Wachkoma-Patienten - Barbara Weinzierl

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Klangbrücken
Wachkoma-Patienten haben kein Bewusstsein – so die medizinische
Lehrbuchmeinung. Dennoch gelingt es Musiktherapeuten immer wieder,
| OBEN | Improvisierte
Gespräche: Auf jedes Signal
der Patientin reagiert die Musiktherapeutin mit
einer Veränderung in der Musik.
zu diesen Menschen vorzudringen.
Mit der Gitarre auf den Rücken geschnallt betritt DiplomMusiktherapeutin Barbara Weinzierl das Altenpflegeheim
im ländlichen Eggenstein-Leopoldshafen. Ihre Mission: Kontaktaufnahme zu einer Wachkoma-Patientin. Tordis Rossbach
ist seit ihrem Unfall vor sechs Jahren nicht wieder aufgewacht.
Die 48-Jährige galt als „austherapiert“. Regungslos liegt sie in
ihrem Bett, ihre Augen starren ins Leere.
„Guten Ta-ag, liebe Tordis, guten Ta-ag, halloo.“ Seit einem halben Jahr begrüßt die 28-Jährige ihre Patientin mit dem selben
Lied. Auch heute sieht sie, wie sich ein Lächeln über Tordis‘
Gesicht legt, als der letzte Ton des Stücks verhallt. „Sie hat
meine Begrüßung verstanden“, sagt Barbara Weinzierl. Einige
Sekunden lauscht sie dem Atemrhythmus ihrer Patientin, um
dann in diesem Takt einen Song anzuspielen.
Wortlose Dialoge
alverde 07/2011
„Früher hat Tordis immer begeistert zugehört, wenn ihr Mann
auf seiner Gitarre Bob Dylan oder Joan Baez spielte“, erinnert
sich Ursula Rossbach, die
Mutter der Patientin, an
die Zeiten vor dem Unfall.
Tordis Mann ist tot. Amerikanischer Folk erfüllt aber
auch heute das sonnige Zimmer im zweiten Stock des
Pflegeheims. Eine spontane
| LINKS | Barbara
Weinzierl
staunt immer wieder über die
Reaktionen ihrer Patientin.
Idee der Musiktherapeutin. „Die Begegnung mit einer Wachkoma-Patientin ist unplanbar“, sagt die studierte Musiktherapeutin. „Es geht nicht einfach um das Musizieren, sondern
darum, individuell auf die Patientin einzugehen und über die
Klänge ein Gespräch zu führen.“ Jede Reaktion von Tordis – und
wenn es nur eine tiefere Atmung, eine andere Blickrichtung oder
ein Gesichtsausdruck ist – greift sie auf. Ihre Antworten fallen
unterschiedlich aus. „Manchmal spiegele ich nur ihren Atem
durch meinen eigenen, andere Male verändere ich zum Beispiel
die Tonlage, um mich ihrer Stimmung anzupassen.“
Mitten im nächsten Lied begleitet Tordis plötzlich den Gesang
der Musiktherapeutin: Leise brummt sie die Melodie von „Bye,
bye love“ der Beatles mit und bringt Barbara Weinzierl damit
zum Strahlen. „Akustische Signale wie zum Beispiel ein rhythmisches Schmatzen habe ich von Tordis schon oft erhalten“, sagt
sie. „Das Brummen kam erst vor ein paar Wochen hinzu. Ich bin
jedes Mal ergriffen, wenn es passiert.“
Erst vor einigen Jahren haben Mediziner ein Nachfolgestadium
des Wachkomas definiert. Sie nennen es „Zustand minimalen
Bewusstseins“. Barbara Weinzierl ist sicher, dass sich viele der
so genannten Wachkoma-Patienten in dieser „Zwischenwelt“ befinden. „Die Reaktion der Menschen im Wachkoma auf Musik
gibt uns einen Hinweis auf ein vorhandenes Bewusstsein und
eine Wahrnehmungsfähigkeit.“ Dass Tordis sich verändert hat,
seit Barbara Weinzierl regelmäßig mit ihr musiziert, spürt auch
ihre Mutter. „Ihr körperlicher Zustand ist besser geworden
und sie schläft regelmäßiger“, erzählt sie. „Außerdem sind ihre
Reaktionen auf mich und ihren Vater stärker geworden.“ In den
ersten Jahren nach dem Unfall reagierte Tordis kaum auf ver-
traute Stimmen oder Berührungen. Es war ein Zufall, dass die
Mutter irgendwann entdeckte, dass Musik eine Brücke zur Seele
ihrer Tochter werden könnte. „Eine Bekannte, die im Pflegeheim
regelmäßig für ihre Großmutter Gitarre spielte und sang, kam
eines Tages auch zu Tordis“, erzählt die 80-Jährige. „Ich sah, wie
der Blick meiner Tochter plötzlich ruhiger wurde. Als sie dann
ihren Kopf drehte und lächelte, war ich zu Tränen gerührt.“
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Anstelle der Stille
Es sind die kleinen Erfolge, die in der Musiktherapie mit
schwersterkrankten Menschen zählen. Erst nach und nach
verändert sich die Qualität der Reaktionen, wird zum Beispiel
das Lächeln intensiver, kommt erstmals ein Blickkontakt zustande oder hält länger als noch ein paar Wochen zuvor. „Es
geht hier nicht um Heilung im engen Sinn, sondern darum, die
Lebensqualität dieser Menschen zu verbessern“, sagt Barbara
Weinzierl. Immer wieder hört sie von Fällen, bei denen KurzzeitWachkoma-Patienten nach einer intensiven Musiktherapie aufgewacht sind und wieder sprechen und sich bewegen lernten.
„Allerdings wird das immer unwahrscheinlicher, je mehr Zeit
nach einem Unfall vergangen ist.“ Sie hat kaum Hoffnung, dass
Tordis je wieder aufwacht. Dennoch wird sie wiederkommen –
mit ihrer Gitarre auf dem Rücken und einem Summen auf den
Lippen.
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