________________________ Hessischer Rundfunk hr-iNFO Redaktion: Dr. Regina Oehler Wissenswert Wie wissenschaftlich ist Naturheilkunde? Ein Gespräch mit Professor Gustav Dobos Sprecherin: Dr. Regina Oehler Sprecher: Prof. Dr. Gustav Dobos Sendung: 29.11.15, hr-iNFO Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Anmoderation: Bei Patientinnen und Patienten beliebt, von der Wissenschaft nicht ernst genommen: Das galt bis vor ein paar Jahren für viele Spielarten der Naturheilkunde. Aber das hat sich geändert. Renommierte Universitäten richten Lehrstühle für Naturheilkunde ein, in den USA fließen viele öffentliche Gelder in Forschungsprojekte zu ihrer Wirksamkeit. In führenden Fachzeitschiften, wie der „Nature“, werden gerade heftige Debatten darüber geführt, wie man umgehen sollte mit Methoden der Naturheilkunde, die bis jetzt nicht in das Repertoire einer akademischen Medizin gehören. Wie wissenschaftlich ist Naturheilkunde und welche Rolle kann und soll sie spielen in der Medizin, in der Versorgung von kranken Menschen? Ich habe darüber mit dem Inhaber des ersten Lehrstuhls für Naturheilkunde an einer deutschen Universität gesprochen, mit Prof. Gustav Dobos. Er lehrt seit 2004 Naturheilkunde an der Universität Duisburg-Essen auf einem Lehrstuhl der Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Er ist Direktor der Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin an der Universität Essen und er ist der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Naturheilkunde. 2 Oehler: Prof. Gustav Dobos, Naturheilkunde - ich bleibe immer so ein bisschen an diesem Begriff hängen. Heilt nicht immer die Natur letztendlich? Dobos: Letztendlich heilt die Natur. Es gibt ja von Voltaire den Satz: Die Aufgabe des Arztes ist es, den Patienten zu unterhalten, bis die Natur ihn heilt. Aber in manchen Fällen ist es natürlich auch sinnvoll, anders zu behandeln, also mit westlichen Mitteln, mit moderner Biomedizin, um dann eben letztendlich dem Körper die Heilung zu erleichtern. Wohingegen die Naturheilkunde als solche teilweise andere Praktiken hat. Da steht eben die Selbstheilung im Vordergrund. Und durch unterschiedliche Therapieverfahren sollen eben Reize auf den Körper ausgeübt werden, die wiederum dazu führen, dass eine wie auch immer geartete Selbstheilung aktiviert wird. Oehler: Naturheilkunde, das klingt auch immer ein bisschen wie ein altmodischer Sammelbegriff. Wie definieren Sie „Naturheilkunde“? Was gehört für Sie zur Naturheilkunde dazu? Dobos: Ja, das ist eine lange diskutierte Frage. Es gibt unterschiedliche Begriffe von Naturheilkunde. Wir bewegen uns in dem Bereich zwischen „Naturheilkunde“ und „Komplementärmedizin“. 3 Und definitionsgemäß zählen bei uns dazu die klassischen naturheilkundlichen Verfahren nach Kneipp: Ernährung, Bewegung, Hydrotherapie, Phytotherapie und Ordnungstherapie. Das sind jetzt für viele sehr antiquierte, alte Begriffe, die aber in vielen Fällen ihre Berechtigung haben. Vor allem die Ordnungstherapie, die eben bei uns in einer modernen Form praktiziert wird, in der so genannten MindBody-Medizin oder Lebensstilveränderung. Die hat in vielen Fällen doch einen wichtigen Stellenwert im Heilungsprozess. Und dann zählen andere Therapieverfahren wie zum Beispiel Verfahren aus der traditionellen chinesischen Medizin oder seit einigen Jahren auch die indische Medizin, zu den naturheilkundlichen, komplementärmedizinischen Verfahren, wobei nach Möglichkeit die Verfahren auch wissenschaftlich geprüft sein