Leseprobe La Verna

Das Kloster am heiligen Berg
Badia Prataglia und La Verna
B
adia Prataglia ist das Ziel des heutigen Tages.
Der Ort liegt nur sieben Kilometer von Camaldoli entfernt und so darf ich mich auf eine besonders kurze Tagesetappe freuen. Ich gönne mir den
Luxus, etwas länger zu schlafen, und mache mich nach
einem ausgedehnten Frühstück mit meinem Pilgerfreund
Toni gemeinsam auf den Weg. Nach einem steilen Aufstieg geht es recht gemütlich durch einen schönen Buchenwald. Das Ziel ist bald erreicht, Badia Prataglia ist
klein und überschaubar. Toni verabschiedet sich von mir,
er möchte weiter in den Ort Biforco gehen, der rund 15
Kilometer weiter auf dem Weg nach La Verna liegt. Toni
folgt der italienischen Variante des „Cammino di Francesco“. Dieser Weg wurde von der Stiftung „Collegium
Subsidio Peregrino“ ins Leben gerufen und unterscheidet sich etwas von meiner Route. Dennoch sollen wir am
nächsten Tag beide in La Verna eintreffen. Obwohl Toni
einige Kilometer mehr wandern muss, haben wir dasselbe
Tagesziel. Zunächst gilt es aber für mich, hier in Badia
Prataglia eine Unterkunft zu finden. Bei der Pension „Giardino“ angekommen, stehe ich zunächst vor verschlossenen Türen. In der Hoffnung, dass die Besitzer bald
wiederkommen mögen, setze ich mich auf eine Bank unweit des Eingangs. Nach nur wenigen Minuten bekomme
ich Gesellschaft, ein aufgeweckter Hund läuft mir freudig
wedelnd entgegen. Mein tierisches Empfangskomitee freut
sich sichtlich über meine Anwesenheit. Erst jetzt sehe ich,
dass der schwarz-weiße Mischling einen Tannenzapfen im
Maul trägt, erwartungsvoll legt er mir sein Spielzeug in den
Schoß. Der Kleine möchte offenbar spielen und hat sichtlich Spaß am Apportieren, mehrere Male werfe ich den
Tannenzapfen, den er brav immer wieder in meinen Schoß
legt. Schließlich kommt ein Mann über die Straße und
setzt sich zu mir, der Hund begrüßt ihn überschwänglich.
Der ältere Herr entpuppt sich nicht nur als Besitzer meines haarigen Spielgefährten, er ist auch der Hausherr des
Hotels und stellt sich als Sergio vor. Nach einem kurzen
Plausch führt er mich in mein Zimmer und erkundigt sich
nach meiner Lieblingsspeise, denn gerne würde er heute Abend für mich kochen. Nach einer warmen Dusche
schlendere ich noch ein wenig durch die Gassen von Badia Prataglia, bei meiner Rückkehr serviert Sergio einen
riesigen Teller herrlich duftender Spaghetti Bolognese und
leistet mir bei einem Glas Rotwein Gesellschaft. Heute bin
ich der einzige Gast, aber Sergio erzählt, dass besonders
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Oben: Weite Ausblicke auf dem Weg nach La Verna
Linke Seite: In der Pension Giardino leistet mir Sergio beim
Abendessen Gesellschaft. Am nächsten Tag begegne ich Wildschweinen auf der Etappe nach La Verna.
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im April und Mai viele Pilger bei ihm
übernachten würden. Einige von ihnen
würden den Franziskusweg unterschätzen, gilt er doch als deutlich beschwerlicher als der spanische Jakobsweg.
Besonders die nächsten Tagesetappen
hätten es in sich, warnt mich Sergio und
stellt mir augenzwinkernd die restliche
Flasche Rotwein als Geschenk des Hauses auf den Tisch, wünscht mir eine gute
Nacht und verabschiedet sich freundlich.
