Laudatio Karl-Buchrucker Preis 2016 am 14. März 2016 Maria Gerhard: „Familienglück auf Umwegen“ Erschienen am 10. Februar 2015 im Münchner Merkur Vor einiger Zeit, liebe Gäste unserer Preisverleihung, habe ich einmal eine Laudatio auf den damaligen Preisträger mit dem folgenden Satz beendet: „Ich ganz persönlich freue mich sehr, dass ich einen Kollegen auszeichnen darf, der aus einer Redaktion kommt, die nicht zu den hier in München üblichen Preisverdächtigen gehört, wie die Süddeutsche Zeitung oder der Bayerische Rundfunk.“ Warum die Erinnerung an diesen Schlusssatz? Erstens ist er heute Abend hochaktuell. Und zweitens: Damals wie heute ist es mir ein wichtiges Anliegen bei der Arbeit in Jurys wie der des Buchrucker-Preises: Dass wir die hervorragende Arbeit von jungen Journalistinnen und Journalisten würdigen, die nicht, ich sage es bewusst mal etwas überspitzt, jene traumhaften Bedingungen haben, unter denen dann oft großartige journalistische Arbeiten entstehen – wir erleben das ja auch heute Abend wieder. Ohne die Leistung dieser Kolleginnen und Kollegen aus den großen überregionalen Zeitungen und Zeitschriften und den öffentlich-rechtlichen Sendern auch nur im Geringsten schmälern zu wollen: Natürlich profitieren sie auch von diesen guten Bedingungen – was ich ihnen von Herzen gönne. Umso wichtiger ist es aber, diejenigen Journalistinnen und Journalisten nicht aus den Augen zu verlieren, die in einem kleinen Team unter hohem Zeitdruck arbeiten; die sich nicht nur als Edelfedern ausleben können, sondern tagtäglich auch das Blatt machen müssen: das Tagespensum planen, öde Termine wahrnehmen, andere Texte redigieren, Seiten gestalten. Und die eine langwierige Recherche manchmal nur in ihrer Freizeit realisieren können, weil sie während der regulären Arbeitszeit nicht dazu kommen. Es ist der gleiche Gedanke, den einmal im Zusammenhang mit der Diskussion um den HenriNannen-Preis – den wohl bedeutendsten Preis für Printjournalisten – der Medienjournalist Oliver Gehrs geäußert hat. „Der Henri-Nannen-Preis“, sagte Gehrs, „wird ja auch oft sehr dafür kritisiert, dass dort immer dieselben Leute und Magazine prämiert werden. Da sitzt (in der Jury) ein kleiner Klüngel von renommierten Magazin-Redakteuren beisammen und schiebt sich gegenseitig die Preise zu. Es sind immer wieder dieselben, immer wieder Geo, immer wieder der Spiegel, oft die Süddeutsche. Andere kommen gar nicht zum Zuge…“ So ein Klüngel sitzt nicht zusammen, wenn die Jury des Karl-Buchrucker-Preises tagt. Und das ist gut so. Und es macht mich froh, dass bei uns eben auch diese „Anderen“ zum Zug kommen. Nicht, weil sie einen Bonus bekämen, sondern weil sie ein überdurchschnittlich gutes Stück eingereicht haben – wie in diesem Jahr Maria Gerhard. Das war jetzt ein ziemlich langer Anlauf zu Ihnen, liebe Frau Gerhard, und zu Ihrer Geschichte mit dem Titel „Familienglück auf Umwegen“, die vor einem guten Jahr auf der Seite 3, der Blickpunkt-Seite, des Münchner Merkurs erschienen ist. Ihnen ist ein Text gelungen, für den Sie die Jury heute mit dem Förderpreis des Buchrucker-Preises 2015 auszeichnet. 2 Lesen wir einfach einmal hinein in diese Geschichte. So fängt sie an: „Kleine Kinderhände tasten vorsichtig unters Bettlaken: Luisa, damals zweieinhalb Jahre alt, steht am Ehebett ihrer neuen Pflegeeltern. Sie heißen Sabina und Bernd Maier. Luisa will kuscheln, aber die Kleine hat Angst. Sie hat Angst, dass ihre Eltern über Nacht verschwinden – einfach so. Denn das ist Luisa schon ein paar Mal passiert. Plötzlich waren ihre Eltern weg. Luisa war zuvor bei zehn verschiedenen Familien in Kurzzeitpflege.“ Zehn verschiedene Familien in zweieinhalb Jahren. Eine nüchterne Feststellung. Und doch denke ich sofort an meine drei Enkelkinder, wie sie an ihrer Mutter und ihrem Vater hängen. Es mag Ihnen, liebe Zuhörer, ähnlich gehen. „Luisa war zuvor bei zehn verschiedenen Familien in Kurzzeitpflege.“ Der Satz ist charakteristisch für dieses Stück von Maria Gerhard: Die Autorin erzählt in einer ganz ruhigen, manchmal fast nachrichtlichen, doch zugleich farbigen und lebendigen Sprache die Geschichte dieses inzwischen siebenjährigen Mädchens. Kurze, einprägsame Sätze: „Die ersten Jahre ihres Lebens gleichen einem Puzzle. Kurzzeitpflege folgt auf Kurzzeitpflege.