sollten, also evidenzbasiert sein sollten. Und ein weiterer Bereich sind die ausleitenden Verfahren, das ist auch ein antiquierter Begriff. Dazu zählt zum Beispiel das Fasten oder die Neuraltherapie oder die Blutegel-Therapie. Das sind so ganz antiquierte, alte Therapien. Blutegel sind die ältesten noch lebenden Tiere, sind 500 Millionen Jahre alt. Aber sie beinhalten schmerzlindernde Substanzen in ihrem Speichel, die zum Beispiel bei Kniegelenksarthrose-Schmerzen die wirksamsten schmerzlindernden Substanzen überhaupt darstellen. 4 Oehler: Ausleitende Therapien, da steckt so diese Vorstellung dahinter, dass was aus dem Körper raus muss? Dobos: Genau, das ist ein humoralpathologischer Begriff, der ist sehr antiquiert. Aber definitionsgemäß haben wir den einfach beibehalten. Die Verfahren selber wie Fasten usw. sind recht gut wissenschaftlich untersucht. Vor allem die BlutegelTherapie ist sehr gut untersucht. Oehler: Und nochmal, weil ich denke, das sind auch Begriffe, mit denen viele Menschen jetzt nicht sofort etwas anfangen können. Ordnungstherapie – was verstehen Sie darunter? Dobos: Also, die Ordnungstherapie ist natürlich jeweils von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Der Begriff stammt übrigens nicht von Kneipp, er wurde ihm im Nachhinein in den Mund gelegt – zu Kneipps Zeiten verstand man darunter etwas anderes: Die Einheit, die Harmonie mit der Welt und Gott wurde darunter verstanden. Oehler: Dass in meinem Leben sozusagen alles seine Ordnung hat… Dobos: Dass alles seine Ordnung hat letztendlich, das Leben in Ordnung bringen, abhängig von den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Umständen. 5 Als wir uns mit dem Konzept intensiv beschäftigt haben, haben wir uns entschieden, eine amerikanische Version, die so genannte Mind-Body-Medizin, schwerpunktmäßig zu praktizieren und die Begrifflichkeit auch so zu wählen, weil gerade diese Mind-Body-Medizin an verschiedenen amerikanischen Hochschulen, zum Beispiel an der Harvard Medical School, sehr gut untersucht ist oder damals auch schon war. Und wir uns deswegen auch auf gute Daten verlassen konnten. Mind-Body-Medizin könnte man am besten definieren als einen subjektiven Umgang mit Stress oder Belastungssituationen des Patienten, kombiniert mit einer Form der LebensstilVeränderung. D.h., dass der Patient sich von seinem Lebensstil her so verhält, dass die Wahrscheinlichkeit einer Selbstheilung erhöht wird. Und die Stressbewältigung spielt bei ganz vielen Erkrankungen eine wichtige Rolle. Nehmen Sie zum Beispiel Migräne oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen. In vielen Fällen triggern ganz bestimmte Situationen den Krankheitsprozess oder Patienten geraten durch chronische Erkrankungen in chronische Stresssituationen. Und da hilft es, wenn man in die Lage versetzt wird, die rein physiologischen Reaktionen des Körpers mit Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol doch so positiv zu beeinflussen, dass man nicht in eine Spirale gerät und dann 6 quasi in eine Hilflosigkeit. Und sich dadurch dann eben auch die Krankheit verstärken kann. Oehler: Prof. Gustav Dobos, Sie sind dieses Jahr 60 geworden. Sie haben sich schon als Student interessiert für chinesische Medizin. Sie haben sogar während Ihres Studiums in Peking Akupunktur gelernt. Was hat Sie so früh daran fasziniert? Dobos: Das ist vielleicht eine ganz nette Geschichte: Ich hatte mich mit – ja, wie alt war ich… - 25, 26 in eine junge Frau verliebt, und die hat