Schicksale in Büchern

Schicksale in Büchern
Biographien, Zaubersprüche, Hinrichtungen und ein alter Hahn
Von Hans Zotter
15. September 2015
Z
wei Fragen sind es, die bei Führungen junger Besucher oder bei Buch-Ausstellungen immer
wieder gestellt werden: Wie alt ist das Buch? Oder anders: Welches ist das älteste Buch hier
überhaupt? Und dann: Was kostet das? Auch die Reaktionen sind meist ähnlich: Unglauben
bei den Altersangaben, oder auch Unverständnis, der Umgang mit Jahrhunderten oder Jahrtausenden
will erst gelernt sein. Und Misstrauen ist immer gut: Ist das echt? Das ist wirklich eine Handschrift?
Wenn man exakte Preis- und Wertangaben verweigert, steigert sich dann meist die Insistenz der Nachfrage – denn alles hat ja einen Preis, nicht? Beide Fragen signalisieren die Unsicherheit vieler Menschen, wie sie die Objekte unseres Dokumentenerbes einschätzen sollen.
Mich bewegen andere Fragen und Antworten. Dass all die Bücher und Manuskripte Spuren von Menschen sind, Artefakte eben, dass es gilt, den Menschen hinter diesen Dokumenten näher zu kommen,
ist schon schwerer zu vermitteln. Nur wenn wir uns die Menschen vorstellen können, die all diese
Schriften und Bilder geschaffen haben, wenn wir deren Denken und Fühlen nachvollziehen können,
werden wir die Dimension Geschichte betreten können. Alles was wir wissen, ist Geschichte, ist bereits vergangen, wenn uns auch alle Gurus der Gegenwart beweisen wollen, sie würden die Zukunft
kennen.
Mittelalterliche Handschriften besitzen eine eigne Personality und unterscheiden sich in diesem Punkt
von den meisten anderen Medien. Diese Personality besteht aus ihrer Singularität, Individualität, ihrem künstlerischem Gehalt und ihrer historischen Wirkung. Diesen Begriff habe ich den fünf Grundkategorien Ranganatans, des Vaters der Facettenklassifikation, entnommen – Personality, Energy,
Matter, Space und Time. Diese Personality oder Individualität kann man auch bei frühen Drucken
erkennen, die im Laufe der Jahrhunderte individuelle Aspekte angenommen haben, durch ihre zusätzlichen Ausstattungen, durch ihre individuellen Einbände, aber vor allem durch Provenienzeinträge,
Exlibris, Notizen, Widmungen, Randbemerkungen, Annotationen verschiedenster Art aber auch durch
Gebrauchsspuren, Tilgungen und Zensurvermerke oder auch durch die vom Buchbinder verwendeten
Makulaturen. Auf den Spiegeln und Vorsätzen, auf den Titelblättern, an den Rändern der Textseiten
spielt es sich ab: es werden Personen und Schicksale sichtbar, die Wanderungen einzelner Bände und
ganzer Bibliotheken lassen sich nachzeichnen, Beziehungsgeflechte, die Kulturgeschichte ganzer Regionen. Hier nun ein paar Proben aus 40 Jahren Arbeit mit dem Bestand der Grazer UB.
Der Stolz der Bücherbesitzer manifestiert sich in Büchern des 15. und 16. Jahrhundert in unzähligen
Einträgen, oft ganzen Abfolgen von Eigentümern, die nacheinander ihre Namen, ihre Exlibris, eintrugen. Aber über den Besitzernamen hinaus wurden auch Schenkung oder Widmung, Erwerbsort und
Preis, häufig auch die Kosten für die Bindung vermerkt. Bei einem Koran, der Grazer Handschrift
1712 aus dem 17. Jahrhundert, steht vermerkt: dieses Buch ist Anno 1697 nach erhaltenem herrlichen
Victori von dem Erbfeind zu Zenta in Unterungarn von einem Mufti abgenommen worden. Im Inneren
des Koran finden sich verdächtige braune Flecke, angeblich das Blut des erschlagenen Mufti. Und in
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einem anderen christlichen Gebetbuch wird vor der Benützung gewarnt, weil es aus dem Nachlass
eines Pestkranken stamme.
