Die globale EY-Organisation im Überblick Die globale EY-Organisation ist einer der Marktführer in der Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung, Transaktionsberatung und Managementberatung. Mit unserer Erfahrung, unserem Wissen und unseren Leistungen stärken wir weltweit das Vertrauen in die Wirtschaft und die Finanzmärkte. Dafür sind wir bestens gerüstet: mit hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern, starken Teams, exzellenten Leistungen und einem sprichwörtlichen Kundenservice. Unser Ziel ist es, Dinge voranzubringen und entscheidend besser zu machen – für unsere Mitarbeiter, unsere Mandanten und die Gesellschaft, in der wir leben. Dafür steht unser weltweiter Anspruch „Building a better working world“. Die globale EY-Organisation besteht aus den Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited (EYG). Jedes EYG-Mitgliedsunternehmen ist rechtlich selbstständig und unabhängig und haftet nicht für das Handeln und Unterlassen der jeweils anderen Mitgliedsunternehmen. Ernst & Young Global Limited ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem Recht und erbringt keine Leistungen für Mandanten. Weitere Informationen finden Sie unter www.ey.com. Magazin No. 02 /2015 Entrepreneur by EY EY | Assurance | Tax | Transactions | Advisory 02/2015 Experiment — Ein Aufbruch ins Ungewisse / Entdecken statt Pauken / Von Sachzwängen und Geniestreichen / Improvisation und Rhythmus / Alle Sinne auf Empfang by EY In Deutschland ist EY an 22 Standorten präsent. „EY“ und „wir“ beziehen sich in dieser Publikation auf alle deutschen Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited. Experiment © 2015 Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft All Rights Reserved. klimaneutral natureOffice.com | DE-140-642410 gedruckt EY ist bestrebt, die Umwelt so wenig wie möglich zu belasten. Diese Publikation wurde daher auf FSC® -zertifiziertem Papier gedruckt, das zu 60 % aus Recycling-Fasern besteht. Diese Publikation ist lediglich als allgemeine, unverbindliche Information gedacht und kann daher nicht als Ersatz für eine detaillierte Recherche oder eine fachkundige Beratung oder Auskunft dienen. Obwohl sie mit größtmöglicher Sorgfalt erstellt wurde, besteht kein Anspruch auf sachliche Richtigkeit, Vollständigkeit und/oder Aktualität; insbesondere kann diese Publikation nicht den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung tragen. Eine Verwendung liegt damit in der eigenen Verantwortung des Lesers. Jegliche Haftung seitens der Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und/oder anderer Mitgliedsunternehmen der globalen EY-Organisation wird ausgeschlossen. Bei jedem spezifischen Anliegen sollte ein geeigneter Berater zurate gezogen werden. www.de.ey.com „Wir setzen nicht auf Versuch und Irrtum, sondern wollen die Zusammenhänge verstehen.“ Uwe Ahrendt, CEO und geschäftsführender Gesellschafter, NOMOS-Uhrenmanufaktur, Glashütte Magazin für unternehmerische Exzellenz 3 Perfektes Herz – mit der Entwicklung einer eigenen Reglage brach die sächsische Uhrenmanufaktur NOMOS ein Schweizer Monopol und belebt damit ein Handwerk neu, das in Deutschland schon fast als ausgestorben galt: den Bau feiner mechanischer Uhren. Editorial Der deutsche Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker nannte das Experiment einmal ein „Verhör“ der Natur – und meinte damit den Ansatz, mit Hilfe von Versuchen naturwissenschaftliche Phänomene zu verstehen und zu erklären. Ob ein Experiment nun eine streng wissenschaftliche Untersuchung ist oder eher spielerisch aus Versuch und Irrtum besteht – immer stellt es eine Frage an die Welt und sucht neue Antworten darauf. Und es setzt voraus, dass Menschen alte Gewissheiten aufgeben, neugierig sind, sich auf unbekanntes Terrain vorwagen. Seit jeher machen wir dabei die Erfahrung, dass die Erkundung von Neuem mit Gefahren verbunden sein kann, aber auch ungeahnte Chancen eröffnet. Was aber treibt die einen dazu, Neues auszuprobieren und vielleicht zu scheitern, während andere der Maxime „Bloß keine Experimente“ folgen? Psychologisch gibt es einen engen Zusammenhang zwischen dem explorativen Verhalten einer Persönlichkeit und ihrer Fähigkeit zur Problemlösung. Experimentierfreudige Menschen suchen demnach gezielt unbekannte Felder auf und versuchen, sich dort erfolgreich zu behaupten. Jede so gewonnene Erfahrung erweitert die eigene kognitive Landkarte, sichert das Gefühl der Kontrollierbarkeit. Und das spornt zu neuen Experimenten an. Ohne den Einfallsreichtum und die Inspiration experimentierfreudiger Persönlichkeiten sind Fortschritt und Innovation nicht denkbar. Aber sie brauchen dafür auch ein Umfeld, das das Unmögliche für möglich hält, Improvisation fördert und Neues entstehen lässt. Vor allem in Zeiten der Digitalisierung scheint dies wichtiger denn je. Berlin etwa ist so ein Ort. In dieser Ausgabe des ENTREPRENEUR beschreiben wir, wie die Hauptstadt zum fruchtbaren Ökosystem für Unternehmensgründungen wurde. Neu in der deutschen Unternehmenslandschaft ist der Typus des Serial Entrepreneur. Dazu gehört etwa Verena Pausder, die in ihrer Mindmap ihre unternehmerische Motivation darlegt. Jüngstes Resultat ihrer Experimentierfreude: eine höchst erfolgreiche App für kleine Kinder. Doch auch Mangel und Sachzwänge können den Erfindergeist zu Höhenflügen anspornen. Das junge Team der kenianischen Gruppe Ushaihidi etwa, die einfache und billige Lösungen für Internetzugänge im ländlichen Afrika sucht, oder den indischen Ingenieur Arvind Gupta, der mit Wissenschaftsspielzeug aus Müll seit Jahrzehnten den Ärmsten den Erwerb von Wissen und Bildung ermöglicht. Selbst auf traditionsreichen Feldern bringen Experimente mutiger Unternehmer Fortschritt, Wissensgewinn und wirtschaftlichen Erfolg. Das zeigen die Beispiele von Andrea Illy, der sich nichts weniger vorgenommen hat als den perfekten Espresso, von Uwe Ahrendt, dessen NOMOS-Uhrenmanufaktur eine in Deutschland schon fast tot geglaubte Handwerkskunst neu belebt und geschickt mit Hightech kombiniert, und des Sudanesen Ihab Daoud Abdellatif, dessen Agroindustriegruppe die Versorgung seines Heimatlandes durch innovative Ideen, durchaus im Rückgriff auf Traditionen, erheblich verbessert hat. Diese Kunst, einfach mal etwas auszuprobieren und neu anzufangen, wenn es schiefgeht, kann man die eigentlich lernen? Ja, meint der britische Schauspieler Keith Johnstone, einer der Pioniere des Improvisationstheaters. Allein positives Denken könne ungeahnte Talente freisetzen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine interessante Lektüre. Georg Graf Waldersee Vorsitzender der Geschäftsführung EY Deutschland 02/2015 Entrepreneur 4 5 In dieser Ausgabe Entrepreneur 02/2015 Amir Roughani Michael Reinboth /Jan Beckers Ihab Daoud Abdellatif Gesche Joost Uri Alon — — — — — Deutschland? Das war für Amir Roughani ein Land, in dem es Spielzeug und Süßigkeiten gab, die er aus seiner Heimat nicht kannte. Und ein Land ohne Bombenangriffe. Er war elf Jahre alt, als seine Eltern ihm umgerechnet 100 Euro zusteckten und ihn in Teheran in ein Flugzeug nach Deutschland setzten, weil sie ihn vor den Gefahren des Krieges gegen den Irak in Sicherheit bringen wollten. „Mach was draus, Amir!“, gaben sie ihm mit auf den Weg. Das einstige Flüchtlingskind ist heute ein erfolgreicher Unternehmer. Warum das kontrollierte Wagnis eine unternehmerische Tugend ist, erklärt der Gründer und Inhaber des Technologiekonzerns Vispiron ab Seite 14. „Grönemeyer ist ganz gut“, meint Michael Reinboth. Eine Aussage über den Musikunternehmer Grönemeyer, nicht über den Musiker. Mit seinem Label Compost Records hat Reinboth in den letzten 20 Jahren sämtliche Höhen und Tiefen des Musikbusiness durchlebt. Gegenwärtig feiern analoge Medien wie die Vinyl-LP eine Renaissance. Bei HitFox dagegen, dem von Jan Beckers geführten Start-upInkubator, sind Digital- und Datenkompetenz erstes Gebot. „Wir sind eine Serienfertigung für Unternehmen“, sagt Beckers, während Reinboth bei dem Gedanken an „Reißbrettmusik“ das Grausen kommt. Den inspirierenden Gedankenaustausch lesen Sie ab Seite 24. Als gebürtiger Sudanese weiß Ihab Daoud Abdellatif, wie wichtig der Aufbau einer eigenen Nahrungsmittelbasis in einem Land ist, das regelmäßig von Hungersnöten heimgesucht wird. Mit viel Geschick und Augenmaß hat der Chef des Landwirtschafts- und Nahrungsgüterunternehmens DAL Food aus bescheidenen Anfängen ein modernes agroindustrielles Unternehmen geschmiedet. Abdellatif verbindet die Suche nach neuen Geschäftsfeldern mit gelebter Corporate Social Responsibility. Besonders wichtig ist ihm ein partnerschaftliches Verhältnis zu seinen Lieferanten. Seite 34. „Man muss leichtfüßiger werden und mehr wagen.“ Gesche Joost, Designforscherin und Internetbeauftragte der Bundesregierung, sieht die Gefahr einer digitalen Spaltung der Wirtschaft: auf der einen Seite der Siegeszug der Industrie 4.0 vor allem im Anlagen- und Maschinenbau sowie in der Autoindustrie, auf der anderen eine tief verwurzelte Digitalisierungsskepsis in weiten Bereichen des Mittelstands. Warum Unternehmen stärker mit Experimentier-Labs kooperieren sollten und warum sich die Konkurrenten aus Asien und den USA über die typisch deutsche Art des Bedenkentragens freuen, erläutert Joost im Dialog mit Hubert Barth, Mitglied der Geschäftsführung bei EY, ab Seite 42. „Ich fühlte mich wie ein Pilot, der sein Flugzeug ohne Orientierung durch dichten Nebel steuert“ – so erinnert sich der israelische Systembiologe Uri Alon an seine erste Bekanntschaft mit jenem seltsamen Ort, der ihm im Laufe seiner Karriere immer vertrauter werden sollte: Während seiner Promotion hatte er sich hoffnungslos im Gestrüpp seiner Experimente verheddert. Diesen Verlust an Orientierung hat Alon immer wieder beobachtet – nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch bei Politikern, Managern und Künstlern. „Eigentlich überall, wo Menschen auf der Suche nach innovativen Lösungen sind, sie aber mit ihrem Erfahrungswissen nicht weiterkommen.“ Den Weg durch die Pforte zur Erkenntnis weist Alon ab Seite 53. 02/2015 Entrepreneur 7 Thema Experiment 02/2015 Experiment — Ein Aufbruch ins Ungewisse / Entdecken statt Pauken / Von Sachzwängen und Geniestreichen / Improvisation und Rhythmus / Alle Sinne auf Empfang by EY Die Arbeiten des in Düsseldorf lebenden Fotografen Martin Klimas bewegen sich zwischen klassischen kunsthistorischen Genres und dem physikalischen Experiment. In seinem Studio kreiert er komplexe Versuchsaufbauten, die die Voraussetzung für seine finalen Bildresultate bilden. Der Begriff der „Belichtungszeit“ benennt die beiden Pole der Fotografie, Licht und Zeit, und genau diese bilden das Kernthema in Martin Klimas’ Werk. Er interpretiert die Gattung Stillleben grundlegend neu, indem er auf Blumenvasen schießt und exakt den Moment der Zerstörung im 7 000stelBruchteil einer Sekunde festhält. Mit Musik, oder präziser: deren Schallwellen, erschafft er fotografische Skulpturen von abstrakter Schönheit und Komplexität. Auch seine aktuelle Serie der „Polarizations“ übersetzt physikalische Phänomene in höchst ästhetische Artefakte und zitiert dabei in ihrer Bildsprache den Konstruktivismus des frühen 20. Jahrhunderts. Magazin für unternehmerische Exzellenz 34 Der Macher. Der sudanesische Entrepreneur Ihab Daoud Abdellatif entwickelt innovative Konzepte gern unter Rückgriff auf landestypische Traditionen. Expertise 37 Neue Beweglichkeit. Wie Unternehmen Freiräume für Experimente schaffen, um die Chancen des Innovationszeitalters aktiv zu nutzen. „Wir setzen nicht auf Versuch und Irrtum, sondern wollen die Zusammenhänge verstehen.“ Uwe Ahrendt, CEO und geschäftsführender Gesellschafter, NOMOS-Uhrenmanufaktur, Glashütte 03 Editorial 04 In dieser Ausgabe Entrepreneure 08 Die Entdeckung der Langsamkeit. Die sächsische Uhrenmanufaktur NOMOS Glashütte zeigt, dass auch im ehrwürdigsten Handwerk noch Neuerungen möglich sind. 14 Rosen im Asphalt. Der Technologie-Entrepreneur Amir Roughani, der einst als Flüchtlingskind aus dem Iran nach Deutschland kam, sieht im kontrollierten Wagnis eine unternehmerische Tugend. Martin Klimas Ohne Titel (Tulipa III) Lambda Print, Diasec 220 x 170 cm Auflage: 2 2006 herstellers illycaffè, naturgemäß über eine gewisse Affinität zum Experiment. 42 „Es geht darum, das Prinzip zu begreifen, zu wissen: Ich kann diese digitale Welt mitgestalten.“ Die Designforscherin Gesche Joost und Hubert Barth, Mitglied der Geschäftsführung bei EY, im Dialog über die digitale Revolution in den Unternehmen und die Gefahren deutscher Gründlichkeit. 48 Risikobereit, schnell und disruptiv? Ein Blick auf die florierende Start-up-Szene in Berlin Mitte und Kreuzberg. Impulse 53 Die Pforte zur Erkenntnis. Der israelische Systembiologe Uri Alon erklärt, warum der Weg zu neuem Wissen häufig durch eine Phase führt, in der sämtliche Grundannahmen ins Wanken geraten. 56 Von Matisse bis Afrika. Wie beschränkte Ressourcen die Innovationsfähigkeit beflügeln können, 20 Die Passionsspieler. Der serbische Computer- zeigen jüngste technologische Entwicklungen freak Branko Milutinović verschmolz seine Leiden- aus Afrika genauso wie das Spätwerk des Malers schaft für Videospiele und Sport in dem OnlineHenri Matisse – eine erstaunliche Parallele. Fußballspiel Top Eleven. Damit gelang ihm der Aufstieg in die Champions League der Game-Branche. 64 Mach was! Wie die Berliner App-Entwicklerin Verena Pausder sich selbst und kleine Kinder 24 Man braucht Freiheit, um Neues zu wagen. Über immer wieder auf Trab bringt. die Bedeutung der Geschwindigkeit beim Aufbau von Digitalunternehmen und das Verhältnis von Pas- 66 Raumschiffe aus Müll. Mit „Toys From Trash“ sion und Zeitgeist in der Musikindustrie diskutieren hat der Inder Arvind Gupta die Begeisterung für naturwissenschaftliche Experimente auch in den der Label-Gründer Michael Reinboth und Jan Beckers, CEO der Start-up-Schmiede HitFox Group. entlegensten Winkeln seines Heimatlandes entfacht. 30 Die perfekte Tasse Kaffee. Als diplomierter Chemiker verfügt Andrea Illy, Chef des Espresso- 68 Kann man Improvisation lernen? Zehn Fragen an den britischen Schauspiellehrer Keith Johnstone. 02/2015 Entrepreneur Entrepreneure Report 9 Die Entdeckung der Langsamkeit Der Bau mechanischer Uhren hat eine lange Tradition. Das Zusammenwirken von Federn und Rädchen zum Messen der Zeit ist seit Jahrhunderten erforscht – und wirkt im Zeitalter von Apple Watch und Digitalanzeige liebenswert altmodisch. Lohnen sich da Experimente überhaupt noch? Uwe Ahrendt zeigt mit der sächsischen Uhrenmanufaktur NOMOS Glashütte, wie man als Newcomer eine Traditionsbranche aufmischt und dass auch im ehrwürdigsten Handwerk noch Neuerungen möglich sind. Fotos Sammy Hart 02/2015 Entrepreneur P lötzlich ist er da. Ganz selbstverständlich und ohne großes Aufheben setzt sich Uwe Ahrendt mit an den Tisch in der Kantine seines Unternehmens. Keine für die Besucher inszenierte Leutseligkeit, nichts von der leichten Anspannung, bemühten Geschäftigkeit, keine verebbenden Gespräche wie sonst oft, wenn sich Chefs mal unter ihre Mitarbeiter mischen, um Nähe und Zugänglichkeit zu demonstrieren. Und das liegt nicht nur daran, dass Ahrendt, 45, CEO und geschäftsführender Gesellschafter der Uhrenmanufaktur NOMOS, hier im Örtchen Glashütte in Sachsen aufgewachsen ist, dass die älteren seiner Mitarbeiter sich noch gut daran erinnern können, wie Ahrendt mit dem selbst getunten Moped durch die engen Talstraßen knatterte oder als staatlich geprüfter Schallplattenunterhalter, vulgo DJ, zu DDRZeiten die Dorfdiscos beschallte – und sich dabei nie an die offiziell vorgeschriebene 60/40-Regelung hielt: 60 Prozent Ost-Liedgut, 40 Prozent internationale Hits. Ahrendt verbreitet eine Atmosphäre freundlicher Gelassenheit um sich. Vielleicht liegt es daran, dass einer, der so viel mit der Zerlegung der Zeit in Sekunden, Minuten und Stunden zu tun hat, sich die Zeit einfach nimmt. Jedenfalls färbt sein Vorbild ab. Wenn es so etwas wie entspannte Konzentration gibt – bei NOMOS in Glashütte ist sie zu erleben; etwa in der Chronometrie hoch am Hang über Glashütte. Hier entstehen Entrepreneur 02/2015 Die Liebe zu den kleinen Dingen – obwohl NOMOS in der Fertigung inzwischen überall dort Hightech einsetzt, wo Maschinen präziser arbeiten, entsteht jede der Uhren aus dem sächsischen Glashütte immer noch in vielen Stunden Handarbeit. aus den winzigen Rädchen, Schräubchen und Federchen, die an den CNC-Maschinen im alten Bahnhof unten im Tal mit höchster Präzision geschnitten, gefräst, gedreht und verzahnt worden sind, in tagelanger Handarbeit die Werke der NOMOSUhren. Neben einer ruhigen Hand brauchen die Mitarbeiter dafür scharfe Augen. Viele Arbeiten sind nur unter der Lupe möglich. Fast alle Arbeitsplätze liegen an den großen, hellen Fenstern mit weiter Aussicht über Berg und Tal. Und wenn die Uhrmacher alle paar Minuten gedankenverloren die Blicke in die Ferne schweifen lassen, dann ist das ausdrücklich erwünscht. Denn nur so können sich die Augen erholen, bleiben fit für acht Stunden Feinstarbeit. Uhrmacher, das hört sich nach einem altmodischen, aussterbenden Beruf an. An den Werkbänken von NOMOS aber sind die meisten Mitarbeiter deutlich jünger als 40 Jahre. Überhaupt wirkt das ganze Unternehmen jung, urban und kein bisschen hinterwäldlerisch – von der lichtdurchfluteten, gradlinigen Architektur, die die historischen Gebäude ergänzt, über die vielen Kunstwerke an den Wänden bis zum klaren, modernen Design seiner Produkte, oft ergänzt um ironisch-intellektuelle i-Tüpfelchen. Sogar das Kantinenessen würde Herz und Magen jedes Metropolenvegetariers erfreuen. Also eher Start-up als Traditionsunternehmen. Und eigentlich ist es das ja auch. NOMOS Glashütte ist ein Wendekind, gerade 25 Jahre alt. Der Name aber ist Verpflichtung. Das altgriechische Wort „Nomos“ hat zwei Bedeutungen: im räumlichen Sinn als „Bezirk“ für die erste, alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die Ur-Teilung und Ur-Verteilung – und im rechtlichen Sinn als „Gesetz“. Und auf die Messung der Zeit trifft wohl beides zu. Es waren jedenfalls ein stolzer Name und ein hoher Anspruch, den der Schweizer Guido Müller gewählt hatte, als er 1906 die NOMOS-UhrGesellschaft Guido Müller & Co. gründete. Der Bau mechanischer Uhren in Glashütte hatte da bereits einige Tradition. 1845 mit Unterstützung des sächsischen Königs ins Leben gerufen, um nach dem Niedergang des Bergbaus den armen Bewohnern der abgelegenen Erzgebirgstäler ein bescheidenes Auskommen zu sichern, erfreuten sich Uhren aus Glashütte bald höchsten Renommees, wurden früh zu Statussymbolen. Das weckte Begehrlichkeiten. Müller importierte Schweizer Uhren nach Sachsen und vertrieb sie anschließend mit dem prestigeträchtigen – und profitablen – Zusatz „Glashütte“. Der Platzhirsch der Uhrmachergilde in Glashütte, A. Lange & Söhne, ließ diese Geschäftspraxis alsbald gerichtlich unterbinden. 1910 musste Müller den Betrieb einstellen. Denn nur wer mindestens 50 Prozent der Wertschöpfung am Kaliber, dem Uhrwerk, vor Ort leistet, darf seine Zeitmesser als Glashütter Uhren anbieten. „Die Frage ist immer: Wie bekommen wir das zu unseren Preisen in Serie hin?“ Uwe Ahrendt Zwei Weltkriege und die DDR überstand die Glashütter Uhrenindustrie, wenn auch lädiert. Aber die Auflösung der Staatsbetriebe nach der Wende schien das endgültige Aus zu bedeuten. Glücklicherweise fanden sich private Investoren, teils Nachfahren der früheren Besitzerfamilien, die die einstigen Vorzeigeunternehmen aus den Ruinen auferstehen ließen. Einer von denen, die 1990 nach Glashütte kamen, war Roland Schwertner, heute 62. Der Düsseldorfer hatte zwei Dörfer weiter eine Tante und war fasziniert von der Glashütter Uhrengeschichte. Schwertner, bis dahin auf so unterschiedlichen Gebieten wie EDV und Modefotografie tätig, ist das, was man einen bunten Hund nennt: umtriebig, begeisterungsfähig, experimentierfreudig. Kurzerhand erwarb er die Markenrechte an NOMOS und begann in einer gemieteten Dreizimmerwohnung mit einer eigenen Produktion. Schwertner ist kein Techniker, aber er hat Geschmack und gute Beziehungen zu fähigen Designern. Vier Modelle, in ihrer modernen Klarheit an den Bauhaus-Stil angelehnt, die bis heute den Grundstock der NOMOS-Produktpalette bilden, lässt der Neu-Unternehmer entwerfen. In die selbst gestalteten Stahlgehäuse baut Schwertner mechanische Uhrwerke aus der Schweiz ein. Sein Ziel: eine gute mechanische Uhr mit anspruchsvollem Design zu einem moderaten Preis. 1992 verkauft der Gründer bereits ein paar Hundert Uhren, die besonders bei Kreativen gut ankommen. Doch ebenso wie einst Müller wird Schwertner bald mit dem Gesetz von Glashütte konfrontiert: 1994 steht NOMOS fast vor dem Aus, weil Schwertner die geforderten 50 Prozent Eigenleistung am Uhrwerk zunächst nicht belegen kann. Doch er ist bereits auf dem Weg, die Kaliber zu veredeln und darin sukzessive immer mehr Elemente weiterzuentwickeln, durch Eigenkonstruktionen zu ersetzen und zu ergänzen. Was mit der Entwicklung eines eigenen Sekundenstopp-Mechanismus beginnt, führt 2005 zur 02/2015 Entrepreneur Entrepreneure Report 13 Uwe Ahrendt Uwe Ahrendt, Jahrgang 1969, stammt aus einer alteingesessenen Glashütter Uhrmacherfamilie, absolvierte eine Werkzeugmacherlehre und studierte anschließend Feinwerktechnik in Dresden. Seit 2000 führt Ahrendt die Geschäfte der Uhrenmanufaktur NOMOS Glashütte, die ersten zehn Jahre gemeinsam mit Gründer Roland Schwertner. Seit 2010, als sich Mehrheitsgesellschafter Schwertner aus der aktiven Geschäftsführung zurückzog, ist Ahrendt als CEO gemeinsam mit Designchefin und Mitgesellschafterin Judith Borowski für alle aktuellen Entscheidungen zuständig. NOMOS Glashütte ist neben A. Lange & Söhne und Glashütte Original der dritte große deutsche Hersteller feiner mechanischer Uhren. Das Unternehmen beschäftigt rund 200 Mitarbeiter. Es hält inzwischen mehrere Patente und wurde mit über 120 Preisen und Auszeichnungen dekoriert. Während die beiden lokalen Rivalen mittlerweile zu Schweizer Konzernen gehören, ist NOMOS weiterhin im Besitz der Entrepreneure. „Wir versuchen“, gibt Ahrendt die Richtung vor, „als kleines mittelständisches Unternehmen langsam und gesund zu wachsen.“ Zurzeit verdoppelt NOMOS nach eigenen Aussagen alle drei Jahre die Erlöse. „Bestes Handwerk und beste Gestaltung zu besten Preisen“, beschreibt der CEO die Strategie. Uwe Ahrendt ist „Entrepreneur Of The Year“ 2014 in der Kategorie Konsumgüter/Handel. wie die in den vergangen Jahren erreichten und für die Zukunft angepeilten wären aber im hart umkämpften Hochpreissegment allein nicht möglich, ist sich der NOMOS-Chef sicher. Insgesamt wuchsen Umsatz und Absatz im vergangenen Jahr um jeweils 30 Prozent. Zwischen Tradition und Moderne – ein lichter Glaskubus ergänzt den ehemaligen Bahnhof von Glashütte, heute Firmensitz von NOMOS. kompletten Umstellung auf Eigenfertigung aller Uhrwerke und nach und nach zu einer Fertigungstiefe von heute 95 Prozent. Mut und Erfolg des frechen Newcomers sprechen sich in dem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt, natürlich schnell herum. Und machen neugierig – auch Uwe Ahrendt, damals Mitte 20. Der junge Ingenieur versteht sowohl von Uhren als auch von Feinmechanik eine Menge – und er mag das Risiko. Ahrendt arbeitet bei der etablierten Konkurrenz. „Natürlich hätte ich dort bleiben können“, sagt er heute, doch ihn reizte der Versuch, etwas Neues, Eigenes zu beginnen. Das größte Problem der frühen Jahre: „Wir hatten viele gute Ideen, aber kein Geld“, so Ahrendt. NOMOS schreibt zwar immer schwarze Zahlen, aber es mangelt an Liquidität für große Investitionen. 1997 beteiligt sich der Versandhändler Manufactum, der sich auf moderne Klassiker und hochwertiges Handwerk spezialisiert hat, an NOMOS. Das eröffnet den Entrepreneuren endlich größere Spielräume. Und sie erhalten die Unterstützung der Bürgschaftsbank Sachsen, die über ihre Tochter MBG bis heute stiller Gesellschafter ist. „Deren Rat schätzen wir sehr, weil sie objektiv ist“, sagt Ahrendt. Sicher bremsen die Banker die Experimentierfreude der NOMOSChefs gelegentlich, aber sie unterstützten sie beim wichtigsten Projekt der vergangenen Jahre. 