Christ_und_Welt_2015_11_20

Die Heilige Nacht der Eritreer
FEST Mariam Tsion ist das
Hochfest der eritreisch-orthodoxen Christen. Auch in der
Zentralschweiz werden viele
Gläubige die Nacht hindurch
beten, singen und tanzen –
darunter auch Schweizer.
REMO WIEGAND
[email protected]
Die Nacht: Für Christen wie für Andersgläubige ist sie eine Zeit des Wandels
und der Neugeburt. Weihnachten gilt als
Heilige Nacht, die Osternacht wird durchgewacht, an der Tagwach beginnt die
Fasnacht. Durch das Dunkel der Nacht
hindurch mühen sich die Gläubigen in
ein neues, göttliches Morgen hinein. Das
Ziel verspricht Erfüllung, der Weg dahin
ist steinig und schwer. Man kämpft mit
dem Schlaf und mit weiteren, selbst auferlegten Lasten: «Wir wollen in dieser
Nacht so lange stehen bleiben, wie wir
können. Und wir fasten», berichtet Merihsenai Adresom, der das Fest Mariam
Tsion zusammen mit einem Priester und
anderen Helfern mit organisiert. «So
versuchen wir Gott näherzukommen.»
Das bevorstehende Mariam Tsion ist
ein Muss für die eritreisch-orthodoxen
Christen der Region, deren Gemeinden
mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus Eritrea in den letzten Jahren
stark angewachsen sind (vgl. «Zentralschweiz am Sonntag» vom 8. November).
Allein in der Kirche St. Karl in Luzern
werden rund 400 Gläubige erwartet, in
Emmenbrücke sind es nochmals so viele.
In ihren Gemeinden begehen die Eritreer ein Fest, das sie ebenso stark mit ihrem
Glauben verbindet wie mit der Heimat,
die sie verlassen haben.
Legendäre Bundeslade
Mariam Tsion basiert auf einer für die
eritreischen sowie äthiopischen Christen
bedeutsamen Legende: Vor 3000 Jahren
soll der äthiopische Kaiser Menelik I.
seinen Vater besucht haben. Dieser war
nicht irgendwer, sondern der grosse König
Salomon aus Israel; als Meneliks Mutter
gilt die sagenumwobene Königin Saba.
Bei seinem Besuch in Israel kam Menelik
in den Besitz der Bundeslade, einem
zentralen Heiligtum des Volkes Israel, das
gemäss Überlieferung auch die Steintafeln
mit den zehn Geboten enthalten soll.
Der erste christliche Kaiser Äthiopiens,
Ezana, liess im 4. Jahrhundert nach Christus in der Stadt Axum eine Kirche bauen,
die nach Maria von Zion beziehungs-
Eritreische Christen in ihren traditionellen weissen
Gewändern feiern das Hochfest Mariam Tsion.
Archivbild Dominique Huwyler
Mariam Tsion in Luzern
FEIERTAG rwi. Das Fest Mariam
Tsion in der Luzerner Kirche St. Karl
beginnt in der Nacht vom 29. November auf den 30. November um Mitternacht. Als Höhepunkt gilt der Auszug
aus der Kirche im Morgengrauen, um
zirka 8 Uhr. Danach finden die Festivitäten mit Musik, Tänzen und einem
gemeinsamen Essen im Pfarreisaal
weise Mariam Tsion benannt wurde. Sie
wurde zum allgemein anerkannten, verehrten Aufbewahrungsort der Bundeslade. «In der äthiopischen und der eritreischen orthodoxen Kirche ist es feste
und allgemeine Überzeugung, dass sich
dort die Bundeslade befindet», sagt Karl
Pinggéra, Professor für Ostkirchengeschichte an der Universität Marburg. «Sie
finden wohl in jeder äthiopisch- und
eritreisch-orthodoxen Kirche Malereien
mit der Legende der Königin von Saba
St. Karl ihre Fortsetzung. In der zweiten grossen eritreisch-orthodoxen Gemeinde der Region Luzern, die ihre
Gottesdienste hauptsächlich in der
Kirche Bruder Klaus in Emmenbrücke
feiert, wird das Fest Mariam Tsion
ebenfalls begangen. Dort findet es erst
am 12. Dezember statt, weil in einer
Woche die Kirche belegt ist.
und der Bundeslade.» Deren Bedeutung
unterstreicht zusätzlich die Tatsache, dass
in der Kirche Mariam Tsion zeitlebens
ein Mönch verharrt, der die Bundeslade
bewacht. Ausser ihm, so die Überzeugung, darf sie niemand zu Gesicht bekommen – andernfalls stirbt er.
«Dramatischer Gottesdienst»
Am 30. November jedes Jahres pilgern
Tausende Gläubige zum Festival Mariam
Tsion nach Axum. Sie bilden ein Meer
weiss gekleideter Menschen, die vor der
Kirche zusammen die Nacht durchwachen und am Tag danach zahlreichen
kulturellen Darbietungen beiwohnen. Die
Feierlichkeiten in Luzern sind ein kleines
Abbild des Originals: Zwölf Stunden lang,
zwischen Mitternacht und dem darauffolgenden Mittag wird in St. Karl gefeiert.