So werden Beziehungsnetze sichtbar, oft tauchen Namen der Freunde und Mit-Studenten auf, werden
die leeren Blätter des Vorsatzes und des Spiegels zu Stammbüchern. Berühmte Professoren werden
um ein Autogramm und einen Sinnspruch bemüht, die als Andenken an die Studienzeit aufbewahrt
wurden. Da ist es nur ein kleiner Schritt zu ausführlichen biographischen Notizen, Karrieren werden
abgebildet, aber auch ganze Familienschicksale: Heiraten, Geburten, Todesfälle, bisweilen auch historische Ereignisse. Aber auch Briefe, zahlreiche Rezepte, Wundermittel und Zaubersprüche finden sich
neben ungezählten Federproben.
Bevor man eine frisch zugespitze Feder für ein wichtiges Dokument einsetzt, muss ausprobiert werden, ob der Tintenfluss den ästhetischen Erwartungen entspricht. Mit zwei, drei Worten irgendwo auf
einer freien Stelle, zum Beispiel hinten im Buch, wo es keiner sieht, wo es nicht stört. Fantasielose
schreiben tatsächlich nur probatio pennae hin, andere verwenden formelhafte Briefanfänge, Anredeformeln, bekannte Gebete, oder Liedanfänge. Auch ausgefallene Federproben finden sich. Die St.
Lambrechter Handschrift 258 hat einige Makulaturen als Vorsatzblätter vorgebunden, der alte Text
wurde radiert, um Platz für Notizen zu schaffen. Z. B. der Anfang des berühmten Pangrammes Gaza
frequens lybicos duxit - ein Pangramm ist eine Wort-Spielerei: man versucht einen Satz zu bilden in
dem alle 26 Buchstaben des Alphabets, mit möglichst wenig Wiederholungen vorkommen.
Bei dem Satz „Gaza frequens lybicos duxit Karthago triumphum“ brauchte der Erfinder allerdings 41
Buchstaben, verfehlte das Ziel von 23 also deutlich. Die Übersetzung der Zeile ist einigermaßen strittig, vielleicht: das reiche Karthago führte die Libyer zu Triumphen. In diversen Internetforen wird
über den Sinn der Zeile gemutmaßt. Beispiele für Pangramme in anderen Sprachen wären The quick
brown fox jumps over the lazy dog oder „Fix, Schwyz!“ quäkt Jürgen blöd vom Paß.
Manchmal erfährt man auch etwas über die Schicksale des Buches selbst. Der gewichtige Ephemeriden-Band des Cyprian Leovitius aus dem Jahr 1557 zeigt gleich viermal ein handschriftliches Exlibris
der Bibliothek des Erzherzogs Ferdinand. Ephemeriden verzeichnen Positionswerte sich bewegender
astronomischer Objekte, also Sonne, Mond, Planeten und Kometen für jeden Tag, meist für zwanzig
oder mehr Jahre im Voraus. Sie werden in Form von Tafelwerken oder Tabellen veröffentlicht. Diese
astronomischen Jahrbücher finden Verwendung in der Astronomie, Astrologie, für die Navigation in
der Seefahrt usw. Eines der frühesten Beispiele sind die Ephemeriden des Regiomontan, die 1474
gedruckt wurden und die Christoph Kolumbus auf seinen Entdeckungsfahrten benutzte.