2007 wagen sich Schwertner, Ahrendt und Designchefin Judith Borowski, gemeinsam geschäftsführende Gesellschafter von NOMOS, an ein Husarenstück. Sie wollen das sogenannte Entrepreneur 02/2015 Assortiment selbst herstellen. Dieses Reguliersystem aus Unruh, Spirale, Ankerrad, Anker und anderen kleinen Teilen, das gewährleistet, dass eine Uhr genau geht, bezieht fast die gesamte Branche aus der Schweiz von den Swatch-Töchtern ETA und Nivarox. Es ist ein Monopol. Ein solch perfektes Uhrenherz in Serie selbst herzustellen, scheint für kleinere Hersteller unmöglich. Höchstens die Fertigung von Hand zu Spitzenpreisen gilt als machbar – zehn oder hundert Stück. Das Problem dabei: Uhrmacher, die eine derartige Reglage bauen können, nähern sich dem perfekten Zusammenspiel der kleinen Dinge durch Versuch und Irrtum. „Doch wir wollten die Zusammenhänge verstehen.“ Als Ingenieur weiß Ahrendt, dass man solche Abläufe am Computer simulieren und berechnen kann – und dass sie damit wiederholbar werden: Vorbedingung für jede Serienfertigung. Mit der Technischen Universität Dresden finden die NOMOS-Entrepreneure den geeigneten wissenschaftlichen Partner für ihr Vorhaben. Sieben Jahre dauert die Entwicklung des eigenen Assortiments und sie kostet bis zur Serienreife insgesamt elf Millionen Euro. Auf der Basel World 2014 ist das sogenannte Swing-System von NOMOS eine kleine Sensation – und erweist sich im Nachhinein als ungemein hellsichtig. Denn 2010 – da war das NOMOSProjekt bereits voll im Gang – hatte die Swatch-Gruppe verkündet, dass sie die Lieferkontingente für alle ihre Kunden auf dem damaligen Stand einfrieren werde. „Das hätte für uns bedeutet, dass wir nicht weiter hätten wachsen können“, beschreibt Ahrendt die Folgen. Nach und nach wird die gesamte Modellpalette, insgesamt zwölf Modellfamilien mit rund 70 Varianten, mit dem hauseigenen Swing-System ausgestattet. Dabei schließt die viele Handarbeit den Einsatz modernster Technik nicht aus. Dort, wo Hightech präziser ist, wo es um Tausendstelmillimeter geht, verwendet NOMOS Maschinen. „Die Frage ist immer: Wie bekommen wir das zu unseren Preisen in Serie hin?“, beschreibt Uwe Ahrendt den Ansatz. Die Synthese aus Präzision und Preis entscheide dann über die Verteilung von Hightech und Handarbeit. Während die Impulse für technische Innovationen bei NOMOS meist aus Sachsen kommen, entstehen die Designideen bei der Tochter Berlinerblau zwei Stunden entfernt an der Spree. Am Anfang war es Zufall, weil Berlin der Lebensmittelpunkt von Designchefin Borowski ist. Heute ist die NOMOS-Führung darüber mehr als glücklich. Ahrendt liebt sein enges heimatliches Tal, aber er weiß auch, dass für kreative Ideen der Blick über die Kirchturmspitze hinaus notwendig ist: „Das sind zwei sehr unterschiedliche Welten, die sich gegenseitig befruchten.“ Die Idee für ein weiteres Experiment etwa stammt aus Glashütte: „Jeder Uhrmacher“, weiß Ahrendt, „träumt davon, einmal all sein Können in einer Uhr zu vereinen.“ Also fertigt NOMOS seit 2013 eine kleine Kollektion goldener HauteHorlogerie-Uhren. Jedes dieser Einzelstücke kostet über 10 000 Euro, während sich die Preise für die Hauptkollektion zwischen 1 000 und 4 000 Euro bewegen. Den Ausflug bewertet Ahrendt als geglückt, bester Ausweis für die hervorragenden Fähigkeiten seiner Mannschaft. Wachstumsraten Wo wird NOMOS Glashütte in, sagen wir, fünf Jahren stehen? Ahrendt will die Führungsposition, die sein Unternehmen als mittlerweile größter deutscher Hersteller von mechanischen Uhren hat, weiter ausbauen. Jedes Jahr eine kleine oder größere Sensation, wie etwa das ultraflache Automatikuhrwerk zum moderaten Preis, das NOMOS gerade auf der diesjährigen Basel World vorgestellt hat, wäre dabei nicht schlecht. Noch macht der Anteil der Sachsen aber in Relation zum Weltmarkt nur ein kleines Stückchen aus. Marktführer Rolex etwa produziert jährlich eine Million mechanischer Uhren, während die versammelte Produktion aller Glashütter Hersteller derzeit nicht einmal auf 100 000 Stück kommt. Dennoch sieht Ahrendt auch international gute Chancen für die Uhren made in Germany, vor allem in den USA. In Asien tauchen bereits die ersten NOMOS-Plagiate auf. Ein Ärgernis, aber auch Zeichen für wachsendes Prestige. Hat er keine Angst davor, dass künftige Generationen, die daran gewöhnt sind, die Zeit vom Handy oder von der Apple Watch abzulesen, sich gar nicht mehr für eine mechanische Uhr interessieren könnten? Nein, diese Angst hat Uwe Ahrendt nicht. Sein 17-jähriger Sohn, auch so ein Handy-Kind, hat ihn erst neulich gefragt, ob er vielleicht ab und zu Vaters Tangente, die als Sonderedition für „Ärzte ohne Grenzen“ aufgelegt worden ist, tragen dürfe. Denn mechanische Uhren, davon ist Ahrendt überzeugt, sind nicht einfach Gebrauchsartikel. Sie sind Wertgegenstände, die ein bisschen aus der Zeit gefallen sind. 02/2015 Entrepreneur Entrepreneure Report 15 Rosen im Asphalt Amir Roughani war elf Jahre alt, als seine Eltern ihn in Teheran allein in ein Flugzeug nach Deutschland setzten. Sie wollten ihn vor den Gefahren des Kriegs gegen den Irak in Sicherheit bringen. „Mach was draus, Amir!“, gaben sie ihm mit auf den Weg. Und der Junge machte sich diese Verpflichtung zur Leitschnur: Aus dem Flüchtlingskind von einst wurde ein erfolgreicher Unternehmer. Der Gründer und Inhaber des Technologiekonzerns Vispiron, dessen eigene Jugend ein soziales Experiment war, sieht im kontrollierten Wagnis auch eine unternehmerische Tugend. Fotos Elias Hassos R espekt vor Autoritäten zählt nicht zu den hervorstechenden Charakterzügen von Amir Roughani. Es gehört schon eine gehörige Portion Selbstbewusstsein dazu, einer Ministerin, die als nächste bayerische Regierungschefin gehandelt wird, entschieden zu widersprechen. „Das Projekt ist eigentlich gestorben“, hatte Ilse Aigner, Wirtschaftsministerin des Freistaats, kürzlich dem Vorhaben des Münchner Technologieunternehmens Vispiron GmbH beschieden, im Bayerischen Wald ein Pumpspeicherkraftwerk zu errichten. Die Anlage sei schlichtweg unwirtschaftlich. Das mochte Amir Roughani nicht kommentarlos hinnehmen. Die Frage der Wirtschaftlichkeit eines Investitionsvorhabens, retournierte der Gründer und Inhaber von Vispiron vergrätzt, sei „Angelegenheit der Investoren und nicht der Politiker – sonst würde es sich um Planwirtschaft handeln“. Ein wirtschaftliches Wagnis ist der Bau eines solchen Kraftwerks, das elektrische Energie sowohl speichert als auch erzeugt, indem man Wasser zunächst bergan pumpt und es später wieder talwärts fließen lässt, allemal. Einsprüche von Umweltschützern können den Bau möglicherweise um Jahre verzögern. Dort wo Unternehmen das Risiko scheuen und sich aufgrund nicht mehr wettbewerbsfähiger Marktpreisdifferenzen aus diesen Geschäftsfeldern zurückziehen, setzt Roughani mit seinem Team konsequent auf neuartige Geschäftskonzepte. Sie konzentrieren sich auf Systemdienstleistungen für den Strommarkt, deren Bedarf aufgrund von Netzschwankungen – bedingt durch die Zunahme der erneuerbaren Energien – entsteht. Der Aufbruch ins Ungewisse gehört von Anfang an zur DNA des Unternehmens, das am Rande des Münchner Stadtteils Schwabing, eingerahmt von Tankstelle, Fastfood-Restaurant, Spielhalle und Boxschule, in einem ausgesprochen unscheinbaren Firmengebäude residiert. Gegründet wurde es im Jahr 2002, zwei Jahre nachdem die Dotcom-Blase geplatzt war, in eine Zukunft hinein, die nicht gerade spektakulären Erfolg verhieß. Auch später, als Vispiron jährlich zweistellige Umsatzsprünge 02/2015 Entrepreneur 16 Entrepreneure Report Entrepreneure Report 17 „Das Verlassen der Komfortzone, die persönliche Veränderung, mich selbst immer wieder neu erfinden, das macht mir großen Spaß.“ Auf diese Weise entwickelte sich im Laufe der Jahre ein Quodlibet an Produkten und Dienstleistungen. Heute baut Vispiron schlüsselfertige Photovoltaik-Kraftwerke, realisiert technische F+E-Projekte für Kunden aus der Automobilbranche, der Luftfahrtindustrie und dem Maschinenbau, organisiert das Fahrtenbuch- und Tankmanagement von Fahrzeugflotten und liefert Messtechniksysteme, die weltweit bei der Drehschwinganalyse von Motoren, Getrieben und Turbinen eingesetzt werden. Amir Roughani Nicht immer führen die „ergebnisoffenen Experimente“ zum erhofften Resultat. „Drei, vier Versuche sind definitiv gescheitert“, erzählt Roughani. Das Rennrad-Projekt beispielsweise. Roughanis Ingenieure hatten im Kundenauftrag bereits Testmethoden für Gabel, Rahmen, Sattel und Lenker entwickelt und ein großes Prüflabor aufgebaut. „Zu guter Letzt wollten sie auch komplette Fahrräder bauen“, erzählt Roughani. Reinrassige Renner, schnell und ultraleicht. Drei, vier Jahre Entwicklungsarbeit steckten in den Prototypen. Leider erwiesen sich die Absatzchancen als wenig verheißungsvoll; das Projekt wurde beerdigt. Auf der Suche nach den Wurzeln für Roughanis Affinität zum Wagnis stößt man unweigerlich auf seine Kindheit. Im Grunde ist seine gesamte Amir Roughani hat sein Unternehmen auf vier Säulen aufgestellt und damit krisenfest gemacht. Ein Börsengang steht vorerst nicht zur Debatte. vorweisen konnte, ließ Roughani, mitunter in der Manier eines Minenhundes, sein Unternehmen immer wieder auf unbekanntes Terrain vorstoßen. Die heutige Unternehmensstruktur, die auf vier Säulen beruht – Engineering, Messtechnik, Flottenmanagement und Energy –, ist im Grunde das Resultat einer Reihe mehr oder weniger kontrollierter Experimente. Der 39-jährige gebürtige Iraner hat sein Unternehmen, dessen Name mit den Begriffen „Vision“ und „Inspiration“ spielt, bewusst mit offenen Grenzen angelegt – mit Technologie als gemeinsamem Nenner. „In unserem Leistungs- und Produktspektrum gibt es per se keine rote Linie“, erklärt er. „Ich könnte das Geld auch aus dem Unternehmen ziehen und in Konsum und Wohlstand stecken. Aber lieber erlaube ich mir hin und wieder ein Wagnis.“ Das Unternehmen ist dabei Spiegel seiner selbst. „Das Verlassen der Komfortzone, die persönliche Veränderung, mich selbst immer wieder neu erfinden, das macht mir großen Spaß.“ Entrepreneur 02/2015 Vita eine Art sozialer Freilandversuch dazu, was ein entwurzelter junger Mensch aus seinem Leben machen kann. Amir Roughani war elf Jahre alt, als seine Eltern ihm umgerechnet 100 Euro zusteckten und ihn in Teheran in ein Flugzeug nach Deutschland setzten. „Mach was draus, Amir!“, gaben sie ihm mit auf den Weg. Sein Heimatland befand sich damals in einem zermürbenden Krieg gegen den Irak. Täglich sah Amir, dass in der Nachbarschaft frische Soldaten rekrutiert wurden, er erlebte die Beerdigungen von Kriegsopfern und die Bombenangriffe auf seine Heimatstadt Isfahan. Davor und vor allem vor der irgendwann drohenden Einberufung wollten seine Eltern ihn – wie zuvor schon den drei Jahre älteren Bruder Sharam – in Sicherheit bringen. Ein Jahr zuvor war der Junge schon einmal kurz in Deutschland gewesen, als er seinen Bruder besucht hatte. In seiner Erinnerung war es vor allem ein Land, in dem es Spielzeug und Süßigkeiten gab, die er aus der Heimat nicht kannte. So stieg Amir hoffnungsfroh ins Flugzeug. Erst nach dem Umsteigen in Frankfurt am Main, in der Maschine nach Berlin, überfielen ihn die Ängste: Was ist, wenn mein Bruder nicht am Flughafen ist? Wohin gehe ich dann? Doch Sharam wartete mit einigen Schulkameraden am Gate. „Heute kommt mein Bruder aus dem Krieg“, hatte er seinen Kumpels erzählt, die sich nun wunderten, dass ihnen kein Rambo aus der Passkontrolle entgegenkam, sondern ein schluchzendes schmächtiges Kerlchen. Amir kam ins gleiche Kinderheim wie sein Bruder. Und weil er zunächst kein Wort Deutsch sprach, schickte man ihn auf die Hauptschule. Im Heim und in der Schule widerstand er allen Versuchungen. Er rauchte nicht, er trank keinen Alkohol, er klaute nicht. Während die anderen die Schule schwänzten, nahm Amir gern den Deutsch-Nachhilfeunterricht am Nachmittag an, damit er die neue Sprache möglichst schnell perfekt beherrschte. „Mir hat geholfen, dass ich meinen eigenen Weg gegangen bin“, erinnert sich Roughani. „Wenn man sich einer Gruppierung anschließt, schafft das zwar kurzfristig eine Komfortzone, aber man kommt nur schwer wieder heraus.“ Woher nahm der Junge die Kraft und moralische Stärke für diesen geradlinigen Weg, diese Zielstrebigkeit? Amir Roughani muss keine Sekunde nachdenken. „Die Fähigkeit, all den Verlockungen zu widerstehen, habe ich ganz klar meinen Eltern und meiner Erziehung zu verdanken“, sagt er. „Ich fühlte mich meinen Eltern gegenüber immer verpflichtet, das Beste aus der Trennungssituation zu machen. Alles, was dieses Ziel hätte gefährden können, war für mich tabu.“ Es begann die schulische und berufliche Aufholjagd des Amir Roughani. Beim Pharmahersteller Schering bekam er eine Lehrstelle als Chemikant; neben der Ausbildung holte er die mittlere Reife nach, anschließend das Fachabitur. „Ohne ein Studium, ohne ein Diplom wirst du uns enttäuschen“, hatten seine Eltern ihm aufgegeben. Im Wirtschaftsingenieurstudium, nach der einen oder anderen nicht bestandenen Klausur, war er „ein paar mal drauf und dran, aufzugeben“. Er fragte seine Eltern, ob sie denn nicht vielleicht auch mit einem guten Job bei Schering zufrieden wären. „Aber da kam ein klares ‚Nein!‘“, erzählt Amir Roughani. „Ich musste also weiterkämpfen.“ Heute ist Amir Roughani überzeugt, dass die frühe Entwurzelung ihm Kraft verliehen hat, gegen vielerlei Widerstände anzukämpfen. „All diese Erfahrungen haben mich letztlich dort hingebracht, wo ich heute bin.“ Und Berührungsängste erst gar nicht aufkommen lassen. Wenn Politiker und Unternehmer darüber diskutieren, ob man mehr jungen Menschen ohne Schulabschluss eine Chance auf einen Ausbildungsplatz geben sollte, ist der ehemalige Hauptschüler Roughani der Einzige, der wirklich weiß, wovon die Rede ist. Und als ehemaliger Gewerkschaftsjugendvertreter bei Schering „muss ich nicht lange darüber nachdenken, wie ich mit einem Gewerkschaftsboss sprechen soll. Ich kann fast alle Sichtweisen verstehen.“ Sowohl bei Schering als auch später beim Medienkonzern Kirch-Gruppe, wo er als Key Account Manager für Verschlüsselungstechnologien arbeitete, hatte Roughani das Gefühl, dass er „immer eine Schippe mehr auflegen musste, um die gleiche Akzeptanz bei den Vorgesetzten zu erreichen wie meine deutschen Kollegen“. Anfangs schlug dem jungen Mann mit dem fremd klingenden Namen regelmäßig Skepsis entgegen. Wer ist das, was kann der? Erst der Zusammenbruch der Kirch-Gruppe im Jahr 2002 unterbrach Roughanis beruflichen Aufstieg. Er fühlte sich „ein bisschen müde“ bei dem Gedanken, sich in einer neuen Anstellung wieder beweisen zu müssen. Und dass Management durchaus kein Hexenwerk war, hatte er bei Kirch zur Genüge gesehen. Im Oktober 2002 gründete er AXIS Engineering GmbH, den Vorläufer der heutigen Vispiron, einen Dienstleister für die Realisierung von 02/2015 Entrepreneur 18 Entrepreneure Report IT- und Engineering-Projekten. Es war eine Jungfernfahrt in schwerer See. Ringsum waren Tausende von Start-up-Träumen zerschellt. Kaum ein Investor war willens, eine Gründung zu finanzieren. Die Abfindung von Kirch, ein Darlehen der Eltern und ein Bankkredit, der eigentlich für etwas anderes gedacht war, mussten als Finanzpolster für das erste halbe Jahr reichen. Vor einem Scheitern hatte der Jungunternehmer keine Angst. „Dann hätte ich halt bei McDonald’s Burger gebraten oder im Supermarkt Regale eingeräumt“, erinnert sich Roughani an seine Gedanken von damals. „Oder ich wäre zu meinen Eltern zurückgegangen. Die hätten mich auf jeden Fall wieder aufgenommen.“ Dass sein Einmannbetrieb einmal rund 360 Mitarbeiter beschäftigen würde, dass er Photovoltaik-Kraftwerke der Megawattklasse bauen oder Projekte für Weltkonzerne wie Daimler, ThyssenKrupp, EADS und Siemens übernehmen würde, stand damals nicht auf Roughanis Agenda. Nachdem das Unternehmen die ersten Aufträge erfolgreich abgeschlossen hatte, entwickelte es sich in einer ständigen Metamorphose, meist gezielt und geplant, zuweilen aber auch befeuert durch Versuche und Rückschläge, zu seiner heutigen Vielgestaltigkeit. Schon bald reifte in Roughani die Leitidee, sein Unternehmen nicht auf nur ein einziges Geschäftsmodell zu gründen, sondern Amir Roughani Die im Jahr 2002 von dem gebürtigen Iraner Amir Roughani gegründete Vispiron GmbH gliedert ihre Geschäftstätigkeit in die Bereiche Engineering, Messtechnik, Flottenmanagement und Energy. Das in München beheimatete Technologieunternehmen beschäftigt derzeit rund 360 Mitarbeiter und erwirtschaftete im vergangenen Jahr einen Umsatz von 47 Millionen Euro. Zu den mehr als 200 Kunden zählen u. a. BMW, Volkswagen, ThyssenKrupp, Vodafone, EADS und Siemens. Im vergangenen Jahr wurde Unternehmensgründer und CEO Amir Roughani von EY als „Entrepreneur Of The Year“ in der Kategorie „Dienstleistung und Informationstechnologie“ ausgezeichnet. Die Juroren würdigten damit sowohl seine Leistung bei der Entwicklung des Unternehmens vom Start-up zum erfolgreichen Technologie-Mischkonzern als auch sein soziales Engagement – beispielsweise bei der Förderung ambitionierter Jugendlicher aus sozialen Brennpunkten oder bei der Gründung des Friedhofservice München, der Senioren kostenlos zu den Gräbern ihrer Angehörigen fährt. breit aufzustellen und damit krisenfest zu machen. Er kaufte die Messtechnik hinzu, begann mit dem Aufbau der Energy-Sparte und entwickelte das Fahrtenbuch- und Flottenmanagement. Diese Diversifizierung ermöglichte es ihm wenige Jahre später, Vispiron nahezu unbeschadet zunächst durch die Wirtschaftsund Finanzkrise zu manövrieren und anschließend auch den Niedergang des Solargeschäfts ohne allzu große Blessuren zu überstehen. Zwar musste das Unternehmen in den jeweils notleidenden Segmenten Einbrüche verkraften, doch die wurden durch Umsatzsteigerungen in anderen Bereichen mehr als kompensiert. Für Investmentbanker und Börsenanalysten sind „Gemischtwarenläden“ vom Schlage Vispiron freilich ein großes Übel. Am Kapitalmarkt werden derartige Konglomerate regelmäßig abgestraft – wegen mangelnder Fokussierung. Genau diese Diskussion erlebte Amir Roughani, als er vor vier Jahren einen Börsengang plante und die Emissäre mehrerer Banken zum Beauty Contest einlud. Ein Ingenieurdienstleister und Messtechnikspezialist, der auch noch große Solarparks baut – so etwas könne man keinem Anleger vermitteln, lautete der Tenor der Banker. „Sie rieten uns, das Solargeschäft möglichst schnell möglichst weit wegzuschieben“, erinnert sich der Firmenchef, „obwohl wir damit Geld verdienten.“ Roughani verzichtete auf den Börsengang. Für Experimente, für Abenteuer gar wie die Rennrad-Episode hätte die strenge Regie der Quartalsberichte wohl kaum noch Platz gelassen. Aber Roughani ist fest davon überzeugt, dass Wagnisse, wohl dosiert und mit beherrschbarem Risiko, heute wichtiger sind denn je. Die Märkte seien dynamischer geworden, die Konsequenzen von Krisen einschneidender. „Das erfordert, dass man in der Lage sein muss, sich immer wieder neu anzupassen.“ Ein Beispiel, auf das er gern verweist, kommt aus dem eigenen Haus. Vor acht Jahren baute Vispiron in Frankfurt Entrepreneur 02/2015 (Oder) einen Solartestpark – von dem sich recht bald erwies, dass er nicht gebraucht wurde. „Einstampfen!“, forderte der Aufsichtsrat, der befürchtete, das Reiten des toten Pferdes werde weitere Millionen verschlingen. Roughani begann die Suche nach den Rosen im Asphalt – und stieß auf das Unterkonstruktionssystem, sozusagen das Gestell für die Module, das seine Ingenieure eigens für diesen Testpark entwickelt hatten. Die Konstruktion war dem Automobilbereich entnommen, viel leichter und einfacher zu montieren als sämtliche Produkte auf dem Markt. Die ersten Kunden, die das System kauften, fragten begeistert an, ob Vispiron denn nicht vielleicht gleich einen kompletten Solarpark für sie bauen könnte. Daraus entstand die Business Unit Vispiron Energy, die zwischenzeitlich bis zu 50 Prozent des Gesamtumsatzes erwirtschaftete. Mitunter entwickelt sich ein Experiment zum Katalysator für das nächste. Solarmodule bringen – wie auch Windräder – das Problem mit sich, dass sie, anders als Kohlekraftwerke und Atommeiler, den Strom nicht gleichmäßig bereitstellen können. Die Schwankungen können im Extremfall die Netzstabilität gefährden. Pumpspeicherkraftwerke wiederum sind in der Lage, „überschüssige“ Energie aufzunehmen und später, wenn sie benötigt wird, wieder abzugeben – und dadurch die Schwankungen auszugleichen. Grund genug für Amir Roughani, ein Geschäftsmodell zu wittern. Dass die bayerische Wirtschaftsministerin dem ersten Vispiron-Projekt auf diesem Terrain kraft Amtes den Totenschein ausgestellt hat, entmutigt ihn nicht. „Wir wissen noch nicht, ob wir uns da behaupten können“, sagt er. „Aber wir werden kämpfen.“ „Ich fühlte mich meinen Eltern gegenüber immer verpflichtet, das Beste aus der Trennungssituation zu machen. Alles, was dieses Ziel hätte gefährden können, war für mich tabu.“ Amir Roughani 21 Die Passionsspieler Play anywhere – anytime: Das Online-Game Top Eleven war bei seiner Premiere vor fünf Jahren weltweit das erste Spielerlebnis, das sich nahtlos auf PC, Tablet und Smartphone spielen ließ. Uciendae ptatem hil incimpe rumquam idi bero blacitias quid quibus verciur audis dolupti debitium eumquibus millupi eniendi ommoditium qui quo etur aut restota quatetur? Xerum lia sa debitatem exeratint. Cearum dolenisquam dolorerum dolupiet quiae pro omni offici cuptas eic tem reicien ecuscia veliber orerem qui qui as magnit Wer träumt nicht davon, sein Hobby zum Beruf zu machen? Der serbische Computerfreak Branko Milutinović traute sich – er kündigte seinen gut dotierten Job bei Microsoft, gründete ein eigenes Unternehmen und verschmolz seine Passion für Videospiele und Sport in dem Online-Fußballspiel Top Eleven. Was als Experiment mit ungewissem Ausgang begann, endete mit dem Aufstieg in die Champions League der Games-Branche. A m Anfang des Weges in die Leidenschaft stand ein unscheinbares, flaches schwarzes Kästchen. Im Jahr 1989, das weiß Branko Milutinović genau, hielt das Computerzeitalter Einzug in den Haushalt seiner Familie in Belgrad. „Es war ein Sinclair ZX Spectrum“, erzählt er – ein Heimcomputer aus britischer Fertigung, vielleicht auch ein Nachbau aus der damaligen Tschechoslowakei. Mit integrierter Tastatur, deren Haptik an Radiergummis erinnerte, 16 Kilobyte Arbeitsspeicher und einem eingebauten Lautsprecherchen, das grauslich quäkende Töne von sich gab. Wenn Branko etwas speichern wollte, musste er einen Kassettenrekorder anschließen. Ob das erste Spiel, das er auf diesem drolligen Gerät ausprobierte, „Bomberman“ war oder das damals angesagte „Jet Set Willy“, kann er nicht mehr mit Gewissheit sagen. Aber die Saat war gelegt. „Das waren ganz andere Zeiten“, erinnert sich Milutinović. „In unserem Teil der Welt waren Computer eine ziemliche Rarität.“ In unserem Teil der Welt – das war Jugoslawien mit seinem Balkan-Sozialismus, dessen Ineffizienz von Jahr zu Jahr deutlicher zu Tage trat. Der Besitz eines Computers galt als Luxus. Der Sinclair jedenfalls reichte, um bei dem Rechtsanwaltssohn das IT-Feuer zu entfachen. „Mit sieben hab ich das erste Mal etwas programmiert und drei Jahre später mein erstes Computerspiel entworfen“, geht die Zeitreise weiter. „Seit damals habe ich nicht mehr aufgehört, mit Computern zu spielen. Nie wieder hat mich etwas so inspiriert wie diese ersten Erfahrungen.“ Die Leidenschaft für das blitzschnelle Jonglieren mit Tastatur und Joystick hat Branko Milutinović im Laufe der Jahre auf immer höhere Umlaufbahnen des IT-Universums geführt. In seiner Heimat gilt der meist leger in Jeans und Polohemd gekleidete CEO der Internetspiele-Schmiede Nordeus schon heute als Entrepreneur- 02/2015 Entrepreneur 22 Entrepreneure Expansion Entrepreneure Expansion 23 Ikone. Das in der serbischen Hauptstadt Belgrad beheimatete Unternehmen wurde in den vergangenen Jahren mit Preisen und Auszeichnungen geradezu überhäuft; Milutinović selbst wurde ob seines kometenhaften Aufstiegs von der Presse als „serbischer Zuckerberg“ gefeiert. und Fußball in einem Produkt verschmelzen. Bis sich aus dem Geistesblitz ein marktfähiges Spiel entwickelte, vergingen allerdings Tausende von Stunden am Rechner. „Zwei Jahre lang haben wir 16 Stunden am Tag gearbeitet“, erinnert sich Milutinović, „ohne auch nur einen freien Tag. Es gab kein Wochenende, kein Weihnachten, keinen Geburtstag.