Die Nacht in der Kirche durchziehen
Gebete, Lesungen, Trommelklänge und
sakrale Tänze, «keine Disco», wie Merihsenai Adresom lächelnd betont. «Mariam
Tsion ist ein ziemlich dramatischer Gottesdienst», so der 33-jährige Eritreer, der
2008 über den Sudan, Libyen und das
Mittelmeer in die Schweiz geflohen ist
und heute in Malters wohnt. Mittels der
tranceartigen Tänze, erzählt er, fühlen
sich die tanzenden Männer und Frauen
in die religiösen Ursprungserzählungen
hinein. So symbolisiert zum Beispiel ein
andauerndes Wippen, das von einem
Trommel-Crescendo begleitet wird, wie
Jesus auf seinem Kreuzweg von Soldaten
und Passanten hin- und hergestossen und
zur Kreuzigung getrieben wurde.
Und eben: Das alles findet in der Nacht
statt. Die orthodoxe Liturgie lebt wesentlich von der Askese, die sie ihren Gläubigen abverlangt. Um wach zu bleiben,
stützen sich die Gemeindemitglieder auf
liturgische Stöcke, die auch daran erinnern, wie Mose mit einem Stock an eine
Felswand pochte und Wasser zum Fliessen brachte. Nicht alle Gläubigen halten
die Nacht durch. Ist der Gottesdienst
auch etwas ein religiöser Wettbewerb?
«Wir diskutieren das oft in unserer Gemeinde», sagt Merihsenai Adresom. Tatsächlich sei das Ziel, die eigene Schläfrigkeit erfolgreich zu überwinden. «Aber
wenn man es nicht schafft, ist es okay.
Es gilt einfach die Regel, dass man nicht
zur Kommunion geht, wenn man nicht
alle Lesungen gehört hat.»
Schweizer feiern mit
Der Gottesdienst in der Luzerner
Kirche St. Karl ist öffentlich zugänglich.
In den letzten Jahren haben immer
wieder auch neugierige einheimische
Christen an Mariam Tsion mitgefeiert.
«Spannend, fremd und auch vertraut
und sehr gastfreundlich» sei die Erfahrung gewesen, berichtet Silvia Huber,
Gemeindeleiterin von St. Karl und Gastgeberin der eritreisch-orthodoxen Gemeinde. Auch Nicola Neider, Bereichsleiterin Migration der Katholischen
Kirche Luzern, empfiehlt den Besuch
des Gottesdienstes wärmstens weiter.
«Wo sonst kann man vor der Haustür
so viel Exotik erleben?», fragt sie
schmunzelnd. «Es ist wie eine Reise, für
die man das Flugtickets spart.» Zugleich
warnt Neider alle Nachtschwärmer:
«Man braucht eine gute Ausdauer.»
NEM vergiften
das Leben
Ioan L. Jebelean
K
ürzlich habe ich einem Mann
– pensioniert, gut situiert, gesund – zugehört. Er hat sich über
eine junge Frau aufgeregt, die nach
einem anstrengenden Berufseinstieg
ihre erste grössere Urlaubsreise in
der Ferne geniesst. Ein klarer Fall
von NEM: Neid, Eifersucht, Missgunst. Ein Bündel von Gefühlen, die
wir nicht richtig einordnen können.
Gefühle, die automatisch ablaufen
und die wohl alle Menschen kennen.
MEIN THEMA
Der Ursprung von NEM liegt im
Vergleichen. Auch in der Bibel finden
wir Geschichten dazu. Die Schlange
rät den Menschen, vom Baum der
Erkenntnis zu essen: «Sobald ihr davon
esst, gehen euch die Augen auf; ihr
werdet wie Gott [...].» (Gen 3, 5) Der
Mensch will sein wie Gott. Er möchte, dass niemand besser dasteht als er
selber. Hier liegt das Gift von NEM.
NEM zerfressen unsere Beziehungen zu den Menschen, die wir beneiden. Wir können den anderen nicht
mehr unbefangen begegnen, müssen
heucheln. Auch die Beziehung zu uns
selbst wird vergiftet. Minderwertigkeitsgefühle werden vertieft, Stress
nimmt zu. Die Beziehung zu Gott
bröckelt ebenfalls, weil der Mensch
mit ihm hadert. Vertrauen in Gott wird
zu Misstrauen. Man hat das Gefühl,
dass Gott es nicht gut mit einem
meint. Man fühlt sich benachteiligt.
Wer kennt dieses Gefühl nicht? Was
können wir dagegen tun? Wir sollen
NEM erkennen und eingestehen. Wir
sollen Neid, Eifersucht und Missgunst
durch gesündere Emotionen ersetzen.
