land,
das sich Pakistan nennt. Pakistan verließ ich, sobald ich mei�
nen Abschluss hatte. Und während meiner ganzen Kindheit
war ich auch stets das einzige Kind in der Klasse, das nicht
so auszusehen begann wie die klassischen pakistanischen
Helden, die wir aus unseren Lehrbüchern kannten.
25
Wenn »Wo kommst du her?« bedeutet »Wo zahlst du dei�
ne Steuern, wo gehst du zu deinem Haus- oder Zahnarzt?«,
dann bin ich aus Deutschland und das bereits seit einein�
halb Jahren.
Und wenn »Wo kommst du her?« bedeutet »Welcher Ort
ist am tiefsten in dir verankert und wo versuchst du, die
meiste Zeit zu verbringen?«, dann bin ich Engländer. Dort
war ich drei Jahre für meinen letzten Abschluss. Und ich bin
mir sicher, nicht viele Engländer würden mich als einen vor
ihnen ansehen wollen.
Ich sage das alles nur, um zu betonen, wie äußerst altmo�
disch und überschaubar meine Herkunft ist.
Wenn ich nach Frankfurt oder Hamburg gehe, sind die
meisten jungen Leute, die ich dort treffe, um einiges interna�
tionaler und multikultureller als ich. Sie haben ein Zuhause,
das sie mit ihren Eltern assoziieren, ein anderes, das sie mit
ihrem Lebenspartner assoziieren, ein drittes verbunden mit
dem Ort, an dem sie gerade leben, ein viertes, das mit dem
Ort ihrer Träume zusammenhängt und mehrere darüber
hinaus. Ihr ganzes Leben werden sie damit verbringen, ein�
zelne Stücke aus den verschiedenen Orten zu nehmen und
zu einem bunten Glas zusammenzufügen.
Zuhause ist für sie in Wirklichkeit ein laufender Prozess.Es
ist wie eine Art Projekt, welches sie stets aktualisieren, ver�
bessern und korrigieren.
Und für mehr und mehr Menschen hat das Zuhause tat�
26
sächlich nur wenig mit einem Stück Land zu tun und viel
mehr mit einem Stück Seele.
Wenn mich jemand plötzlich fragt: »Wo ist dein Zu�
hause?«, denke ich am meine Freundin oder an meine engs­
ten Freunde oder an die Lieder, die mit mir reisen, wo auch
immer ich gerade sein mag.
Die Zahl der Menschen, die nicht in ihrem eigenen Land
leben, beträgt heutzutage 220 Millionen, das ist eine na�
hezu unvorstellbare Zahl. Das heißt, wenn man die Ein�
wohnerzahl von Kanada nimmt und die von Australien,
nochmal die von Australien, nochmal die von Kanada und
diese Zahl verdoppelt, so hat man immer noch weniger
Menschen als die, die zu diesem pendelnden Volk gehö�
ren. Die Zahl der Menschen unter uns, die außerhalb der
alten nationalstaatlichen Kategorien leben, steigt unfass�
bar schnell. Bereits jetzt repräsentieren wir die fünftgrößte
Nation der Erde.
In Toronto, der größten Stadt Kanadas, ist der Durch�
schnittsbürger heute, was man früher einen Ausländer ge�
nannt hätte. Jemand, der in einem ganz anderen Land ge�
boren ist.
Viele Menschen, die in einem Land leben, das nicht ihr
eigenes ist, sind Flüchtlinge, die niemals ihr Zuhause verlas�
sen wollten und sich danach sehnen, nach Hause zurückzu�
kehren. Doch für die Glücklichen unter uns bringt das Zeital�
ter der Bewegung aufregende neue Möglichkeiten mit sich.
27
Ich hab da was gehört
TRISTAN KUNKEL
Ich hab da was gehört.
Sie kommen aus dem Nahen Osten
und nehm’ hier alles ein,
kein Dorf, kein Ort und keine Gemeinde
soll vor ihnen sicher sein.