Der Ephemeriden –Band des Leovitius, ein Folioband mit mehr als 1600 Seiten und entsprechenden
Gewicht, umfasst die Jahre 1556 bis 1606, war sicher nicht billig gewesen, dennoch wurde er wohl um
1590 aus der Hofbibliothek ausgeschieden. Die Gründe sind im Einzelnen nicht bekannt, aber eine
eifrige Hand schrieb mehrfach auf die Titelseite, dass der Verfasser ein Ketzer und das Buch verboten
und verdammt sei. Der französische Enzyklopädist Pierre Bayle berichtet in seinem Historischen und
kritischen Wörterbuch beim Lemma Cyprian Leovitius, dass dieser für das Jahr 1584 das Ende der
Welt vorhergesagt hätte, was ihm viel Kritik einbrachte, vor allem weil sie nicht unterging. Jedenfalls
wurde das Grazer Exemplar an das Jesuitenkolleg geschickt, mit der Bestimmung es auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Die große Grazer Bücherverbrennung vor dem Paulustor, bei der angeblich
10.000 protestantische Bücher verbrannt wurden, hinterließ ja so manche Spuren, so zum Beispiel in
Ross Kings Roman Exlibris (deutsch: Das Labyrinth der Welt); der Ephemeriden-Band jedenfalls war
nicht dabei, die Mathematik-Professoren der Jesuitenuniversität reservierten ihn für ihre eigenen Bedarf. Man ging also recht selektiv und bedacht bei der Auswahl der zu verbrennenden Bücher um,
denn die Jesuitenbibliothek bewahrte große Mengen der protestantischen Streitschriften auf, die bis
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heute erhalten blieben, vorwiegend die Erstausgaben und relativ wenige Doubletten. Nur bei den Bibelübersetzungen gibt es zahlreiche Mehrfachexemplare, man hatte vielleicht eine gewisse Scheu,
Bibeln zu verbrennen. All diese protestantischen Bücher verschwanden für Jahrhunderte aus der Öffentlichkeit, sie bekamen auch keine jesuitischen Bibliothekssignaturen, und blieben so wenig benützt
hervorragend erhalten bis zum heutigen Tag.
Auch die bereits erwähnten Ephemeriden des Regiomontan aus dem Jahr 1474, die Cyprian Leovitius
weiterführte, befinden sich im Grazer Bestand. Die Besitz-Provenienz dieser Inkunabel ist unklar, der
Einband weist jedenfalls auf einen Besitzer in Wien hin. Die handschriftlichen Einträge bestätigen das.
Zu dem Jahr 1503 notierte der Besitzer
Feria 6a ante Gregory sind zwen mörder gericht worden mit gluenden Zangen gerissen
ausgeslaepht und geredet, sein ungarn gewesen, und auf das rad aufgehanngen.
Feria 4ta 2a darnach auch zwen also gericht sein irgesellen gewesen ungrisch. Post Reminiscere Feria 4a darnach Ir gessellen ainen am pranger gestrichen. Feria 4a post Oculi abr zwen
gericht mit nam ainer der krewss der ander hanns Mist ain Mesner mit dem Stranng und
prannt auf dem Greyst pey der tuenaw.
Zum 12. Mai 1503: Feria 6a vor Seruacy sein v hawrer enthawpt worden von wegen ihres
muetwillen vnd fräuel so sy triben haben in der Statt auch auf den dorffern zu tobling vnd an
anndren ein, die iij sind von ob[e]rtoebling puertrig gewesen.
Zum 4. August 1503: Des tags sein zwen hawrer enthawpt worden von ain todslags wegen, so
si in der stat hie getan haben. Eodem die, ainem ain handt pey dem pranger abgeslagen uber
frafel so er getriben hat.
Das heute in Österreich in die Umgangssprache eingegangene rotwelsche Wort „Haberer“ ist wahrscheinlich hier zum ersten Mal schriftlich belegt. Leider hat der Verfasser seine Einträge bald wieder
aufgegeben, außer diesen Hinrichtungen verzeichnet er für einige Tage das jeweilige Wetter. Die Häufigkeit von Hinrichtungen war in Wien wahrscheinlich ziemlich hoch, wenn man die Eintragungen in
den etwa gleichzeitigen Schweizer Stadtchroniken zum Vergleich heranzieht.