“ Fast alle Mitarbeiter, die mit der Zeit an Bord des Nordeus-Schiffs kamen, waren passionierte Gamer und Sportenthusiasten – so wie die Gründer. „Selbst wenn wir gescheitert wären“, beschreibt Branko Milutinović den Team-Spirit, „hätte die Erfahrung unser Leben bereichert – weil es eine tolle Sache ist, ein Team aufzubauen, mit dem du etwas wirklich Großes bewerkstelligen willst.“ Vor allem ein Produkt hat Nordeus zu weltweiter Popularität in der Gamer-Gemeinde verholfen: Top Eleven, ein Online-Fußballmanagement-Spiel, das als Gratis-App mit täglich fünf Millionen treuen Spielern und insgesamt 100 Millionen registrierten Nutzern längst den Sprung in die Champions League der Sport-Videogames geschafft hat. Der Spieler schlüpft in die Rolle des Managers eines kleinen Fußballteams, das er dann mit cleveren Transfers, perfekter Match-Strategie, dem richtigen Training und StadionUpgrades zu großen Titeln führen kann. Mit Top Eleven war Nordeus der Konkurrenz bei der Premiere vor fünf Jahren vor allem in einem Punkt voraus: „Wir haben als erste Firma auf der Welt ein Spielerlebnis kreiert, das sich nahtlos auf PC, Tablets und Smartphones genießen lässt“, erklärt der Unternehmenschef. „Du spielst Top Eleven zu Hause auf deinem Laptop, schaltest das Gerät aus und machst fünf Minuten später, wenn du in der U-Bahn sitzt, an exakt der gleichen Stelle auf deinem Smartphone oder Tablet weiter.“ „Play anywhere – anytime“ lautet der Slogan. Die Gründung von Nordeus war ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Milutinović hatte weder potente Geldgeber im Rücken noch verfügte er über nennenswertes Know-how in Sachen Marketing, Vertrieb, Lizenzen und Steuern. Zudem stand Serbien nicht unbedingt im Ruf einer Brutstätte für Game-Blockbuster. Letztlich war das Nordeus-Abenteuer getrieben vom Enthusiasmus für die Entwicklung neuer Ideen, „die das Potenzial haben, Millionen zu faszinieren“. Und wenn Milutinović dabei sein Hobby zur Profession veredeln konnte – hätte ihm etwas Besseres passieren können? Branko Milutinović gehört zu jener Generation gut ausgebildeter, weltoffener junger Serben, die sich der neuen Optionen nach dem Ende der düsteren Milošević-Ära entschlossen und geschickt bedienten. Die 78 Tage währenden Luftangriffe der Nato auf Belgrad im Frühjahr 1999, das nächtliche Heulen der Sirenen wird er nie vergessen. Aber als alles vorbei war, erkannte er schnell die Zeichen der Zeit – und die wiesen weit über die Grenzen seiner serbischen Heimat hinaus. Nach dem Abschluss seines Elektrotechnikstudiums an der Universität Belgrad zog es ihn im Sommer 2007 gemeinsam mit seinem Kommilitonen Milan Jovović ins europäische Entwicklungszentrum von Microsoft nach Kopenhagen. An der Hochschule hatten die beiden zusammen Branko Milutinović Die in der serbischen Hauptstadt Belgrad beheimatete Nordeus hat sich auf die Entwicklung von Online-Sportspielen spezialisiert. Das Unternehmen wurde 2010 von Branko Milutinović und Milan Jovović gegründet und beschäftigt heute gut 150 Mitarbeiter an fünf Standorten – der Zentrale in Belgrad sowie Büros in Dublin, San Francisco, London und Skopje. Wichtigstes Produkt und Hauptumsatzquelle ist das OnlineFußballspiel Top Eleven mit weltweit 100 Millionen registrierten Nutzern. ein „richtig cooles Computerspiel“ entworfen, das lernbehinderte Kinder in Verkehrssicherheit trainierte. Bei Microsoft entwickelten sie jetzt Software für Geschäftskunden – ein Job, dessen Faszination nicht allzu lange vorhielt. Schon bald beschlich sie das Gefühl, dass Großkonzerne vielleicht doch nicht den besten Nährboden für innovative Ideen bieten. Und außerdem – ihr Herz schlug nicht für Business-Software, sondern immer noch für Spiele. Sie wollten etwas Eigenes kreieren, etwas Einzigartiges. So kehrten Milutinović und Jovović nach knapp zwei Jahren der dänischen Hauptstadt den Rücken und zogen zurück nach Belgrad, der an Save und Donau gelegenen „weißen Stadt“. Im März 2010 gründeten sie Nordeus – allen gut gemeinten Ratschlägen zum Trotz. „Wie könnt ihr nur eure gut bezahlten 9-to-5-Jobs bei Microsoft für so ein Abenteuer hinschmeißen?“, schlug es ihnen entgegen. Die Idee für Top Eleven entstand relativ schnell; eigentlich ließ das Gründerduo lediglich seine Passion für Computer Drei Jahre in Folge wurde Nordeus zum „besten Arbeitgeber Serbiens“ gekürt. Seit der Firmengründung hat nur ein einziger Mitarbeiter gekündigt. Entrepreneur 02/2015 Anders als das Gros der Gründer investierten Milutinović und Jovović keinerlei Zeit in die Suche nach Geldgebern. Vielleicht wäre es auch nicht so einfach gewesen, Wagniskapital für ein serbisches Start-up in der Videospielbranche aufzutreiben, wer weiß. Aber letztlich benötigte Nordeus gar keine Finanzspritze. „Wir hatten das Glück, dass unser Geschäftsmodell und unser Hauptprodukt Top Eleven von Anfang an Umsätze generierten“, erklärt Milutinović. Außerdem hegt er grundsätzlich ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Wirken von Investoren. „Wenn du dich mit Geldgebern einlässt, beschränkst du automatisch deine Handlungsfreiheit“, ist er überzeugt. „Sie werden darauf drängen, dass du das Unternehmen auf das nächste Level führst – damit es entweder an die Börse geführt oder verkauft werden kann.“ Und irgendwann wächst das Unternehmen nicht mehr, „weil du es willst, sondern weil die Investoren es wollen. Das ist nicht unser Ding.“ Er wundert sich regelmäßig, wenn wieder mal ein Start-up eine erfolgreiche Finanzierungsrunde zelebriert. „Dann kommen alle und gratulieren, das ist wie eine große Party. Ehrlich gesagt, finde ich es wichtiger, sich über wirkliche Erfolge zu freuen, eine erfolgreiche Produktpremiere etwa, als einen Geldsegen zu feiern, der manchmal nur dazu verführt, mehr auszugeben als nötig.“ Fünf Jahre nach der Gründung unterhält Nordeus Büros in Dublin, San Francisco, London und Skopje. Das Unternehmen ist dort präsent, wo auch die App-Store-Anbieter Google und Apple sowie Facebook große Niederlassungen haben. Trotzdem ist und bleibt Nordeus eine serbische Firma. „Hierzulande wird der Wettbewerb um gute Mitarbeiter noch nicht so heftig geführt wie in den klassischen IT-Ländern“, lobt der Chef die Standortvorteile seiner Heimat. „Die Leute, die bei uns arbeiten, sind mit Herzblut dabei – und sie schauen sich nicht ständig um, ob sie anderswo mehr verdienen können.“ Drei Jahre in Folge wurde Nordeus zum „besten Arbeitgeber Serbiens“ gekürt. Natürlich ist Branko Milutinović stolz auf eine solche Auszeichnung – aber noch mehr freut er sich über das Ergebnis der Abstimmung mit den Füßen: Seit der Gründung des Unternehmens hat nur ein einziger Mitarbeiter gekündigt. „Die Leute, die bei uns arbeiten, sind mit Herzblut dabei – und sie schauen sich nicht ständig um, ob sie anderswo mehr verdienen können.“ Junge Branche im Wandel Joachim Spill [email protected] Daniel Windsheimer [email protected] Technology, Media & Entertainment und Telecommunications („TMT“) Leader in Deutschland, Österreich und der Schweiz Head of Subsector „Media & Entertainment“ und TMT Service Line Leader Tax in Deutschland, Österreich und der Schweiz Obwohl die Games-Branche noch vergleichsweise jung ist, befindet sich diese Industrie bereits mitten im Strukturwandel. Während das traditionelle Geschäft mit Spielen für Konsolen und PCs nahezu stagniert, boomt der Markt der Online-Games für Smartphones und Tablets. Allein in Deutschland wuchs 2014 der Umsatz mit Spielen für mobile Geräte um rund ein Drittel. Damit haben sich Mobile Games binnen weniger Jahre zum Wachstumsmotor der Branche entwickelt. Das Smartphone ist mittlerweile die beliebteste Gaming-Plattform. Mit dem Siegeszug der Mobile Games sind die Marktzugangskosten für neue Anbieter im Schnitt gesunken. Die Entwicklung und Vermarktung einer Smartphone-App ist in den meisten Fällen weniger kapitalintensiv als die eines Spiels für Konsole oder PC. In der Vergangenheit war es insbesondere für europäische Spieleanbieter oft ein Handicap, dass sie bei der Entwicklung und Produktion der Hardware, also vor allem der Konsolen, so gut wie keine Rolle spielten. Mit der zunehmenden Verlagerung des Spielgeschehens von den klassischen Devices wie Playstation und X-Box auf Tablets und Smartphones fällt dieser Nachteil immer weniger ins Gewicht. Neben den großen etablierten Spieleentwicklern hat sich in den vergangenen Jahren eine Vielzahl kleiner App-Schmieden positionieren können. Sie haben bewiesen, dass Leidenschaft für die Idee, innovativer Spirit und die Antizipation von Branchentrends den Mangel an Kapital mehr als wettmachen können. Zu dieser Kategorie von Unternehmen zählt zweifellos auch der serbische Online-Spieleentwickler Nordeus. Das Unternehmen setzt auf eine Doppelstrategie: Ohne das traditionelle Videospielumfeld komplett aufzugeben (das Online-Fußballspiel Top Eleven lässt sich auch ganz klassisch auf dem PC spielen), treiben die Nordeus-Entwickler ihr Geschäft klar in Richtung Mobile Games. Als Erste in der Branche präsentierten sie ein Spiel, das auf PC, Tablet und Smartphone läuft – überall und jederzeit. Allerdings ist ein solcher Entwicklungsvorsprung in der extrem schnellen Games-Branche in der Regel schnell aufgezehrt. Eine Partnerschaft kann eine Alternative zur Übernahme durch einen etablierten Mitbewerber sein. So lässt sich die Kreativität eines kleinen Spezialisten mit der Finanz- und Marketingkraft eines größeren Medien- und Entertainmentunternehmens verbinden. Branko Milutinović 02/2015 Entrepreneur 24 Entrepreneure Perspektivwechsel Man braucht Freiheit, um Neues zu wagen Was haben sich ein Visionär der neuen elektronischen Musik und einer der erfolgreichsten deutschen Unternehmensgründer zu erzählen? Michael Reinboth, Gründer des legendären Labels Compost Records, und Jan Beckers, CEO der HitFox Group, teilen auf jeden Fall die Liebe zur Musik, mit der alles begann: Reinboth wurde in Hannover zum DJ, Beckers in Münster zum Eventmanager und bald darauf zum Shootingstar unter den Berliner Internetunternehmern. Hier sprechen sie über alles, was sie verbindet: die Mischung aus Regelwerk und Improvisation, wie sie der Jazz hervorgebracht hat, die Rolle von Inkubatoren und Plattenlabels, die Widerstandskraft der analogen Medien und die Zukunftschancen der digitalen. Fotos Sigrid Reinichs Entrepreneur 02/2015 26 Entrepreneure Perspektivwechsel J Jan Beckers: Für einen DJ, Musiker und Produzenten wie dich ist die Partywelt essenziell. So hat es bei mir auch mal angefangen! Ich startete mit einer OnlinePlattform, aber das Ziel waren eigene Partyreihen. Wie ging es denn bei dir los? Michael Reinboth: Ich habe 1980 in Hannover aufgelegt, dann in München. Im berühmten P1 war ich Resident DJ. Meine Hauptveranstaltung, jeden Freitag, hieß „Into Somethin’“. Dann kam mir die Idee, ein Label zu gründen. Diversifizierung ist wichtig, Mut zum Experiment. House, Techno, Drum & Bass, Hip-Hop, NuJazz: Wir haben alle Styles der 90er- und 2000erJahre mitgemacht und unser musikalisches Programm immer wieder erneuert. Beckers: Hätte dir die Musik nicht gefallen, die du gespielt hast, hättest du sie nicht vermarkten können. Man muss als Unternehmer hinter seinem Produkt stehen. Reinboth: Auf jeden Fall. Bei mir waren es das Label und die Veranstaltungen: auflegen und dabei sein, den direkten Draht zu den Leuten haben. So haben wir auch Produzenten kennengelernt. Wie lange braucht ein Start-up heute, um sich ein Standing zu erobern? Entrepreneure Perspektivwechsel 27 Beckers: Standing hat, wer kontinuierlich liefert. Auch bei uns reicht es nicht, ein OneHit-Wonder zu landen. HitFox ist jetzt vier Jahre alt. Wir haben als Start-up angefangen und über die Zeit bewiesen, dass wir gut darin sind, Unternehmen aufzubauen. Heute gehören 15 Tochterunternehmen zu der Gruppe, die Advertising machen, Big Data, FinTech. Wir bauen gerade die Banken und Versicherungen der Zukunft auf. Wir können uns noch ganz andere Bereiche vorstellen, solange wir sehen, dass wir als kreative Kraft gebraucht werden. Wo findet gerade ein Wandel statt, den etablierte Organisationen nicht wittern oder auf den sie zu langsam reagieren? Es werden noch viele Felder hinzukommen, auf denen wir unsere Digitalkompetenz und unsere Datenkompetenz beweisen können. Reinboth: Bei uns kam der Sprung mit der Gründung des Labels Compost Records. Inzwischen haben wir sieben oder acht SubLabels mit unterschiedlicher Musik. Ich bin stolz darauf, dass wir seit 20 Jahren dieses Label machen. Viele andere sind durch die illegalen Downloads untergegangen. Beckers: Jetzt geht es langsam wieder aufwärts, oder? Reinboth: Ja, aber Musik ist ein schnelllebiges Medium, in dem man sich alle paar Monate erneuern muss. Das läuft auch wieder über die gute alte Schallplatte. Manches gibt es sogar ausschließlich als Vinyl. Und die kosten in limitierter Auflage 80, 90 oder 120 Euro das Stück. Beckers: Und wie viele verkauft man davon? Reinboth: Um die 500. Früher haben wir 5000 bis 12 000 Maxis verkauft, dann brach das Geschäft ein. Jetzt sind wir beim Streaming angelangt. Die Umsätze sind katastrophal. Aber wenn man ein paar Künstler hat, die erfolgreich bei Streaming-Portalen sind, geht es. Heute machen Downloads schon 40 Prozent unseres Umsatzes aus, die Hälfte davon als Stream. Jan Beckers, geboren 1983 in Münster, ist CEO der in Berlin ansässigen HitFox Group und nennt das Firmengründen seine Leidenschaft. Schon als BWL-Studienanfänger gründete er eine Eventagentur, die mehr als 100 Veranstaltungen mit bis zu 5 000 Gästen organisierte, und vor Abschluss der Diplomarbeit rief er eine Jobbörse ins Leben. Die 2011 gegründete HitFox Group wuchs 2013 um 600 Prozent und erzielte einen Gewinn von 15 Millionen Euro. Das brachte Beckers die Auszeichnung als „Entrepreneur Of The Year“ in der Sparte Start-up ein. Jedes Jahr werden mehrere Tochterunternehmen gegründet und binnen Kurzem avancieren Mitarbeiter zu Unternehmern. Der ursprüngliche Kernbereich, die Akquise von Qualitätsnutzern für Online-Spiele, hat sich um die Sparten Big Data und Finanztechnologie erweitert. Inzwischen beschäftigt HitFox mehr als 450 Mitarbeiter, hat den Aufbau von Start-ups perfektioniert und ist über den Berliner Stammsitz hinaus auch in San Francisco, Seoul, Peking, Neu-Delhi und Tokio vertreten. Beckers: Empfindest du dich eher als Musiker oder als Unternehmer? Reinboth: Ich weigere mich, alle unsere Projekte kaufmännisch durchzuplanen. Dafür habe ich einen sehr guten Mitarbeiter. die bei uns zum Vorstellungsgespräch antreten. Doch wir müssen das Gefühl haben: Der ist so neugierig und so ehrgeizig wie wir. Beckers: Da bin ich anders. Ich bin Unternehmer durch und durch. Wirtschaft hat mich schon sehr früh interessiert. Mit 15 habe ich meine Eltern dazu überredet, meine Führerscheinersparnisse in Electronic Arts zu investieren. Mit 20 Jahren habe ich meine erste Firma gegründet und mit 22 das erste digitale Unternehmen. Im Internet wachsen Unternehmen einfach schneller. Man erreicht große Zielgruppen und hat mehr Impact. Deswegen bin ich heute noch gern Internetunternehmer. Bisher waren alle Firmen, die ich aufgebaut habe, auch schnell und erfolgreich. Reinboth: Auch wir nehmen nur Künstler unter Vertrag, von denen wir glauben, dass sie eine Vision haben. Denn wenn du mit Musik wirklich viel Geld verdienen willst, dann ist es besser, du machst irgendeinen kommerziellen Mist. Nein, das Echte braucht Leidenschaft. Reinboth: Davor habe ich großen Respekt. So einen wie dich hätte ich in meiner Firma gebrauchen können! Wahrscheinlich wollen viele junge Leute zu euch? Beckers: Ja, wir bekommen etwa 1200 Bewerbungen im Monat und können uns die besten 20 herausfiltern. Smart sind sie eigentlich alle, Michael Reinboth Michael Reinboth, Jahrgang 1959, ist Geschäftsführer des Münchner Musiklabels Compost Records, einer der angesehensten Plattenfirmen für neue elektronische Musik in Europa. Nach der Schulzeit in Hannover gründete Reinboth dort sein erstes Musikmagazin und arbeitete daneben als DJ. Da er die Musik selbst mitbringen musste, konnte er den Stil der Clubnächte nach eigenen Vorstellungen prägen. Nachdem er für das Studium des Journalismus nach München umgezogen war, begann Reinboth, in den bekanntesten Clubs der Stadt aufzulegen, und machte sich als Resident-DJ durch seinen innovativen Stilmix einen Namen – von Garage-House über Hip-Hop bis zu Techno, Rare Groove und Black Music. Legendär wurden Reinboths „Into Somethin’ “-Nächte. Im Oktober 1994 gründete er das Label Compost Records, das mit der Serie „Future Sounds of Jazz“ (Vol. 1 bis 11) den Grundstein für erfolgreiche Kompilationen elektronischer Musik legte. Im Mai 2015 feierte Compost Records sein 20-jähriges Bestehen und brachte die 500. Platte heraus. Entrepreneur 02/2015 Jan Beckers Beckers: Wie entsteht denn Neues in deinem Bereich? Ich denke da an den Jazz mit seiner Mischung aus Regeln und Improvisation. Reinboth: Manche Künstler sagen: Der Jazz ist die Mutter, von der man am meisten lernen kann. Er stand auch bei unserem Label Pate. Jazz hat ein starkes Image, das uns heute noch nützt. Das andere ist die Freiheit der Improvisation. Alte Elemente werden mit neuen Beats angereichert, man setzt sich über die klassische Songstruktur hinweg. Heute braucht man dafür keine Combo mehr. Du kannst im Bedroom-Studio einen richtig krassen Jazz produzieren – „Eremitenjazz“ nenne ich das. Beckers: Die Mischung aus Freiheit und Regeln sehe ich bei den Innovationen des Unternehmers auch. Es bedarf einer gewissen Freiheit, Neues zu wagen. Wenn man viele Leute hat, funktioniert das nur mit kulturellen Regeln. Geglückte Innovation ist meistens eine Mischung. Man hat die Regeln verstanden, bricht sie aber um einer technischen Neuerung willen, die es einem ermöglicht, das alte Geschäftsmodell besser und zielgruppengerechter zu definieren. Doch Innovation ist nicht gleich Erfolg. Als wir HitFox gestartet haben, hat das erste Geschäftsmodell nicht funktioniert. Sind wir deswegen gescheitert? Nein. Wir haben das Geschäftsmodell gedreht und neu definiert. Reinboth: Wie wichtig ist dabei Geschwindigkeit? Beckers: Extrem wichtig. Wenn du ein modernes Digitalunternehmen aufbaust und nicht schnell bist, kannst du einpacken. Wir bewegen uns ja auf globalen Märkten. Die HitFox Group macht nur noch 15 Prozent ihres Umsatzes in Deutschland. Wir konkurrieren mit dem Silicon Valley und mit Asien. Das ist eine Branche, in der man sich nicht lange ausruhen darf. Wir arbeiten für viele der mehr als 500 Spielefirmen weltweit, die ihre Spiele über uns in Hunderte Länder vertreiben. Reinboth: Auch unser Material ist im letzten Winkel der Erde verfügbar. Wenn wir morgen etwas bei iTunes hochladen, erreichen wir auch den DJ in Madagaskar. Aber wir müssen unsere Stammkundschaft halten und gleichzeitig junges Publikum erreichen. Beckers: Besteht in der Musik nicht die Gefahr, aus aktuellen Trends herauszuwachsen und von den Jugendlichen vergessen zu werden? Reinboth: So empfinde ich es nicht. Wichtig ist, dass deine Passion den Zeitgeist erfasst. Einen Tag in der Woche setze ich mich hin, höre neue Sachen an und frage mich: Wer ist gerade angesagt? Beckers: Das ist bestimmt dein Lieblingsarbeitstag. Reinboth: Ja. Heute muss ich ihn mir erkämpfen, weil die Verwaltung mir die Zeit stiehlt. Das Management liegt bei einem Label bei 80 Prozent. Beckers: Wer ist unter deutschen Musikern eigentlich der smarteste Unternehmer? Reinboth: Grönemeyer ist ganz gut. Er hat mit Grönland sein eigenes Label. Oder Dixon mit Innervisions. Es gibt vielleicht noch zehn bis 15 Labels wie Compost. Um eine Label-Plattform in allen Formaten zu haben – Streaming, CD, Vinyl, Künstler-Signings inklusive Management –, dazu braucht man viel Erfahrung. Und Musiker, die eine Vision haben. Viele unserer Künstler waren von Anfang an dabei. Beckers: Wie wird eigentlich in der Musikbranche gezahlt? Reinboth: Die Gehälter sind niedrig. Und es gibt kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Immerhin beteilige ich meine Leute. Das erhöht Motivation und Engagement. Meine Künstler sind Ambassadors oder Artist Repertoire Scouts in der Welt. Beckers: Die Musikindustrie lebt davon, dass sie den nächsten Hit findet. 02/2015 Entrepreneur 28 Entrepreneure Perspektivwechsel „Situatives Scheitern akzeptiere ich, Scheitern auf der ganzen Linie nicht.“ Reinboth: Wie geht der Neuaufbau eines Unternehmens denn vor sich? Was ist die Initialzündung? Beckers: Es gibt zwei Wege: Entweder wir starten eine Idee aus unserem Team. Oder aber es kommt ein Unternehmer von außerhalb mit einer interessanten Idee, der sich von uns schnellere Distribution erhofft. Das hat etwas von einem Plattenlabel. Durch unsere Erfahrung heben wir sie in kurzer Zeit von null auf Erfolg. Nennen wir es eine Serienfertigung für Unternehmen. Wenn du ein neues Start-up aufbaust, brauchst du immer wieder 80 Prozent derselben Komponenten. Jan Beckers Reinboth: Ja, aber die Vertriebswege sind klassisch. Vinyl ist stark im Kommen, analoge Medien werden wieder stärker. Das ist bei euch anders. Beckers: Ja, die Digitalisierung verändert alles. Wir leben nicht nur von diesem Wandel, wir gestalten ihn. Reinboth: In der Musik wäret ihr der Produzent, der dem Künstler reinredet? Reinboth: Das unterscheidet Daten von Kunst. Nimm ein Künstleralbum: Das ist eine Konzeption, ein Statement. Wenn es nicht gut angekommen ist, kannst du es durch ein RemixAlbum nicht besser machen. Du kannst dem Künstler nur sagen: Komm, reiß dich zusammen. Setz dich noch einmal hin. Nimm dir zwei Jahre Zeit und mach es besser. Ein Album ist nicht reversibel. Beckers: Nein, wir reden wenig rein. Wir geben unseren Gründern die Instrumente und den großen Verstärker und wir füllen das Stadion mit Fans. Die Musik macht der Gründer mit seiner Band. Wir bieten alle Bausteine, die ein Start-up benötigt: das Produktwissen, das Marketingwissen, das rechtliche Wissen und die Finanzierung. Und dadurch, dass wir die ganze Wertschöpfung kontrollieren, können wir die Qualität deutlich erhöhen. Man sagt, dass normalerweise eines von zehn Start-ups erfolgreich ist. Wir streben an, dass 80 Prozent der Unternehmen, die wir aufbauen, erfolgreich sind. Wir systematisieren den Prozess von der Unternehmensgründung bis hin zum Unternehmenserfolg. Das ist unsere Aufgabe. Wir bauen die Fabriken für die Digitalisierung. Beckers: Ein Trend in der Digitalisierung ist künstliche, selbstlernende Intelligenz: Computerprogramme, die sich selbst neue Tätigkeiten beibringen. Dazu wird bald auch das Komponieren von Musik gehören. Wann wird es so weit sein, dass der Computer nicht nur besser Schach spielt, sondern auch die bessere Musik komponiert? Reinboth: So arbeiten ja schon die Hit-Produzenten, die für die Major-Industrie Musik entwickeln. Du kannst einen Parameter einstellen, und dann spuckt dir die Software etwas aus. Das ist Reißbrettmusik, schrecklich! Im Vorführbereich läuft das anders. Wir mieten Studios und buchen Musiker. Da geht nichts ohne echte Entwicklung. Beckers: Was sind die glücklichsten Momente deiner Arbeit? Reinboth: Auf Reisen, auf Tourneen, im direkten Kontakt mit dem Publikum. Ich bin einmal im Jahr eine Woche auf Ibiza. Das gehört zu den Erlebnissen, bei denen ich es echt krachen lasse. Umgang mit Künstlern gibt mir Kraft. Sieh mal, wir haben Künstler, die nie wahrgenommen wurden. Und plötzlich passiert es. Beckers: Das wäre im Internet unmöglich. Erfolg ist bei uns planbar, predictable. Wenn man als Internetunternehmer 20 Jahre keinen Erfolg hatte, dann hat man in Serie etwas falsch gemacht. Und welche Branche wird heute nicht von der Digitalisierung erfasst? Jetzt sind wir schon bei hochkomplexen Gütern wie der Finanzdienstleistung angekommen: Wo lege ich mein Geld am besten an? Eines der Unternehmen, das wir aufbauen, ermöglicht es, statt null Prozent Zinsen in Deutschland etwa drei Prozent Zinsen bei einer Bank im europäischen Ausland zu bekommen. Reinboth: Leute, die unabhängig von Trends abgefahrene, innovative Musik machen, kommen manchmal ohne Marketing zum Erfolg. Und die können bei uns am Label andocken. Wir machen für sie das Backing, das Administrative. Beckers: Das gibt es auch in der Digitalindustrie. Aber man hört ja nur von denen, die es geschafft haben. Neun von zehn schaffen es nicht. Reinboth: Ich glaube, viele scheitern mit ihrer Musik, weil sie stehenbleiben und nicht weitergehen. Beckers: Da schließt sich der Kreis. Situatives Scheitern akzeptiere ich, Scheitern auf der ganzen Linie nicht. Beckers: Opening oder Closing Week? Reinboth: Das schaffe ich leider nicht. Eher Ende Juli, Anfang August. Ich bin Familienvater! Grundsätzlich habe ich meine tollsten Erlebnisse auf den Events. Immer, wenn ich mich gefragt habe, ob wir nach einer Krise noch einmal auf die Füße kommen, denke ich an unsere Live-Geschichten. Der persönliche Entrepreneur 02/2015 „Wir nehmen nur Künstler unter Vertrag, von denen wir glauben, dass sie eine Vision haben. Das Echte braucht Leidenschaft.