mir, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, gesagt, dass sie ein 2-jähriges Stipendium in China hatte. Das war in Freiburg. Und die einzige Möglichkeit, eben nicht getrennt zu sein, war eben, dass ich mitkomme. (…) Das war 1983 kurz nach Maos Tod. Zu der Zeit war es noch relativ ungewohnt oder ungewöhnlich, dass Ausländer einfach mal nach China gehen konnten. Sie hat sich dann ein Visum besorgt und eine Ausbildungsmöglichkeit. Und dann war ich ein halbes Jahr dort und habe doch sehr viel kennengelernt. Das war sehr spannend für mich, ich war ja damals Medizinstudent, und bin dabei geblieben die letzten 33 Jahre. So aus einem kam das nächste. Und heute haben wir zum Beispiel eine Abteilung für chinesische Medizin, wir haben viel Kontakt nach China, haben chinesische Ärzte, aber auch Ärzte aus Indien. Und daraus hat 7 sich das entwickelt letztendlich. Und mit der jungen Frau, in die ich mich damals verliebt habe, bin ich noch immer verheiratet. Oehler: Und Sie sind immer noch bei chinesischer Medizin geblieben. Sie waren dann lange Jahre Arzt am Universitäts-Klinikum in Freiburg, Oberarzt dort, Facharzt für Nephrologie und haben sich habilitiert über „Molekulare Analyse der Signaltransduktion in humanen neutrophilen Granulozyten“. Das klingt jetzt noch nicht sehr naturheilkundlich. Das klingt mehr nach einem molekularbiologischen Interesse, das Sie da umgetrieben hat. Dobos: Genau, das klingt jetzt noch nicht sehr naturheilkundlich. Aber ich habe damals schon parallel zu meiner konventionellen Ausbildung – ich bin ja Internist, Nierenspezialist und Arzt für Intensivmedizin, ich kenne also die Schulmedizin oder die Apparate-Medizin sehr gut. Und ich kenne die Vorzüge und ich weiß, wann sie sinnvoll eingesetzt werden kann. Aber ich kenne auch die Schattenseiten und bin in meiner klinischen Ausbildung in Freiburg häufig mit Patienten auch in Kontakt gekommen, denen man dann nicht weiterhelfen konnte. Und daraus ist dann auch mein noch stärkeres Interesse entstanden, zusätzlich etwas zu lernen und zusätzlich Methoden anzuwenden, aus dem Bereich der Naturheilkunde, mit denen man den Patienten helfen kann. 8 Und zur damaligen Zeit, das war 1993, war es noch relativ schwierig oder undenkbar, mit einem naturheilkundlichen Thema an einer deutschen Universitätsklinik zu reüssieren. Kollegen, die das versucht haben, sind gescheitert. Heute ist das anders. Heute hat die Universitätsklinik in Freiburg eine Abteilung für Naturheilkunde, verschiedene, sehr renommierte Universitäten, wie die Charité, Hamburg-Eppendorf, die Münchner Universitätsklinik, die Essener Universitätsklinik, Erlangen, Zürich jetzt auch, haben Lehrstühle für Naturheilkunde. Es ist auch immer normaler, auch im Bereich Naturheilkunde zu habilitieren. Bei mir haben jetzt in den letzten Jahren zwei Mitarbeiter habilitiert. Jetzt werden demnächst noch weitere Mitarbeiter habilitieren. Etwa vierzig haben promoviert. Also mittlerweile hat sich das alles normalisiert, aber vor zwanzig Jahren wäre es relativ undenkbar gewesen, wenn ich meinem Chef damals erzählt hätte, ich wollte mich auf Naturheilkunde spezialisieren. Oehler: Was sind die Herausforderungen eines Lehrstuhls für Naturheilkunde? Dobos: Gut, das sind verschiedene Schwierigkeiten. Das Schwierigste ist wahrscheinlich die finanzielle Seite. Es gibt keinerlei oder sehr wenige pharmazeutischen Firmen, die die Möglichkeit haben, naturheilkundliche Präparate wissenschaftlich zu 9 untersuchen. Es gibt einige wenige, die das