Die Nöte eines Schülers illustriert ein längerer Eintrag auf dem Titelblatt einer Ausgabe von Vergils
Georgica, Köln 1510 aus der Seckauer Bibliothek. Auf der Titelseite finden sich merkwürdige Symbole und ein lateinischer Spruch, der übersetzt in etwa folgendermaßen lautet:
Wenn du bei allen wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten etwas fest im Gedächtnis behalten
möchtest, schreibe die unten aufgezeichneten 4 Symbole auf eine Bleitafel mit den drei Namen Magior,
Lepor, Zozor. Wenn du nun lernen möchtest halte die Tafel fest in der rechten Hand und lese den Text,
den du dir merken willst, siebenmal. Du wirst es nicht vergessen können, was du gelesen hast, auch
nicht im Schlafe und welche Schwierigkeiten du auch immer befürchtest. Es ist nämlich ein sicheres
Zeichen und Experiment und Geheimnis.
Offenbar hat es jemand ausprobiert, denn daneben steht die Notiz : ist alles falsch
Auf den Nachsatzblättern einer Ausgabe von Valerius Cordus: Pharmacorum conficiendorum ratio,
Nürnberg 1551 findet sich die Kopie eines Briefes. Das Buch des Cordus war das erste verbindliche
Dispensatorium, ein Vorläufer des deutschen Arzneibuches. Ein gewisser Andreas Puchner kopierte
einen Brief des Jorg von Widebach aus dem Jahr 1564.
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Mein freundlich Dienst vnd alles guts zuvohr. Erbarer vnd wol genemher besonder guter
freundt, dem nach Ich euch vnlangest vertrostung gethan ewrem lieben weibe ein Augen salben zuschicken, das ich euch aber damit verzogen, ist die ursach, das mein weib zu dem allen,
so dazu gehort so schwerlich kommen konnte
Derwegen vbersende ich euch obgemelte salben hiemit. Die soll eure Hausfraw also gebrauchen: Nemet eine halben Erbeiss gross der salben, und giesset weiss Rosenwasser ein acht
oder neun tropfflein drauff, last es in einem kleinen zinen geschirlein stehen.
Und wen sie schlaffen gehen will. so last sie es wol umbrüren vnd in iedes auge ein Tropfflein
thun, vnd zu morgents dergleichen ehe sie auffstehet. Das sie nicht so bald an die lufft gehet.
Es peisset // nicht sehr, so bald das wasser aus den augen gehet, ist es vergangen, vnd wen die
augen beginnen zu schweren oder zu zupe ...en, so ist es ein gute zuversicht der besserung.
Es hat viel leute so wasserfehl vnd sonst bose geseht gehebt, negst Gott geholffen.
Der allmechtig barmherzig Gott gebe seines segen, das es auch wol gerate hiemit thue Ich
euch sampt ewrem lieben weib in Gottes schutz und schirm befohlen.
Über die Ingredienzien dieser famosen Augensalbe hüllt sich der Verfasser in Schweigen, nur dass sie
nicht besonders brennen wird, wenn erst einmal die Tränen fließen. In Grimms Wörterbuch jedenfalls
wird „wasserfehl“ als wasserfell, als Wucherung der Bindehaut des Augapfels interpretiert. Dass der
Brief kopiert wurde, scheint auf ein großes Zutrauen zur Wirksamkeit der Salbe hinzuweisen . . . Rezepte für Augenbeschwerden finden sich in den Grazer Büchern immer wieder, offenbar besteht eine
Affinität zwischen eifrigem Lesen und schwachen Augen.
Auch ganze Biographien wurden in Bücher eingetragen. So schrieb der Seckauer Probst Leonhard
Arnberger sein bewegtes Leben gleich mehrfach in verschiedene Seckauer Bücher. Er kaufte sich
1543 eine von Erasmus von Rotterdam herausgegebene Ausgabe des Kirchenvaters Origenes, die von
Froben in Zürich 1536 gedruckt wurde.
Im Jahre des Heils 1492 wurde Leonhard Arnberger im Untertal von Neustift, nahe der Stadt
Brixen geboren. Sein Vater ist Erasmus, ein Bayer, seine Mutter Diemut aus dem Etschtale.
1499 lernte ich die Elemente (Anfangsgründe) im Kloster Neustift. Darauf starb im selben
Jahr der Vater und im folgenden Jahr die Mutter, das war 1500. So hielt ich mich bei den
Lehrern bis 1505 auf.