“ Michael Reinboth Zwischen analoger und digitaler Welt, Maß und Risiko, Regel und Improvisation: HitFox-CEO Jan Beckers (links) und Labelgründer Michael Reinboth. Entrepreneure Erfahrung 31 Die perfekte Tasse Kaffee Als diplomierter Chemiker verfügt Andrea Illy, Chef des italienischen Espressoproduzenten illycaffè, naturgemäß über eine gewisse Affinität zum Experiment. Der Enkel des Unternehmensgründers wacht streng darüber, dass jeder Schritt auf unbekanntes Territorium letztlich immer nur eines zum Ziel hat: den besten Espresso der Welt herzustellen. Andrea Illy ist unablässig auf der Suche nach neuen „Kaffeeparadiesen“ – so nennt der Chef des italienischen Espressoproduzenten illycaffè jene Anbaugebiete, die gerade gut genug sind für seinen Kaffee. D ie Leute vom Toyota-Besucherservice wussten nicht so recht, was sie mit diesem Gast aus Italien anfangen sollten, der sich bei ihnen zu einer Werksvisite angemeldet hatte. Sie waren ja gewohnt, dass Produktionsexperten aus aller Welt zu ihnen nach Japan pilgerten und ihre Fabriken bestaunten. Alle wollten sie das berühmte Produktionssystem des Autoherstellers, das Anfang der 90er mit seinen beispiellos strengen Qualitätsstandards, Just-in-time-Fertigung und traumseliger Produktivität als Nonplusultra der Fabrikationswelt galt, studieren und kopieren. Aber was sollten sie mit Andrea Illy anfangen, dem Sohn eines Kaffeeproduzenten aus dem fernen Italien? Das Familienunternehmen aus Triest hatte sich auf die Produktion von Espresso spezialisiert. Das war dieser pechschwarze Kaffee, den man aus lächerlich kleinen Tassen trank. Nun, Industriespionage war von ihm eher nicht zu befürchten. Also gewährte man ihm freundlich Einlass und führte ihn durch die Fabrikhallen. Andrea Illy, damals ein junger Mann Mitte 20, schaute vermutlich genauer hin als die meisten anderen Besucher. Er war auf der Suche nach Best-Practice-Beispielen in der Qualitätskontrolle. Und er wollte nur von den Besten lernen. Das Mekka der Produktionsqualität, die Null-Fehler-Philosophie des Autokonzerns waren ihm gerade recht. „Ich hatte nur ein Ziel vor Augen“, erinnert er sich an die erste von mehreren JapanReisen. „Es ging darum, den besten Kaffee der Welt herzustellen.“ Und wenn er dafür nach Japan fliegen und sich die Autofabrik mit den weltweit rigidesten Qualitätsstandards anschauen musste, dann war das eben so. „Von den damals gewonnenen Erkenntnissen profitieren wir bis heute“, sagt Andrea Illy, seit 1994 CEO und Präsident von illycaffè, der Kaffeedynastie aus Triest. Als er damals nach Italien zurückkehrte, krempelte er das Qualitätsmanagement des eigenen Unternehmens nach dem Vorbild des Autokonzerns um. Das Streben nach Vollkommenheit, nach dem unübertrefflichen Kaffeegenuss gehört zur Gründungslegende von illycaffè. Andrea Illys Großvater Francesco hatte es während des Ersten Weltkrieges aus dem heutigen Rumänien in die Hafenstadt an der Adria verschlagen. Anfang der 30er-Jahre stieg er, nachdem er es vorher mit Gewürzen, Tee und Schokolade versucht hatte, in den Handel mit Kaffee ein. Allerdings war er nicht zufrieden mit der Qualität des Getränks. Damals jagte man noch Wasserdampf durch das Pulver, um die Aromen zu lösen. 02/2015 Entrepreneur 32 Entrepreneure Erfahrung Weil die Temperatur des Dampfes zu hoch war, schmeckte der Kaffee ausgesprochen bitter. Illy suchte nach einer besseren Lösung. Er entwarf, bastelte, experimentierte – bis er 1935 die Illetta präsentierte, die Vorläuferin aller modernen Espressomaschinen. Und ganz nebenbei erfand er die goldene Formel der Espressozubereitung, jene bis heute gültige Gleichung aus Kaffeemenge, Wasserdruck, Wassertemperatur und Durchlaufzeit: Mit einem Druck von exakt neun Atmosphären jagt der kundige Barista den 90 Grad heißen Wasserstrahl 25 bis 30 Sekunden lang durch eine Schicht von sieben Gramm fein gemahlenem und sorgfältig gepresstem Kaffee. Seit jener Zeit ist Qualität die Triebfeder jeglichen Innovationsstrebens bei illycaffè geblieben. So erfand Francesco Illy beispielsweise das Überdruckverfahren – eine Methode, mit der sich die Aromen in der Bohne einschließen lassen. Jetzt war es erstmals möglich, Kaffee in Dosen zu verpacken und lange aufzubewahren, ohne dass sich das Aroma verflüchtigte. Unter dem heute 50-jährigen Andrea Illy, Enkel des Firmengründers und Maestro des authentischen italienischen Espressos, zelebriert illycaffè die Suche nach Verbesserungen des Besten noch systematischer als unter seinem Vater und seinem Großvater. Der Kaffee durchläuft nicht weniger als 114 Qualitätskontrollen; jede einzelne Bohne wird mit einer elektronischen Sortierung geprüft. Ein Team von Agrarwissenschaftlern, Chemikern und Biologen arbeitet in vier Laboratorien am Ideal der perfekten Tasse Kaffee. Schon als Kind war Andrea Illy beseelt von dem Wunsch, „Dinge perfekt in Ordnung zu bringen“. Wenn Freunde ihm ihre Fahrräder liehen, bastelte er daran herum, bis die Drahtesel kaum noch wiederzuerkennen waren. Unter der Schulbank frisierte er Vespa-Motoren. Wäre er nicht in eine Espressodynastie hineingeboren worden, hätte er vielleicht als Autokonstrukteur Karriere gemacht. „Der Absolutist“ lautete einmal die Schlagzeile eines Artikels über den Qualitätsperfektionisten. Gemeint war nicht eine sonnenköniglich un- 90 Grad Wassertemperatur, neun Atmosphären Druck, sieben Gramm fein gemahlener Kaffee – so lautet die goldene Regel für den perfekten Espresso. Entrepreneur 02/2015 „Ich habe Chemie studiert, um besser zu verstehen, was bei der Herstellung und Zubereitung von Kaffee passiert.“ Andrea Illy beschränkte Regentschaft über das Unternehmen, sondern „unser kompromissloses Streben nach Qualität. Alles, was wir tun, ist getrieben davon.“ Niemals stehe bei einer Innovation oder einer Verbesserung der Produktionsabläufe eine schnöde Kostensenkung im Fokus, sagt Illy. Sollen die anderen doch ihren Espresso im Supermarkt billiger anbieten – ihn kümmert das nicht. Nicht zuletzt bei den von ihm belieferten Cafés, Bars und Restaurants – weltweit über 50 000 in 140 Ländern – wacht er streng darüber, dass sie seine Qualitätsstandards penibel einhalten. Lokale, in denen sich die Klagen über minderwertig zubereiteten Espresso häufen, werden nicht mehr beliefert. Dass er selbst Chemie studiert und damit eine gewisse Affinität zum Experiment entwickelt hat, erleichtert Illy das Verständnis der komplexen chemischen und physikalischen Vorgänge bei der Produktion und der Zubereitung von Kaffee. „Das war letztlich der Grund für mich, Chemiker zu werden“, erzählt er, „ich wollte einen wissenschaftlichen Hintergrund bekommen, damit ich besser verstehe, warum manche Espressos beispielsweise unangenehm bitter schmecken, wie angebrannt.“ Etwa 1 500 chemische Eigenschaften definieren den Charakter eines Kaffees. Nur eine kleine Abweichung, „ein nicht korrekt eingestelltes Mahlwerk zum Beispiel – und schon ist ein Espresso nicht so, wie er sein soll“. Und wie soll er sein? Weich und samtig auf jeden Fall, mit einem Hauch von Bitterkeit, die allerdings erst nach etwa zwei Minuten einsetzt. Illy schwärmt von einem „reichen Aroma mit Noten von Schokolade, geröstetem Brot, Honig und Karamell“. Der Espresso ist und bleibt für ihn die Quintessenz des Kaffeegenusses. „Mit Espresso extrahieren Sie nur die besten Aromen des Kaffees.“ Anders als beim Konferenz-Wachmacher aus der großen Thermoskanne enden die Öle, Träger eines großen Teils der Aromen, nicht in der Filtertüte, sondern können sich in der Tasse verteilen und entfalten. Erfolgreichstes Resultat der naturwissenschaftlichen Experimentierfreude im Hause illycaffè ist Iperespresso, ein Convenience-Espresso aus der Alukapsel. Nachdem Nestlé mit seiner Nespresso-Kapsel den Kaffeemarkt kräftig aufgemischt hatte, sah sich auch Illy am Zuge. Bereits Jahre zuvor waren seine Verfahrenstechniker auf eine Kapselvariante gestoßen, als sie nach Alternativen zur traditionellen Weise der Espressozubereitung suchten. Mit mathematischen Modellen und Labortests hatten sie verschiedene Varianten getestet – unter anderem eine Kapsel, die funktioniert wie eine Brühkammer in zwei Phasen: Infusion und Emulsion. Seit der Premiere von Iperespresso im Jahr 2007 lässt sich illy Kaffee auch zu Hause genießen, ohne sündhaft teure Maschine. Und ohne Abstriche bei der Qualität, betont Andrea Illy. „Iperespresso schmeckt nicht so ähnlich wie ein richtiger Espresso, es ist ein richtiger Espresso.“ Auf weitgehend unerforschtes Territorium wagt sich Illy auch bei der Suche nach neuen Kaffeeparadiesen. So nennt er jene Anbaugebiete, die gerade gut genug sind für illy Kaffee, einen Blend aus neun Arabica-Sorten aus 20 Ländern. Jede Region bringt Kaffee mit einem charakteristischen Geschmacks- und Aromaprofil hervor. Aus Indien beispielsweise bezieht Illy Bohnen mit ausgeprägtem Bittergeschmack und intensiven Noten von Kakao und geröstetem Brot, während äthiopischer Kaffee vergleichsweise mild daherkommt, verziert mit blumigen Arabesken aus Jasminaromen. Andrea Illy (50) führt das von seinem Großvater Francesco Illy im Jahr 1933 gegründete Triester Familienunternehmen illycaffè seit 1994 als CEO und Präsident. Nach dem Schulabschluss studierte er an der Universität Triest Chemie und begann seine Karriere 1990 im Unternehmen in der Qualitätskontrolle. Auf mehreren Reisen nach Japan erforschte er Best Practices im Qualitätsmanagement. illycaffè ist heute in 140 Ländern vertreten; in mehr als 50 000 Cafés, Restaurants und Bars wird der Espresso aus Triest serviert. 700 Mitarbeiter erwirtschafteten im Jahr 2013 einen Umsatz von knapp 374 Millionen Euro. Der Firmenchef selbst ist – was das eigene Produkt betrifft – ein maßvoller Genießer: In der Regel trinkt er vier Tässchen Espresso pro Tag. Ohne Zucker natürlich. Ein Team aus 14 Agrarwissenschaftlern reist in Illys Auftrag das ganze Jahr in der Welt umher und scannt die Kaffeeanbaugebiete nach neuen Bezugsquellen – nach Kaffeebauern, die in der Lage sind, zuverlässig höchste Qualität zu liefern. Vor einigen Jahren führte ihr Weg die Kaffee-Scouts erstmals auch nach China. Vor allem in den Bergen der Provinz Yunnan, übersetzt „südlich der Wolken“, an der Grenze zu Vietnam, Laos und Myanmar, haben sich einige Kooperativen auf Kaffeeanbau spezialisiert. Illys Berater helfen ihnen, ihre Anbaumethoden zu verbessern. „Wir haben mit ihnen im experimentellen Maßstab angefangen“, berichtet Andrea Illy, „mit kleinen Mengen, wie in einem Labor. Und jetzt führen wir sie Schritt für Schritt an unsere Qualitätsstandards heran.“ Illy kauft den Bauern die Bohnen stets direkt ab. Dadurch erhalten sie rund 30 Prozent mehr als das, was die Händler ihnen sonst zahlen. „Wer mit uns arbeitet, hat eine langfristige Perspektive“, sagt der Espressomogul aus Triest. „Auf der Suche nach neuen Produzenten scheuen wir das Experiment nicht – aber wenn es erst einmal geglückt ist, bleiben wir unseren Lieferanten treu.“ Andrea Illy 02/2015 Entrepreneur Entrepreneure Vorbild 35 Der Macher Aus bescheidenen Anfängen hat der sudanesische Entrepreneur Ihab Daoud Abdellatif ein modernes agroindustrielles Unternehmen geschmiedet. Der kluge Stratege setzt dabei auf einheimische Rohstoffe und ein partnerschaftliches Verhältnis zu seinen Lieferanten. Innovative Konzepte entwickelt er gern unter Rückgriff auf landestypische Traditionen. E s gab Zeiten, da hätte sich Ihab Daoud Abdellatif nicht vorstellen können, einmal derart inspiriert über die Milchleistung von Kühen zu berichten. „Wenn sie wüssten, wie viel Milch unsere Tiere geben, wären die Bauern in manchen europäischen Ländern sicher ein wenig neidisch auf uns“, erzählt der Managing Director von DAL Food. Das sudanesische Agrar- und Nahrungsgüterunternehmen nennt fast 7 000 HolsteinRinder sein Eigen – eine Rasse, die für ihre Robustheit und ihre gute Milchleistung bekannt ist. „Unsere Holstein-Rinder liefern im Schnitt fast ein Viertel mehr Milch als ihre Artgenossinnen in westlichen Industrieländern“, berichtet Ihab Daoud Abdellatif stolz. Schließlich würden sie auch besonders gut und reichlich versorgt – mit bestem Futter von eigenen Feldern. Ihab Daoud Abdellatif Ihab Daoud Abdellatif setzt auf einheimische Rohstoffe und Lieferanten. Das von ihm geführte Nahrungsgüterunternehmen DAL Food zählt zu den wenigen Hoffnungsträgern der sudanesischen Wirtschaft. Das von Ihab Daoud Abdellatif geführte Agrar- und Nahrungsgüterunternehmen DAL Food gehört zum Mischkonzern DAL Group, mit 7 000 Beschäftigten und einem geschätzten Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Dollar das größte Unternehmen im Sudan. Die Geschichte des Unternehmens spiegelt die allmähliche Emanzipation von der Kolonialmacht wider. 1951 gründeten zwei britische Geschäftsleute den Vorgänger der heutigen DAL Group, der den Vertrieb von CaterpillarBaumaschinen übernahm. 1966, zehn Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes, übertrug Caterpillar den Vertriebskontrakt an Ihabs Vater Daoud. Den Briten blieb eine Minderheitsbeteiligung, bevor sie in den 70er-Jahren vollständig abgefunden wurden. Seitdem befindet sich die DAL Group im Besitz der Familie Abdellatif. Ihab Daoud Abdellatifs Aufstieg zum Manager und größten Milchbauern des Landes war nicht unbedingt geplant. Als er 1985 nach seinem MBA-Studium in London in sein Heimatland zurückkehrte, wollte er seinem älteren Bruder Osama zur Seite stehen. Der führte schon damals die Geschäfte der DAL Group, eines Mischkonzerns, der in fast allen Wirtschaftssektoren des Landes tätig ist. DAL baut, asphaltiert und betoniert, versorgt den Sudan mit Arzneimitteln, Baumaschinen, Mercedes-Pkws, Milchprodukten und Coca-Cola, betätigt sich als Immobilienentwickler und betreibt große Farmen. Ihab rechnete mit einer Einstiegsposition bestenfalls im unteren Management. Dort wollte er sich die ersten Sporen verdienen. Osama jedoch übertrug dem jüngeren Bruder gleich die Leitung der gerade erst gegründeten Landwirtschaftssparte. „Das war ein Sprung ins kalte Wasser“, erinnert sich Ihab Daoud Abdellatif. „Ich hatte ja keinerlei praktische Managementerfahrung – und von Landwirtschaft verstand ich auch kaum etwas.“ Die materielle Ausstattung der neuen Unternehmensdivision war anfangs recht übersichtlich. Ein paar Felder, eine Handvoll Traktoren und Pflüge sowie 50 Kühe, das war’s. Aus diesen bescheidenen Anfängen hat Ihab Daoud Abdellatif die Landwirtschaftsund Nahrungsgütersparte der DAL Group zielstrebig auf- und ausgebaut – immer in dem Bewusstsein, wie essenziell Agrarwirtschaft und Lebensmittelindustrie in einem Land sind, das kaum in der Lage ist, seine Menschen ausreichend zu ernähren. Die 7 000 Kühe sind ein zentraler Baustein der Unternehmensstrategie von DAL Food, das mittlerweile etwa 80 Prozent des Umsatzes der Unternehmensgruppe erwirtschaftet. Die komplette Milchverarbeitungskette, vom Futteranbau über die Viehhaltung, eine Molkerei und eine Milchpulverfabrik bis zum Verkauf und landesweiten Vertrieb von Milch, Joghurt, Schlagsahne und Käse unter der Marke Capo, ist einzigartig auf dem afrikanischen Kontinent. „Wir nennen es ‚Milchrevolution‘“, sagt Ihab Daoud Abdellatif stolz. Ein enorm wichtiger Schritt in Richtung modernes agroindustrielles Unternehmen war die Eröffnung der größten Molkerei des Landes vor fünf Jahren. „Dank dieser Großmolkerei können wir pasteurisierte Milch erstmals zu einem Preis anbieten, den sich auch der Durchschnittshaushalt leisten kann“, erklärt Abdellatif. Ein Glas Milch pro Tag für jedes Kind im Sudan. Ein kleiner Schritt? Ein großes Vorhaben. Abdellatif setzt, wo immer das möglich ist, auf einheimische Lieferanten und Rohstoffe aus dem eigenen Land. Das sichert Jobs, schafft Einkommen, stärkt die Zulieferer und spart knappe Devisen. Im vergangenen Jahr beispielsweise kaufte DAL Food in China zehn Treibhäuser, in denen jetzt Gemüse gezogen wird, das nicht mehr teuer importiert werden muss. All die Jahre zuvor waren vielerorts Treibhäuser abgerissen worden, weil man den Grundbesitzern eingeredet hatte, dass sie mit dem Verkauf ihres Bodens an Immobilienentwickler mehr Profit machen konnten als mit dem Gemüseanbau. So kam es, dass man im Sudan im Sommer für ein Kilo Tomaten mitunter mehr bezahlte als für ein Kilo Fleisch. Mit seinen Lieferanten praktiziert das Unternehmen eine ausgesprochen faire Partnerschaft. So zahlt DAL Food den Kleinbauern einen höheren Milchpreis als andere Molkereien und steht ihnen außerdem mit technischer Beratung und tierärztlichem Service zur Seite. Wer sich näher mit dem Unternehmen beschäftigt, stößt immer wieder auf Beispiele für die Synthese aus gelebter Corporate Social Responsibility und der erfolgreichen Suche nach neuen Geschäftsfeldern. So trug eine Initiative von DAL Food entscheidend dazu bei, den 02/2015 Entrepreneur 36 Entrepreneure Vorbild Expertise Innovationskultur 37 Sorghumhirse war traditionell Bestandteil fast aller Brotsorten im Sudan. Mit moderner Produktionstechnik verhalf DAL Food dem Hirsemehl zu einem Comeback. krebserregenden Mehlzusatz Kaliumbromat aus den Bäckereien des Landes fast vollständig zu verbannen. Abdellatif wartete nicht ab, ob das von der Regierung dekretierte Verbot der Chemikalie Wirkung zeigte, sondern initiierte ein eigenes landesweites Projekt. Bis heute wurden mehr als 5 000 Bäckereien und Haushalte darin geschult, wie sie – mit Mehl aus den Mühlen von DAL Food – auch ohne Kaliumbromat gutes Brot backen. Innovative Ideen entwickelt das Unternehmen mitunter auch mal unter Rückgriff auf landestypische kulturelle Traditionen. Bestes Beispiel ist Zadna (übersetzt „unser Lebensmittel“), ein Mehl aus Sorghumhirse. Hirsemehl, früher Bestandteil fast aller Brotsorten und Breigerichte im Sudan, war in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend von länger haltbarem Weizenmehl verdrängt worden – das aber importiert werden muss. Als während der Hungersnot der Jahre 2007/2008 die Weizenpreise explodierten, entwickelte DAL Food gemeinsam mit den Herstellern von Mühlenequipment als erstes Unternehmen im Sudan ein Verfahren zur industriellen Herstellung von Mehl aus Sorghum zu einem bis dato unerreicht günstigen Preis – und verhalf dadurch diesem traditionellen Lebensmittel zu einem grandiosen Comeback. Mit mehr als 7 000 Beschäftigten und einem geschätzten Jahresumsatz von 1,5 Milliarden US-Dollar ist die DAL Group heute das mit Abstand größte Unternehmen im Sudan – einer der wenigen Leuchttürme in der Unternehmenslandschaft dieses Landes, das zur Kategorie der „Least Developed Countries“ zählt. Ihab Daoud Abdellatif malt die wirtschaftliche Situation seines Landes nicht schön. So sei es selbst für erfolgreiche Unternehmer aus dem Sudan ausgesprochen schwierig, einen Bankkredit zu bekommen, erzählt er. Es gebe nun mal nicht allzu viele gut beleumdete ausländische Geldhäuser, die sich auf Geschäfte mit Unternehmen Entrepreneur 02/2015 Neue Beweglichkeit Wie Unternehmen Freiräume für Experimente schaffen, um die Chancen des Innovationszeitalters aktiv zu nutzen. Von Markus Heinen, Dr. Philipp Wagner, Dr. Susanne S. Wosch aus dem krisengeplagten Land einlassen. Und wenn doch, dann können sie die Zinskonditionen diktieren. „Es reicht ihnen nicht, wenn wir ihnen einen Arm hergeben“, sagt er, „nein, sie verlangen auch noch ein Bein.“ Abdellatif hebt resignierend die Schultern und flüchtet sich in Sarkasmus. „Nun ja, wer sich in der Position des Bettlers befindet, darf nicht wählerisch sein.“ Die oft prekäre Situation mündet bei den Brüdern Abdellatif allerdings nicht in Tatenlosigkeit, sondern in Initiative. So hat die politische Führung den Ausbau und den Unterhalt der Infrastruktur sträflich vernachlässigt; das öffentliche Transportwesen befindet sich in desaströsem Zustand. Also investierten die Abdellatifs selbst massiv in Transportkapazitäten, damit ihre Produkte frisch und pünktlich den Bestimmungsort erreichen. „Wir verfügen mittlerweile über „Mit Hilfe modernster Produktionstechnik konnten wir einigen traditionellen sudanesischen Lebensmitteln zu einer Renaissance verhelfen.“ Ihab Daoud Abdellatif eigene Züge mit insgesamt 300 Waggons“, zählt Osama Daoud Abdellatif auf, „außerdem haben wir eine eigene Lastwagenflotte mit 700 Fahrzeugen aufgebaut. Auch die Depots und Lagerhäuser für unsere Waren haben wir größtenteils selbst errichtet.“ Wer von Ihab Daoud Abdellatif zitierfähige Sätze über den ökonomischen Unverstand der islamistischen Führung erhofft, wird enttäuscht. Schon sein Vater habe sich komplett aus der Politik herausgehalten, „und genauso halten es mein Bruder und ich. Täten wir das nicht, würde das Unternehmen im kommenden Jahr nicht sein 50-jähriges Bestehen feiern.“ „Man kann Politiker sein oder Geschäftsmann“, erklärt sein Bruder, „beides gleichzeitig geht im Sudan nicht.“ Für die „Kunst, sich als Unternehmer in einem herausfordernden Umfeld zu behaupten“, haben die Brüder einen eigenen Begriff geprägt: „Reliagility“ – eine Wortschöpfung aus „Reliability“ und „Agility“. „Verlässlichkeit und Vertragstreue sind unverzichtbare Grundtugenden“, erklärt Ihab Daoud Abdellatif, „aber im Sudan, wo sich die Bedingungen täglich ändern können, muss man als Unternehmer auch extrem schnell und wendig sein.“ Sein Motto: „Versuche zu erahnen, was auf dich zukommt, und bereite dich darauf vor – dann gelingt es dir, den Nackenschlägen auszuweichen.“„Wir haben alle politischen Wechsel überlebt“, erklärt sein Bruder, „von links nach rechts, von sozialistisch nach islamistisch. Und die Regierungen haben uns letztlich in Ruhe gelassen – weil sie uns als Geschäftsleute sehen, die sich aus der Politik strikt heraushalten. Man kann Politiker sein oder Geschäftsmann. Beides gleichzeitig geht nicht.