machen. Im Gegensatz zur konventionellen Medizin, da gibt es eben sehr große Budgets für Medikamentenforschung. Dann ist es relativ schwierig, auch an öffentliche Fördermittel zu kommen, also DFG [Deutsche Forschungsgesellschaft], BMWF [Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung], also die eigentlich dafür verantwortlich wären. Also, es ist relativ schwierig, im Bereich Naturheilkunde auch dort Projekte zu lancieren. Und daher sind wir schwerpunktmäßig auf die Unterstützung von visionären Stiftern angewiesen. Das ist so die finanzielle Seite. Und die andere Seite ist natürlich, dass wir, wie in der evidenzbasierten Medizin eben auch erwartet und gefordert, dass wir häufig oder auch schwerpunktmäßig kontrolliert-randomisierte Studien durchführen. Und da ist natürlich auch das Problem mit der Kontrolle, mit der Kontrollgruppe. Nehmen Sie die Blutegel-Therapie: Im Idealfall würde man unterschiedliche Blutegel verwenden. Einmal Blutegel, die intakt sind, und auf der anderen Seite transgene Blutegel, also Knock-out-Blutegel, bei denen bestimmte Gene ausgeschaltet sind, um dann genau festzustellen, was wirksam ist. Das ist technisch natürlich extrem schwierig, vor allem bei der geringen Finanzierungsmöglichkeit. Deswegen ist es dann immer schwierig, eine entsprechende Kontrollgruppe für eine Blutegel-Therapie zu finden, weil natürlich ein Blutegel als archaische Therapie auch einen hohen Placebo-Wert hat. Von 10 daher sind wir darauf angewiesen, auch indirekt nachzuweisen, dass die Wirksamkeit tatsächlich von den jeweiligen Therapien kommt. Also das ist auch ein gewisses Problem in der naturheilkundlichen Forschung, dass die Kontrollgruppen relativ schwierig placebo-kontrolliert durchzuführen sind. Oehler: Und dann muss es auch noch doppel-blind sein, also die Versuchsleiter dürfen also nicht wissen, bekommt jetzt mein Patient ein Placebo oder bekommt er das Medikament. Dobos: Das ist methodisch manchmal etwas schwierig. Aber z. B. bei der Yoga-Studie, wir haben eine ganze Reihe zu Yoga-Studien durchgeführt, da ist es mittlerweile schon ganz gut möglich, dass man dann vergleichende Therapien nimmt. Und Yoga ist zum Beispiel eine sehr etablierte Therapieform. Oehler: Und was macht man da als Kontrollgruppe? Yoga-Übungen? Dobos: Gut, man macht etwa einfache Dehnübungen oder gymnastische Übungen, die eben nicht einer kompletten YogaÜbung entsprechen. Yoga hilft bei Rückenschmerzen, (…) wir wenden es auch häufig bei unseren Brustkrebspatientinnen an. Da ist es zum Beispiel sehr wirksam zur Angstlösung und zur psychischen Stabilisierung. 11 Oehler: Und Sie sagten ja auch, Blutegel-Therapien sind wirksam. Wie hat man da das Kontrollgruppen-Problem tatsächlich gelöst? Dobos: Ja, es gibt unterschiedliche Modelle. Wir hatten in einer unserer Studien in einer Gruppe hatten wir die Blutegel-Gruppe und in der anderen Gruppe hatten wir einfach ein DiclofenacGel. Und da hat sich ein deutlicher Unterschied gezeigt. Es wurde auch gut publiziert in den „Annuals of internal medicine“, also einer der höchstrangigsten medizinischen Zeitschriften. Aber im Editorial hat dann natürlich der Reviewer kritisiert, dass keine adäquate Kontrolle da gewesen wäre. Es gibt eine andere Untersuchung von der Universitätsklinik in Aachen. Die haben eine Sichtkontrolle aufgebaut und haben dem Patienten aus einer nassen Mullbinde etwas gebastelt und ihn dann auch gestochen, so dass es sich auch angefühlt hat wie eine Blutegel-Therapie. Aber man hat dann bei