Durch Zufriedenheit und Dankbarkeit
für das, was wir sind und haben. So
könnte sich der aufgebrachte Mann
an seiner Gesundheit, Freizeit und
seinem Wohlstand erfreuen, statt
missgünstig zu sein. Jemandem etwas
gönnen, macht ihn und uns zu einem
liebenswerten Mitmenschen.
Ioan L. Jebelean, christkatholischer
Pfarrer in Luzern
Diese Kirche birgt eine ziemlich seltsame «Reliquie»
SCHONGAU Vor über 90
Jahren wurde der Grundstein
für die Pfarrkirche St. Ulrich
gelegt. Dieser hütet ein
kurioses Geheimnis.
Er hat für diese Kirche lange gekämpft und schussendlich gewonnen:
Pfarrer Franz Fessler. Dank seines Einsatzes darf die Kirche St. Ulrich in
Schongau dieses Jahr ihr 90-jähriges
Bestehen feiern.
«Der Neubau war nötig, denn die
alte Kirche war viel zu klein und die
Holzkonstruktion morsch», sagt der
heutige Pfarreileiter Christoph BeelerLongobardi. 1913 liess Pfarrer Fessler
darüber abstimmen, ob er sich den
Platz für die Kirche vom damaligen
Pfarrer von Weggis schenken lassen
dürfe. Die anwesenden Schongauer
sprachen sich fast einstimmig dafür
aus. Im Alleingang begann Pfarrer
Fessler, bei Verwandten und Freunden
Geld zu sammeln. Ganze 100 000 Franken brachte er zusammen. Damit kaufte er 300 000 Backsteine, die vergünstigt angeboten wurden. Diese transportierte er mit Hilfe verschiedener
Bauern bis zum vorgesehenen Bauplatz
im Zentrum von Mettmenschongau.
Bereits damals waren die Pläne für die
eine Statue des Namenspatrons St.
Ulrich aufgestellt werden. Die Gemeinde wollte dies jedoch vertagen. Fessler
befürchtete, dass die Statue nie eingesetzt würde, wenn man es nicht
sofort machte. Eine Statue gab es
schliesslich – aber keine von St. Ulrich,
sondern eine Marienstatue. Wie es
dazu kam, ist nicht bekannt. Die Figur
wurde nach Überlieferung von «Frauen und Jungfrauen» der Gemeinde
gespendet. «Das könnte ein Grund
sein», sagt Beeler.
Kirche fertig, sogar eine Postkarte der
zukünftigen Kirche existierte. Wegen
des Ersten Weltkriegs musste der Baustart allerdings verschoben werden.
Pfarrer nutzte sein Ansehen
1922 wurde der Bau endlich eingeleitet. Die Dorfbewohner spendeten
verschiedene Bestandteile der Kirche,
die mit einer Widmung versehen wurden. Besonders bei den Fenstern und
Bildern ist das noch immer gut sichtbar.
Dies war nicht die einzige Aktion, mit
der der Pfarrer günstig an Materialien
kommen wollte. Er hatte den Plan, ein
Waschhaus und eine Kapelle abzureissen, um das Baumaterial weiterzuverwenden. Die Schongauer konnten sich
jedoch dagegen wehren.
Im April 1923 wurde der Grundstein
gelegt. Für die nachfolgenden Generationen verstaute man darin wie üblich
Fotos und andere Zeitzeugnisse in
einem Apothekerglas – und ausserdem
Barthaare des Pfarrers. Jemand hatte
sich wohl einen Scherz erlaubt. Neben
der Kirche verlangte der Pfarrer ebenfalls die Errichtung eines Pfarrhauses.
Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. «Er
war ein angesehener Pfarrer. Das nutzte er aus», sagt Beeler. Wenn er kein
Pfarrhaus bekäme, würde er die Gemeinde verlassen, sagte damals Pfarrer
Fessler. In einer weiteren Angelegenheit
wollte er seinen Willen durchsetzen:
Über der Eingangstür der Kirche sollte
Alter Stil mit modernen Elementen
Pfarreileiter Christoph Beeler-Longobardi auf der
Empore der Kirche St. Ulrich in Schongau.
Bild Pius Amrein
Die Kirche St. Ulrich ist eine der
letzten im Kanton Luzern erbauten
neubarocken Kirchen, weist aber auch
moderne Elemente auf. So wurde sie
aus Backsteinen gebaut, der Turm ist
aus Beton. Das Kirchenschiff hat statt
eines hölzernen Dachstuhls ein Stahlgerüst, das gleich konstruiert ist wie das
einer Brücke: Auf der einen Seite ist es
fixiert, auf der anderen hat es Rollen,
sodass die Kirche nicht auseinanderbricht, wenn sich der Stahl durch Wärme ausdehnt. Auf Wunsch von Pfarrer
Fessler ist sogar das Ewige Licht moderner als in anderen Kirchen. Es ist
elektrisch. «Inzwischen haben wir aber
noch ein authentisches Ewiges Licht
angeschafft, um das Osterfeuer weiterbrennen zu lassen», so Beeler.
MANUELA LIEM