Chiara Theodossiou: Porträt Rebecca Watson (Joshua Reynolds) 1758 „Was siehst du, wenn du dich selbst betrachtest? Und was siehst du, wenn du mich betrachtest? Schau mich an. Schau genau nach. Siehst du die Nacht in meinen Augen oder die Todesblässe in einem Gesicht? Die Spuren des Mannes, der mich oft mit seiner Sense heimsuchte, um mir meine Familie zu nehmen? Siehst du in mir eine starke, selbstbewusste und reife Dame oder ein zerbrochenes, von Kraft entraubtes achtjähriges Mädchen? Schau hin. Ich weiß es nicht selbst. Meine Augen sind getrübt und getäuscht von meinen Erinnerungen. Scheint es nur, oder hat der Maler in meine Seele geblickt und sie offen für jeden dargelegt? Bin ich nun völlig von der Schwärze verschluckt oder siehst du einen Hauch Farbe in mir? Ein Zeichen des Lebens, der Hoffnung, des Glücks? Bin ich erstarrt in meinem Frust, steif und bleich wie die Puppen aus Porzellan, die Mutter mir einst zeigte? Die, welche man nur mit größter Vorsicht behandeln darf, damit sie nicht in kleinste Scherben zerbrechen, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Mein Name ist Rebecca. Rebecca Watson. Es gab eine Zeit, in der ich immer fröhlich war. Doch jetzt… Jetzt bin ich immerzu ernst. Gerade hier, in diesem Moment, betrachte ich eingehend das Gemälde in meinen Händen. Es ist ein Porträt, auf dem ich abgebildet sein soll. Joshua Reynolds, der Meister dieses Werkes, hatte mich eine ganze Zeit lang intensiv gemustert. Immer wieder musste ich zu ihm ins Atelier kommen, in meinem, von weißer Spitze besetztem Kleid und der Perlenkette. Es hatte einige Sitzungen gedauert bis das Porträt abgeschlossen worden war. Sechs Mal begab ich mich insgesamt zu ihm. Dort musste ich immer wieder wie eingefroren in genau der selben Haltung stehen wie bei den Malen zuvor, während der Meister der Kunst mir Geschichten von weit entfernten Orten, fremden Wesen und besonderen Kräften erzählte. Und nun kann ich mir auch diesen Zeitaufwand erklären; anstatt jedes einzelne Merkmal meines Äußeren zu studieren, ging er auf MICH ein. Auf mein Selbst. Auf das, was ich bin. Und deshalb frage ich dich ein weiteres Mal: Siehst du mich? Siehst du mein Selbst? Siehst du das, was ich bin? Und siehst du auch meinen Blick in die Ferne? Dieser Blick schaut in eine andere Welt. Eine Welt von Joshua Reynolds Geschichten. Eine weit entfernte Welt und eine weit entfernte Zukunft. An diesem Ort werde ich eines Tages glücklich sein. Ich weiß es. Ich muss nur ganz fest daran glauben. So werden Träume wahr. Und wenn auch du ganz fest daran glaubst, werden auch deine Träume eines Tages in Erfüllung gehen. Was siehst du nun, wenn du dich betrachtest? Und was siehst du, wenn du mich betrachtest? Schau mich an.“
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