In diesem Jahr kam ich auch hierher in den Ort Seckau und war der Diener des Herrn Sebastian, der im Jahre 1506 am Tage des Papstes Gregor verstarb. Etwa um das Fest der göttlichen Jungfrau Margarethe ging ich wieder fort und kam in die Stadt Braunau zu Sebald Moraber. Darauf im Jahre 1509 . . . und kam wiederum nach Seckau und trat in den Orden ein
am Tag der Hl. Magdalena unter Propst Johannes Dürrenberger und etwa um das Fest des
Hl. Michael im gleichen Jahr war ich Accolyt. Im Jahre 1510 am Tag des Hl. Vincenz starb
der Propst und der Dekan wurde zum Propst Gregor [Schärdinger] am Sontag Iubilate. Im
selben Jahr leistete ich meine Profess und im Jahre 1511 wurde in Angaria Xlme zum Subdiakon geweiht.
Darauf im Jahre 1514 in Angaria Michaelis wurde ich zum Diakon geweiht.
Darauf im Jahre 1517 wurde ich (Pfarrer) in Schonsperg. Im Jahre 1521 wurde ich zum Küchenmeister ernannt, 1523 wurde ich Pfarrer in Muetmansdorff. Und 1528 in Kobentz.
Darauf 1541 wurde ich unwürdiger Erwählter für das Amt des Propstes dieses Klosters . . .
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Die Idee zu einer Autobiographie hat Arnberger wohl von seinem Vorgänger Propst Johannes Dürrenberger übernommen, der in sein Brevier (heute in der UB Graz Ms. 1656) über seine Herkunft und
Karriere berichtete und auch einen kleinen Nekrolog der zu seiner Amtszeit verstorbenen Kanoniker
hinzufügte. Offenbar erbte Arnberger das Brevier und trug ebenfalls seine Kurzbiographie und die
Namen verstorbener Kanoniker ein. Diese Autobiographie ist allerdings wesentlich kürzer als die eben
zitierte in der Origenes-Ausgabe. Da beide Biographien mit dem Jahr 1541 enden, dem Jahr in dem er
zum Propst ernannt wurde, kann man wohl vermuten dass sie etwa um die gleiche Zeit angelegt wurden. Arnberger starb 1560.
Arnberger war ein eifriger Leser und so finden sich in mehreren Seckauer Handschriften die Eintragung: Leonardus Plastes dictus Arnberger hunc librum legit. In mindestens 17 Handschriften ist Arnberger mit seinen Lesenotizen und Anmerkungen zu finden, in etlichen Büchern erscheint auch ein
gemaltes Wappenexlibris Arnbergers. Auffallend ist der Beiname, den sich Arnberger wohl selber
gab: Plastes, Künstler, Former. Das hat Benno Roth, den Chronisten Seckaus, dazu gebracht, in Arnberger den Maler des St. Mareiner Flügelalters zu sehen, auch wegen der Stilbezüge zu südtiroler
Künstlern. Über die bewegten Jugendjahre nach 1506 schweigt sich Arnberger ja ziemlich aus, es gibt
in seiner Autobiographie auch keinerlei Hinweis auf künstlerische Arbeiten – ausgenommen eben
jener merkwürdige Beiname. Nicht nur in den Handschriften, sondern auch in verschiedenen Seckauer
Inkunabeln finden sich Arnbergers Spuren, die seine intensive Lektüre belegen. In einem Vocabularius
von Reuchlin aus dem Jahr 1491 findet sich der interessante lateinische Eintrag: Im Jahre 1556 am 13.
August übernahm ich von Hern Rainer acht Ellen Seide, eine Elle zu 28 Gulden. Weiters gefärbtes
Leinen, 4 ganze Ellen. Seidenfäden eine halbe Unze, für 1 Gulden. Und dann auf Deutsch: Ich wolt,
das schon zalt wär. Eine andere Hand schrieb dann noch dazu: Es ist zalt.