Tragen komische Gewänder,
die Denkweise beengt.
Ich weiß ja nicht wie’s euch geht,
aber ich fühl mich bedrängt.
Ich hab’ da was gehört.
Legen einfach Arbeit nieder,
wann es ihnen gefällt,
mischen sich in die Politik ein,
ich hab die nicht gewählt?!
Leben auf Kosten aller,
von Steuern und vom Staat,
28
sind mit ihrer Einstellung
in alter Zeit verharrt.
Rufen von ihren Türmen
Ihresgleichen aus.
Ich will keine Protzbauten
neben meinem Haus.
Ich hab’ da was gehört.
Die sollen wohl mal gekämpft haben,
einen heiligen Krieg.
Und in den Schulen sind sie auch,
Kinder werden manipuliert.
Und deren Behandlung der Frau! Bah!
Da muss man doch was tun!
Raus aus Deutschland –
mit diesem gottverdammten Christentum!
Früher haben Generäle Schwerter getragen. Und auch
heute sind Generalisierungen immer noch zweischneidig.
Sie funktionieren in beide Richtungen.
Denn wenn ich alle Leute einfach so in einen Topf
schmeiße, dann versalzt das die Suppe aber ordentlich.
Religion ist eigentlich wie Quark. Da gibt es von der
Stärke her auch die Light-Variante mit wenig Fett, den ganz
normalen und die Doppelrahmstufe. Und nur, weil die
Doppelrahmstufe zwangsläufig ungesund ist, wenn man
29
sie jeden Tag ins Essen kippt, schwört meine Oma immer
noch auf Quark. Und das ist auch okay.
»Junge, haste dich verbrannt? Tu Quark drauf. Ach, du
hast Fieber? Tu Quark drauf. Wie, du hast eine Schusswun�
de? Tu Quark drauf.«
Dabei finde ich für mich persönlich Quark jetzt gar nicht
so geil. Aber das ist okay. Ich muss ja auch Religion nicht so
geil finden, auch wenn ich dafür von den uns geläufigsten
Religionen wahlweise den Tod verdiene, zu Tode gestei�
nigt oder mit dem Schwert niedergestreckt werden soll.
Aber das macht hier ja zum Glück niemand mit mir.
Aber ich hab da was gehört.
Das macht man wirklich noch irgendwo.
Da werden Leute von der Doppelrahmstufe verfolgt.
Und da ist es egal, ob es Kaymak oder einfacher Ja-Quark
ist.
Wenn ich in meiner Heimat Angst haben muss, für
meinen Glauben oder meine Überzeugungen getötet zu
werden, dann habe ich das Recht, tausende Kilometer
unter LKWs gen Westen zu reisen, auf sogenannten »Boo�
ten« über das Mittelmeer zu fahren, von privaten Grenz­
diensten wie Abfall behandelt zu werden und in gut be�
heizten, weil brennenden Unterkünften eingelagert zu
werden.
Und dann kommt man an in Deutschland.
30
Und wird unter dem Deckmäntelchen der Religion wie�
der verfolgt. Wenn man das Radio anmacht, hört man nur
noch eins:
Pegida, Dügida, Bogida, Legida, Bagida, Dagida, Ogeda HEY
Pegida, Dügida, Bogida, Legida, Bagida, Dagida, Ogeda HEY
Aber ich hab da was gehört.
Die Leute haben gar nichts gegen den Islam. Zumindest
nichts Begründetes. Ich glaube – ich weiß, das mag jetzt
komisch klingen –, die haben einfach was gegen Ausländer.
Doch da schallt es schon von allen Seiten im Chor: »Deut�
sche haben nichts gegen Ausländer. Das können wir gar
nicht. Das dürfen wir gar nicht. Guck dir doch mal unsere
Geschichte an, das wurde uns ja verboten!«
Und dann habe ich mal in die Geschichte geschaut:
Ich hab da nämlich was gehört.
Bis vor 25 Jahren soll da nämlich eine Grenze mitten in
Deutschland existiert haben.
