Die Heilige Nacht der Eritreer FEST Mariam Tsion ist das Hochfest der eritreisch-orthodoxen Christen. Auch in der Zentralschweiz werden viele Gläubige die Nacht hindurch beten, singen und tanzen – darunter auch Schweizer. REMO WIEGAND [email protected] Die Nacht: Für Christen wie für Andersgläubige ist sie eine Zeit des Wandels und der Neugeburt. Weihnachten gilt als Heilige Nacht, die Osternacht wird durchgewacht, an der Tagwach beginnt die Fasnacht. Durch das Dunkel der Nacht hindurch mühen sich die Gläubigen in ein neues, göttliches Morgen hinein. Das Ziel verspricht Erfüllung, der Weg dahin ist steinig und schwer. Man kämpft mit dem Schlaf und mit weiteren, selbst auferlegten Lasten: «Wir wollen in dieser Nacht so lange stehen bleiben, wie wir können. Und wir fasten», berichtet Merihsenai Adresom, der das Fest Mariam Tsion zusammen mit einem Priester und anderen Helfern mit organisiert. «So versuchen wir Gott näherzukommen.» Das bevorstehende Mariam Tsion ist ein Muss für die eritreisch-orthodoxen Christen der Region, deren Gemeinden mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus Eritrea in den letzten Jahren stark angewachsen sind (vgl. «Zentralschweiz am Sonntag» vom 8. November). Allein in der Kirche St. Karl in Luzern werden rund 400 Gläubige erwartet, in Emmenbrücke sind es nochmals so viele. In ihren Gemeinden begehen die Eritreer ein Fest, das sie ebenso stark mit ihrem Glauben verbindet wie mit der Heimat, die sie verlassen haben. Legendäre Bundeslade Mariam Tsion basiert auf einer für die eritreischen sowie äthiopischen Christen bedeutsamen Legende: Vor 3000 Jahren soll der äthiopische Kaiser Menelik I. seinen Vater besucht haben. Dieser war nicht irgendwer, sondern der grosse König Salomon aus Israel; als Meneliks Mutter gilt die sagenumwobene Königin Saba. Bei seinem Besuch in Israel kam Menelik in den Besitz der Bundeslade, einem zentralen Heiligtum des Volkes Israel, das gemäss Überlieferung auch die Steintafeln mit den zehn Geboten enthalten soll. Der erste christliche Kaiser Äthiopiens, Ezana, liess im 4. Jahrhundert nach Christus in der Stadt Axum eine Kirche bauen, die nach Maria von Zion beziehungs- Eritreische Christen in ihren traditionellen weissen Gewändern feiern das Hochfest Mariam Tsion. Archivbild Dominique Huwyler Mariam Tsion in Luzern FEIERTAG rwi. Das Fest Mariam Tsion in der Luzerner Kirche St. Karl beginnt in der Nacht vom 29. November auf den 30. November um Mitternacht. Als Höhepunkt gilt der Auszug aus der Kirche im Morgengrauen, um zirka 8 Uhr. Danach finden die Festivitäten mit Musik, Tänzen und einem gemeinsamen Essen im Pfarreisaal weise Mariam Tsion benannt wurde. Sie wurde zum allgemein anerkannten, verehrten Aufbewahrungsort der Bundeslade. «In der äthiopischen und der eritreischen orthodoxen Kirche ist es feste und allgemeine Überzeugung, dass sich dort die Bundeslade befindet», sagt Karl Pinggéra, Professor für Ostkirchengeschichte an der Universität Marburg. «Sie finden wohl in jeder äthiopisch- und eritreisch-orthodoxen Kirche Malereien mit der Legende der Königin von Saba St. Karl ihre Fortsetzung. In der zweiten grossen eritreisch-orthodoxen Gemeinde der Region Luzern, die ihre Gottesdienste hauptsächlich in der Kirche Bruder Klaus in Emmenbrücke feiert, wird das Fest Mariam Tsion ebenfalls begangen. Dort findet es erst am 12. Dezember statt, weil in einer Woche die Kirche belegt ist. und der Bundeslade.» Deren Bedeutung unterstreicht zusätzlich die Tatsache, dass in der Kirche Mariam Tsion zeitlebens ein Mönch verharrt, der die Bundeslade bewacht. Ausser ihm, so die Überzeugung, darf sie niemand zu Gesicht bekommen – andernfalls stirbt er. «Dramatischer Gottesdienst» Am 30. November jedes Jahres pilgern Tausende Gläubige zum Festival Mariam Tsion nach Axum. Sie bilden ein Meer weiss gekleideter Menschen, die vor der Kirche zusammen die Nacht durchwachen und am Tag danach zahlreichen kulturellen