“ Da wird nie verbal auf die Tränendrüse gedrückt, und doch sind wir Leser nah dabei, sind angerührt, können mitfühlen mit dem Kind und ihren Pflegeeltern. Und können uns mitfreuen, dass Luisa nun seit fünf Jahren mit Eltern zusammen lebt, die sie „Mama“ und „Papa“ nennt, obwohl sie nicht die leibliche Mutter oder der leibliche Vater sind. „Familienglück auf Umwegen“ ist keine der Friede-Freude-Eierkuchen-Geschichten, wie sie uns gerade bei Sozialreportagen, in denen es um Kinder geht, immer wieder begegnen. Maria Gerhard spart die Schwierigkeiten nicht aus, wenn sie uns am Beispiel von Luisa das Thema „Pflegeeltern auf Zeit“ nahebringt – ein Thema, von dem wir, die wir keine Profis der Sozialarbeit sind, wohl oft wenig Ahnung haben oder gar keine. So ging es jedenfalls mir. Was wusste ich schon von Kurzzeit- oder Langzeitpflege für Kinder! Für viele, denen es wie mir gehen mag, ist dieser Text von Maria Gerhard nicht nur ein Lese-, sondern auch ein Lernstück: Wir erfahren von den vielfältigen Gründen, aus denen sich leibliche Eltern nicht länger um ihre Kinder kümmern können: „Erkrankung, Suchtabhängigkeit, physische und psychische Gewalt oder Vernachlässigung“. „Im Fall von Luisa“, schreibt, Maria Gerhard, „hat die leibliche Mutter psychosomatische Störungen. Über den Vater ist nicht viel bekannt.“ Wir ahnen während der Lektüre, dass da oft auch viel Sozialarbeiter-Engagement im Spiel ist. Und dass auch so mancher Behördenfrust zu überwinden ist, wenn wir in schönster Bürokratensprache lesen, „die Zahl notwendiger Unterbringungen“ sei „in den letzten Jahren stetig gestiegen“. Wir erleben mit, wie kompliziert es war (und ist), Begegnungen Luisas mit ihrer leiblichen Mutter zu arrangieren. Wir lernen die Initiative „Eltern auf Zeit“ kennen, die im Frühjahr 2014 gegründet wurde und die sich darum bemüht, längerfristig mehr Pflegeeltern zu gewinnen. Und die, um Erfolg zu haben, sicher dringend solche Veröffentlichungen in den Medien braucht wie Maria Gerhards Beitrag im Münchner Merkur. Maria Gerhard ist 28 Jahre alt und eine Oberfränkin, geboren in Kronach. Sie hat nach Realschulabschluss und Abitur an der Uni Bamberg Politologie studiert. Mit dem Bachelor in 3 der Tasche hat sie beim Münchner Merkur volontiert, schwerpunktmäßig in der Starnberger Lokalredaktion. Nach einigen Monaten freier Arbeit in München, auch für den Merkur, hat sie im vergangenen Oktober in Reutlingen an der renommierten ZeitenspiegelReportageschule angeheuert, um, so sagt sie, noch mehr darüber zu erfahren und intensiver zu lernen, wie man gute Reportagen schreibt. Auf Luisa und die Maiers, die im wahren Leben anders heißen, ist sie über die Initiative „Eltern auf Zeit“ gestoßen. Die Maiers, übrigens, haben „sich ein Jahr lang auf ihre Aufgabe als künftige Eltern vorbereitet“. Dann endlich der Tag, auf den sie so lange hingearbeitet haben. Maria Gerhard beschreibt das so: „Als Luisa kommt, steht schließlich alles für sie bereit. Zur Begrüßung liegt auf ihrem Bett eine weiße Robbe namens ‚Robbie‘. Von diesem Tag an sind Robben Luisas Lieblingstiere. Sei kleben an ihrer Wand als Poster oder kommen in ihren Kinderbüchern vor. ‚Robbie‘, jetzt nicht mehr ganz so weiß, sondern jahrelang durchgekuschelt, liegt immer neben Luisa, wenn sie einschläft. Mit ‚Robbie‘ im Arm hat sie keine Angst mehr, dass ihre Eltern plötzlich wieder verschwinden könnten.“ Ja, so geht sie, die Geschichte von Luisa, ihren Pflegeeltern und wie das „Familienglück auf Umwegen“ zu den Dreien kam. Man legt die Zeitungsseite weg und denkt: Genau – so muss sie sein, die bestens gelungene Lokalreportage. Ein Thema von gesellschaftlicher Relevanz, geschrieben in einer flüssigen, abwechslungsreichen Sprache, perfekt gebaut mit dem Wechsel von gut beobachteten Szenen und allgemeinen Informationen, spannend bis zum Schluss. Kurz: Bestes journalistisches Handwerk. Ganz herzlichen Glückwunsch zum Buchrucker-Förderpreis, liebe Frau Gerhard, vielen Dank für diese Reportage und alles Gute für die Zukunft! Ulrich Brenner
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