Und dann wurde diese Grenze ganz friedlich entfernt.
Vielleicht wurde sie zerbrüllt, vielleicht auch zerkuschelt,
man weiß das nicht so genau. Diese Grenze ist weg. Sie exis­
tiert nicht mehr. Es gibt nur noch dieses eine Deutschland.
Und trotzdem kommen »diese Ossis« immer noch »von
drüben«. Sogar hochoffiziell ist immer wieder die Rede von
alten und neuen Bundesländern.
31
Man will so verkrampft gegen Ausländerfeindlichkeit
sein, dass man nicht mal bemerkt, dass es schon schwer fällt,
nett zu allen Inländern zu sein.
Ich hab da was gehört.
»Grenzen sind nur Linien im Sand, die dann in den Köpfen
zu Mauern werden.«
Ich weiß nicht, von wem dieses Zitat stammt. Vielleicht
von einem Deutschen, vielleicht von einem Syrer. Vielleicht
von einem Iraner, vielleicht von einem Afghanen. Vielleicht
von einem Christen und vielleicht von einem Muslim. Viel�
leicht von einem Mann und vielleicht von einer Frau.
Doch das ist mir egal. Denn der Inhalt zählt.
Ich hab da was gehört.
Alle Menschen lieben das Leben. Und viele glauben, dass
irgendwer über ihrem Leben wacht. Und manche passen
lieber selbst auf sich auf. Und das ist gut so. Denn anders
wäre es langweilig. Und wenn jeder an das glauben würde,
was die Grundaussage seines Glaubens ist – egal ob Bibel,
Koran, Talmud oder Kants Kritik der Vernunft –, dann ginge
es uns besser.
Ich hab da was gehört.
Hoffnung.
Hört ihr es auch?
32
Wolkenkratzerträumerei
LIVIA WARCH
Und solange diese Welt zum Kotzen ist,
bleibe ich mit dir hier oben sitzen.
Lassen uns die Beatles und Madonna
durch die Ohren dudeln,
sehen zu, wenn die Lichter
wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln,
wenn fremde Gesichter schlaftrunken
durch enge Gassen trudeln,
verdrücken wir hier oben
Cocktailwürstchen und Melonenkugeln.
33
Und während uns der kühle Sommerwind
um die Nasen weht,
beobachte ich dich, stelle fest,
wie gut dir dein dunkelbunter Teint steht,
wie hübsch sich dein krauses Haar
über deinen vollen Kopf legt
und die Nacht
vor deinen leeren trüben Augen schwebt.
Und dann zerpflückst du die Stille,
weil du mir sagst, dass du keine Würstchen isst,
dass du das nett von mir findest,
aber eigentlich kein Fleischesser bist,
und ich sehe dir an, dass du
unangenehm berührt über das Dächermeer wegblickst,
lächle stumm, während ich
einen Cocktailwürstchenzipfel auf die Straße schnipps’.
Und dann muss ich mir vorstellen,
wie du als Kind aussahst,
wie du auf Bildern in Kinderfotoalben klebst,
als du noch zuhause warst,
wie du beim Spieleabend mit deiner Familie
Nüsse knuspernd auf Decken lagst,
wie ihr zusammen gelacht habt,
während ihr euch gegenseitig Witze vorlast.
34
Wie das Radio spielte,
als deine Mutter euer Lieblingsessen kochte,
und der Kochduft auf die Straßen zog
und an alle fremden Fenster pochte,
wie du deiner kleinen Schwester
im Morgenschimmer Zöpfe flochtest,
mit bunten Spangen und sie
immer die mit Knöpfen mochte.
Wie deine Oma immer wollte,
dass du mit ihr alte Lieder singst,
wie du dich mit kirschroten Wangen zierst
und sie so zum Lachen bringst,
stell mir vor, wie du beim Kichern klingst,
wenn alle Stricke reißen,
und dir das Glück
durch die Zahnlücken grinst.