Darbietungen beiwohnen. Die Feierlichkeiten in Luzern sind ein kleines Abbild des Originals: Zwölf Stunden lang, zwischen Mitternacht und dem darauffolgenden Mittag wird in St. Karl gefeiert. Die Nacht in der Kirche durchziehen Gebete, Lesungen, Trommelklänge und sakrale Tänze, «keine Disco», wie Merihsenai Adresom lächelnd betont. «Mariam Tsion ist ein ziemlich dramatischer Gottesdienst», so der 33-jährige Eritreer, der 2008 über den Sudan, Libyen und das Mittelmeer in die Schweiz geflohen ist und heute in Malters wohnt. Mittels der tranceartigen Tänze, erzählt er, fühlen sich die tanzenden Männer und Frauen in die religiösen Ursprungserzählungen hinein. So symbolisiert zum Beispiel ein andauerndes Wippen, das von einem Trommel-Crescendo begleitet wird, wie Jesus auf seinem Kreuzweg von Soldaten und Passanten hin- und hergestossen und zur Kreuzigung getrieben wurde. Und eben: Das alles findet in der Nacht statt. Die orthodoxe Liturgie lebt wesentlich von der Askese, die sie ihren Gläubigen abverlangt. Um wach zu bleiben, stützen sich die Gemeindemitglieder auf liturgische Stöcke, die auch daran erinnern, wie Mose mit einem Stock an eine Felswand pochte und Wasser zum Fliessen brachte. Nicht alle Gläubigen halten die Nacht durch. Ist der Gottesdienst auch etwas ein religiöser Wettbewerb? «Wir diskutieren das oft in unserer Gemeinde», sagt Merihsenai Adresom. Tatsächlich sei das Ziel, die eigene Schläfrigkeit erfolgreich zu überwinden. «Aber wenn man es nicht schafft, ist es okay. Es gilt einfach die Regel, dass man nicht zur Kommunion geht, wenn man nicht alle Lesungen gehört hat.» Schweizer feiern mit Der Gottesdienst in der Luzerner Kirche St. Karl ist öffentlich zugänglich. In den letzten Jahren haben immer wieder auch neugierige einheimische Christen an Mariam Tsion mitgefeiert. «Spannend, fremd und auch vertraut und sehr gastfreundlich» sei die Erfahrung gewesen, berichtet Silvia Huber, Gemeindeleiterin von St. Karl und Gastgeberin der eritreisch-orthodoxen Gemeinde. Auch Nicola Neider, Bereichsleiterin Migration der Katholischen Kirche Luzern, empfiehlt den Besuch des Gottesdienstes wärmstens weiter. «Wo sonst kann man vor der Haustür so viel Exotik erleben?», fragt sie schmunzelnd. «Es ist wie eine Reise, für die man das Flugtickets spart.» Zugleich warnt Neider alle Nachtschwärmer: «Man braucht eine gute Ausdauer.» NEM vergiften das Leben Ioan L. Jebelean K ürzlich habe ich einem Mann – pensioniert, gut situiert, gesund – zugehört. Er hat sich über eine junge Frau aufgeregt, die nach einem anstrengenden Berufseinstieg ihre erste grössere Urlaubsreise in der Ferne geniesst. Ein klarer Fall von NEM: Neid, Eifersucht, Missgunst. Ein Bündel von Gefühlen, die wir nicht richtig einordnen können. Gefühle, die automatisch ablaufen und die wohl alle Menschen kennen. MEIN THEMA Der Ursprung von NEM liegt im Vergleichen. Auch in der Bibel finden wir Geschichten dazu. Die Schlange rät den Menschen, vom Baum der Erkenntnis zu essen: «Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott [...].» (Gen 3, 5) Der Mensch will sein wie Gott. Er möchte, dass niemand besser dasteht als er selber. Hier liegt das Gift von NEM. NEM zerfressen unsere Beziehungen zu den Menschen, die wir beneiden. Wir können den anderen nicht mehr unbefangen begegnen, müssen heucheln. Auch die Beziehung zu uns selbst wird vergiftet. Minderwertigkeitsgefühle werden vertieft, Stress nimmt zu. Die Beziehung zu Gott bröckelt ebenfalls, weil der Mensch mit ihm hadert. Vertrauen in Gott wird zu Misstrauen. Man hat das Gefühl, dass Gott es nicht gut mit einem meint. Man fühlt sich benachteiligt. Wer kennt dieses Gefühl nicht? Was können wir dagegen tun? Wir sollen NEM erkennen und eingestehen. Wir sollen Neid, Eifersucht und Missgunst durch gesündere Emotionen ersetzen. Durch Zufriedenheit und Dankbarkeit für das, was wir sind und haben. So könnte sich der aufgebrachte Mann an seiner Gesundheit, Freizeit