Zentralisierung sicherheitlich beherrschen

STANDPUNKT
Zentralisierung
sicherheitlich
beherrschen
Prof. Dr.-Ing. Jörn Pachl
TU Braunschweig
Institut für Eisenbahnwesen
und Verkehrssicherung
D
ie hochgradige Zentralisierung der Betriebssteuerung ist der größte Umbruch in den
Betriebsführungsstrukturen deutscher Eisenbahnen seit über 100 Jahren. Das betrifft nicht
nur die Betriebszentralen im Kernnetz, sondern auch Elektronische Stellwerke ohne BZ-Anbindung,
die mit zunehmender Größe der Steuerbereiche immer
mehr zu regionalen Leitzentralen werden. Zentralisierung
bedeutet nicht nur die Vergrößerung der Steuerbereiche, sie
ist auch mit einer zunehmenden Automatisierung verbunden und wird dadurch überhaupt erst ermöglicht. Im Regelbetrieb wird ein Großteil der Fahrstraßen über die Zuglenkung eingestellt, ein manueller Eingriff der Fahrdienstleiter
ist hauptsächlich bei Störungen und Unregelmäßigkeiten
erforderlich. Der Fahrdienstleiter wird immer mehr von
einer aktiv steuernden Instanz zu einem Beobachter, der
nur fallweise in den Betriebsablauf eingreift. Wie auch in
anderen automatisierten Steuerungssystemen entsteht das
»Eine wichtige Rolle spielt die
­Gestaltung der Bedienoberfläche«
Problem, ein hinreichendes Situationsbewusstsein aufrechtzuerhalten, um bei Störungen sicherheitsgerecht handeln
zu können. Während im Regelbetrieb die Arbeitsbelastung
vergleichsweise gering ist und der Zwang zum ständigen
Mitdenken teilweise fehlt, ändert sich die Situation beim
Auftreten einer Störung schlagartig. Auf einmal ist volle
Aufmerksamkeit und das korrekte Verständnis der Betriebssituation gefordert, um unter Zeitdruck sicherheitsrelevante
Feststellungen als Voraussetzung für die Durchführung von
Hilfshandlungen treffen zu können.
von Hilfshandlungen, die vor langer Zeit für die dezentrale Betriebssteuerung mit örtlich besetzten Stellwerken und
geringem Automatisierungsgrad entwickelt wurden, nahezu unverändert in ein hochgradig zentralisiertes System zu
übernehmen. Bei deutschen Eisenbahnen werden sicherheitsrelevante Hilfshandlungen traditionell nicht verfahrensbasiert abgesichert, sondern nur mit einer Zählpflicht
versehen. In konventionellen Stellwerken war dies sicherheitlich akzeptabel, da die Fahrdienstleiter durch permanente aktive Einbindung in die Betriebssteuerung auch im
Regelbetrieb stets über ein aktuelles gedankliches Abbild
der Betriebssituation verfügten, so dass im Störungsfall ein
Handeln mit geringer Fehlerwahrscheinlichkeit gewährleistet war. Fehlhandlungen hatten ihre Ursache zumeist in
unzureichender Kenntnis oder nachlässiger Anwendung
des Regelwerks. Heute bestätigen Praktiker, dass fahrdienstliche Fehlhandlungen in Betriebszentralen immer weniger
durch mangelnde Kenntnis des Regelwerks, sondern viel
eher durch Fehleinschätzung von Betriebssituationen, z. B.
Verwechseln oder Übersehen von Fahrwegelementen und
Zügen, verursacht werden.
Hier besteht die Herausforderung, nach Lösungen zu suchen, die das veränderte Situationsbewusstsein sicherheitlich kompensieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch
die Gestaltung der Bedienoberflächen. Ein Blick auf die
Bildschirme unserer heutigen ESTW zeigt, dass hier Nachholbedarf besteht. Die farbliche Gestaltung und die Symbolwelten der Lupenbilder und Bereichsübersichten erinnern an Monitorbilder der 1980er Jahre und haben sich
in der Tat seitdem kaum verändert. Hier liegen zeitgemäße
Vorschläge auf dem Tisch, die zügig umgesetzt werden sollten.
Dieser Widerspruch wird zurzeit unzureichend beherrscht.
Man muss daher kritisch die Frage stellen, ob es akzeptabel ist, Prozesse für die Durchführung und Absicherung
EI-Eisenbahningenieur | Januar 2016
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