Der Schreiber der lateinischen Notiz ist ohne Zweifel Leonhard Arnberger; ob es sich bei den teuren
Einkäufen um Künstlerbedarf handelte? 1556 war er schon seit 15 Jahren Probst und für die Finanzen
des Stiftes zuständig. Probst und Künstler zugleich? Eine weitere Spur findet sich in den Büchern aus
der sogenannten Scheit-Bibliothek. Mathias Scheit war Bischof von Seckau, resignierte als solcher
1502, lebte aber noch bis 1512. Er hinterließ eine umfangreiche Bibliothek, die nunmehr zerstreut ist,
in Graz lassen sich noch 7 Inkunabeln nachweisen. In einer, einem vierbändigen Rechtslexikon von
Guilelmus Duranti von 1478 finden sich das Wappen-Exlibris des Bischofs und der Lese-Eintrag Arnbergers aus dem Jahr 1540. Auffallend an den Bänden der Scheit-Bibliothek ist Bildschmuck, der von
einem Maler oder Rubrikator nachträglich eingetragen wurde. Die Federzeichnung im zweiten Band
ist sicher deutlich jünger und passt in die Zeit Arnbergers. Die auffallende Qualität des Dekors der
vielen Lombarden weist auf einen überdurchschnittlichen Könner hin, keineswegs auf einen gewöhnlichen Rubrikator. Hatte hier Arnberger seine Hand im Spiel? Ist die künstlerische Ausgestaltung der
Inkunabeln des Mathias Scheit – zumindest teilweise – ihm zuzuordnen?
Eine Gruppe von Büchern weist besonders viele Einträge ein: Bücher, die Studenten von ihren Studienorten z. B. Wittenberg, zurück in ihre steirische Heimat brachten. So hat der Friedrich von Holleneck 1558 von einem seiner Reisebegleiter, einem gewissen Johannes Diener, eine Ausgabe von Philipp Melanchthons Loci praecipui theologici geschenkt bekommen. Der Band bekam einen wertvollen
weißen Ledereinband mit Goldprägung und punziertem Goldschnitt; die beiden vergoldeten Plattenstempel vorne und hinten zeigen Luther und Melanchthon. Auf dem Vorderspiegel eingeklebt, findet
sich ein Aquarell mit dem Porträt Melanchthons, laut handschriftlicher Widmung ein Werk des bekannten Malers Lukas Cranach. Als Schenker des Aquarells unterfertigte sich ein gewisser Ios. de
Pinu, über den weiter nichts bekannt ist. Natürlich darf man die Zuschreibung der Malerei nur so verstehen, dass es sich um ein Produkt der ergiebigen Cranachwerkstätte handelt, die in dieser Zeit Tausende von Bildern von Luther und Melanchthon produzierte. Leider hat sich das Bleiweiß des Inkarnats durch die wässrigen Bindemittel in dunkles Bleisulfid verändert, ein bekanntes Phänomen.
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Neben den Namen aus dem Jahr 1558 trugen sich etwa 10 Jahre später zahlreiche steirische adelige
Personen, Männer und Frauen, auf den Vorsatzseiten ein: Kuenburg, David Ungnad von Sonneck,
Mordax, Trautmannsdorff, Kainach, Neuhaus, Holleneck, Lembsitz, Ruprecht von Eggenberg, damals
um die 20, später erfolgreicher Feldherr, der in dem bekannten Mausoleum in Ehrenhausen begraben
wurde, Rosenberg, Ragnitz, Teufenbach, Eibiswald. Die Einträge liegen zeitlich ziemlich nahe beisammen, vielleicht wurden sie bei einer Gelegenheit gemacht, bei der alle diese genannten Personen
zusammengekommen waren. Manche schrieben auch noch ihr Motto dazu, z. B. Ruprecht von Eggenberg: Bösser dich!