“ Sie war das beherrschende Thema der diesjährigen CeBIT – die schnell voranschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche und ihr umfassender Einfluss auf die Wirtschaft. Das griffige Schlagwort lautet: Diconomy! In der Praxis bedeutet es nach einhelliger Meinung aller Fachleute: Industrie, Handel, Dienstleistungen – sämtliche Branchen und Unternehmen stehen vor elementaren Umwälzungen. verarbeiten, neu interpretieren und nutzen. Den Unternehmen, denen die digitale Transformation gelingt, bieten sich aussichtsreiche Entwicklungspotenziale. Dabei spielt ihre Größe nur eine untergeordnete Rolle. Nicht nur die großen, kapitalkräftigen Akteure haben in diesem Szenario ihre Chance, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen sowie innovative Newcomer. Das ist die schöne Seite der neuen Welt. Erste Praxisbeispiele zeigen, wie sich in der Industrie der nahen Zukunft, der Industrie 4.0, Fabriken selbst steuern. Wie sich über Netzwerke zudem die Produktionslinien von Zulieferern und industriellen Abnehmern selbstständig koordinieren und ihren Takt automatisch untereinander abstimmen. Nach Einschätzung von Experten sind damit Produktivitätssteigerungen von bis zu 30 Prozent möglich. Die weniger erfreuliche Seite, zumindest für die etablierten Firmen, ist die Tatsache, dass alte Gewissheiten nicht mehr gelten. Einst höchst unterschiedliche Branchen konvergieren, lange Zeit erfolgreiche Geschäftsmodelle kollabieren. Der einstige Computerhersteller Apple etwa ist längst zum Vorreiter in der Unterhaltungs- und Kommunikationstechnologie geworden, mischt mit Angeboten wie iTunes aber auch die Musikbranche auf und wird heute wiederum von jungen Unternehmen wie Spotify attackiert. Der Suchmaschinenanbieter Google hat sein Portfolio über seine zahlreichen Internetdienste hinaus auf Felder wie Robotik, künstliche Intelligenz oder Gebäudeund Energiemanagement ausgedehnt und fordert damit die auf diesen Gebieten tätigen Unternehmen heraus. Social Media, das mobile Internet und auch Cloud Computing verändern das Konsumentenverhalten so schnell wie nie zuvor, bieten Unternehmen aber zugleich auch die Chance, ihren Kunden näherzukommen als je zuvor, sie besser zu verstehen und dementsprechend Produkte und Dienstleistungen maßgeschneidert zu gestalten. Die Kunden, lange eine anonyme Masse, die abnehmen mussten, was die Unternehmen ihnen anboten, werden zu differenzierten Individuen und „Prosumern“. Die Vielzahl der generierten Daten, Big Data, eröffnet den Unternehmen beim Einsatz entsprechender Analysetools zudem detaillierte Einblicke in die eigenen Abläufe und die Welt da draußen – mit entsprechenden Möglichkeiten zu Optimierung und Innovation. Die Nase vorne haben werden dabei künftig jene, die die vorhandenen Informationen am klügsten Die Ära der Innovationen Nach einer Zeit, in der vor allem die Effektivität von Technologien und die Effizienz der Prozesse zählten, beginnt für die Unternehmen nun die Ära der Wertschöpfung durch Innovation. Um im Wettbewerb zu reüssieren, brauchen sie einen konstanten Fluss an neuen Produkten, Prozessen und vor allem auch an neuen Geschäftsmodellen. Sobald sich dieser Innovationsfluss verlangsamt, dürften viele Unternehmen von schnel- leren und einfallsreicheren, oftmals kleineren oder völlig neuen Konkurrenten überholt oder sogar aus dem Markt gedrängt werden. Das Problem dabei: In vielen gestandenen Unternehmen wird diese Gefahr oft nicht oder zu spät erkannt. Sie fokussieren ihre Innovationsaktivitäten auf die Entwicklung und Verbesserung bestehender Leistungsangebote und Geschäftsfelder. Dabei verlieren sie Wettbewerber, die neue Geschäftsfelder entdecken und mit innovativen Leistungsangeboten Kunden völlig neue Wertversprechen machen, aus dem Blick oder erkennen diese erst als Bedrohung, wenn es schon zu spät ist. Der renommierte Innovationsforscher Clayton Christensen, Professor an der Harvard Business School, nennt diese Problematik das Innovator’s Dilemma. Die meisten Innovationen in etablierten Feldern zielen auf Verbesserungen des Bestehenden. Die in einer Branche dominierenden Firmen führen dabei meist die Weiterentwicklung an. Anders sieht es aus, wenn es zu einem Bruch kommt, ein völlig neuer Ansatz die bisher vorherrschende Technologie oder das Geschäftsmodell ablöst. Fast immer verlieren bei sogenannten disruptiven Innovationen die bis dato führenden Unternehmen ihre Spitzenposition oder werden sogar ganz aus dem Markt gedrängt. Dies resultiert daraus, dass derartige Entwicklungen von den Traditionsunternehmen überhaupt nicht wahrgenommen werden – oder zwar wahrgenommen, aber als irrelevant abgetan werden bzw. die Reaktionen darauf sind falsch. Ursachen hierfür sind oftmals eine gewisse Risikoscheu sowie das Fehlen von visionärer Kraft und Beweglichkeit, die die Etablierten vermutlich am Anfang der eigenen Unternehmensgeschichte einmal selbst hatten. 02/2015 Entrepreneur 38 Expertise Innovationskultur 39 Bedeutung und Auswirkungen der Digitalisierung für die Geschäftsmodelle von Unternehmen Mit der Digitalisierung befinden wir uns jetzt in einer ausgeprägten Phase der disruptiven Innovationen, die meist völlig neuen Herstellungsund Kommerzialisierungslogiken folgen. Bei nahezu sieben von zehn Unternehmen spielen digitale Technologien inzwischen eine große oder sehr große Rolle für das eigene Geschäftsmodell und jedes dritte Unternehmen rechnet mit einer weiter stark steigenden Bedeutung digitaler Technologien für das eigene Geschäftsmodell. Grafik 1: „Spielen digitale Technologien für das Geschäftsmodell Ihres Unternehmens derzeit eine Rolle?“ Grafik 3: „Bewerten Sie die zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft für Ihr Unternehmen in erster Linie als Bedrohung oder als Chance?“ Grafik 2: „Erwarten Sie, dass die Bedeutung digitaler Technologien für das Geschäftsmodell Ihres Unternehmens in den kommenden fünf Jahren steigen wird?“ 4 17 24 29 32 32 64 14 Interessanterweise sind daran meist auch die eigenen Kunden schuld, die mit ihren Wünschen das Unternehmen in eine Art Geiselhaft nehmen und die Wahrnehmung neuer Kundengruppen und -bedürfnisse verhindern. Scheinbar haben die Unternehmen alles richtig gemacht, wenn sie die gesamte Organisation strikt auf eine kundenorientierte Verbesserung ihrer Leistungsangebote ausrichten – und am Ende damit doch auch alles falsch. Bruch mit der Vergangenheit Ohne Zweifel befinden wir uns mit der Digitalisierung jetzt in einer ausgeprägten Phase der disruptiven Innovationen. Diese stellen nicht nur neue Wege zur Lösung von Kundenproblemen dar, sondern folgen meist auch völlig neuen Herstellungs- und Kommerzialisierungslogiken. Es entstehen nicht nur neue Produkte und Dienstleistungen, sondern auch völlig neue Geschäftsmodelle. Beispiel Mobilität Schon heute helfen Smartphones bei der Parkplatzsuche und berechnen die effizienteste Route. In naher Zukunft können Autos mit ihnen gesteuert werden. Auch hier wollen Google und Apple mitmischen. Oder Autos fahren ohnehin selbst, kommunizieren untereinander und optimieren so die Verkehrsflüsse oder informieren Halter und Hersteller über anstehende Reparaturen. Beispiel Handel Das Internet hat sowohl den Einzel- als auch den Versandhandel revolutioniert. Die Digitalisierung von Angebotsdarstellung, Bestellung und Logistik ermöglicht eine riesige Produktauswahl und schnelle Lieferung selbst in entlegenere Gegenden. Der nächste Schritt ist die digitale Objekterkennung. Man macht mit dem Smartphone irgendwo ein Foto vom Wunschprodukt. Binnen Sekunden erhält man alle relevanten Informationen und kann die Ware bei Bedarf sofort online bestellen. Gerade für ein Hochtechnologieland wie Deutschland mit seiner starken Ausrichtung auf den Export, in dem neben Konzernen auch viele Mittelständler Marktführer in ihren Branchen sind, ist es von vitalem Interesse, sich intensiv Gedanken darüber zu machen, welche Implikationen die digitale Transformation für die Unternehmen haben wird. Die Unternehmensführung muss die Potenziale für das eigene Geschäft erkennen. Klar formulierte Ziele und eine übergreifende Digitalisierungsstrategie bilden die Grundlage für eine prosperierende Entwicklung. Entrepreneur 02/2015 In Summe bedeutet dies, neue Technologieund Marktopportunitäten zu verstehen und entsprechende neue Kompetenzen aufzubauen sowie Kunden neu und anders zu verstehen. Neue, digitale Geschäftsmodelle stellen dabei oft ganz andere Anforderungen als das traditionelle Business. Vor allem aber muss das interne Management von Innovationen überdacht werden. Noch werden nach unserer Erfahrung im Innovationsmanagement vieler Unternehmen Verbesserung und Effizienzsteigerung des bestehenden Angebots als Ziele zu wichtig genommen. Deutsche Firmen sind absolut führend, wenn es darum geht, in bekannten Feldern Innovationen voranzubringen und zu skalieren. Strategie, Kultur und die meist linearen Vorgehensweisen des Innovationsmanagements sind in diesem Sinne hocheffizient, doch sie eignen sich weniger dazu, völlig neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle zu kreieren. Angesichts der zuvor skizzierten Situation müssen heutige Innovationsansätze aber offener und dynamischer werden, mit größerem Gewicht auf Experimentierfreude, der Lust am Ausprobieren, Lernen aus Fehlern und Erfahrungen sowie der schnellen Anpassung von Vorgehensweisen. Was also können die Unternehmen tun, um dem Innovator’s Dilemma zu entgehen? Wie können sie den Spagat schaffen, ihr Kerngeschäft zu betreiben und neben den etablierten gleichzeitig völlig neue Geschäftsaktivitäten aufzubauen? Es wäre wohl fahrlässig, das bewährte Innovationsmanagement eines Unternehmens insgesamt auf den Kopf zu stellen, durch die vorschnelle Aufgabe von erprobten Produkten und deren konsequenter Verbesserung 40 Ja, eine sehr große Kaum Gar nicht Ja, eine mittelgroße 44 Ja, deutlich Ja, leicht Eher Chance Weder Bedrohung noch Chance Eher Bedrohung Nein Grafik 4: „Inwiefern sehen Sie eine Chance?“ Direkter Zugang zu Kunden Neue Kunden/Zielgruppen Einfachere Markterschließung Besseres Wissen über Kundenwünsche/Personalisierung Neue Produkte/größere Vielfalt der Produkte Neue Kompetenzfelder und veränderte Arbeitsabläufe Erhöhung der Margen durch attraktive/differenzierte Geschäftsmodelle 0 Die große Mehrheit der Unternehmen sieht in der voranschreitenden Digitalisierung der Wirtschaft in erster Linie eine Chance – nur jedes 25. Unternehmen bewertet die Digitalisierung als Bedrohung. Die größten Potenziale werden mit einem direkteren Zugang zu bestehenden und neuen Kunden sowie den Möglichkeiten, deren Wünsche besser identifizieren zu können, verbunden. Nur geringe Bedeutung messen die Unternehmen den Implikationen für ihr Geschäftsmodell zu. Und etwa ein Drittel der Unternehmen sieht für sich heute überhaupt keine Relevanz in diesen Entwicklungen. Ergebnisse einer Umfrage zur Digitalisierung unter 1 025 Unternehmen in zwölf Ländern im Jahr 2014. 5 10 15 20 52 % 9 % 25 30 35 der Unternehmen erwarten, dass branchenfremde Akteure in nennenswertem Umfang in die eigene Branche expandieren werden(unterstützt durch die zunehmende Digitalisierung). Nur der Unternehmen kooperieren mit Start-up-Firmen aus der Digitalwirtschaft. Quellen: EY 02/2015 Entrepreneur 40 Expertise Innovationskultur 41 Der „Entrepreneurial Spirit“ eines Unternehmens, die Fähigkeit offen, kreativ und flexibel Neues anzugehen, muss wieder neu belebt werden. Konflikt • Bekannt und hohe Kompetenz • Kurzfristorientierung • Unmittelbare Ergebnisse • Hohe Sicherheit und geringes Risiko • Planbar Innovation in bestehenden Geschäftsfeldern Bestehende Innovationsmanagementsysteme hocheffizient die wirtschaftliche Basis der Organisation in Gefahr zu bringen. Um verlässlich im großen Rahmen und global aktiv zu sein, bedarf es in Forschung und Entwicklung wie in allen anderen Unternehmensbereichen detailliert und strikt geplanter und kontrollierter Prozesse. Gleichzeitig ist aber zu fragen, wie der „Entrepreneurial Spirit“, offen, kreativ und flexibel Neues anzugehen, den das Unternehmen in seinen Anfängen ja ganz zweifellos hatte, wieder neu belebt werden kann. Freiräume für Versuch und Irrtum Der erste Schritt ist, Führungskräfte und Mitarbeiter in der Organisation zu identifizieren, Entrepreneur 02/2015 Innovation in neuen Geschäftsfeldern Neue, andere Ansätze für das Innovationsmanagement nötig die dem Neuen gegenüber besonders aufgeschlossen und experimentierfreudig sind. Solche Innovatoren zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus: Sie sind • N etzwerker – sie tauschen sich gern mit Menschen aus, die sehr unterschiedliche Standpunkte, Ideen und Perspektiven vertreten; • Experimentatoren – sie probieren gern Unbekanntes aus, besuchen fremde Orte und suchen nach neuen Informationen, um zu unorthodoxen Antworten zu kommen und so auf neue Ideen zu stoßen; • Beobachter – sie untersuchen detailliert das Verhalten von Kunden, Lieferanten und Wettbewerbern, um neue Handlungsansätze zu identifizieren; • Unbekannte und geringe Kompetenz • Langfristorientierung • Keine unmittelbaren Ergebnisse • Hohe Unsicherheit und großes Risiko • Nur wenig planbar, eher experimentieren Quelle: EY • F ragesteller – sie stellen unbequeme und manchmal lästige Fragen, die die allgemeine Haltung zu bestimmten Themen herausfordern. Sie achten dabei mehr auf neue Einsichten als auf fertige Antworten; • Kombinierer – sie ziehen Verbindungen zwischen Fragen, Problemen und Ideen aus Bereichen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Innovative Denker haben die Gabe, Verbindungen zwischen Dingen herzustellen, die andere als völlig disparat beurteilen. Soll dieser Geist tatsächlich Bewegung ins Unternehmen bringen, dann brauchen Innovatoren mit den genannten Eigenschaften Markus Heinen [email protected] Dr. Philipp Wagner [email protected] Dr. Susanne S. Wosch [email protected] EMEIA Strategy Leader Partner EY Advisory Services/Strategy Senior Consultant EY Advisory Services/Strategy Biochemikerin Senior Manager EY Advisory Services/Strategy den Auftrag und die uneingeschränkte Unterstützung des Topmanagements. Zudem benötigen sie Freiräume zum Experimentieren, in denen analog dem Motto von Facebook „Move fast and break things“ weniger planen und mehr handeln die Devise ist. In denen sie Ideen mit einem schnellen, iterativen und adaptiven Vorgehen ausprobieren können, Prototypen von Produkten bauen und unter realen Bedingungen testen können, auch wenn diese Prototypen von der Praxisreife noch weit entfernt sind. Freiräume, in denen Fehler kein Versagen, sondern Lernerfolge sind. Die Lösung sind „Anbauten“ an die bestehende Organisation. Spezifische organisationale Einheiten, die nicht direkt in die Strukturen und Prozesse der Kernorganisation eingebunden sind und die damit Freiräume zum Experimentieren mit der Zukunft schaffen; geschützte Räume, die nicht den Anforderungen des Kerngeschäfts unterworfen sind, die Platz und Zeit bieten, Dinge anders zu machen. In solchen Brutkästen für Innovationen, den sogenannten Inkubatoren, ist es möglich, die eigenen Mitarbeiter unter Start-up-Bedingungen arbeiten zu lassen oder direkt mit Start-ups und anderen innovativen Unternehmen gemeinsam neue Ideen zu entwickeln und auszuprobieren – somit von der Wendigkeit „junger“ Entrepreneure zu profitieren (siehe auch S. 48). Innerhalb dieser Freiräume sollten die Beteiligten weitreichende Autonomie haben und mit so wenig Bürokratie belastet werden wie möglich. Zugleich muss sichergestellt werden, dass der Kontakt zwischen dem etablierten „Mutterschiff“ und dem agilen „Schnellboot“ nicht abreißt; am besten gelingt dies durch dezidierte Kommunikationsformate, regelmäßigen Austausch und durch Mittler, die sich in beiden Kulturen zu Hause fühlen. Während jeder Inkubator unternehmensspezifisch ausgestaltet sein muss, ist eines für alle unabdingbar – das Commitment des Topmanagements. Die Unternehmensspitze muss sich als Katalysator verstehen, der die Veränderung der gesamten Organisation zu neuen Formen von Innovation beschleunigt. Es muss klare Vorgaben im Rahmen einer ganzheitlichen Innovationsstrategie dafür geben, welche Vorhaben den bewährten Pfaden folgen sollen und welche eher experimentellen Charakter haben. Beide Kulturen sollten nebeneinander existieren, sich respektieren und im besten Fall gegenseitig inspirieren. Vorteile durch Inkubatoren • Zugang zu neuen Ideen, Technologien und Kompetenzen • Identifikation relevanter fundamentaler Innovationsentwicklungen • Kooperative Entwicklung von Innovation in geschütztem Umfeld • Beförderung von Kreativität und Innovativität • Steigerung des Innovationspotenzials • Generierung neuer Geschäftsaktivitäten und Sicherung von Wettbewerbsvorteilen • Förderung des unternehmerischen Handelns und der Innovationskultur Im Zusammenhang mit einer derartigen Transformation ist es oft unabdingbar, dass sich die Unternehmensführung grundsätzliche Gedanken über den ursächlichen Unternehmenszweck machen muss. Gerade unter Berücksichtigung der aufgezeigten Brüche und Entwicklungssprünge durch die Digitalisierung wird es für viele Unternehmen unumgänglich, die eigene Zielsetzung zu justieren, zu fokussieren oder neu zu definieren. Nach unserer Ansicht und Erfahrung führt eine aus einem klaren Unternehmensziel abgeleitete Veränderung der Organisation („Purpose-led transformation“) und der organisatorischen Abläufe sehr schnell zu mehr Beweglichkeit, Reaktionsfähigkeit und neuen Innovationsansätzen. Auch wenn ein etabliertes Unternehmen schon aufgrund seiner Größe und Strukturen nie wieder die Beweglichkeit seiner Anfangszeit oder eines konkurrierenden Start-ups erlangen wird, so kann es doch seinen eigenen Innovationsansatz durch eine klare Zielsetzung und die Integration neuer Denkansätze, etwa durch den Aufbau von Inkubatoren, agiler gestalten. Mit der richtig formulierten Strategie und einem adäquat gestalteten Innovationsmanagement können Unternehmen so auch im Zeitalter der Innovation und unter den Anforderungen des schnellen Wandels dem reinen Reaktionsmodus entkommen und die vielfältig sich bietenden Chancen der Digitalisierung aktiv nutzen. Unserer Erfahrung nach ist der Aufbau solcher Inkubatoren mit dem Ziel, die Innovationskraft des Unternehmens insgesamt zu befeuern, keine einfache Fingerübung, sondern er bedeutet eine grundlegende Transformation hin zu mehr Flexibilität und Agilität des Innovationsmanagements in toto. 02/2015 Entrepreneur Expertise Dialog 43 „Es geht darum, das Prinzip zu begreifen, zu wissen: Ich kann diese digitale Welt mitgestalten.“ Ein mechanischer Holzwebstuhl neben einem supermodernen 3D-Drucker, im Design Research Lab der Berliner Universität der Künste findet das niemand erstaunlich. Tradition trifft Internet – so entsteht der Stoff der Zukunft. Genau der passende Hintergrund also für Hausherrin Gesche Joost, Designforscherin und Internetbotschafterin der Bundesregierung, um mit Hubert Barth, Mitglied der Geschäftsführung bei EY, die Herausforderungen der Digitalisierung zu diskutieren. Fotos Wolfgang Stahr Hubert Barth: Frau Joost, die Digitalisierung bringt in Wirtschaft und Gesellschaft große Veränderungen mit sich. Erprobte Geschäftsmodelle und Arbeitsweisen verändern sich. Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie – vor allem aus Sicht der Wirtschaft? Gesche Joost: Die entscheidende Frage ist: Haben die Unternehmen im Kern verstanden, was auf sie zukommt? Ich fürchte, teilweise nicht. Ich glaube, Digitalisierung wird noch zu oft reduziert auf Breitbandausbau, also eine bessere Infrastruktur. Oder die Unternehmen glauben, es reiche, ihr IT-Equipment ein bisschen zu optimieren. Wie Cloud Services besser genutzt werden, Big-Data-Analysen stärker eingesetzt werden und die Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen notwendig macht, das wird uns die nächsten Jahre beschäftigen. Hier ist der Zeitfaktor kritisch, damit wir international wettbewerbsfähig bleiben. Dabei gibt es viele spannende Chancen. Daten an sich werden etwas wert. Sie sind die Währung der Zukunft. Barth: Wir als Beratungsgesellschaft beobachten, dass Unternehmen sich offenbar scheuen, in die Digitalisierung zu investieren. Es gibt eine Vielzahl von IT-Systemen, die mittlerweile 20 Jahre alt sind. Viele Fertigungsabläufe basieren letztlich immer noch auf mechanischen Prozessen. Die Unternehmen sind es nicht gewohnt, mit digitalen Daten umzugehen, die es ermöglichen würden, die Prozesse zu beschleunigen. Joost: Da gibt es in der Tat eine große Diskrepanz. Einerseits erleben wir unter dem Schlagwort Industrie 4.0 die komplette Digitalisierung der Fertigungsprozesse im Anlagenbau, im Maschinenbau und in der Automobilindustrie als vielversprechendes Szenario. Gleichzeitig gibt es gerade im Mittelstand eine fast gegenteilige Situation. Die Herausforderung wird darin bestehen, auch den Mittelstand auf die Digitalisierung vorzubereiten. Es gilt, einerseits Vertrauen zu schaffen und die IT-Sicherheit zu verbessern und gleichzeitig die Anwendungen so zu vereinfachen, dass selbst ein kleinerer Mittelständler sie in seine Prozesse integrieren kann. Barth: Einer unserer Klienten zum Beispiel, ein mittelständischer Automobilzulieferer, hat das Unternehmen seinem Enkel übergeben, der aus der digitalen Welt kommt. Der Nachfolger hat defizitäre Geschäftsbereiche allein dadurch profitabel gemacht, dass er die Prozessketten anders aufgebaut hat, sich jeweils gefragt hat: „Was ist die Aufgabe? Was die Lösung?“ – und dabei auch auf Digitalisierung gesetzt hat. Das Thema scheint also auch eine Generationenfrage zu sein. Joost: Ich kenne es aus der eigenen Familie. Meine Eltern hatten eine Druckerei. Da hat die Digitalisierung bereits in den 80ern angefangen und den Bleisatz von Hand abgelöst. Eine Zeitung zu setzen, das geschieht heute an einem kleinen Laptop. Ein solches Umdenken ist sicherlich schwierig, weil man traditionelle Prozesse, handwerkliche Kenntnisse verliert und über Bord werfen muss. Das ist ein teilweise schwieriger Ablösungsprozess. Barth: Vor Kurzem war ein junger Entrepreneur bei uns, der sich nicht weniger als den Bau der Fabrik der Zukunft vorgenommen hat. Er will eine Fabrik von der Seite der Digitalisierung völlig neu denken, ohne Vorbedingungen. Und er hat tatsächlich einen experimentierfreudigen Unternehmer gefunden, der ihm erlaubt hat, eine seiner Fabriken vollkommen neu zu konzipieren. Aber das ist die Ausnahme. Schlaue Strickjacke: Im Notfall reicht es, am Ärmel zu zupfen, um die Rettung zu alarmieren. Joost: Dieser Umbau der Prozessketten ist total spannend. Das ist auch etwas, das wir hier in unserem Bereich ausprobieren. Wir arbeiten an Smart Textiles, intelligenten Stoffen. Das heißt, wir haben einerseits klassische Produktionsschritte für die Herstellung von Kleidung. Die Zuschnitte für Kleidungsstücke werden digitalisiert, die Daten dann an eine Strickmaschine, eine Webmaschine, teilweise auch an den 3D-Drucker geschickt. Dort wird die Smartness in Form von Sensoren gleich mit eingestrickt oder mit eingenäht. 02/2015 Entrepreneur 44 Expertise Dialog 45 „‚Made in Germany‘ ist immer noch ein Qualitätssiegel. Wenn wir das, worin wir gut sind, nämlich die Ingenieursperfektion, mit dem Schritt in die Digitalisierung zusammenbringen, dann haben wir eine reelle Chance im Wettbewerb.“ Hubert Barth „Haben die Unternehmen im Kern verstanden, was auf sie zukommt? Ich fürchte, teilweise nicht.