und seinem Wohlstand erfreuen, statt missgünstig zu sein. Jemandem etwas gönnen, macht ihn und uns zu einem liebenswerten Mitmenschen. Ioan L. Jebelean, christkatholischer Pfarrer in Luzern Diese Kirche birgt eine ziemlich seltsame «Reliquie» SCHONGAU Vor über 90 Jahren wurde der Grundstein für die Pfarrkirche St. Ulrich gelegt. Dieser hütet ein kurioses Geheimnis. Er hat für diese Kirche lange gekämpft und schussendlich gewonnen: Pfarrer Franz Fessler. Dank seines Einsatzes darf die Kirche St. Ulrich in Schongau dieses Jahr ihr 90-jähriges Bestehen feiern. «Der Neubau war nötig, denn die alte Kirche war viel zu klein und die Holzkonstruktion morsch», sagt der heutige Pfarreileiter Christoph BeelerLongobardi. 1913 liess Pfarrer Fessler darüber abstimmen, ob er sich den Platz für die Kirche vom damaligen Pfarrer von Weggis schenken lassen dürfe. Die anwesenden Schongauer sprachen sich fast einstimmig dafür aus. Im Alleingang begann Pfarrer Fessler, bei Verwandten und Freunden Geld zu sammeln. Ganze 100 000 Franken brachte er zusammen. Damit kaufte er 300 000 Backsteine, die vergünstigt angeboten wurden. Diese transportierte er mit Hilfe verschiedener Bauern bis zum vorgesehenen Bauplatz im Zentrum von Mettmenschongau. Bereits damals waren die Pläne für die eine Statue des Namenspatrons St. Ulrich aufgestellt werden. Die Gemeinde wollte dies jedoch vertagen. Fessler befürchtete, dass die Statue nie eingesetzt würde, wenn man es nicht sofort machte. Eine Statue gab es schliesslich – aber keine von St. Ulrich, sondern eine Marienstatue. Wie es dazu kam, ist nicht bekannt. Die Figur wurde nach Überlieferung von «Frauen und Jungfrauen» der Gemeinde gespendet. «Das könnte ein Grund sein», sagt Beeler. Kirche fertig, sogar eine Postkarte der zukünftigen Kirche existierte. Wegen des Ersten Weltkriegs musste der Baustart allerdings verschoben werden. Pfarrer nutzte sein Ansehen 1922 wurde der Bau endlich eingeleitet. Die Dorfbewohner spendeten verschiedene Bestandteile der Kirche, die mit einer Widmung versehen wurden. Besonders bei den Fenstern und Bildern ist das noch immer gut sichtbar. Dies war nicht die einzige Aktion, mit der der Pfarrer günstig an Materialien kommen wollte. Er hatte den Plan, ein Waschhaus und eine Kapelle abzureissen, um das Baumaterial weiterzuverwenden. Die Schongauer konnten sich jedoch dagegen wehren. Im April 1923 wurde der Grundstein gelegt. Für die nachfolgenden Generationen verstaute man darin wie üblich Fotos und andere Zeitzeugnisse in einem Apothekerglas – und ausserdem Barthaare des Pfarrers. Jemand hatte sich wohl einen Scherz erlaubt. Neben der Kirche verlangte der Pfarrer ebenfalls die Errichtung eines Pfarrhauses. Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. «Er war ein angesehener Pfarrer. Das nutzte er aus», sagt Beeler. Wenn er kein Pfarrhaus bekäme, würde er die Gemeinde verlassen, sagte damals Pfarrer Fessler. In einer weiteren Angelegenheit wollte er seinen Willen durchsetzen: Über der Eingangstür der Kirche sollte Alter Stil mit modernen Elementen Pfarreileiter Christoph Beeler-Longobardi auf der Empore der Kirche St. Ulrich in Schongau. Bild Pius Amrein Die Kirche St. Ulrich ist eine der letzten im Kanton Luzern erbauten neubarocken Kirchen, weist aber auch moderne Elemente auf. So wurde sie aus Backsteinen gebaut, der Turm ist aus Beton. Das Kirchenschiff hat statt eines hölzernen Dachstuhls ein Stahlgerüst, das gleich konstruiert ist wie das einer Brücke: Auf der einen Seite ist es fixiert, auf der anderen hat es Rollen, sodass die Kirche nicht auseinanderbricht, wenn sich der Stahl durch Wärme ausdehnt. Auf Wunsch von Pfarrer Fessler ist sogar das Ewige Licht moderner als in anderen Kirchen. Es ist elektrisch. «Inzwischen haben wir aber noch ein authentisches Ewiges Licht angeschafft, um das Osterfeuer weiterbrennen zu lassen», so Beeler. MANUELA LIEM
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