Ein vergleichbares Studentenandenken ist die Handschriften-Signatur 1709. Es handelt sich bei diesem
Objekt nicht um eine Handschrift, sondern um eine Folge von Holzschnitten, die der berühmtberüchtigte Verleger Sigmund Feyerabend 1571 in Frankfurt unter dem Titel Icones Novi Testamenti
herausbrachte. Die Holzschnitte stammen von dem bedeutenden Künstler Jost Amman, dessen Ständebuch wohlbekannt ist. Als Besitzer ist schon außen auf dem Einband Johann Jakob von Steinach zu
erkennen, dessen goldene Initialen mit der Jahreszahl 1582 noch schwach lesbar sind. Der prächtige
Einband zeigt auf der Vorderseite vertieft eine kolorierte Plattenprägung darstellend Luther in Ganzfigur, hinten sein Gegenstück Melanchthon. Ursprünglich von vier roten Bändern verschlossen zeigt der
Band deutlichen Album-Charakter. Offenbar von Anfang an als Stammbuch konzipiert, ließ Steinach
das Exemplar vom Buchbinder mit zahlreichen leeren Blättern durchschießen. Auf diesen leeren Blättern sammelte er 1582 zahlreiche Einträge von Studienkollegen und Professoren in Wittenberg und
Rostock, in einer zweiten Sammelphase trugen sich in Neuburg an der Donau und in Lauingen 1616
weitere Personen ein.
Unter den vielen Namen fallen etliche gleich ins Auge: so der des David Chytraeus, dem fünffachen
Rektor in Rostock, der die Kirchenagenda für die protestantischen Landstände in Niederösterreich,
und 1574 auch für die Steiermark und Innerösterreich verfasste. Ein Johannes Bugenhagen findet sich,
aber es ist sicher der jüngere dieses Namens, der Sohn von Johannes Bugenhagen Pomeranus, Weggefährte und Beichtvater Luthers. Als letztes Blatt und gewissermaßen als Höhepunkt findet sich ein
Autograph Philipp Melanchthons, der allerdings schon 1560 verstorben war. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich, dass es sich um ein nachträglich eingeklebtes Blatt handelt. Man muss sich wohl
vorstellen, dass es 20 Jahre nach dem Tod des Reformators einen schwunghaften Handel mit seinen
Autographen in Wittenberg gab und dass der betuchte Johann Jakob von Steinach zuschlug.
Was Johann Jakob von Steinach gerade 1616/1617 in Neuburg und in Lauingen machte, ist unklar – es
ist das Jahr in dem in diesen Städten die Gegenreformation durchgeführt wurde.
Auch wenn in den beiden genannten Bänden jegliche Hinweise auf die Jesuitenbibliothek fehlen, kann
man wohl annehmen, dass sie bei den Bücherkonfiskationen in ihren Besitz kamen. Das dritte Stück,
dass hier erwähnt werden soll, ist ein numismatisch-historisches Nachschlagewerk eines gewissen
Guillaume Rouillé, das in Lyon 1553 erschien. Ein Wiener Kleriker namens Athanasius Magnus erwarb es zu einem unbekannten Zeitpunkt. Ob damals schon die beiden Einträge bekannter Reformatoren auf dem Spiegel des Bandes vorhanden waren, ist nicht bekannt. Jedenfalls haben Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen Pomeranus sich mit Epigrammen 1556 verewigt, letzterer am 24.
September. Aus dem Besitz des Athanasius Magnus kamen die Bücher ins steirische Zisterzienserkloster Neuberg, und von dort nach Graz. Die Kombination von numismatischen Personenlexikon aus
Frankreich, katholischem Kleriker als Besitzer und Reformatoren-Einträgen wirkt rätselhaft und harrt
noch einer näheren Aufklärung.
Als letztes möchte ich eine Vesalius Ausgabe mit einem langen kuriosen Eintrag vorstellen. Andrea
Vesalius begründete die neuzeitliche Anatomie und brachte den ersten anatomischen Atlas mit über
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200 zum Teil ganzseitigen Holzschnitten 1543 bei Oporinus in Basel heraus. Die zweite Auflage von
1555 mit der Typographie des Claude Garamond gilt als Meisterwerk der europäischen Buchkunst.
Ein Exemplar dieser zweiten Auflage schenkte zum Beispiel der Abt von Admont,Valentin Abell 1585
der neugegründeten Grazer Jesuiten-Universität und ließ dafür den berühmten Titelholzschnitt kolorieren.