Und dann dein Familienbild,
alle hübsch gekleidet,
wie das krause Haar
euren breiten Lächeln schmeichelt,
wie dein Dad dir kumpelhaft
über die Schulter streichelt
und deine kleine Schwester
unter der neuen Brille leidet.
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Und ich sehe dich an und frage mich,
wen sie wohl zuerst gekriegt haben.
Wer zuerst gehen musste
und ob du gesehen hast, wie sie starben.
Ob es deine Mutter war,
mit der du dich zuletzt verstecken musstest, als sie kamen.
Und woran du sie erkannt hast,
als sie da lag, im Dreck des Grabens.
An ihrem Muttermal auf der Wange,
oder doch an all ihren Narben.
Und solange diese Welt zum Kotzen ist,
bleibe ich mit dir hier oben sitzen.
Lassen uns die Beatles und Madonna
durch die Ohren dudeln,
sehen zu, wenn die Lichter
wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln,
wenn fremde Gesichter schlaftrunken
durch enge Gassen trudeln,
verdrücken wir hier oben
Cocktailwürstchen und Melonenkugeln.
36
Wie es wohl sein muss, alles,
und wirklich alles, hinter sich zu lassen,
die Straße, in der du groß wurdest,
mit all den Nachbarn und Steinterrassen,
das Haus, in dem du lebtest,
dessen Regenrinnen warmes Wasser fassten,
die Bilder, die du deinen Eltern mal schenktest,
mit dem roten Strich, der der Sonne das Lachen verpasste.
Und dann tauen wir langsam auf,
erzählen uns wortkarge Geschichten,
vom Wetter und von allem,
was wir von hier oben aus sichten,
von der Nacht, den Sternen
und den Zipfeln der Fichten,
müssen lächeln und das Hupen der Autos
macht unsere Nostalgie zunichte.
Und ich habe
den größten Respekt vor dir,
weil du hoffst, nach vorne blickst,
deine Heimat verlierst,
weil du in Herzenswärme gebadet hast,
Familienliebe im Visier,
und jetzt alleine
zwischen Tautropfen und Weltfrost frierst.
37
Zwischen frisch
gezischten Schüssen,
und spitz
zerriss’nen Stützen,
stürzen dicht
verblichene Hütten,
zwischen Blitzen
in winz’ge Ritzen.
Und solange diese Welt zum Kotzen ist,
bleibe ich mit dir hier oben sitzen.
Lassen uns die Beatles und Madonna
durch die Ohren dudeln,
sehen zu, wenn die Lichter
wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln,
wenn fremde Gesichter schlaftrunken
durch enge Gassen trudeln,
verdrücken wir hier oben
Cocktailwürstchen und Melonenkugeln.
Und ok, wie werden
lange hier sitzen müssen,
werden uns Melonenkugeln aufheben müssen
in Melonenkugelnschüsseln,
38
Bis diese Welt nicht mehr zum Kotzen ist
und hinter ihren Kulissen
doch irgendwie alles ok ist
und nicht unterstrichen von Schüssen.
Und ich schwöre mir noch einmal,
dass solange diese Welt zum Kotzen ist,
ich mit dir hier oben sitzen bleibe.
Und wir lassen uns die Beatles und Madonna
durch die Ohren dudeln,
sehen zu, wenn die Lichter
wie Kohlensäure durch die Straßen sprudeln,
wenn fremde Gesichter schlaftrunken
durch enge Gassen trudeln,
verdrücken wir hier oben
Cocktailwürstchen und Melonenkugeln.
Und es wird lange Zeit vergehen,
bis sich mein Wunsch zwischen Kriegen erhebt,
aus Schnee wird Wasser
und aus Blättern dann Schnee,
aber noch mehr wünsche ich mir von ganzem Herzen,
dass du nie erlebst,
dass dort unten auf den Straßen Menschen laufen,
die wollen, dass du gehst.
39
Entidiotisierung
LULA LEITLOFF
Somalia, Mogadishu, 3;00 Uhr Ortszeit.