“ Gesche Joost Gleichzeitig wird eine App, die das Ganze steuert, auf das Smartphone gespielt, und heraus kommt ein technisches System, das aussieht wie ein normales Kleidungsstück. Es gibt in Deutschland trotz des Niedergangs der Textilindustrie immer noch Weltmarktführer für Web- und Strickmaschinen wie Dornier und Stoll. Zu denen suchen wir gerade den Kontakt. Wir wollen wissen, ob sie sich vorstellen können, etwa ein leitendes Garn zu verweben oder kleine Sensoren in die Stoffe zu integrieren. Barth: Aus meiner Erfahrung sind viele deutsche Unternehmen noch zu wenig experimentierfreudig. Die Unternehmen, auch derzeit sehr erfolgreiche, verlieren einen Teil ihrer Talente, weil der Prozess von der Idee über die Genehmigung eines Projekts bis zur Realisierung oft zu lange dauert. Ich kenne eine Reihe von Gründern, die ihre früheren Unternehmen verlassen haben, um ihre Ideen selbst umzusetzen. Das Verwunderliche ist: Theoretisch hätten diese Talente in den Unternehmen den nötigen Support bekommen können, weil dort die finanziellen Mittel vorhanden sind. Aber in der Praxis wird ihnen genau das oft erschwert. Joost: Haben Sie den Eindruck, dass gerade deutsche Unternehmen Probleme haben, einzelnen Mitarbeitern Freiräume zu geben? Barth: Ich kann aus dem Stand vier, fünf Beispiele nennen, bei denen die Unternehmen in dieser Beziehung einfach zu risikoscheu waren. Aber das ändert sich gerade. Im Medienbereich gibt es inzwischen einige Unternehmen, die sich an kleinen Start-ups beteiligen und ihnen Freiraum lassen, sie nicht zwingend in ihre Prozesse integrieren. Ich sehe hier für die Unternehmen eine große Herausforderung, das vorhandene Talent auch wirklich zu nutzen. Wie machen Sie das hier an der Universität? Entrepreneur 02/2015 Joost: Das ist eine wichtige Frage für uns: Wie ziehen wir diese tollen Talente an? Sie sind sehr anspruchsvoll, sie sind hervorragend ausgebildet. Man muss ihnen wirklich Freiräume bieten. Deshalb verstehen wir uns hier auch nicht als klassisches Forschungsinstitut, sondern als offenen Experimentierraum. Wir haben viele Kooperationen mit großen, internationalen Unternehmen, die genau das suchen. Das ist aus meiner Sicht auch die Aufgabe für Unternehmen: Welche Infrastrukturen müssen sie schaffen, um Innovationen zuzulassen? Ich teile Ihre Erfahrungen, was die Sperrigkeit der Strukturen in vielen großen Konzernen angeht. Aber ein isolierter Innovationsraum im Unternehmen, der anderen Spielregeln gehorcht, funktioniert meist auch nicht. Der erfolgreichste Weg, denke ich, ist tatsächlich, sich mit jungen Start-ups, mit Experimentier-Labs zusammenzuschließen und dort einfach etwas auszuprobieren. Internationale Partner haben da oft eine größere Leichtigkeit. Wir haben zum Beispiel eine Notfallstrickjacke für Ältere entwickelt. Die sagen: Das ist toll! Bringt das auf den Markt. Deutsche Unternehmen fragen erst mal: Was ist mit dem Datenschutz? Ist das denn waschbar? Ist es technisch zertifiziert? Diese Art des Bedenkentragens ist manchmal schon schwierig. Andererseits führt sie natürlich dazu, dass, wenn wir etwas auf den Markt bringen, das dann auch wirklich sicher und gut ist. Aber ich glaube, man muss da ein bisschen leichtfüßiger werden und mehr wagen. Barth: „Made in Germany“ ist immer noch ein Qualitätssiegel. Wenn wir das, worin wir gut sind, nämlich die Ingenieursperfektion im Anlagenbau und in der Automobilindustrie, mit dem Schritt in die Digitalisierung zusammenbringen, dann haben wir eine reelle Chance im Wettbewerb. Joost: Jetzt geht es darum, dass die Industrie und auch die Politik internationale Standards setzen, Prozesse definieren. Die Gefahr in Deutschland: Wir sind immer so gründlich. Wir müssen schauen, dass uns das nicht zu sehr verlangsamt, dass nicht, obwohl wir so früh dran waren, aus Asien oder aus den USA dann doch die schnelleren Lösungen kommen. Ein anderer Bereich sind sicherlich Medizintechnik und Pharmaindustrie – von Big-Data-Analysen bis zur individuellen Medikation. Aber da überwiegen zurzeit noch die Bedenken, dass persönliche Daten zum Schaden des Patienten verwendet werden könnten. Hier brauchen wir progressivere Konzepte und sollten nicht immer fürchten, Big Data sei Big Brother. Barth: Um solche Berührungsängste abzubauen, muss man den Umgang vermutlich sehr früh üben. Ein erfolgreicher amerikanischer Unternehmer sagte mir vor Kurzem, wenn man etwas für die junge Generation tun wolle, dann müsste man sie Coding und Mandarin lehren. Wie sehen Sie das? Joost: Da kann ich nur zustimmen. Es müssen wirklich alle programmieren lernen. Es geht nicht darum, komplizierte Programmiersprachen aus dem Effeff zu beherrschen, sondern eher darum, das Prinzip zu begreifen, zu wissen: Ich kann diese digitale Welt mitgestalten. Es gibt inzwischen ganz einfache Programmiersprachen, die selbst kleine Kinder lernen. Das macht richtig Spaß. Das ist kein öder Informatikunterricht, sondern etwas Kreatives. Im Moment sind deutsche Schulen im europäischen Vergleich abgehängt. England hat zum Beispiel Coding durchgängig ins Curriculum integriert: von der ersten Klasse bis in die Oberstufe. Barth: Die Frage ist natürlich auch: Wie finde ich die richtigen Informationen, wie kann ich Gesche Joost Gesche Joost, 1974 in Kiel geboren, hat Architektur an der Technischen Universität Braunschweig und Design an der Köln International School of Design studiert. Von 2008 bis Ende 2010 war sie Juniorprofessorin an der TU Berlin für Interaction Design & Media in Kooperation mit den Deutsche Telekom Laboratories. Seit 2011 ist Joost Professorin an der Universität der Künste Berlin für das Fachgebiet Designforschung und leitet dort das Design Research Lab. 2006 berief der spätere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die Wissenschaftlerin in seinen persönlichen Beraterkreis und 2013 als netzpolitische Expertin in sein Wahlkampfteam. 2014 wurde sie Internetbotschafterin der Bundesregierung. Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, Richtiges von Falschem? Joost: Die richtigen Filtersysteme sind tatsächlich eine Herausforderung. Da fehlen in der Tat noch viele Strukturen. Welches sind relevante Informationen? Welches sind vertrauenswürdige Quellen im Netz? Das sind Fragestellungen, die sich jetzt auftun. Welche Weiterbildungsformate nutzen Sie denn in Ihrem Unternehmen für Ihre Mitarbeiter? Barth: Wir haben bei EY einige Web-based Learning Tools mit interaktiven Programmen. Zudem können wir uns über verschiedene Systeme zusammenschalten und Dinge gemeinsam diskutieren. Ich persönlich bin kein Fan von anonymem Web-based Learning, aber die interaktive Arbeit in Gruppen über verschiedene Bereiche hinweg an verschiedenen 02/2015 Entrepreneur Expertise Dialog 47 Hubert Barth 1968 in Aalen geboren, ist Mitglied der Geschäftsführung von EY Deutschland. Barth hat Betriebswirtschaftslehre in Tübingen studiert. Er ist Wirtschaftsprüfer und Steuerberater sowie Dozent an der Munich Business School. Seit mehr als 20 Jahren ist Barth in unterschiedlichen Positionen im Prüfungs- und Beratungsgeschäft tätig. Für jeweils drei Jahre hatte er Führungspositionen bei einer Beratungsgesellschaft in New York sowie im weltweiten Vermögensverwaltungsgeschäft eines internationalen Versicherungskonzerns inne. Neben großen internationalen Unternehmen betreut er seit Jahren zahlreiche mittelständische Firmen sowie junge Start-up-Unternehmer. [email protected] Mitglied der Geschäftsführung EY Deutschland Standorten funktioniert mittlerweile sehr gut. Wir sparen dadurch unglaublich viel Reisezeit, Expertenwissen verteilt sich viel schneller und breiter. Sie beschäftigten sich hier in Ihrem Lab ja sehr viel mit Mensch-MaschineInteraktionen. Welche Bedingungen sind notwendig, damit Menschen Technik akzeptieren? Joost: Wir entwickeln keine technischen Systeme, mit denen der Nutzer dann irgendwie selbst klarkommen muss. Unser Ausgangspunkt sind immer die Menschen. Wir arbeiten zum Beispiel mit einem Senioren-ComputerClub, der ganz großartig ist, mit Familien, mit Demenzkranken, und entwickeln mit ihnen zusammen Lösungen für den Alltag, die sie unterstützen. Ein Beispiel ist die Notfallstrickjacke, die ich vorhin schon erwähnt habe. Wir hatten Schlaganfall-Patienten hier, die mit den vorhandenen Notfallsystemen nicht zufrieden waren. Es gibt so einen großen roten Notfallknopf zum Umhängen. Das ist sehr stigmatisierend, und deswegen bleibt er in der Nachttischschublade liegen, wo er nichts nützt. Wir haben den entsprechenden Chip einfach in eine Jacke integriert. Wenn der Träger in eine Notsituation gerät, muss er nicht sein Handy herauskramen, sondern einfach nur am Ärmel ziehen. Dann werden die GPS-Koordinaten durchgegeben und es wird die Rettung alarmiert. Wenn Menschen erleben, wie ein System funktioniert und ihnen nützt, wenn sie es dann noch mitentwickelt haben, ist die Smarte Textilien: Die Integration von Chips und Sensoren verwandelt herkömmliche Kleidungsstücke in technische Systeme. Akzeptanz enorm! Nutzerfreundlichkeit ist klar ein Wettbewerbsvorteil, denn Nutzerakzeptanz bedeutet im industriellen Maßstab Kundenakzeptanz und damit den Erfolg eines innovativen Produktes. Barth: Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Digitalisierung das alltägliche Leben verändert und verbessert. Aber ich sehe nicht nur positive Aspekte dieses ja auch gesellschaftlichen Wandels. Vor allem bei Jugendlichen fällt mir auf: Sie kommunizieren zwar über die sozialen Medien, aber das direkte Gespräch, das direkte Erleben schwindet. Manche verlassen kaum mehr ihre Zimmer. Bei älteren Menschen, die sich dem Thema öffnen, erlebe ich dagegen, wie digitale Medien ihnen helfen, wieder in Kommunikationsbahnen und -muster einzutreten, die sie schon aufgegeben hatten. Joost: Es gibt dieses Phänomen der digitalen Spaltung zwischen den Onlinern und den Nonlinern und das ist nicht nur eine Frage des Alters. Zunächst einmal: Ich bin, was die junge Generation angeht, nicht so pessimistisch. Es stimmt schon, dass die jungen Leute eine etwas andere Definition von Privatsphäre haben und auch für meinen Geschmack manchmal zu unbekümmert sind. Aber da sehe ich gleichzeitig den Trend zu einem bewussteren Umgang. Die Kommunikationstools verändern sich so schnell, dass man ein bisschen abwarten muss, welche Etiketten und Grenzen sich etablieren. Ich glaube, das Wichtige ist, maßgeschneiderte Angebote zu machen, um möglichst viele Menschen mit ins Boot zu holen. Viele Ältere haben beispielsweise den Einstieg in die Digitalisierung durch die Tablet-PCs geschafft, die ganz einfach zu benutzen sind. nehmen mit Start-ups zusammenzubringen, um die besten Ideen nach vorne zu bringen. Wie wird aus Ihrer Sicht die digitale Zukunft aussehen, „The next big thing“? Joost: Im Moment schauen alle auf die Startups. Ich bin aber davon überzeugt, dass sich neue Arten von Infrastrukturen bilden. Das wird „The next big thing“ sein. Es werden Open Spaces entstehen, Fab Labs oder Future Labs, in denen ganz unterschiedliche innovative Menschen zusammenkommen. Das können Vertreter von großen Unternehmen sein, Startup-Entrepreneure, Wissenschaftler, experimentierfreudige Maker. Das ist übrigens auch ein Ziel, das ich mir hier an der Uni gesetzt habe: einen Raum zu schaffen, der nicht mehr rein universitär ist, sondern solch eine OpenLab-Infrastruktur bietet, in der wir gemeinsam an Smart Textiles arbeiten, also im wahrsten Sinne des Wortes an der Zukunft stricken. Die klaren Grenzen – das ist das Unternehmen, das nicht, du bist Experte, du Laie –, diese Grenzen verschwimmen. Das macht eine neue Freiheit aus. Jeder kann mit der Community gemeinsam etwas entwickeln, weil das Wissen und die Expertise von ganz vielen digital frei verfügbar sind. Das bedeutet eine Dynamik, eine Offenheit und Schnelligkeit, von der ich für die Zukunft viel erwarte. Barth: Wir sehen uns bei EY als Impulsgeber. Wir wollen dazu beitragen, etablierte Unter- 02/2015 Entrepreneur 48 Expertise Gründer 49 Risikobereit, schnell und disruptiv? Ein Blick auf die Berliner Start-up-Szene Berlin zählt zu den attraktivsten Standorten für Unternehmensgründungen. Zwar weit davon entfernt, Silicon Valley das Wasser reichen zu können, hat sich hier dennoch ein Ökosystem gebildet, in dem neue Technologien und Dienstleistungen, zeitgemäße Produkte und digitale Geschäftsmodelle wie Pilze aus dem Boden schießen. Was verbirgt sich dahinter? Was macht die Szene und ihre Gründer aus? Wie gehen die Teams vor? Welche Erfolgsfaktoren beherzigen sie? Welche nicht? Ein Einblick in das Experimentieren mit Geschäftsmodellen in Mitte und Kreuzberg. Von Peter Lennartz Berlin, wie hast du dich verändert! In der einstigen Wirtschaftswüste ohne DAX-Unternehmen, in die sich noch vor fünf Jahren nur sehr zaghaft Investoren und Konzerne wagten, wird gegenwärtig alle 20 Stunden ein Start-up gegründet. Über 2 500 sind es zurzeit, insgesamt mit ca. 20 000 – 30 000 Mitarbeitern. Gründer aus der ganzen Welt zieht es in die Hauptstadt, wo ein stabiles internationales Netzwerk aus finanzkräftigen Investoren, Forschungsund Studieneinrichtungen, Inkubatoren, Akzeleratoren und Kreativen herangewachsen ist – getragen auch von der Attraktivität der Stadt mit ihrem exzellenten Freizeitangebot und ihren relativ niedrigen Mieten. Wer sich das Silicon Valley nicht leisten kann, versucht es in Berlin. Einige sehr erfolgreich: Mit Rocket Internet und Zalando kommen die beiden größten europäischen Börsengänge des Jahres 2014 aus Berlin. Und seit der jüngsten Übernahme von 6Wunderkinder durch Microsoft ist nicht mehr zu übersehen, wie hoch die Attraktivität der Berliner Gründungen für internationale Investoren ist. arbeitet haben. Ein Teil von ihnen sieht sich als „Serial Entrepreneur“ und hat sich nicht einem einzigen Geschäftsmodell verschrieben, sondern der Idee, vielen Start-ups auf den Weg zu helfen. Zu den bereits erfahreneren Unternehmern zählt auch die Gruppe ehemaliger Berater, Rechtsanwälte oder „Corporates“, die sich aus schwerfällig und hierarchisch erlebten Unternehmensstrukturen lösen und ihre Geschäftsidee auf ihre Art realisieren wollen. Und nicht zuletzt gibt es die Entrepreneure, oftmals identisch mit der vorgenannten Gruppe, die in ihrem privaten oder beruflichen Alltag auf ein Desiderat gestoßen sind und meist aus rein persönlichen Erfahrungen heraus eine Marktlücke schließen wollen. Auffallend ist, dass inzwischen fast 50 Prozent der Gründer aus dem Ausland stammen. Weltoffen ist Berlins Gründerszene allemal. Auffallend ist aber auch, dass nur fünf Prozent Gründerinnen sind. Der typische Berliner Gründertyp? Was viele Berliner Gründer bei aller Unterschiedlichkeit eint, ist die Motivation, ihr eigener Chef zu sein, gepaart mit dem Gefühl, sich im Corporate-Bereich nicht ausreichend entfalten zu können. Was sie zur Ideenentwicklung antreibt, ist die Leidenschaft, Probleme zu lösen, Lücken zu schließen, die Organisation des Alltags durch originelle Produkte und Dienstleistungen zu erleichtern. Sein eigener Chef sein und das Leben praktischer gestalten gen, der Suche nach einer praktischen Gestaltung unseres Lebens, also nicht nur nach dem „Next big thing“. Vielmehr geht es um Optimierung und Weiterentwicklung, um Übertragung bereits funktionierender Geschäftsmodelle auf neue Bereiche, um eine weitere digitale Funktionalisierung. Da gibt es eine App für die Bündelung von Carsharing-Angeboten, um schnell herauszufinden, welcher Anbieter das nächste freie Auto in der Gegend hat; den digitalen und mobilen Wäschedienst; diverse Online-Handelsgebote, die sich in bis dato unerschlossene Bereiche vorwagen, wie die digitale Plattform für Baby- und Kleinkinderausstattung, gegründet von zwei berufstätigen Müttern. Mit findigen und klugen Ideen kombinieren sie Bestehendes, erfinden Neues oder übertragen erfolgreiche Geschäftsmodelle auf neue Bereiche – und strahlen dabei große Lust und einen starken Willen aus, etablierte Marktteilnehmer anzugreifen und einen Wettbewerb zu entfachen, um den Verbrauchern das Leben einfacher zu machen. Radikal neu denken Die meisten Gründer in Berlin entsprechen weder der mythischen Gründungsfigur eines Steve Jobs noch lassen sie sich in das Klischee des turnschuhtragenden ewigen Junggesellen pressen. Mit ihren unterschiedlichen Hintergründen und Motivationen bieten sie ein vielfältiges Bild. Zu ihnen gehören junge Hochschulabgänger, die Entrepreneurship studiert haben und möglicherweise die Gründerunterstützung ihrer Universitäten nutzen, zum Beispiel des Centre for Entrepreneurship der TU Berlin, das allein 60 Start-ups betreut. Ihnen zur Seite stehen erfahrene Gründer, die bereits bei größeren und etablierten Startups – viele darunter bei Rocket Internet – ge- Entrepreneur 02/2015 Meistens sind es keine Idealisten, die die Welt grundsätzlich verändern wollen, und auch keine weltabgewandten Tüftler, die sich nächtelang darin verlieren, ihre Technologie weiterzuentwickeln. Freizeit und Familie sind für sie genauso wichtig wie ihr Geschäft. Ihre Ideen entspringen oft gewöhnlichen Alltagserfahrun- Wer von Start-ups und ihren Innovationen spricht, denkt oft an bahnbrechende Innovationen mit wirkmächtigem, disruptivem Potenzial, also der Fähigkeit, plötzlich aufzutreten, schnell zu wachsen und bisherige Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten zu zerstören. Betrachtet man die Berliner Martin Klimas Ohne Titel (Polarization) Video, Monitor 115 x 65 cm (1+1AP) 2014 02/2015 Entrepreneur 50 Expertise Gründer 51 Langsam setzt sich auch in Deutschland die Erkenntnis durch, dass Scheitern zum Erfolg dazugehört, und vor allem, dass sich aus Niederlagen lernen lässt – wenn man sie nicht totschweigt, sondern über sie redet. Martin Klimas Ohne Titel (Polarization) Video, Monitor 115 x 65 cm (1+1AP) 2014 Bayer, Google, Microsoft, BMW oder kürzlich auch die Metro Group außerhalb der Konzernstrukturen in verschiedenartigen Programmen mit Start-ups vorzugsweise in Berlin zusammen. Die Konzerne bringen dabei Kompetenzen, Kunden, Kapital, Räumlichkeiten und andere Ressourcen ein – die Start-ups bringen ihre Innovationen und „Out of the box thinking“ ein. Fail fast and pivot faster Gründungsideen, sieht man gegenwärtig eine Vielzahl von erfolgversprechenden Initiativen, aber eher nur wenige, die etablierte Marktteilnehmer im Sinne der schöpferischen Zerstörung von Schumpeter im Kern erschüttern können, wie Apple und Amazon oder zuletzt Tinder, Uber und Airbnb. Dennoch beziehen die Berliner Entrepreneure ihre Innovationskraft aus einer radikalen Freiheit, neue, unsichere Wege zu erproben, die etablierte Unternehmen sich versagen – was diese langfristig in ihrer Wettbewerbsfähigkeit schwächt. Gefangen im Innovator’s Dilemma, fällt es ihnen schwer, bewährte Prozesse, Kulturen, Fähigkeiten, Systeme und Anreizsysteme in Frage zu stellen. Warum auch das bisherige Modell nicht weiterfahren, wenn es doch noch Umsatz bringt? Warum gegenwärtigen Erfolg unterminieren? Ihre Innovationen verharren in der Optimierung des Bewährten. An das Experiment, ein ganz neues Geschäftsmodell oder Produkt oder einen unbekannten Service zu lancieren, wagen sich nur Menschen, die wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen haben: kleine Teams, die bei null anfangen. Also keine Corporates. Ein erfolgversprechender Ausweg aus dem Dilemma, Innovationen und Digitalisierung möglicherweise zu verpassen, sind dabei Akzeleratoren. Dabei arbeiten Unternehmen wie die Deutsche Bahn, die Deutsche Bank, RWE, Henkel, Entrepreneur 02/2015 Betrachtet man die Berliner Gründerkultur im internationalen Vergleich, ist ihre Risikobereitschaft jedoch relativ gering. Es scheint zu stimmen, was man im Ausland über die „German Angst“ sagt. In Deutschland nennt man das Investitionskapital entsprechend Risikokapital, in den USA trägt es bezeichnenderweise den nach Abenteuer schmeckenden Namen Venture Capital. Hinzu kommen in Deutschland starre Strukturen und mächtige Lobbykräfte, die radikal neue Geschäftsmodelle behindern. Die konservativen, etablierten Player stärken lieber die bisherigen Marktstrukturen, etablierte Marktteilnehmer und ihre Geschäftsmodelle, als riskantes Neuland zu betreten. Neue Services wie Angebote von Uber oder Airbnb, die traditionelle Gewerbe bedrohen könnten, haben es hierzulande schwer. Entscheidend für den Erfolg ist aber auch die Geschwindigkeit. Berliner Start-ups brauchen oft bis zu einem Jahr, um ihre Idee zur Marktreife zu bringen. Erst dann trauen sie sich, den Kunden ihr Produkt vorzustellen und das eigentliche Experiment am Markt zu starten. In den USA geht das bereits nach sechs Wochen. Rasch eine Betaversion auf den Markt bringen und das Produkt dann mit dem Kunden zusammen weiterentwickeln und optimieren – Kritik und Misserfolge suchen, um aus ihnen zu lernen. Je schneller und je vielfältiger, desto effektiver. Denn: Wer kennt die Kundenbedürfnisse besser als die Kunden selbst, die das Produkt in der Praxis erproben und schließlich dafür zahlen sollen? Dann heißt es nachbessern („Pivoting“) und vielleicht wieder von vorne anfangen, von der ursprünglichen Idee abweichen. „Fail quick“ ist neben „Think big“ einer der Erfolgsfaktoren amerikanischer Start-ups, der sich auch in Deutschland als solcher zu etablieren beginnt, wo durchschnittlich neun von zehn Neugründungen mittelfristig nicht überleben. Investoren bewerten zu einem nicht unerheblichen Teil auch die Erfahrungen des Teams: Wer schon mal eine Pleite erlebt und mehrere Ideen auf den Markt gebracht hat, gilt als investitionswürdiger als die angeblichen Perfektionisten, die seit Monaten fern von Kundenerfahrungen an ihren Angeboten feilen, aber nicht wissen, welche Fehler sie dabei machen. Langsam setzt sich auch in Deutschland die Erkenntnis durch, dass Scheitern zum Erfolg dazugehört, und vor allem, dass sich aus Niederlagen lernen lässt – wenn man sie nicht totschweigt, sondern über sie redet. Bei Berliner Veranstaltungen wie den sogenannten „FuckUp Nights“ treffen sich Gründungserfahrene und tauschen sich über Misserfolge aus – ganz in der Tradition des Silicon Valley, wo es zum guten Ton gehört, Niederlagen öffentlich zu feiern. Austausch, Gewinnbeteiligung und Demokratie Ein Blick in die Arbeitsräume der Start-ups zeigt Offenheit und den unbedingten Willen – ja, die Pflicht –, sich auszutauschen. Wer hier tätig ist, kann sich mit seiner Arbeit kaum 02/2015 Entrepreneur 52 Expertise Gründer Peter Lennartz [email protected] Partner Assurance Head Start-up Initiative GSA Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, CPA verstecken. Teams mit Mitarbeitern aus der ganzen Welt stecken die Köpfe zusammen, ohne sich abzuschotten. Die jederzeit zugänglichen Räume, die großen weitläufigen Etagen laden ein, an den Arbeiten der anderen teilzuhaben. Ideen scheinen hier automatisch weitergetragen, -gedacht und -entwickelt zu werden, zu zirkulieren. Einige überleben, viele verschwinden einfach zwischen zwei Gesprächen. Die Angst, jemand könnte die Idee klauen und sie besser umsetzen, ist hier unbekannt. Beispielhaft für die Art, wie neue Produkte erfunden werden, mag die Arbeitsweise eines erfolgreichen jungen Softwareunternehmens sein, das mittlerweile mehrere Hundert Angestellte hat. Mit der Ideenfindung für eine neue Anwendung werden Teams à zehn bis 15 Leute betraut. Nach einer Woche stellen sie ihre Ergebnisse vor. Sind gute Ideen dabei, werden sie weiterverfolgt. Hat noch keine Idee richtig gezündet, setzen sich neue Teams zusammen und machen sich erneut an die Aufgabe. Ohne hohe Investitionssummen und ohne Erfolgsdruck, ganz anders als in den etablierten Unternehmen, die größere Innovationsabteilungen aufbauen, ein Innovationsbudget verteilen und die Erfolgserwartungen hochschrauben. In größeren Berliner Start-ups entsteht Druck alleine durch die Konkurrenz der Teams untereinander und durch persönliche Motivation. Die Entscheidung, welche Idee umgesetzt wird, liegt bei den Teams. Ihre Stimmen und Empfehlungen zählen, nicht die der Vorgesetzten. Demokratische Entscheidungsprozesse prägen die Arbeitswelt dieser jungen Unternehmen, die ihren Mitarbeitern so glaubwürdig das Gefühl vermitteln können, wichtig zu sein. Die Anreizsysteme, mit denen Start-ups begabte und begehrte Spezialisten aus den Be- Entrepreneur 02/2015 reichen IT-Programmierung, Marketing und Vertrieb rekrutieren, speisen sich sehr stark aus diesen kulturellen Faktoren. Es sind nicht die hohen Gehälter oder Insignien der Macht, die die kreativen Unternehmen attraktiv machen. Oftmals schütten sich auch die Geschäftsführer selbst nur ein niedriges Grundgehalt aus und investieren lieber in Fehlerbehebung und Optimierung ihres Geschäftsmodells als in ihr Privatvermögen, natürlich auch in der Hoffnung auf einen hohen Exit-Gewinn. Attraktiv ist ein Start-up, wenn es Austausch und Demokratie so lebt, dass die Mitarbeiter sich einbringen und entfalten können. Das Ende des Experiments In der kürzlich erschienenen Studie „Venture Capital and Start-ups in Germany 2014“ hat EY untersucht, welche Entwicklungen sich aus vergangenen Finanztransaktionen ablesen lassen und wie der deutsche Start-up-Standort im Vergleich zu anderen Ländern und den Vorjahren dasteht. Der Trend ist eindeutig: Sowohl die Zahl der Transaktionen als auch die Anzahl der in Deutschland aktiven VentureCapital-Investoren steigen ständig. In Europa ist Berlin auf dem besten Weg, sich neben London als Zentrum der digitalen Wirtschaft zu etablieren. Wir beobachten auch, dass Berliner Start-ups sich zunehmend für Börsengänge interessieren und insgesamt wagemutiger und angriffslustiger werden. Seit einigen Jahren diversifiziert sich der digitale Sektor. Neben Online-Handel und digitalen Marktplätzen kommen verstärkt Geschäftsmodelle aus den Bereichen Finanztechnologie und Network & Communications hinzu. Weitere Treiber für den digitalen Wandel liegen auch in den Trends zur Sharing Economy und zu Industrie 4.0. Viele Branchen haben das technologische Innovationspotenzial noch nicht ausgeschöpft, wie zum Beispiel die Gesundheitsbranche und die Energiewirtschaft. Dem Bundesverband deutscher Start-ups zufolge ist ein Unternehmen nach ca. fünf Jahren aus der Start-up-Phase herausgewachsen. Doch ob die Experimentierphase damit beendet ist, hängt von seiner Kultur ab. Apple und Google haben es bis heute geschafft, ihren Start-up-Spirit zu bewahren und fruchtbar zu machen. Die Stärke von Berlin liegt in seinem gut funktionierenden, großen Ökosystem mit seinem exzellenten Netzwerk, das sich innerhalb der vergangenen Jahre herausgebildet hat. Die Berliner Start-up-Szene mit ihren erfolgreichen Exits und ihrer zunehmenden Internationalisierung ist erwachsen geworden. Die Zeit für Experimente sollte damit aber noch lange nicht vorbei sein. Ganz im Gegenteil: Mit mehr Wagnis, mehr Kapital, dem Zufluss von jungen, talentierten Entrepreneuren aus der ganzen Welt und erhöhter Geschwindigkeit hat sie noch eine sehr gute Zukunft vor sich. Die Pforte zur Erkenntnis Der Weg zu neuem Wissen führt häufig durch eine Phase, in der nichts zu gelingen scheint: Experimente scheitern, Orientierung und Sicherheit gehen verloren, Angst und Frustration machen sich breit. Der israelische Systembiologe Uri Alon hat diesen emotionalen Ausnahmezustand bei sich und anderen immer wieder beobachtet. Nur wer bereit ist, die Komfortzone der scheinbar bewährten Gedanken und Strategien zu verlassen, sei zu wirklicher Innovation im Stande, sagt Alon. Sein Grundsatz: „Alle Sinne auf Empfang!