Ein Exemplar der ersten Ausgabe 1543 kam über die Bibliothek des anatomischen Instituts der Grazer
Universität in den Besitz der UB. Es handelt sich wohl um einen Ankauf aus dem Antiquariat, jedenfalls können wir über die Herkunft des Objekts nur feststellen, dass sich ein Rupertus Laymann als
Besitzer eintrug. Auf der letzten Nachsatzseite findet sich die Abschrift eines langen Briefes, den ein
Wilhelm Land an Victorinus Strigelius 1578 schrieb. Der bekannte lutherische Theologe gleichen
Namens starb allerdings bereits 1569, so dass es sich bei dem Adressaten um einen Nachkommen
gleichen Namens handeln muss. Der Brief ist schlecht leserlich und schon ziemlich blass, daher fasse
ich ihn hier kurz zusammen:
Hochgelahrter lieber getreuer, was wir bisher für ein fabel werk gehalten haben, was man von einem
Basilisco sagt, nämlich dass derselbige aus einem von einem Hahn gelegten Ei geboren werde.
Nun mögen wir euch gnedig nicht verhalten zu anzeigen, dass uns gestern unser Hauptmann Simon
berichtete, dass ihm ein Hahn geschenkt worden wäre, ziemlich groß, schon älter, dass er auch nur
mehr aufs Nest fliegen konnte. Der Gärtner, welcher den Hahn in Aufsicht und Verwahrung gehabt
habe zu ihm gekommen wäre, das derselbige alte Hahn den ganzen Morgen 6 Stunden brav auf dem
Nest gesessen und wie ein Huhn, das da legen wolle, gegackert habe. Endlich sei er vom Nest gelauffen und der Gärtner hätte das gelegte ei bekommen und dem Hauptmann bracht. Es wäre kugelrund
gewesen, so groß wie ein Hühnerei, es war glatt als wäre es poliert. Der Hauptmann war erschrocken
und hett das Ei verbrannt und den Hahn in zwei Stücke zerreißen lassen und beide Teile den auf der
Brucken liegenden Wachthunden vor werffen lassen. Der eine Hund hätte nichts von dem Hahn gefressen, der andere sei aber von Stund an umgefallen und gestorben.
Ob wol aus solchem Ei, wenn es ganz geblieben sei und ausgebrütet worden, euers Erachten ein Basiliscus hette werden dürfen? Uns verdrießet es sehr übel, dass er so bald den Hahnen so schnell umbringen lassen, denn vermutlich hätten man den lapis auri davon erhalten können . . .
datum 19 September 78
Auf die Sage vom Basilisken trifft man bei Plinius, bei Hildegard von Bingen und im zoologischen
Werk des Ulisse Aldrovandi. Dort findet man die Version vom Ei eines alten Hahns, das von einer
Kröte ausgebrütet werden muss; der Basilisk wiederum steht in der Alchemie für den Stein der Weisen, mit dem man durch Berührung unedle Metall zu Gold verwandeln könne.
So treffen sich in dem damals bahnbrechenden medizinischen Werk des Vesalius Moderne und mittelalterliche Gruselgeschichten und Monster, die bis heute bei Harry Potter, Hägar dem Schrecklichen
und in den Scheibenwelten-Romanen fröhliche Urstände feiern.
Dieses Referat hat sie hoffentlich nicht nur unterhalten, sondern auch den Wert der historischen Provenienz-Forschung dargelegt. Die Synthese der Informationen, die in den individuellen Einbänden, in
den zahllosen handschriftlichen Einträgen und bisweilen auch in den noch sichtbaren Makulaturen
finden lassen, können im Idealfall ganze, verzweigte Geschichten erzählen, uns die Besitzer und Nutzer der Bücherschätze unserer Bibliotheken näherbringen, sie vor unserem geistigen Auge wieder zum
Leben erwecken. Das Ziel der Provenienzforschung ist nicht bloß das Herbeischaffen weiterer Metadaten, sondern das Formulieren eines neuen wissenschaftlichen Narrativs, der den historischen Objekten einen dauerhaft nachvollziehbaren Wert verleiht.