Herzschlag – Herzschlag – Herzschlag – Herzschlag.
24.672. Ungefähr 100 Schläge pro Minute. Etwas über vier
Stunden liegt er also schon so da. Er darf jetzt nicht anfan�
gen nachzudenken, muss seinen Kopf ausschalten, sich aus
dem Gedankenlabyrinth befreien und aufstehen.
Seine Tasche steht schon gepackt unter dem Bett, von
dem er hofft, nie wieder darin schlafen zu müssen. Nur noch
dieser eine Schritt und er kann weg. Raus aus dem Elend
und fort von dem Töten, das ihm so zuwider ist. Wieder be�
ginnen seine Gedanken zu kreisen, erneut wägt er ab. Doch
er hat keine Wahl, sie lassen ihm keine Wahl. Es ist schon
entschieden.
Langsam rollt er sich aus dem Bett, greift unter seine Ma�
tratze, geht hinüber zum Bett seines Bruders und legt sich
zu ihm.
Mit jeder Bewegung wächst der Schmerz, überkommen
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ihn die Schuldgefühle und die Angst. Er nimmt den Kleinen
in den Arm, drückt ihn fest an sich. In der Schule hatte er
ihn schon immer vor den großen Jungs beschützt und auch
jetzt musste er ihn beschützen. Er muss sich beeilen, die
großen Jungs, die vor der Tür warten, sind ernstzunehmen�
der als die damals in der Schule.
Er spürt den sanften Atem des schlafenden Kindes, wäh�
rend die scharfe kalte Klinge durch dessen Hals gleitet.
Ali hält seinen elfjährigen Bruder im Arm, streicht ihm
durch sein krauses Haar und flüstert ein letztes Mal: »Mo�
hammad ... ich, ich liebe dich.«
Er steht auf, gibt dem Jungen einen Kuss, dreht den leb�
losen Körper zur Seite, sodass man den Schnitt nicht sofort
sieht. Er sammelt all seine Wut auf die grauenhaften Men�
schen, die ihn zu dieser Tat gedrängt haben, schließt die
Augen und beginnt zuzustechen. Immer und immer wieder,
dreimal, viermal, fünfmal.
Es musste brutal und kaltblütig aussehen. Er tritt auf
ihn ein, schlägt zu, bis sein ganzes Gesicht aufgeplatzt ist.
Ohne noch einmal hinzusehen, nimmt er seine Tasche und
verlässt die Wohnung. Er hätte ihn nicht retten können, in
zehn Minuten wären sie beide tot, hätte er es nicht getan.
Er konnte es nur weniger qualvoll machen. Sie würden
dahinter kommen, was er getan hatte, doch bis dahin
konnte er schon an der Grenze sein. Ab Kenia konnte es nur
besser werden.
41
Lasst uns aufhören,
defensiv zu sein.
warum wahren wir
immer noch den Schein,
zu einer Gesellschaft zu gehören,
deren Ansichten uns so widerstreben?
Insgeheim führen wir
doch alle ein Doppelleben.
Irgendwie verbiegt sich jeder,
um sich selbst in eine Rolle zu zwängen,
die schlussendlich doch
nur einzuengen droht.
Ich will,
dass wir anfangen auszubrechen,
ich wünsche mir,
dass wir anfangen, offen zu sprechen.
Sprechen über das,
was uns ganz tief drin beschäftigt.
Nehmen wir die Hände
aus den Hosentaschen,
Zeigen wir,
was uns wirklich bewegt.
Lasst uns doch mal andere,
vor allem aber uns selbst überraschen,
vielleicht merkt Mensch dann,
wofür er wirklich lebt.
42
Deutschland, 1:00 Uhr.