“ U ri Alon wird nie vergessen, wie er zum ersten Mal Bekanntschaft mit jenem seltsamen Ort machte, der ihm im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere als Physiker und Systembiologe immer vertrauter werden sollte. Es war während seiner Promotion, vor gut 20 Jahren. Er kam einfach nicht weiter, hatte sich hoffnungslos im Gestrüpp seiner Experimente verheddert. „Was auch immer ich versuchte, es führte mich nur in die nächste Sackgasse“, erinnert sich Alon, heute Professor am Weizmann-Institut im israelischen Rechovot. „Mein Selbstvertrauen war total erschüttert. Ich fühlte mich wie ein Pilot, der sein Flugzeug völlig ohne Orientierung durch dichten Nebel steuert.“ Er rasierte sich nicht mehr, hatte Mühe, morgens aus dem Bett zu finden. Von Tag zu Tag wuchs in ihm die Angst, dass er es in der Wissenschaft niemals zu etwas bringen würde. Dieser virtuelle Ort, an dem Sie sich damals befanden – hat der einen Namen? Ja, ich nenne ihn „The Cloud“. Die Cloud gehört genauso zur wissenschaftlichen Forschung wie These und Experiment. Sie hält sozusagen Wacht an der Grenze zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen – zwischen dem Erforschten und dem Unerforschten. Man kann einen Tag dort feststecken, eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder auch seine gesamte wissenschaftliche Karriere lang. Das scheint ein sehr mystischer Ort zu sein – aber auch einer, an dem man sich nicht gern aufhält. Es ist ein Ort, der auf jeden Fall sehr stark mit negativen Emotionen verbunden ist. Stellen Sie sich einmal vor, dass all das, was Sie für gesicherte Erkenntnis halten, Ihre gesamten Grundannahmen, ins Wanken 02/2015 Entrepreneur 54 Impulse Out of the Comfort Zone gerät. So etwas zieht Ihnen den Boden unter den Füßen weg. Sie spüren Verwirrung, Angst, Verzweiflung und Frustration. Sie befinden sich in einem emotionalen Zustand, der all Ihre wissenschaftlichen Erwartungen zerschellen lässt. Ein Forscher will Klarheit, Eindeutigkeit, Sicherheit. Aber wenn Sie in der Cloud sind, werden Sie feststellen, dass Ihr Bedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt wird. Ihre Experimente scheitern ein ums andere Mal. Nichts ist mehr klar, eindeutig oder sicher. Diesen Verlust an Orientierung und Sicherheit an der Grenze zur Erkenntnis neuen Wissens hat der weltweit angesehene Systembiologe, der im vergangenen Jahr mit dem renommierten Nakasone Award ausgezeichnet wurde, bei sich selbst und bei Forscherkollegen immer wieder beobachtet – vorzugsweise in den Naturwissenschaften, wo das Experiment und sein potenzielles Scheitern eine exponierte Stellung einnehmen. Aber längst nicht nur dort. „Eine derart extrem aufreibende Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit, mit der Beschränktheit der Erkenntnisfähigkeit finden Sie genauso bei Politikern, bei Managern und bei Künstlern“, sagt Alon – „eigentlich überall, wo Menschen auf der Suche nach innovativen Lösungen sind, nach Durchbrüchen, sie aber mit ihrem „Wer den riskanten Weg beschreiten will, braucht positive Emotionen wie das Gefühl von Unterstützung und Solidarität.“ Uri Alon bis dato gesammelten Erfahrungswissen nicht weiterkommen und ein ums andere Mal gegen eine Wand prallen.“ Das mag für den Unternehmer gelten, dessen mit großen Hoffnungen verbundenes neues Produkt zum Verkaufsflop wird. Für den Minister, der sich an der längst überfälligen Reform seines Beamtenapparats aufreibt. Für den Musiker auf der Suche nach einer eigenen Ausdrucksform jenseits der ausgetretenen Pfade der Charts. Oder für den Hochleistungssportler, der daran verzweifelt, dass er trotz neuer Trainingsmethoden den Sprung in die absolute Weltspitze nicht schafft. Sie alle befinden sich emotional in einer ähnlichen Situation wie der Chemiker, dessen Experiment zum wiederholten Mal scheitert. Aber ein gescheitertes Experiment ist doch nicht per se vertane Zeit. Das ist richtig. Manche Experimente scheitern ja auf besonders interessante Weise. Sie führen zunächst nicht zum gewünschten Ergebnis – also nicht von der Frage A zur Antwort B, sondern möglicherweise zu etwas ganz anderem hin. Der Forscher steht vor einem Resultat, mit dem er nicht gerechnet hat und mit dem er zunächst auch überhaupt nichts anfangen kann. Er ist ja immer noch auf der Suche nach dem Weg von A nach B. Dass die Antwort C quasi vor ihm liegt, erkennt er nicht – weil er sich in der Cloud befindet. Er hat also, ohne es zu wollen, neues Wissen zu Tage gefördert? Ja, derart gescheiterte Experimente sind potenziell sehr fruchtbar. Die Antwort B, auf die das Experiment ausgerichtet war, gehört zum Bereich des gesicherten Wissens, die Antwort C aber ist neues Wissen. C ist viel wichtiger und spannender als B. Aber der Forscher steht vor einem Ergebnis, mit dem er nichts anfangen kann, kratzt sich am Kopf und denkt: „Was geht denn hier vor?“ Er erkennt in dem Scheitern des Experiments noch nicht die Chance, etwas wirklich Neues zu entdecken. Uri Alon versteht es, seinen Zuhörern das Rätsel wissenschaftlicher Erkenntnis unterhaltsam und für jedermann verständlich nahezubringen – wenn nötig auch mit musikalischer Untermalung. Uri Alon Der israelische Physiker Uri Alon, geboren 1969, zählt zu den weltweit führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet der Systembiologie. Alon, der an der Hebräischen Universität studierte und in Theoretischer Physik promovierte, lehrt seit 2008 am WeizmannInstitut in Rechovot. Im vergangenen Jahr wurde er für seine Forschungen von der Human Frontier Science Program Organization mit dem renommierten Nakasone Award ausgezeichnet. Für den Schritt auf unbekanntes Terrain ist weit mehr nötig als aggregierte Fachkompetenz und das Bemühen, in den vorliegenden Informationen bereits bekannte Muster wiederzuentdecken. Der Weg zur Erkenntnis des Neuen führt heraus aus der Komfortzone der eingeübten Gedanken und Strategien. Eine Haltung, die Uri Alon so umschreibt: „Alle Sinne auf Empfang!“ Gibt es ein Patentrezept für den Weg aus der Cloud? Oder lässt sie sich umgehen? Man kann diese Situation nicht umschiffen. Dann würde man aufhören, Wissenschaftler zu sein. Schon der Wunsch, sie zu vermeiden, ist ein Fehler. Dadurch würde man sich selbst wichtiger Erkenntnischancen berauben. Es kann also nur darum gehen, auf das Eintauchen vorbereitet zu sein. Dazu gibt es weder ein Patentrezept noch einen Masterplan. Einige Male habe ich gedacht, ich komme da nie wieder raus. Manchmal halfen scheinbar zufällige Begegnungen oder Gespräche mit anderen Menschen, die vordergründig gar nichts mit meinem Problem zu tun hatten. Zum Beispiel? Vor einigen Jahren hatte ich eine Phase, in der mein Beruf mir überhaupt keine Freude mehr bereitete. Ich war sehr verzweifelt, weil ich doch stets gedacht hatte, dass die Wissenschaft das ist, was mir mein Leben lang Erfüllung bringt und Spaß macht. Und nun kostete es mich Überwindung, morgens zur Uni zu fahren. Genau in dieser Zeit bekam ich eine Mail einer Biologin, die sich mit mir über ihre Arbeit unterhalten wollte. Ich wollte mich nicht mit ihr treffen und ließ mir immer wieder Ausreden einfallen. Aber sie war hartnäckig. Schließlich trafen wir uns auf einen Kaffee. Sie erzählte mir, dass sie sich mit der Form der Krallen irgendeiner Vogelart beschäftigte. Das war ihr Forschungsgebiet. Es hatte nicht das Geringste mit meiner Arbeit zu tun. „Hoffentlich ist sie bald fertig“, dachte ich zuerst. Aber dann erzählte sie immer weiter von diesen Vogelkrallen, mit einer unglaublichen Begeisterung, mit einem Leuchten in den Augen. Plötzlich wurde mir klar, was mein Problem war. Zu meiner originären Forschungsarbeit, die ich mit der gleichen Begeisterung verfolgt hatte wie diese Kollegin die Morphologie von Vogelkrallen, kam ich kaum noch. Stattdessen leitete ich eine Forschungsgruppe mit 20 Mitgliedern, ein Großteil meines Arbeitstages war mit stupider Verwaltung und Organisation ausgefüllt. Jetzt wusste ich, was ich ändern musste. Was tun Sie denn, wenn Sie merken, dass einer Ihrer Kollegen oder Studenten feststeckt? Also ich sage: „Super, toll, du fühlst dich jetzt ganz bestimmt hundeelend.“ (Lacht.) „Und das ist ein gutes Zeichen, weil es bedeutet, dass du ganz nah an der Grenze zu neuer wissenschaftlicher Erkenntnis bist.“ Die Situation ist etwas ganz Normales; sie ist wichtig und im Grunde genommen ist sie doch etwas Wunderbares. Nur durch sie hindurch führt der Weg zur Erkenntnis des Unerforschten. Aber derjenige benötigt doch auch ganz konkrete Unterstützung. Natürlich. Wenn Angst und Verzweiflung Sie überkommen, greift Ihr Gehirn auf vergleichsweise einfache und bewährte Denkmuster zurück. Sie machen also den gleichen Fehler noch mal, führen das gescheiterte Experiment immer und immer wieder durch. Dadurch wachsen Angst und Frustration noch mehr, Sie geraten in einen Zyklus negativer Emotionen. Wer den riskanten Weg beschreiten will, den Weg, der aus der Cloud herausführt, beispielsweise zur Erkenntnis der Antwort C, braucht positive Emotionen wie das Gefühl von Unterstützung und Solidarität. Sie stellen sich der Frustration und der Angst entgegen. Das Beste in einer solchen Situation absoluter Unsicherheit ist also, den schwierigen Weg gemeinsam mit anderen zu beschreiten? Allein da rauszukommen ist extrem schwer. Es hilft, wenn man Menschen um sich hat, die solche intensiven emotionalen Situationen selbst schon durchlebt haben. Das ist eine soziale Dimension von Wissenschaft, die noch viel zu wenig beachtet wird. Viele glauben ja immer noch, dass in der Wissenschaft alles objektiv und rational zugehen muss – auch die Art und Weise, wie die tägliche wissenschaftliche Arbeit betrieben wird. Aber hier geht es doch um das Handeln von Menschen. Der Versuch, Subjektivität und Emotionalität auszublenden und sogar als antiwissenschaftlich zu brandmarken, ist völlig weltfremd. Ich glaube, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass unser Institut seine Stärke nicht aus der Konkurrenz unter den Forschern bezieht, wo jeder ständig beweisen will, dass er besser ist als die Kollegen, sondern aus der Solidarität – der Solidarität in der Cloud. 02/2015 Entrepreneur Impulse Inspiration 57 Von Matisse bis Afrika Kreativität und Innovation sind die großen Rätsel des 21. Jahrhunderts. Die Vorbilder findet man oft unvermutet. Das Spätwerk des Malers Henri Matisse ist ein solcher Wegweiser, wie der Schub nach vorne funktionieren kann. Von Krankheit behindert entwickelte Matisse im Alter eine neue Technik, die seinem Werk noch einmal eine ganz neue Dimension verlieh. Wer in der Gegenwart nach solchen Vorbildern sucht, wird immer öfter in Afrika fündig. Dort bringen Sachzwänge den Erfindergeist zu Höhenflügen. Geniestreich, geboren aus der Not: Henri Matisse 1952 mit einer Assistentin bei der Arbeit im Hôtel Régina in Nizza. Weil er nicht mehr aufrecht stehen konnte, konzentrierte er sich auf die Scherenschnitte, die sein Alterswerk so grandios machen. 02/2015 Entrepreneur 58 Impulse Inspiration H in und wieder findet die Kultur überraschend eine Fabel, die den Zeitgeist auf den Punkt bringt. Die Ausstellung mit den Scherenschnitten von Henri Matisse ist so ein Fall. 2014 wurde das die erfolgreichste Ausstellung in der Geschichte der Tate Modern in London. Im New Yorker Museum of Modern Art musste sie dann wegen des nicht abebbenden Besucheransturms verlängert werden, bevor sie im Frühjahr 2015 im Amsterdamer Stedelijk Museum das europäische Festland erreichte. Nun sind Matisses Farben und Formen alleine Grund genug, um einen Tag im Museum zu verbringen. Das Licht und die Kontraste, die er auf seinen Reisen nach Marokko und Tahiti in sich aufgesogen hatte und die ihn später durch die Jahre seiner Arbeit in der Gegend rund um Nizza begleiteten, der buchstäbliche Swing, den er in New York entdeckt hatte und den er in seinen Formen und Linien aufnahm, versetzen Betrachter in die leicht euphorische Impulse Inspiration 59 Stimmung eines frühen Sommernachmittages. Zwar gehörten Matisses Gemälde, Zeichnungen und Scherenschnitte schon immer zu den Werken des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts, die sehr viel selbstverständlicher zu Menschen sprachen, die erst viel später geboren wurden, als die oft viel schwerer zugänglichen Kunstformen, die schließlich im abstrakten Expressionismus einen großen Teil des Publikums verschreckten. In ihrer Schlichtheit und Geradlinigkeit erahnt man schon die PopArt und die Verschmelzung von Grafik und Kunst im späten 20. Jahrhundert. Doch gerade in der Entstehungsgeschichte dieser Bilder in der Mitte des letzten Jahrhunderts steckt eine Metapher für das Hier und Jetzt, die weit über die Werke hinausgeht. In ihr stecken so aktuelle Themen wie der Geist der Innovation, die Aufbruchsstimmung der Start-up-Welt, der Umgang mit Kreativität und die echten und falschen Hoffnungen, die sie derzeit wecken. „La Polynésie“, 1946, war eine der ersten Scherenschnittarbeiten, mit denen Matissenach der Rückkehr von seiner Reise nach Tahiti experimentierte. Selten spürte er solche Glücksgefühle wie in der Farbenpracht der Südsee. Henri Matisse war sehr krank, als er 1948 beschloss, mit der Malerei aufzuhören und fortan nur noch mit Scherenschnitten zu arbeiten. In der Kunstgeschichte gilt sein Entschluss als einer der radikalsten Wendepunkte im Leben eines Künstlers. Immerhin – Matisse eroberte sich nicht nur eine neue Bildsprache, sondern gleich eine vollkommen neue Technik und einen komplett veränderten Umgang mit Material. Es spielt heute kaum noch eine Rolle, dass dieser Entschluss weder so radikal noch so plötzlich war, wie es nun im Rückblick erscheint. Mit Scherenschnitten hatte er sich schon lange beschäftigt. 1920 hatte er mit farbigen Papierschablonen seine Kostümentwürfe für die Diaghilew-Ballette angefertigt. In den folgenden Jahren war es dann seine „Gouaches découpées“-Methode, Papier erst zu bemalen und dann in Formen zu schneiden. So entwickelte er immer souveräner seine Technik mit Schere und Papier, die er zunächst noch „Dreigroschenspielzeuge“ nannte. Die Formen und Linien, die in den ersten Versuchen noch ihre Richtung suchten, waren schon bald von derselben Kraft und demselben Schwung bestimmt wie zuvor seine Gemälde. Was in all diesen Geschichten über Matisse steckt, ist weniger eine Moral als eine Reihe von Sehnsüchten. Nach Einfachheit, nach dem Moment der Stärke in der Schwäche. 1941, mit 71 Jahren, erkrankte Henri Matisse schwer – so schwer, dass ihn die Kräfte buchstäblich verließen und er bettlägerig wurde. Drei Monate verbrachte er damals in einer Klinik in Lyon, in der er wegen Darmkrebs operiert wurde. Kaum nach Vence zurückgekehrt, jenem Vorort von Nizza, wo er in seinen späten Jahren sein Atelier eingerichtet hatte, fesselte ihn eine schwere Grippe noch einmal über zwei Monate ans Bett. In der Folge war er so geschwächt, dass er sich kaum noch vor einer Staffelei auf den Beinen halten konnte. Und die Schwäche blieb, bald schon erschwert von einer schmerzhaften Arthritis. Zunächst konzentrierte er sich auf Illustrationen und Zeichnungen. Doch nach 1943 arbeitete er verstärkt an den Scherenschnitten. Meist ließ er seine Assistenten das Papier bemalen, dann schnitt er die Formen zurecht. Die ausgeschnittenen Formen ließ er mit Nadeln und Reißzwecken an die Wand heften. So entstand beispielsweise sein Künstlerbuch „Jazz“ (ein irreführender Titel, da er sich in den Bildern des Buches vor allem mit dem Zirkus und dem Theater befasste). 20 Scherenschnitte suchte er aus den vielen Bildern aus, die in diesen ersten Jahren der Schwäche und Krankheit entstanden. Betrachtet man diese Bilder mit Titeln wie „Der Clown“, „Der Cowboy“ oder „Der Messerwerfer“, ohne zu wissen, wie sie entstanden, würde man nie ahnen, aus welcher Not sich der bis dahin so wirkmächtige Maler damals auf die vergleichsweise begrenzten Miniaturformate und den kindlichen Umgang mit dem Material einließ. Die Kraft und die Lebensfreude, die aus diesen Bildern sprechen, sind heute noch so ansteckend wie vor über einem halben Jahrhundert. Bald aber wurden die Scherenschnitte zu sehr viel mehr als nur zu einer Notlösung. Sie wurden der Kern seiner Arbeit. Die junge russische Immigrantin Lydia Delectorskaya, die Matisses Frau Amélie zunächst als seine Krankenpflegerin angestellt hatte, wurde zu seiner unersetzlichen Assistentin, die ihm half, das Entrepreneur 02/2015 Technische Hürden überwinden Innovation wird in Afrika selten von der Suche nach neuen Geschäftsfeldern angetrieben. Der Windgenerator „The Saphonian“ (Bild oben) wurde beispielsweise in Tunesien entwickelt, um die Kosten für die Stromerzeugung zu senken, die Technologie zu vereinfachen und die Effizienz zu steigern. Statt durch Rotorblätter wird die Windenergie durch die Bewegungen eines runden Segels umgewandelt, das diese Kraft auf ein einfaches System aus Wellen überträgt. Der WLAN-Router BRCK (Bild unten) wurde vom digitalen Kollektiv Ushaihidi in Nairobi erfunden, um die Alltagsprobleme zu überwinden, die das Gros der Internetnutzer weltweit plagen. In den meisten Megacities der Schwellen- und Entwicklungsländer gibt es nur selten stabile Stromversorgung und Internetverbindungen. Der BRCK-Router überbrückt solche Versorgungslücken mit einem Akku, der die WLAN-Verbindung und angeschlossene Geräte acht Stunden lang mit Strom versorgt. Darüber hinaus bündelt der Router verschiedene drahtlose und kabelgestützte Verbindungen, um so zu garantieren, dass immer mindestens ein Anschluss ans Internet funktioniert. Dieses Signal gibt er an bis zu 20 Computer weiter, sodass der schlichte schwarze Quader einer ganzen Gemeinde als Verbindung zum Netz dienen kann. 02/2015 Entrepreneur Impulse Inspiration 61 Bald nachdem er mit den Scherenschnitten begonnen hatte, erlebte Matisse jene Glücksgefühle aufs Neue, die ihn zuvor in einer Lagune auf Tahiti erfasst hatten. raumgreifende Scherenschnitt eine ähnliche kunstgeschichtliche Bedeutung wie Claude Monets „Seerosen“ oder Oskar Schlemmers Kostüme für das „Triadische Ballett“ – monumentale Höhepunkte als Erfüllung einer Vision. Papier nach seinen Vorstellungen einzufärben und die ausgeschnittenen Formen zu Bildern zu kleben. Das fast drei Meter mal drei Meter große Bild „L’escargot“ („Die Schnecke“) entstand beispielsweise über mehrere Monate hinweg vom Sommer 1952 bis ins Frühjahr 1953. Heute hängt es in der Sammlung der Tate in London und gilt als eines der wichtigsten Bilder des mittleren 20. Jahrhunderts. Was in all diesen Geschichten über das Spätwerk von Henri Matisse steckt, ist weniger eine Moral als eine ganze Reihe von Sehnsüchten. Da ist zunächst einmal die Sehnsucht, einen Moment der Schwäche in einen Zustand der Stärke zu verwandeln. In einer Zeit, in der der Neuanfang, sei es als Start-up, sei es als Relaunch, zum Modus operandi ganzer Industrien geworden ist, hat solch ein Moment nicht nur kathartische Wirkung, er kann über die Zukunft entscheiden. Im Geschäftsleben gibt es solche Geschichten nur selten. Bekanntestes Beispiel ist die Wiedergeburt der Firma Apple, als sie sich mit ihren Rechnern und ihrem Betriebssystem in eine Nische manövriert hatte, aus der es scheinbar keinen Ausweg mehr gab. Es waren dann der Wiedereintritt von Steve Jobs in die Führungsriege und seine Vision vom universalen Elektronikkonzern, die Apple zum höchstnotierten Unternehmen der Wirtschaftsgeschichte machten. Zufälligkeiten aus einem Moment der Schwäche waren oft der Schlüssel zu Matisses Scherenschnittwerken. Seinen legendären Monumentalschnitt „La Piscine“ schuf er 1952, als er schon in Nizza lebte. Eines Sommermorgens bat er seine Assistentin Lydia Delectorskaya, ihn zu einem Swimmingpool in Cannes zu bringen, den er sehr mochte. Er wollte sich dort Turmspringer ansehen, die immer wieder Motiv für ihn waren, doch die Hitze machte ihm zu schaffen. So ließ er sich zurück in die Kühle seines Ateliers bringen, wo er sagte, er werde sich nun seinen eigenen Swimmingpool schaffen, und sogleich damit begann, seine Wände mit Formen und Farben zu überziehen. Heute hat der Die zweite Sehnsucht in der Biographie von Matisse ist die Kraft der Innovation aus Notwendigkeit. So entstand eines der wichtigsten Scherenschnittwerke von Matisse nicht aus einer künstlerischen Entscheidung heraus. Im Sommer und Herbst des ersten Nachkriegsjahres, 1946, hatte er in seiner Pariser Wohnung Formen entworfen, die er eigentlich nur über die hässlichen Flecken kleben wollte, die während Renovierungsarbeiten auf den Tapeten auftauchten. Bald aber war er einem großen Werk auf der Spur. Seinem Freund, dem ungarischen Fotografen Brassaï, sagte er noch: „Ich weiß noch nicht, worauf das alles hinausläuft. Vielleicht Wandbilder, eine Art Mauerstruktur.“ Muscheln klebte er da, Fische, Vögel, Korallen und Meerespflanzen. Bald aber erlebte er jene Glücksgefühle aufs Neue, die ihn 15 Jahre zuvor in einer Lagune auf Tahiti erfasst hatten. Der Textildesigner Zika Ascher sah dann, wie diese Formen immer großflächiger über die Wände wucherten, und gab zwei Wandbilder in Auftrag. So entstanden „Océanie, le ciel“ und „Océanie, la mer“. „L’escargot“ („Die Schnecke“) ist mit fast drei mal drei Metern eines der größten Papierwerke, die Matisse mit Hilfe seiner Assistentin anfertigte. Vom Sommer 1952 bis ins Frühjahr des Jahres 1953 arbeitete er daran. Diese Dringlichkeit der Innovation ist selbst den jungen digitalen Industrien in den letzten Jahren abhandengekommen. Wieder ist Apple ein gutes Beispiel. Auf die innovativen Jobs-Jahre, in denen der Konzern mit dem iMac das Designverständnis einer ganzen Industrie, mit dem iPod das Musikhören und mit dem iPhone den Alltag neu definierte, folgten Jahre der Langeweile im ewigen Zyklus 02/2015 Entrepreneur 62 Impulse Inspiration Impulse Inspiration 63 Afrikas zukunftsweisende Erfinder Auf den Straßen der Megacities kann Nahverkehr die Hölle sein. Traditionelle Busse und Taxis sind in den oft engen, meist überfüllten Straßen der wild wuchernden Städte überfordert. Vor allem aber sind 80 Prozent aller Fahrten in Städten kürzer als fünf Kilometer. Der südafrikanische Unternehmer Neil du Preez kombinierte die bewährte Technik der Rikschas mit der modernen Technologie des Elektrofahrrads und baute das Mellowcab (Bild oben). Diese leichtgängigen Dreiräder entlasten zum einen die Straßen, zum anderen ist der Einspareffekt auf Kurzstrecken gegenüber benzingetriebenen Fahrzeugen enorm. Doch nicht jeder Innovator kommt aus der Großstadt. Der Bauernjunge Richard Turere aus Kitengela im Süden Kenias war erst neun Jahre alt, als er einen Weg suchte, die Viehherden seiner Familie vor Löwen zu schützen. Nach erfolglosen Versuchen mit Öllampen und Vogelscheuchen schloss er LED-Leuchten an eine Autobatterie an und schaltete einen Unterbrecher dazwischen. Die blinkenden Lampen verschrecken fortan die Löwen und beruhigten gleichzeitig das Vieh. Inzwischen werden Tureres „Lion Lights“ von Bauern in ganz Ostafrika benutzt. Nach Vorträgen in aller Welt bekam Turere ein Stipendium, um seine Ausbildung an einer Oberschule abzuschließen. der Updates. Diese Zyklen werden in den meisten Industrien nicht von der Kraft der Erneuerung angetrieben, sondern folgen eher den Gesetzen der Mode. Grundmotiv des Updates ist der Versuch, den Konsumenten durch äußere Veränderungen oder irrelevante Leistungssteigerungen im Kreislauf der Produkterneuerungen zu halten. Es ist kein Wunder, dass alle Welt derzeit die Innovationskraft Afrikas bewundert. Dort gibt es ganz reale Zwänge, die zu brillanten Ideen und wirklichen Veränderungen führen. Das junge Team von Ushaihidi aus der kenianischen Hauptstadt Nairobi hat beispielsweise eine ganze Reihe solcher Innovationen in Umlauf gebracht, die nun weltweit genutzt werden. Juliana Rotich kann lange davon erzählen. Sie reist oft durch die Welt, um Ushaihidi auf Konferenzen und Messen anzupreisen. Das Programmieren hat sie in Amerika gelernt. Die Erfindungen aber machte sie in ihrer afrikanischen Heimat. Angefangen hatte Ushaihidi mit einem Landkartensystem, das nach dem CrowdsourcingPrinzip von allen Bürgern einer Gemeinde, einer ganzen Stadt, eines ganzen Landes mit Daten gefüttert wird. Was als Nothilfeprojekt für Katastrophengebiete wie die brennenden Slums von Nairobi während der Unruhen rund um die Wahlen von 2007 oder in Haiti und Japan nach den Erdbeben begann, wird heute für so unterschiedliche Dinge genutzt wie das Messen von Wasserverbrauch und die Steigerung von Ernteerträgen. Nun kann man das Internet zwar für solche Zwecke sehr gut nutzen, bald aber stießen die Mitglieder von Ushaihidi auf ein Problem, mit dem die meisten Schwellen- und Entwicklungsländern zu kämpfen haben. „Wie soll man das Internet nutzen, wenn es keinen Strom gibt?