den Befragungen herausgefunden, dass die Patienten das doch gemerkt haben. Und damit war es auch keine adäquate Kontrolle. Es ist einfach schwierig, dabei entsprechende Kontrollen zu finden. Aber trotzdem: Die Studien, die wir bisher durchgeführt haben, sind so überzeugend von der Wirksamkeit. Und wir haben Patienten, die sagen, sie sind komplett schmerzfrei nach einer einmaligen Behandlung. Und die Schmerzfreiheit hält auch über Monate an. Und indirekt kann man dann auch schon daraus schließen, dass es eher kein 12 ausschließlicher Placebo-Effekt ist, obwohl Placebo-Effekte natürlich immer mit eine Rolle spielen. Aber man muss natürlich auch bei den konventionellen Medikamenten davon ausgehen, dass Placebo-Effekte eine Rolle spielen. Also von daher ist es methodisch hoch anspruchsvoll die unterschiedlichen Therapien. Wir haben erst kürzlich eine Studie durchgeführt, die am Anfang so ein bisschen banal klang, und zwar Kniegelenksarthrose-Schmerz haben wir mit Kohlblättern behandelt. Einfach Wirsing-Kohl. Der Strunk wird herausgeschnitten und der Kohl wird platt gewälzt. Dann legt man mehrere Schichten über das Kniegelenk, legt einen lockeren Verband drum und belässt das über Nacht. Die Wirksamkeit war verblüffend, die Wirksamkeit war vergleichbar mit der Standard-Therapie mit Diclofenac. Jetzt werden wir eine nächste Studie durchführen, da werden wir unterschiedliche Blätter miteinander vergleichen, Kohlblätter und Salatblätter, und das Witzige daran war: Die Doktorandin hat sich dann für den Poster-Preis beworben an der Uni Essen. Und wir dachten noch, naja, ob das das Richtige ist. Und sie hat prompt den Poster-Preis bekommen für die methodisch am besten durchgeführte Methode. Und das ist ein altes Hausmittel, das ist genauso wirksam wie die StandardTherapie mit Diclofenac-Gel, macht keine Nebenwirkungen, wenn man nicht gerade gegen Kohl allergisch ist, und viele, 13 gerade ältere Damen, ältere Patientinnen sind ganz begeistert davon. Oehler: Es gibt ja auch eine ganz spannende Studie, wo Sie beteiligt waren, wo es um die Linderung von Nebenwirkungen von Chemotherapien bei Krebskrankheiten geht, wo Studien dann zeigen, sagen Sie, Prof. Dobos, dass die Abbruchquote von Patienten und Patientinnen, die unter den Nebenwirkungen von Chemotherapien leiden, geringer ist, wenn sie da zusätzlich noch naturheilkundlich unterstützt werden. Dobos: Genau. Wir sind seit mittlerweile sechs Jahren in der Forschung der integrativen Onkologie aktiv. Wir haben an den Kliniken Essen-Mitte zusammen mit unserem Brustkrebsexperten, Dr. Kümmel, und dem Experten für Unterleibskrebs, Prof. Dubois, haben wir eine Abteilung aufgebaut, die zusätzlich neben der sehr guten lege artis schulmedizinischen Behandlung Patientinnen/Patienten eben auch in der Onkologie zusätzlich naturheilkundlich behandelt. Vor dem Hintergrund, dass Nebenwirkungen der konventionellen Therapien – der Chemotherapie, der antihormonellen Therapie, der Operation – zu lindern, sie körperlich zu stabilisieren. Und vor allem auch, sie seelisch zu stabilisieren, weil gerade Krebspatienten gestresst sind. Sie haben Angst. Sie haben Angst vor jeder Kontrolluntersuchung, 14 ob der Krebs wiederkommt. Manche sind auch deprimiert. Und gerade da kann man den Patienten sehr gut helfen. Und das Spannende ist, dass wir jetzt durch moderne Untersuchungsmethoden immer besser nachweisen können, wie wirksam auch solche naturheilkundlichen Therapien sind für die Patienten. Nehmen Sie zum Beispiel Brustkrebs. Da