Wir sitzen in einer pseudoschicken Bar, du mir gegen�
über mit deinem iPhone, auf dem du gelangweilt herum
hackst in der einen und einem Sex on the Beach in der ande�
ren Hand, der mich selbstgefällig anzugrinsen scheint und
sagen will: »Wenigstens gibt ihm einer von uns beiden das,
was er braucht!«
Da wir uns schon seit einer geschlagenen Dreiviertel�
stunde nichts mehr zu sagen haben, versuche ich, wenn ich
mich schon physisch nicht au dieser peinlichen Situation be�
freien kann, mich wenigstens gedanklich abzuwenden. Also
belausche ich die Schickimickitruppe am Nachbartisch, auf
meinem Handy rumdrücken fände ich jetzt unangebracht.
Sieben Jungs und Mädchen Mitte zwanzig in RalphLauren-Hemden und Lacoste-Blusen, die so aussehen, als
hätten sie in ihrem Leben noch nichts geschafft, außer mit
Daddys Benz zu protzen und gut auszusehen. Ich höre, wie
einer der Schönlinge sagt:
»Tja, ganz ehrlich, was erwarten die denn?! Ich meine,
wenn die schon ihr eigenes Land verlassen, dann müssen
sie ja wohl eine Menge Dreck am Stecken haben, oder? Da
ist es ja wirklich nicht verwunderlich, wenn das hier so wei�
ter geht. Kriminelles Pack, falls das die nächsten Jahre so
bleibt mit den ganzen Zuwanderern, dann überlege ich mir
noch mal ganz genau, ob ich in Deutschland Kinder in die
Welt setze. Vielleicht gehe ich ja lieber in die Schweiz. An
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denen sollten wir uns ein Beispiel nehmen!«
Er hebt seine Weißweinschorle.
»Auf die Schweizer, die haben es richtig gemacht!«
Ja, du bist ein ganz Intelligenter, denke ich. Bekomm du
mal deiner Kinder in der Schweiz, da freuen sich die Schwei�
zer. Am besten du gibst diese Gene gar nicht erst weiter.
Ich bin in einem inneren Zwiespalt. Gerne würde ich dem
jungen Mann erklären, welchen widersprüchlichen Senf er
da grade von sich gegeben hat, andererseits habe ich die
Befürchtung, dass ich mich dann nicht beherrschen kann
und dem Drang erliege, seinen Kopf so lange auf die Tisch�
platte zu schlagen, bis er auch nur annähernd eine Vorstel�
lung von dem Schmerz hat, den jemand erleidet, der sein
Vaterland verlassen muss.
Ich komme zu dem Schluss, dass wohl beides verschwen�
dete Energie wäre.
Lasst uns aufhören,
defensiv zu sein.
Warum wahren wir
immer noch den Schein,
zu einer Gesellschaft zu gehören,
deren Ansichten uns so widerstreben?
Insgeheim führen wir
doch alle ein Doppelleben.
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Irgendwie verbiegt sich jeder,
um sich selbst in eine Rolle zu zwängen,
die schlussendlich doch
nur einzuengen droht.
Ich will,
dass wir anfangen auszubrechen,
ich wünsche mir,
dass wir anfangen, offen zu sprechen.
Sprechen über das,
was uns ganz tief drin beschäftigt.
Nehmen wir die Hände
aus den Hosentaschen,
Zeigen wir,
was uns wirklich bewegt.
Lasst uns doch mal andere,
vor allem aber uns selbst überraschen,
vielleicht merkt Mensch dann,
wofür er wirklich lebt.
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An die empathische Vernunft
JAKOB KIELGASS
Ich bin Künstler. Ich liebe Sprache, ich liebe Worte und weiß
darum, dass sie niemals jemandem gehören können. Denn
Worte sind flüchtig, zum Glück, sie sind nichts Starres, sie
verweilen einen Augenblick in unseren Köpfen, aber schon
beim nächsten Atemzug sind sie verflogen, überdeckt von
neuen Worten.
Für diesen einen Atemzug sammle ich Worte. Für diesen
einen Atemzug, der den Unterschied ausmacht, zwischen
Lebendigkeit und Ersticken.