Am nächsten Morgen komme ich
nur schwer aus dem Bett, der Rotwein
hat seine Wirkung nicht verfehlt. Mit etwas schweren Beinen und brummendem
Kopf mache ich mich auf den Weg nach
La Verna, jenem Felsenkloster, in dem
Franz von Assisi die Wundmale Christi
erhalten haben soll. Die Etappe gehört
definitiv zu den anspruchsvolleren Abschnitten des Franziskusweges, es geht
auf 17 Kilometern rund 1000 Höhenmeter bergauf und fast 800 Höhenmeter
wieder bergab. Zunächst wandere ich
einen einsamen Feldweg entlang, gegen
acht Uhr erreiche ich eine Lichtung. Und
dann – leises Grunzen. Schnell packe
ich meine Filmkamera aus und gehe
leise weiter. Die Grunzlaute werden lauter und dann entdecke ich etwa fünfzig
Meter vor mir ein Wildschwein. Diesmal möchte ich mir die Chance, es vor
die Linse zu bekommen, nicht entgehen
lassen und schleiche mit eingeschalteter Kamera weiter vorwärts. Es tauchen
weitere Tiere auf, darunter auch drei
Frischlinge, die über den Weg huschen
Auf einsamen Waldwegen in Richtung La
Verna
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Das Franziskustau weist
den Weg zum Kloster.
und dann im Gebüsch verschwinden. Der Wind scheint
günstig zu stehen, denn weder die Kleinen noch ihre Elterntiere scheinen mich zu wittern. Fasziniert filme ich aus
etwa 30 Metern Entfernung weiter und überlege kurz, noch
etwas näher zu kommen, um bessere Bilder einzufangen.
Ein Gedanke, den ich rasch wieder verwerfe, zu eindringlich sind die Warnungen vor aggressiven Muttertieren, die
ihre Jungen schützen wollen. Zum Waidmann bin ich wohl
nicht geboren, steige ich doch ungeschickt auf einen Ast,
der laut knackend unter meinen Wanderschuhen zerbricht.
Im Nu nehmen die Wildschweine Reißaus.
Der Weg nach La Verna ist bestens ausgeschildert
und wunderschön. Die Ausblicke in die umliegenden
Täler und die herrlich frische Luft machen das Wandern
zu einem echten Vergnügen. Kleine gelbe Blumen am
Wegesrand verströmen einen herrlichen Duft und zaubern
schöne Farbtupfer ins satte Grün. Immer wieder mache
ich Halt, um die Natur zu genießen, aber auch um mich
auszuruhen, der Franziskusweg verlangt dem Wanderer
trotz seiner Schönheit hier einiges ab. Das ständige Auf
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und Ab im steilen Gelände ermüdet die Beine und lässt den
Rucksack noch ein wenig schwerer erscheinen als sonst.
Obwohl ich gut vorankomme und schön langsam meinen
Rhythmus gefunden zu haben scheine, bin ich nach gut sieben Stunden Gehzeit ziemlich erschöpft und hoffe, bald in
La Verna anzukommen.
Wenigstens entschädigt der bezaubernde Weg durch
den dichten Wald für die Mühen, moosbewachsene Findlinge flankieren den Pfad. Unweigerlich muss ich an die
Gemälde von Leonardo da Vinci denken. Dieser ganz besondere Grünton toskanischer Wälder findet sich in der
Farbpalette des Universalgenies wieder und ich glaube beinahe, jene Stelle entdeckt zu haben, die Leonardo als Vorbild für seine berühmte Madonna in der Felsengrotte gedient
haben könnte. Doch dann erregt eine andere Farbe meine
Aufmerksamkeit: Leuchtend gelb prangt ein Franziskustau
auf einem Baum vor mir, dieses Wegzeichen soll mir auf
meiner Wanderung immer wieder begegnen. Franz von Assisi verwendete das Tau als Segenszeichen und unterschrieb
auch seine Briefe auf diese Art. So wurde das Tau zu einem
wichtigen Erkennungszeichen der Franziskanerbewegung.
Bald rücken auch die Felsen und das darauf erbaute Kloster in mein Blickfeld, wie eine Festung thront La Verna auf
1100 Metern am Südwesthang des Monte Penna.
Das Kloster gilt als eine der bedeutendsten Wirkungsstätten des heiligen Franziskus. Nach einer Marienerscheinung soll er im Jahre 1216 hier mit dem Bau der Cappella
Santa Maria degli Angeli begonnen haben. Das Kloster
und die Basilika wurden ab 1348 errichtet. Unterhalb des
heutigen Klosters befindet sich jene Grotte, die Franziskus als Rückzugsort und Gebetsstätte gedient haben soll.