gibt es häufig Nebenwirkungen der anti-hormonellen Therapie, die Hitzewallungen oder manche anti-hormonelle Therapien verursachen Gelenkschmerzen. Und in bis zu 40 Prozent aller Fälle brechen Patientinnen diese Therapie vorzeitig ab aufgrund dieser Nebenwirkungen. Durch zum Beispiel Akupunktur und andere Therapien können wir diese Nebenwirkungen deutlich reduzieren mit der Konsequenz, dass diese Patientinnen die Therapien weiter fortsetzen. Und das ist eben das Besondere an unserem Ansatz, dass wir nicht sagen, keine konventionelle Therapie. Sondern wir versuchen gemeinsam mit unseren konventionell arbeitenden Kollegen, die Patienten so zu stabilisieren, dass nach Möglichkeit eine lege artis Therapie durchgeführt werden kann, was in vielen Fällen sonst nicht möglich ist. Oehler: Sie vergleichen ja auch einen solchen integrativen Ansatz mit Mehrsprachigkeit in der Medizin. Das finde ich ein schönes Bild. 15 Dobos: Ja, das ist ganz spannend. Ich habe, als ich vor zwanzig Jahren angefangen habe, systematische Therapien aufgelistet. Und plötzlich gab es für die gleiche Krankheit nicht nur eine konventionelle Therapie, sondern plötzlich auch drei oder vier naturheilkundliche Therapien, die teilweise auch sinnvoll waren, die teilweise auch vergleichbar waren mit den konventionellen Therapien. Zur damaligen Zeit, also vor zwanzig Jahren, gab es natürlich wenige Studien, die sind jetzt erst in den letzten Jahren erfolgt. Unter anderen eben durch das amerikanische Forschungsinstitut NIH, National Institute of Health, das mit über 100 Millionen Dollar pro Jahr naturheilkundliche Forschung fördern und eine Vielzahl von Studien schon abgeschlossen haben, die gezeigt haben, welche Therapien wirksam und vor allem auch nebenwirkungsfrei oder –arm sind. Oehler: Und Sie wenden sich ja eben ganz scharf gegen die Vorstellung, nur auf alternative Behandlungsmethoden zu setzen. Also, das ist nicht das, was Sie für vertretbar halten. Dobos: Genau, wir machen also keine Alternativmedizin, sondern eine so genannte integrative Medizin, das heißt, wir machen beides kombiniert, um für den Patienten den größten Benefit zu erreichen. 16 Oehler: Viele Ihrer Patientinnen und Patienten leiden nicht nur unter einer Krankheit, sondern sind, was im Mediziner-Jargon heißt multi-morbid, also haben viele Probleme gleichzeitig. Intuitiv würde ich sagen, so ein ganzheitlicher Ansatz ist da ganz besonders sinnvoll und gleichzeitig denke ich auch wiederum, wenn Sie diesen forschungsorientierten Ansatz haben, wie wollen Sie da Menschen mit ganz unterschiedlichen Krankheitsgeschichten zusammenfassen in Gruppen? Oder wie wollen Sie untersuchen, welche Behandlungskombination bei so einer spezifischen Krankheitskombination sinnvoll und wirksam ist? Dobos: Da haben Sie Recht, Frau Oehler, das ist extrem schwierig. Und wir kennen ja mittlerweile den Begriff der evidenz-basierten Medizin, der kontrolliert-randomisierten Studie, also bei der nach Möglichkeit der Patient mit einer Erkrankung in einem ganz bestimmten Alter mit einer ganz bestimmten Therapie behandelt werden soll. Das ist so die konventionelle Methode. Oehler: Und in der Vergleichsgruppe sitzen eben Menschen in genau demselben Alter und mit genau derselben Erkrankung, die anders behandelt werden. Dobos: Ja, genau. Und das ist im Prinzip der Goldstandard in der Forschung. Und genau diese Patienten, diese multimorbiden 17 Patienten, fallen da heraus, weil es ganz viele Ausschlusskriterien gibt. Aber letztendlich