Genau diesen einen Atemzug lang habe ich Zeit, mei�
nem Gegenüber Fragen zu schenken, ihn zu irritieren und
zu berühren. Ebenso lang kann ich berührt, irritiert und
hinterfragt werden. Immer wieder und immer neu ist das
notwendig. Für mich selbst, für jede und jeden. Damit die
Worte nie erstarren, sondern ihre Lebendigkeit behalten.
Indem Menschen sich von Worten treffen lassen, indem
sie anrufbar sind, wird in genau dieser Anrufbarkeit ihre
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Menschlichkeit offenbar – sie spüren nicht mehr nur sich
selbst, sondern: sie spüren ihre Gegenüber und sich selbst
durch ihre Gegenüber. Lauschend, spürend, fühlend offen
sein für die Wirklichkeit, von der das Gegenüber spricht,
gleich, ob es eine ganze andere ist, als die selbst erlebte.
Da aber, wo die Anrufbarkeit die Empathie geringge�
schätzt und verlacht, wo sie unterdrückt und nicht mehr
praktiziert wird, da sind Wörter korsettiert, da gibt es die
Wahrheit, da ist Gleichgültigkeit – das Vergessenmachen al�
ler Wahrnehmung. Gleichgültigkeit – der Tod allen Spürens,
der Tod im Leben.
Da werden die Menschen nicht mehr für das geachtet,
was sie sind und was sie fühlen, doch nur dafür, was sie ha�
ben und was sie zu leisten imstande ist. Menschenverach�
tende Systeme aller Zeiten haben die Gleichgültigkeit als
Mittel der Unterdrückung und der Separation genutzt und
versuchen es mit aller Macht noch immer.
Umso wichtiger ist es, an die Anrufbarkeit der Menschen
zu glauben, sie feiernd zu leben und genauso einzufordern!
Gerade heute, gerade hier! Wo fleißig, indifferent und an
jedem Argument vorbei in den Straßen wild gewutbürgert
wird.
Denn wir sind immer noch Schlafende, ohne zu träumen,
wir dämmern im Schlaf der Gleichgültigkeit. Ein Schlaf, der
uns vergessen gemacht hat, was wir eigentlich zu fühlen fä�
hig sind, was wir zu wollen einmal wussten.
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Empörung nun ist der Moment des Aufwachens. Ein un�
angenehmes Aufwachen, wie nach einer zu kurzen Nacht;
einem Morgen, an dem der Wecker zu früh klingelt und die
Wärme des Bettes verlockender, bequemer scheint als das
noch kühle Zimmer. Ein unangenehmes Aufwachen, weil
wir nicht wissen, wie wir in dieses Bett gekommen sind. Der
Schlaf ist allzu süß und das Bett noch warm, aber Leben und
seine vielfältigen Möglichkeiten überkommen uns nicht,
sie ereignen sich nicht da, wo wir eh immer schon sind; die
Möglichkeiten lassen sich erst im kühlen Raum, jenseits des
bequemen Bettes finden und verwirklichen. Dahin zu ge�
langen, heißt nun zweierlei: Anrufbar zu sein und empört
zu sein!
Es bedarf, dass wir empört sind – zuallererst von uns
selbst –, weil wir vergessen haben, dass unser Schlaf keine
Wirklichkeit, nicht einmal eine Wirklichkeitsmöglichkeit ist.
Weil wir zu gleichgültigen Wesen geworden sind, weil wir
zugelassen haben, dass man uns Empathie als Albernheit
verkauft, weil wir starr die Welt in wahr und falsch einteilen,
weil wir glauben, es gäbe die eine Wahrheit und ausgerech�
net wir kennten sie.
Wir müssen empört sein! Weil unsere Solidarität zum
leeren Symbol geworden ist; weil sie mehr, nein, erst den
Toten gilt. Die, die grad verrecken, sind noch keine Helden.
Schmarotzer vielleicht. Deserteure und VerräterInnen.