“, erinnert sich Rotich. So konstruierte sie gemeinsam mit ihren Mitstreitern einen Wi-Fi-Router mit dem Namen BRCK, der zum einen als Batterie genügend Strom für acht Stunden Betrieb liefern kann und der sich zum anderen via SIM-Karte und GSM-Antenne auch in empfangsarmen Gegenden einen Zugang zum Internet sucht. „Die meisten Router und In der Faszination, die afrikanische Technologiesprünge auf die industrialisierte Welt ausüben, liegt die Hoffnung auf eine Vereinfachung, die nicht Beschränkung, sondern Befreiung ist. Entrepreneur 02/2015 Modems wurden für Städte wie New York und London konstruiert“, sagt sie. „Die meisten Menschen, die ins Internet gehen, leben heute aber in Städten wie Nairobi oder Delhi.“ Deswegen ist das Gerät im schlichten Zweckdesign auch sehr viel robuster als herkömmliche Digitalgeräte. Die Konzerne aus den industrialisierten Ländern schauen sich das Gerät schon genau an. Die dritte Sehnsucht aber, die in der Geschichte steckt, ist die nach der Einfachheit. „Je abstrakter ich male, desto stärker reduziere ich eine Form auf das Wesentliche“, sagte Matisse. Die Kunstgeschichte hat diesen Drang in seiner Arbeit als Periode erneuter Einfachheit eingeordnet, die von 1920 bis 1940 dauerte, die Jahre danach als Periode der Beschränkung auf das Wesentliche. Auch in der Faszination, die afrikanische Technologiesprünge auf die industrialisierte Welt ausüben, liegt diese Hoffnung auf eine Vereinfachung, die keine Beschränkung, sondern eine Befreiung ist. Es ist die Befreiung von den immer schwerer zu durchschauenden Zyklen einer Wirtschaft, die in einer immer komplexeren Welt Wege suchen muss, neue Bedürfnisse zu wecken und so Wachstum zu generieren. So sind die Technologiesprünge der Industrienationen oft Verbesserungen und Verfeinerungen, die Begierden wecken, anstatt Bedürfnisse zu stillen. Nur so lässt sich erklären, warum der Sohn einer Massai-Bauernfamilie namens Richard Turere schon mit 13 zu einem Jungstar der Innovationsszene wurde, der von CNN porträtiert und vom Ideenfestival TED Conference eingeladen wurde. Mit neun Jahren musste er mit ansehen, wie Löwen den Viehbestand seiner Familie immer wieder dezimierten. Nachbarn hatten ganze Herden verloren. Die Löwen zu jagen war verboten – im Nationalpark, aus dem sie auf die Turere-Farm vordrangen, stehen sie unter Schutz. Erste Versuche, sie mit Ölfunzeln oder Vogelscheuchen zu verschrecken, scheiterten. Eines Nachts aber bemerkte er, dass die Raubtiere sich vor seiner Taschenlampe fürchteten. Bald darauf stellte Turere Masten mit LED-Leuchten um die Herde herum auf, die er an eine alte Autobatterie anschloss. Mit Hilfe einer Zwischenschaltung brachte er diese Lichter zum Flackern. Sobald sich die Raubtiere der Herde nähern, lösen preisgünstige Sensoren die Lichtsperre aus. Gleichzeitig beruhigt das Licht das Nutzvieh, das nun die sonst so beunruhigend finstere „Le Cirque“ („Der Zirkus“) ist einer der 20 Scherenschnitte, die Matisse bettlägerig während einer seiner ersten schweren Krankheiten 1941 anfertigte. 1947 erschienen sie als Künstlerbuch „Jazz“. Savanne überschauen kann. Das steigert den Ertrag an Milch und Fleisch. So erfand er seine Konstruktion, die als „Turere Lion Lights“ in ganz Afrika verwendet wird. Trifft man den inzwischen 15-jährigen Jungen, ist man beeindruckt, wie bescheiden, fast schüchtern er auftritt. So wird er zu einem Idealtypus des ehrlichen und einfachen Erfinders, der die Innovation in ihrem ursprünglichen Sinne versteht – als Antrieb für die Weiterentwicklung des Menschen. Hinter den Sehnsüchten, die sich so kongenial in den Bildern von Matisse wiederfinden, steckt aber eine Falle. Denn wie bei allen Sehnsüchten ist ihre Erfüllung gar nicht das wahre Ziel. Niemand will den Lauf der Menschheitsgeschichte zurückdrehen. Die Komplexität der Zivilisation bleibt Herausforderung und Antrieb zugleich. Jeder Versuch, den Fortschritt aufzuhalten oder abzulehnen, sich in eine vormoderne Einfachheit zu flüchten, scheitert. Die Schönheit in der absoluten Reduktion bleibt eine Domäne der Kunst. Und selbst dort ist sie nur ein Traum, der nicht hält, was er verheißt. Henri Matisse selbst gab das einmal zu, als er sich spät im Leben noch einmal an seine Reise nach Tahiti erinnerte. „In Tahiti schätzte ich das Licht um seiner selbst willen. Doch es war so herrlich wie langweilig. Es gibt in diesem Land ja keine Sorgen. Wir haben unsere Sorgen von Kindheit an. Die erhalten uns wohl am Leben. Dort ist das Wetter schon bei Sonnenaufgang wunderbar und ändert sich bis Sonnenuntergang auch nicht. So ein unveränderliches Glück aber ist letztlich doch nur ermüdend.“ 02/2015 Entrepreneur Impulse Mindmap 65 Persönlich Unternehmertum • Experimentierfreudig und energiegeladen • Menschen liebend und harmoniebedürftig • Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt • Nie zufrieden, ungeduldig • Risiken bieten Chancen – das reizt mich • Stehaufmädchen • Freiheit und Unabhängigkeit – „Geht nicht“ gibt’s nicht • Unsicherheit aushalten – nicht nervös werden, wenn es mal nicht läuft • Trial and Error – nur wer wagt, gewinnt! • Mit Mut und Toleranz die Welt verändern • Risiken umarmen und keine Angst vor Misserfolg • Fail fast – Fehler machen alle. Je früher, desto besser! • Träume leben und Barrieren überwinden – die sind meist nur im Kopf Digitalisierung Inspiration • Das Leben mit den Augen von Kindern sehen • Menschen, die sich immer wieder ausprobieren, ohne Angst vor der Meinung anderer • Frauen in Führungspositionen – auf dass es auch ohne Quote mehr werden • Mein Motto: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ THEMA Experiment • Fluch und Segen, aber auf jeden Fall die Zukunft • Grüne Wiese mit großer Verantwortung • Mehr Chance als Risiko • Programmieren als neue Weltsprache • IT-Infrastruktur an Schulen und Universitäten ausbauen • Ausländischen IT-Fachkräften den roten Teppich ausrollen Vorbilder Familie Mach was! Wie Verena Pausder kleine Kinder und sich selbst immer wieder auf Trab bringt. • Das beste Experiment des Lebens • Immer neu, immer anders, immer toll • Tägliche Herausforderung Working Mum – Learning by Doing • Rückhalt, Kraft, Stärke, Zuversicht, Liebe Angst vor neuen Welten – Verena Pausder (36) hat sie nie gehabt. Dafür die stete Lust, sich vorzuwagen auf unbekanntes Terrain. Insofern ist es kein Wunder, dass sie im Jahr 2012 mit ihrem Co-Gründer Moritz Hohl die Fox & Sheep GmbH gründete. Das Berliner Unternehmen entwickelt und vertreibt Apps für Kinder im Vorschulalter – also für die vielleicht engagiertesten Entdecker der Welt. Mit Pausders Produkten steuern sie Bauarbeiter, bringen Ponys zum Tanzen und Schweine ins Bett. Und ganz nebenbei tasten sie sich vor in die digitale Zukunft. Etwas ausprobieren. Darin sind sich Pausder und ihre kleinen Kunden sehr ähnlich. Bereits mit 20 Jahren gründete die Tochter eines Bielefelder Textilfabrikanten mit ihrer Schwester eine Sushibar, die sie neben dem BWL-Studium sechs Jahre lang betrieb. Nach einer eher frustrierenden Station als Trainee bei einer großen Versicherung machte sie sich erneut selbstständig, mit einer Kette von Salatbars – und scheiterte nach bereits einem Jahr. Dabei verlor sie ihre gesamten Ersparnisse. Erfolgreicher war dann ihre eigene Beteiligungsgesellschaft, die etwa Containerschiffe finanzierte. • Bertrand Piccard (Solar Impulse), wegen seines Mutes, Dinge zu wagen, die angeblich unmöglich sind • Elon Musk (Tesla), wegen seines Glaubens an Innovation und Disruption • Sheryl Sandberg (Facebook), wegen ihrer Diversity im Denken • Philipp Pausder (mein Mann), wegen seiner Energie, den Status quo immer wieder in Frage zu stellen Danach machte Verena Pausder den Schritt in die digitale Welt und betrat wieder Neuland. Zunächst als angestellte Managerin bei einer Online-Partnervermittlung, später half sie, als Head of Online für einen Medienkonzern eine Lernplattform für Schulkinder aufzubauen. Im Jahr 2010 wird die Mutter von zwei Söhnen geschäftsführende Gesellschafterin bei Young Internet, dem Betreiber einer Online-Spieleplattform für Kinder. Zwei Jahre später gründet sie Fox & Sheep, um sich aufs mobile Geschäft zu konzentrieren. Eine richtige Entscheidung – bei einem Umsatz im Jahr 2014 von knapp über einer Million Euro und weltweit über zwölf Millionen Downloads hat sich Fox & Sheep zu einer hochprofitablen Firma entwickelt. Und offenbar so zukunftsträchtig, dass sich der renommierte Spielwarenhersteller HABA zu Beginn des Jahres die Mehrheit daran sicherte. Für Verena Pausder nicht nur eine schöne Anerkennung, sondern die Chance, mit Fox & Sheep nun wieder ein neues Experiment zu wagen: Deren digitale Charaktere sollen bald ganz real Einzug in die Kinderzimmer halten. Damit man sie nicht nur auf einem Bildschirm anstupsen, sondern richtig knuddeln kann. Impulse Vordenker 67 Arvind Gupta mit seinem ersten Wissenschaftsspielzeug, dem „Matchstick Mecanno“. Aus Zündhölzern und Ventilschlauchstücken lassen sich ungezählte geometrische Figuren formen. Raumschiffe aus Müll Der Inder Arvind Gupta baut Spielzeuge, die zu einem großen Teil aus dem bestehen, was andere Leute auf den Müll werfen. Mit „Toys From Trash“ hat er die Begeisterung für einfache naturwissenschaftliche Experimente auch in den entlegensten Winkeln seines Heimatlandes entfacht. Entrepreneur 02/2015 E nde der 70er-Jahre gab es eine Zeit, da wusste Arvind Gupta nicht so recht, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Andererseits hatte der junge Mann eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was er nicht wollte – nämlich so weitermachen wie bisher. Gupta arbeitete damals als Ingenieur für den indischen Tata-Konzern und baute Lastwagen. Ein gut dotierter Job, um den ihn viele beneideten. Doch er wurde immer unzufriedener. Von Tag zu Tag wuchs in ihm das Bedürfnis, seinem Leben eine radikale Wendung zu verpassen. Gupta vollzog damals eine Metamorphose – vom Ingenieur zum Spielzeugmacher. So bezeichnet er sich seitdem. Und in seiner neuen beruflichen Bestimmung hat er es zu weltweiter Popularität gebracht. Mit Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Mit über 1 000 Filmen auf YouTube. Mit Vorträgen auf Bildungskongressen in aller Welt. Auf Spielwarenmessen, in den Katalogen der großen Hersteller und bei Internetversendern sucht man die Kreationen des stets freundlich auftretenden, in eine weit geschnittene Kurta gewandeten Mannes allerdings vergebens. Seine Spielwaren kann man überhaupt nirgends kaufen. Sie haben auch keinen Preis, weder in Euro noch in Dollar noch in indischen Rupien. Arvind Guptas Spielwerk besteht zu einem großen Teil aus dem, was andere Leute wegwerfen. Aus Müll. Aus Fahrradschläuchen, Filmdosen, Strohhalmen, Drahtstücken, Garnröllchen, Pappe, Papier, Styropor, Alufolie und Plastikbechern. Aus diesen Materialien entstehen kleine Zentrifugen, Propeller, Hupen und Fanfaren, Papierskelette, geometrische Figuren, Miniatur-Solarboote, Pumpen in allen Variationen und ein Raumschiff aus Papier, das, an einer Schnur aufgehängt, quer durch den Raum saust. Die Idee zu „Toys From Trash“ entsprang Arvind Guptas sozialistisch angehauchter Grundeinstellung. Anfang der 70er, als er am Indian Institute of Technology in Kanpur studierte, verfolgte er elektrisiert die weltweiten Anstrengungen für eine friedlichere und gerechtere Welt. Im Geiste war er bei den Protestierenden auf den Campussen der Universitäten und den Straßen der Metropolen; er sah sich auf der Seite der Benachteiligten und Entrechteten. „Allerdings hatte ich nur begrenztes Interesse an weitschweifigen Diskursen über den besten Weg zum Sozialismus“, sagt er heute. Auch die Barrikade, mit wehender Fahne in der Hand, war nicht sein Platz. Er bevorzugte praktische Schritte, um das Los der Deprivierten zu erleichtern – jener Millionen von Landsleuten, die mit ein paar Rupien in der Hand von einem Tag auf den anderen lebten. Auch Indien wurde damals von einer großen Begeisterung für die Naturwissenschaften erfasst. In den Jahren nach der Landung der ersten Menschen auf dem Mond erlebte insbesondere die Physik eine Renaissance. 1975 wurde dann der erste indische Satellit ins All geschossen – ein Akt der Emanzipation für das Raumfahrt-Nachzüglerland. In den meisten Schulen fristeten die Naturwissenschaften allerdings ein klägliches Dasein. Das wollten die Aktivisten vom Hoshangabad Science Teaching Programme ändern. Sie brachten die Wissenschaft in die Dorfschulen und setzten dabei auf entdeckendes, spielerisches Lernen statt auf stupides Pauken aus Schulbüchern. So bereiteten sie den Nährboden für Arvind Guptas Wandlung vom Ingenieur zum Spielzeugmacher. „Go to the people. Live with them. Love them.“ hieß ihr Slogan. Mit einfachen Experimenten sollten die Kinder selbst Antworten auf alltägliche naturwissenschaftliche Fragen finden und mit ihrem natürlichen Wissensdrang, ihrer Neugier und Probierlust die unbelebte Natur sinnlich erfahren. Auch Arvind Gupta, dem der sozial-aufklärerische Ansatz des Science Teaching Programme nicht verborgen geblieben war, ließ sich von den Bildungsrevolutionären inspirieren. 1978 nahm er bei Tata eine zunächst auf ein Jahr befristete Auszeit „für Studienzwecke“ und schloss sich der Bewegung an, um die Begeisterung für Naturwissenschaften und Technik auch in den entlegensten Winkeln des Landes zu entfachen. Guptas erste Station war „eine sehr kleine Schule in einem sehr kleinen Dorf“. Es gab dort weder ein Labor noch Chemikalien oder Gerätschaften für einen anständigen Chemie- oder Physikunterricht. Die Schulbücher waren mindestens 30 Jahre alt. Gupta suchte Unterrichtsmaterialien, die möglichst nichts kosteten. „Müll gab es in Hülle und Fülle“, erinnert er sich, „überall, ich brauchte nur vor die Tür der Schule zu treten.“ Gupta begann, Stücke eines Fahrradventilschlauchs mit Streichhölzern zu verbinden – und schuf damit sein erstes „Wissenschaftsspielzeug“, das er bis heute zu seinen Lieblingskreationen zählt: den „Matchstick Mecanno“. Aus den Ventilstücken und den Zündhölzern lassen sich ungezählte zwei- und dreidimensionale geometrische Figuren formen: Polygone, Würfel, Tetraeder, Quader, Pyramiden. Die wiederum können dann zu komplexen Bauwerken, beispielsweise zu Häusern, zusammengefügt werden. Die Körper lassen sich drehen, kippen, auseinanderziehen und quetschen wie eine Ziehharmonika. Manche fallen um, andere bleiben stehen. Wer damit hantiert, lernt beispielsweise eine Menge über Statik – ohne jemals einen Blick in ein Lehrbuch darüber geworfen zu haben. Eine solche Lerneinheit in Physik kostet nichts – sie erfordert nur Begeisterungsfähigkeit und Experimentierfreude. Arvind Guptas einjährige Auszeit bei Tata wuchs sich zu einer mittlerweile 37-jährigen Bildungsmission aus. Mehr als 650 Spielzeuge aus Abfall umfasst das aktuelle Portfolio des 61-Jährigen. 1 100 YouTube-Filme erklären, meist innerhalb von nicht mehr als einer Minute, die Herstellung der „Toys From Trash“. An wie vielen Schulen er sein kleines Bildungsfeuerwerk bisher abgebrannt hat? Arvind Gupta hat irgendwann aufgehört zu zählen. Für ihn ist etwas anderes entscheidend: „Jedes Mal, wenn ich den Kindern diese Dinge zeige und sie sie dann anschließend selbst ausprobieren, sehe ich ein Leuchten in ihren Augen“, sagt er. „Ich sehe Hoffnung und ich sehe pure Freude.“ Toys From Trash Unter www.arvindguptatoys.com findet sich eine Vielzahl von Anleitungen für Experimente und den Bau einfacher Spielzeuge aus Abfall. 02/2015 Entrepreneur 68 Impulse Zehn Fragen Die Fähigkeit zur Improvisation – kann man sie lernen? Allein positives Denken kann ungeahnte Talente freisetzen. Zudem muss man aus sich selbst schöpfen und logisch agieren. Wenn dir dein Improvisationspartner ein Paket überreicht – mach es auf. Keith Johnstone Bedeutet Improvisation die Fokussierung auf sich selbst oder doch eher auf andere? Beides. Wer versteht, wie er die Kreativität anderer behindert, weiß auch, wie er seine eigenen Entfaltungsspielräume einschränkt. Etwa wenn man sich selbst in den Vordergrund spielt, indem man krampfhaft witzig sein will. Der britische Schauspiellehrer Keith Johnstone (82) ist einer der Pioniere des Improvisationstheaters. Bereits in den 60er-Jahren suchte er an der Londoner Royal Academy of Dramatic Art nach Wegen zu mehr Spontanität und Freude auf der Bühne, forderte seine Schüler dazu auf, Grimassen zu schneiden und sich bewusst nicht zu konzentrieren. An der Universität Calgary schuf er 1975 schließlich eine spezielle Form des Improvisationstheaters, für die er bis heute berühmt ist – „Theatresports“, bei dem zwei Mannschaften aus Schauspielern um Punkte eines Schiedsrichters und die Gunst eines bewusst auch lautstarken Publikums spielen. Seit der Gründung seiner Loose Moose Theatre Company im Jahr 1977 hat Johnstone diverse weitere Improvisationsformate entwickelt, die dem grundsätzlich freien Spiel einen festen Rahmen geben und deren weltweite Verbreitung das 1998 aufgesetzte International Theatresports Institute in Calgary maßgeblich vorantreibt. Johnstone selbst steht trotz seines hohen Alters bis heute bei Workshops auf der Bühne. Theatresports – warum haben Sie diese spezielle Form des Improvisationstheaters ursprünglich entwickelt? Ich wollte mehr Dynamik ins Spiel bringen. Und mir war ein Miteinander von Schauspielern und Publikum wichtig. Deshalb habe ich mich am professionellen Wrestling orientiert, was ja auch eine Form von Theater ist. Können Erfahrungen aus dem Improvisationstheater auf andere Lebensbereiche übertragen werden? Ja, denn wir geraten immer wieder in unvorhersehbare Situationen. Wie beim Theater müssen wir dann aus dem Stand heraus stimmig reagieren. Haben denn auch Führungskräfte und Improvisationskünstler etwas gemeinsam? Beide müssen einen Prozess aktiv weitertreiben, anstatt nur dem nachzulaufen, was andere vorgeben. Dabei können beide nicht wissen, was die Zukunft bringt. Welche Lehren aus dem Improvisationstheater sind am ehesten im Geschäftsleben anwendbar? Ich tue mich schwer mit Ratschlägen. Aber meine Arbeit findet erfolgreich Anwendung etwa beim Coaching von Managern, und dafür wird es Gründe geben. Entrepreneur 02/2015 Improvisationstheater folgt keinem Script – was gibt trotzdem Orientierung? Die Struktur ergibt sich, wenn man wach bleibt und stets Bezug nimmt auf vorangegangene Szenen. Das Streben nach Wahrhaftigkeit und einer stimmigen Geschichte verhindert zudem, dass das Stück ins Sinnlose abdriftet. Welche Rolle spielt dann Führung in experimentellen Prozessen? Führung bedeutet eine Vorstellung, wohin ein Prozess führen soll und warum bestimmte Dinge dabei passieren. Das erkennt man aber erst, wenn der Prozess schon im Gange ist. Darüber sollte man sich freuen, auch wenn es anstrengend ist. Was ist die größte Hürde dabei, im Theater erfolgreich zu improvisieren? Angst. Sie verhindert, dass sich Menschen verändern und entwickeln. Aber kein Mensch will einen Schauspieler sehen, mit dem auf der Bühne nichts passiert. Wie würden Sie Scheitern definieren? Scheitern ist ein wichtiger Schritt zur guten Improvisation, denn ohne Scheitern gibt es kein richtiges Lernen. Und nur wer lernt, kann auch improvisieren. Für mich stellt sich deshalb eher die Frage, ob etwas funktioniert. Wenn man auf der Bühne Fehler macht und das Stück trotzdem fließt, ist das doch wunderbar. Impressum Herausgeber: Georg Graf Waldersee Gestaltung und Realisation: Anzinger | Wüschner | Rasp, München Art Direction: Markus Rasp Projektmanagement: Martina Jacoby Bildnachweise: S. 5 links: Catalin Marin, S. 20–22: Nordeus, S. 30–32: illy, S. 33: Mattia Balsamini, S. 34: Catalin Marin, S. 36: iStock / GettyImages, S. 54 / 55: Fabrice Borgazzi, S. 56 / 57: Archives H. Matisse, S. 58 / 60 / 61 / 63: Succession H. Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn 2015, S. 59 oben: Saphon Energy, S. 59 unten: BRCK Inc., S. 62 oben: Lucia du Preez, S. 62 unten: TED, S. 64: Jennifer Fey, S. 66 / 67: Sumeet Moghe, S. 68: Benjamin Johnstone Adresse der Redaktion: Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Mittlerer Pfad 15 70499 Stuttgart [email protected] Druck: Druck- und Verlagshaus Zarbock Frankfurt am Main Die globale EY-Organisation im Überblick Die globale EY-Organisation ist einer der Marktführer in der Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung, Transaktionsberatung und Managementberatung. Mit unserer Erfahrung, unserem Wissen und unseren Leistungen stärken wir weltweit das Vertrauen in die Wirtschaft und die Finanzmärkte. Dafür sind wir bestens gerüstet: mit hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern, starken Teams, exzellenten Leistungen und einem sprichwörtlichen Kundenservice. Unser Ziel ist es, Dinge voranzubringen und entscheidend besser zu machen – für unsere Mitarbeiter, unsere Mandanten und die Gesellschaft, in der wir leben. Dafür steht unser weltweiter Anspruch „Building a better working world“. Die globale EY-Organisation besteht aus den Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited (EYG). Jedes EYG-Mitgliedsunternehmen ist rechtlich selbstständig und unabhängig und haftet nicht für das Handeln und Unterlassen der jeweils anderen Mitgliedsunternehmen. Ernst & Young Global Limited ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach englischem Recht und erbringt keine Leistungen für Mandanten. Weitere Informationen finden Sie unter www.ey.com. Magazin No. 02 /2015 Entrepreneur by EY EY | Assurance | Tax | Transactions | Advisory 02/2015 Experiment — Ein Aufbruch ins Ungewisse / Entdecken statt Pauken / Von Sachzwängen und Geniestreichen / Improvisation und Rhythmus / Alle Sinne auf Empfang by EY In Deutschland ist EY an 22 Standorten präsent. „EY“ und „wir“ beziehen sich in dieser Publikation auf alle deutschen Mitgliedsunternehmen von Ernst & Young Global Limited. Experiment © 2015 Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft All Rights Reserved. EY ist bestrebt, die Umwelt so wenig wie möglich zu belasten. Diese Publikation wurde daher auf FSC® -zertifiziertem Papier gedruckt, das zu 60 % aus Recycling-Fasern besteht. Diese Publikation ist lediglich als allgemeine, unverbindliche Information gedacht und kann daher nicht als Ersatz für eine detaillierte Recherche oder eine fachkundige Beratung oder Auskunft dienen. 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