sind die multimorbiden Patienten die Patienten, die der Arzt sieht. Und bei manchen Erkrankungen ist es so, dass nur einer von hundert die Kriterien erfüllt, um überhaupt an dieser Studie teilzunehmen. Oehler: …, weil er nur diese eine hat. Dobos: Also, das ist extrem schwierig in der konventionellen Medizin, das ist es auch in der integrativen Medizin und in der Naturheilkunde. Aber, was interessant sein wird, ist, dass genau diese Patienten, die multimorbiden Patienten, die Patienten der Zukunft sein werden. Weil die Menschen immer älter werden und die häufigsten Erkrankungen, die aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung entstehen werden, sind eben Schmerzen und Depressionen. Und bei den Schmerzen sind es hauptsächlich Rückenschmerzen oder Kniegelenksschmerzen. Wir haben eine Arbeitsgruppe bei uns, die sich schwerpunktmäßig mit Leitlinien und der Erstellung von Metaanalysen beschäftigt. Oehler: Also die Auswertung von Studien … 18 Dobos: Genau, Metaanalysen sind die Auswertungen von Studien. Also: Von hundert Studien werden die zehn besten, die nach bestimmten Kriterien durchgeführt wurden, ausgewählt und dann eben ausgewertet, um am Schluss sagen zu können: Diese Therapie ist wirksam oder ist nicht wirksam. Und wir führen momentan eine Auswertung durch mit der Frage, wie wirksam die naturheilkundlichen Therapien für Rückenschmerzen, für Kniegelenkschmerzen und für Depressionen sind. Wir sind im Prinzip fertig, müssen nur noch einige Vergleiche durchführen. Momentan kann man sagen, dass für die meisten Patienten naturheilkundliche Therapien mindestens so wirksam sind wie konventionelle, Leitlinien orientierte Therapien für Rückenschmerzen, für Kniegelenksarthrose und auch für mittelgradige Depressionen. Also ganz spannende Ergebnisse. Und was ich damit sagen möchte: Dass gerade vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft naturheilkundliche Therapien immer wichtiger werden, weil die Nebenwirkungsrate bei gleicher Wirksamkeit deutliche geringer ist. Und viele Patienten, die mit Rheumamitteln behandelt werden, mit Diclofenac oder mit Ibuprofen, entwickeln Nebenwirkungen: Magenprobleme, Nierenprobleme. Durch naturheilkundliche Therapien kann man ähnliche Effekte erzielen, allerdings in der Regel mit weniger Nebenwirkungen. 19 Daher bin ich davon überzeugt, dass die naturheilkundlichen Therapien im Sinne einer integrativen Medizin, also die Kombination aus Schulmedizin und Naturheilkunde, beides eben auf wissenschaftlicher Basis, gerade in Zukunft einen extremen Aufschwung erleben werden. Weil Patienten kränker werden und wir auch von der ökonomischen Seite her gezwungen sind, Behandlungen durchzuführen, die nach Möglichkeit der hohen Nebenwirkungsrate keine zusätzlichen Kosten verursachen. Abmoderation: In hr-iNFO-Wissenswert hörten Sie heute ein Gespräch mit Prof. Gustav Dobos, der an der Universität Duisburg-Essen Naturheilkunde lehrt. Den Podcast zur Sendung finden Sie wie immer unter hr-inforadio.de. Mein Name ist Regina Oehler. 20 Literaturtipps: Prof. Dr. med. Gustav Dobos: Chronische Krankheiten natürlich behandeln – mein erfolgreiches Therapiekonzept. Verlag Zabert Sandmann, München 2012 ISBN: 978-3-98983-326-3; 19,95 Euro Prof. Dr. med. Gustav Dobos, Dr. Sherko Kümmel: Gemeinsam gegen den Krebs – Naturheilkunde und Onkologie – Zwei Ärzte für eine menschliche Medizin. Verlag Zabert Sandmann, München 2011 ISBN: 978-3-89883-265-6; 24,95 Euro 21
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