Wir haben lieber Angst vor Männern mit langen Bärten,
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die Arabisch oder Türkisch oder Persisch oder Kurdisch oder
Sonstwas sprechen – es klingt doch alles gleich – und trau�
en dann den glattrasierten Männern, die Bomben-Waffen
bauen, nur weil sie unsere Sprache sprechen.
Wir sehen die Freiheitsrechte eingeschränkt bei Frauen,
die einen Schleier tragen, die diesen natürlich immer tra�
gen müssen und kämpfen dagegen! Nackt versteht sich.
Denn das ist Liberalismus, das ist Freiheit.
Doch Freiheit bleibt ein wohliges Gefühl. Ein Gefühl,
welches uns zu Recht antreibt und welches wir in uns spü�
ren müssen, um das Lebendige im Leben zu fühlen. Doch
Freiheit, die ihren eigenen Grund nicht kennt, bleibt immer
nur gefühlt und ist keine Freiheit. Sie bleibt immer Freiheit
von etwas, etwas, von dem wir befreien wollen, was uns
bedrückt, sie wird niemals Freiheit für etwas. Etwas, das
uns so lohnend, so wertvoll erscheint, dass wir bereit wä�
ren, etwas von unserer Freiheit hinzugeben.
Und weil wir uns sogar emotional isoliert haben las�
sen, brauchen wir die ritualisierten Emotionen, die die
wir kaufen können. Abgepackt zu Weihnachten, an Ge�
burtstagen, portioniert und in hübsches Papier verpackt.
Doch einmal ausgepackt, sitzen wir ratlos da, mit den lee�
ren Kartons und Schachteln, weil das wohlige Gefühl mit
dem Öffnen verfliegt und keinekeiner mehr ahnt, dass
Freude nicht unter dem Geschenkpapier lauert, sondern
zwischen uns Menschen entsteht. Aber wir, wir fühlen uns
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selber nicht, wir empören uns nicht mehr, wir sind kaum
noch anrufbar.
Wir kämpfen dafür, an allen Tagen Schnitzel zu essen
können, dafür, dass auf unserem Kaffee »fair« und unseren
Erdbeeren »bio« steht. Dafür, dass wir über unsere Autobah�
nen rasen können und kostenloses WLAN haben.
Hauptsache, es ändert sich nichts. Denn das ist ja das Gute
an Worten, sie sind flüchtig und in wenigen Tagen schon
löst der in den Himmel gestreckte Mittelfinger irgend­eines
Menschen vor irgendeiner Kamera unser schlechtes Gewis�
sen und unsere Angst wieder ab. Da haben wir ein Feindbild,
da können wir uns ein bisschen aufregen. Und fast fühlt es
sich so an, als wären wir empört.
Und der Wecker von vorhin fliegt nach bestem Wissen
und Gewissen wieder in die Ecke. Jetzt nochmal die Augen
zugekniffen. Vielleicht unterzeichnen wir ja später noch ein
paar Onlinepetitionen gegen Markus Lanz, die Rundfunk�
gebühren, oder einfach dafür, dass das Böse in der Welt
endlich aufhört, aber vor allem, dass diese kleinen, süßen,
plüschigen Robbenbabys mit diesen putzig großen Augen
endlich freundlicher abgeschlachtet werden.
Lasst uns empört sein! Aber richtig und damit wirklich;
aus dem Mark der Menschlichkeit heraus und aus vollem
vernunfterfülltem Halse. Denn wir sind keine ChristInnen,
keine JüdInnen, keine Moslems, keine AtheistInnen. Wir
sind Menschen unter Menschen.
50
Stimmgeber schafft einen Rahmen,
um auf Lebenslagen, Missstände
und Weltanschauungen von ganz
besonderen Menschen aufmerksam
zu machen. Gemeinsam geben die
Autoren diesen Menschen eine Stimme. Dieses Büchlein umfasst Texte von:
Sascha Kirchhoff
Marco Michalzik
Tristan Kunkel
Jakob Kielgaß
Livia Warch
Lula Leitloff
Siawash
www.stimmgeber.de
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