Kurz vor der Ankunft in La Verna verzaubert ein mystischer
Wald den Pilger.
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Das Kloster La Verna
thront auf einem Felsen
am Südwesthang des
Monte Penna.
Auch eine angebliche Kutte des Heiligen lässt sich hier
bewundern. Berühmt ist La Verna jedoch vor allem für die
Kapelle der heiligen Wundmale, die im Jahre 1263 an
jenem Ort errichtet wurde, an dem Franz von Assisi der
Legende nach seine Stigmata erhalten hat. Hier soll ihm
ein sechsflügeliger Engel in Gestalt des gekreuzigten Jesus
erschienen sein und göttliche Strahlen blutende Wunden an
Händen und Füßen hinterlassen haben. Auf dem Weg zur
Kapelle der Wundmale führt etwa auf halber Strecke rechts
eine Tür ins Freie und ein kurzer Pfad mündet in eine Steingrotte mit jenem Felsen, der den Aufzeichnungen zufolge
dem heiligen Franziskus als Ruhestätte gedient hat.
Der Besuch in La Verna erscheint mir wie eine Zeitreise, die gepflegte Anlage versetzt die zahlreichen Besucher mühelos zurück in die Vergangenheit. Sicherlich
tragen die mystischen Lichtstimmungen des umliegenden Waldes ebenfalls ihren Teil zum Zauber dieses Ortes bei. Während ich auf einer Klostermauer sitze und
die untergehende Sonne betrachte, komme ich mit
einem der Franziskaner ins Gespräch. Pietro erkun50
digt sich nach dem Verlauf meiner bisherigen Wanderung
und erzählt, dass Jahr für Jahr mehr Pilger auf dem Franziskusweg unterwegs sind. Er legt mir ans Herz, das Kloster
am frühen Morgen zu besuchen, denn kurz nach Sonnenaufgang, noch lange bevor die Tagestouristen in die Anlage kommen, würde La Verna seine besondere Energie
offenbaren. Er selbst wisse es sehr zu schätzen, hier wohnen
zu dürfen, fährt er fort, nicht umsonst hätte Franz von Assisi
La Verna seinerzeit als heiligen Ort bezeichnet. Mit dem
Versprechen, am nächsten Tag den Sonnenaufgang hier zu
erleben, verabschiede ich mich von Pietro und treffe kurz
darauf Toni wieder, der wie ich im Kloster Quartier beziehen will. Die Bettlager sind einfach, aber sehr sauber und
die Ruhe der Nacht lässt mich bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken.
PILGERTIPP:
Die Etappe nach Badia Prataglia ist sehr kurz und auch
leicht zu gehen. Nutzen Sie die frühe Ankunft in Badia Prataglia, um sich zu regenerieren, denn die folgende Etappe
nach La Verna ist besonders anstrengend. Die Schönheit
des Weges nach La Verna wird Sie aber für die Strapazen
mehr als entlohnen. Machen Sie sich früh auf den Weg und
freuen Sie sich auf spektakuläre Aussichten, duftende Blumenfelder und die Ankunft an einem der geschichtsträchtigsten Klöster Italiens.
La Verna ist eng mit der Geschichte des heiligen Franziskus
verbunden. Nach einer Marienerscheinung legte Franziskus
den Grundstein zum Bau der Cappella Santa Maria degli
Angeli (oben links).
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Die Kapelle der heiligen
Wundmale wurde an
jener Stelle errichtet, wo
Franziskus die Wundmale
Christi erhalten haben
soll. Die Kreuzigungsgruppe am Altar (1481)
ist die größte Keramikarbeit, die Andrea della
Robbia je ausgeführt hat.
Oben: Am späten Nachmittag in der Nähe von La
Verna
Links: Auf steilen Treppen gelangt man in jene Grotte,
in die sich Franziskus zum Gebet zurückgezogen hat.
Nächste Doppelseite: Auf dem Weg hinunter in den Ort
Chiusi della Verna bieten sich schöne Ausblicke auf
das Kloster.
Die Kutte des Franz von
Assisi in der Basilika von
La Verna
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