Disziplin in der Ausbildung «Es gibt keine Hierarchie mehr im Herzen der jungen Menschen» Disziplin und Lernverhalten der heutigen Lernenden haben sich grundlegend verändert. Das bestätigen viele Ausbildungsverantwortliche. Das kann zu Spannungen und zu Frustration im Berufsalltag führen. Soziologin Miriam Engelhardt zeigt auf, warum die Generationen so verschieden «ticken» und was Berufsund Praxisbildende beachten können. lernen eben zweckorientiert und setzen Prioritäten. Sie lernen dann, wenn sie den Stoff brauchen. Ihr Leben ist stark durch die neuen Medien geprägt. Sie «googeln» blitzschnell oder fragen blitzschnell jemanden. Sie sind zutiefst kommunikativ. INTERVIEW: PETER BRAND Frau Engelhardt, Sie sprachen kürzlich beim Kaufmännischen Verband Bern vor Berufs- und Praxisbildenden über die Disziplin in der Ausbildung von Lernenden. Das Thema beschäftigt ganz offensichtlich. Wo genau drückt der Schuh? Engelhardt: Die Berufs- und Praxisbildenden verlieren viel Energie, sind verärgert oder enttäuscht, wenn die Lernenden nicht so agieren, wie sie es erwarten. Das stelle ich in meinen Workshops immer wieder fest. Die ältere Generation erwartet, dass die Jungen so sind, wie sie selbst früher war. Punkto Disziplin und Kommunikation gibt es da aber grosse Unterschiede. Die jungen Menschen sprechen zum Beispiel die wichtigen Dinge schnell und ohne Umwege an. Im Vorstellungsgespräch thematisieren sie gleich mal die Ferien. Die ältere Generation stutzt dann und vermutet gleich, dass die Arbeitsmoral nicht die beste ist. Dabei ist den Jugendlichen einfach das Thema wichtig. Wo genau steht die junge Generation bezüglich Disziplin? Engelhardt: Disziplin fusst darauf, dass die Älteren sagen, wo es langgeht, und die Jüngeren sich danach richten. Dieses Hierarchiegefälle existiert nicht mehr. Wir reden immer von flachen Hierarchien. Wir müssen das korrigieren und vielmehr sagen: Es gibt keine Hierarchie mehr im Herzen der jungen Menschen. Sie finden sich komplett auf Augenhöhe mit allen, auch mit den Vorgesetzten. Und damit geben sie auch sofort die Antwort, die ihnen durch den Kopf geht. Wir Älteren fühlen uns frech behandelt. Wir wollen, dass die Lernenden unsere Vorgaben umsetzen Soziologin Miriam Engelhardt zvg und nicht noch vier oder fünf Rückfragen stellen. Weil der Gehorsam bei der älteren Generation tief sitzt? Engelhardt: Genau. Die Älteren haben Disziplin und Gehorsam gewissermassen mit der Muttermilch aufgesogen. Zum Teil wurde sie ihnen noch eingeprügelt. Sie haben zwar zum Teil die Welt verändert, wissen aber immer noch, was Hierarchie bedeutet und können sich einordnen. Die jungen Leute sind sehr verständnisorientiert erzogen worden. Sie durften bereits in jungen Jahren bei allem mitreden und verfügen daher über eine grosse Reife. Sie wollen tun, wovon sie überzeugt sind. Den klassischen Gehorsam kennen sie nicht mehr und sind damit der Prüfstein für jede Führungsperson: Man kann die Jungen gewinnen oder sie verlieren, aber man kann sie nicht befehligen. Inwiefern hat sich auch das Bildungsverständnis über die Generationen verändert? Engelhardt: Bildung ist für die ältere Generation enorm wichtig. Lernen heisst für sie, Ziele zu erreichen und sich Freiheiten zu erkämpfen. Noch heute ist diese Generation die am besten gebildete. Wollen die Jungen im Betrieb nun wissen, ob die gestellte Aufgabe für die Prüfung wichtig ist, stossen sie die Älteren vor den Kopf. Aber sie Diese Unterschiede können jede Menge Missverständnisse und Frustration auslösen. Wie können die Berufs- und Praxisbildenden mit solchen Situationen umgehen? Engelhardt: Ich muss die andere Seite verstehen, ihr genau zuhören. Dann kann ich entsprechend reagieren. Werde ich zum Beispiel pausenlos etwas gefragt, muss ich das klären und festlegen, wann nachgefragt werden kann. Ich muss die geltenden Regeln klar und freundlich kommunizieren und Grenzen setzen. Für diese Orientierung sind die Jungen sehr dankbar. Sie haben sich in so vielen Kreisen bewegt – hier im Kindergarten, dort bei der Mutter, am Mittwoch bei der Oma, am Wochenende vielleicht beim Papa. Überall waren die Regeln wieder anders. Überall durften sie ein wenig daran drehen. Sie sind Meister im Verhandeln von Regeln. Sie betonen die Wichtigkeit einer wohlwollenden Haltung – und zwar nicht nur den Lernenden, sondern auch sich und dem eigenen Fach gegenüber. Was genau ist gemeint? Engelhardt: Die Lernenden sind nicht im Tunnel der Tradition aufgewachsen, sondern abgeschossen in die Galaxie der unendlichen Möglichkeiten. Das ist wunderbar, denn die ganze Welt liegt ihnen zu Füssen. Die ständige Flexibilität kann aber auch bedrohlich werden. Das tiefe Lebensbedürfnis der Jungen ist daher, Anschluss zu finden. Die Berufs- und Praxisbildenden erlebe ich durchwegs als hoch engagiert. Sie lassen sich stark auf die Lernenden ein und investieren viel Kraft. Umso wichtiger ist, dass sie sich auch selbst stark machen. Die Jugendlichen reagieren stark auf die Überzeugung für den eigenen Beruf. Nichts ist für sie so ansteckend wie die Begeisterung für das eigene Fachgebiet. 2 / Juni 2015 Mehr: www.miriam-engelhardt.de Seite 3
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