entwicklung – wohin? - Welt

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www.welt-sichten.org
9-2015 september
Weltbank: Ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt
Flüchtlinge: In den Fängen der Mafia
Ägypten: Gemeinsam gegen die Revolution
Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit
Entwicklung – wohin?
en
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10
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taz.am
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taz.de/
Mit ihren LeserInnen teilt die taz Informationen
und Ideale. Die taz.am wochenende ist die taz
für die freien Tage. Und für freie Gedanken.
taz.die solidarische Methode
editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Bernd Ludermann
Chefredakteur
meine Großeltern sind in einer Welt aufgewachsen, die wir uns kaum noch vorstellen
können. Nicht nur Computer, Telefon und Autos, sondern auch Zentralheizung, Mähdrescher, elektrisches Licht, Kunstfasern, Ananas und Kaffee waren in ihrer Jugend entweder
unbekannt oder selten und teuer. Heute ist das alles selbstverständlich, denn wir sind
„entwickelt“. Der Begriff ist eng mit der Vorstellung von linearem Fortschritt verbunden,
erklärt Corinna Unger in ihrem Beitrag. „Rückständige“ Gebiete zu entwickeln, diente
auch als Rechtfertigung für Herrschaft. Und obwohl sich das Projekt Entwicklung ständig
gewandelt hat, ist sein Kern noch immer das Wirtschaftswachstum.
In eigener Sache
ist erneut Medienpartner der Schweizer
Dieses hat den Verbrauch an Rohstoffen und Energie
Akademia Engelberg in der Nähe von Luzern. Sie, liebe
sowie den Ausstoß von Müll und Treibhausgasen
Leserinnen und Leser, sind eingeladen, Mitte Oktober deren
immens gesteigert. Muss man sich deshalb vom
Jahrestagung „Zukunftsfähige Wirtschaftssysteme“ zu
gängigen Entwicklungsmodell verabschieden? In Indien
besuchen. Sie erhalten einen Nachlass von 50 Franken auf
keinesfalls, sagt die indische Wissenschaftlerin Joyash
die Kostenbeteiligung von 200 Franken. Wer sich anmelden
ree Roy: Mit welchem Recht dürfte man den Armen den
möchte, wendet sich bitte an [email protected].
einzig nachweislich gangbaren Weg zum Wohlstand
versperren? Weil er in die Umweltkatastrophe führt,
entgegnet ihr Landsmann Chandran Nair. Er vertraut
nicht auf den technischen Fortschritt, sondern fordert eine Abkehr vom hemmungslosen
Konsum – unter der Führung Asiens. Auch in Europa werden Rufe nach sozialen und
ökologischen Wirtschaftsweisen lauter. welt-sichten-Redakteurin Gesine Kauffmann hat
sich mit der Gemeinwohl-Ökonomie einen praktischen Ansatz angesehen.
Das politische Versagen Europas wird heute nirgends deutlicher als beim Umgang mit
Flüchtlingen und Migranten. Davon profitierten nicht nur skrupellose Schlepper, sondern
auch die italienische Mafia, schildern Alex Perry und Connie Agius. Und Jean-Pierre Filiu
erklärt, warum arabische Diktatoren der falsche Partner im Kampf gegen islamistische
Extremisten sind: Sie bekämpfen vor allem Demokraten und fördern den Terror.
Wenn Sie das nächste Heft kaum erwarten können, dann schauen Sie doch einmal auf
www.welt-sichten.org vorbei. Wir haben unsere Website neu gestaltet und berichten dort
wie gewohnt sachlich, gründlich, kritisch – und aktueller als zuvor.
Eine spannende Lektüre wünscht
| 9-2015
3
inhalt
ye aung thu/afp/Getty images
4
12
Was bedeutet Entwicklung? Das
kann für den Einzelnen sehr
unterschiedlich sein. Die Familie im
südafrikanischen Armenviertel
Soweto auf dem Titelbild würde sich
vermutlich fließendes Wasser und
Strom wünschen. Solche Grundvoraussetzungen für Entwicklung
müssen erfüllt werden – darüber
gibt es keinen Streit. Wohl aber
darüber, wie die Menschheit künftig
wirtschaften und
konsumieren soll ohne die
Grenzen der Erde zu sprengen.
Hollandse Hoogte/laif
Die westliche Lebensweise fördert den Klimawandel. Die Kosten
tragen vor allem die Menschen in armen Ländern: Überschwemmungen in Myanmar.
23
schwerpunkt: entwicklung
12 Immer vorwärts
Aufstrebende Länder aus dem Globalen Süden stellen die Ordnung der
inter­nationalen Entwicklungspolitik infrage
Corinna R. Unger
18 Schlechter Start
Die neuen Nachhaltigkeitsziele der UN ändern nichts an der neoliberalen
Wirtschaftspolitik
Tidiane Kassé
20 Fortschritt für alle!
Die Armen in Indien müssen in den Genuss technischer Errungenschaften kommen
Von Joyashree Roy
23 Die Party ist zu Ende
Der Konsum muss gedrosselt werden, damit die Erde überleben kann
Von Chandran Nair
27 Das Klima retten aus Kalkül
Costa Rica will bis 2021 klimaneutral werden. Ist das ernst gemeint?
Markus Plate
28 Anders wachsen
Unternehmen probieren aus, wie die Wirtschaft dem Gemeinwohl dienen kann
Ein Teil der Auflage enthält
Beilagen der Deutschen Stiftung
Weltbevölkerung und der informationsstelle
südliches afrika e.V. sowie
.
eine Bestellkarte von
Gesine Kauffmann
32 Feuer für das „gute Leben“
Eine Berliner Theatergruppe will ihr Publikum für alternative Lebenskonzepte
begeistern
Hanna Pütz
9-2015 |
Sarah Caron
inhalt
Standpunkte
6 Die Seite Sechs
7 Leitartikel: Ein unvollendetes Werk. Weltpolitik
braucht mehr als eine starke Weltorganisation
Tillmann Elliesen
8 Kommentar: Ohne Rücksicht für den
Fortschritt. Die Weltbank achtet bei vielen
Projekten zu wenig auf Mensch und Umwelt
Korinna Horta
10 Kurzkommentar: Die Kunst der schönen Worte.
Die SDGs werden die sozial-ökologische
Transformation nicht befördern
Der Weg über das Mittelmeer ist teuer und endet oft tödlich. Und
nach der Ankunft in Italien können Flüchtlinge schnell in die Fänge
der Mafia geraten.
34
Bernd Ludermann
10 Kurzkommentar: Stich ins Wespennest.
Amnesty International will die Prostitution
legalisieren
Gesine Kauffmann
11 Herausgeberkolumne: Unternehmen müssen
stärker in die Pflicht genommen werden
Daniel Hostettler
welt-blicke
Journal
34 Flüchtlinge: Im Netz der Verbrecher
Menschenhändler und Mafia verdienen sich mit dem Elend von
Flüchtlingen eine goldene Nase
48 K
inderrechte: „Gefängnisse sind eine Schule
der Kriminalität“
Alex Perry und Connie Agius
39 Ägypten: Gemeinsam gegen die Revolution
Diktatoren und Dschihadisten bekämpfen die demokratischen
Bewegungen
Jean-Pierre Filiu
43 Gesundheit: Kräutertrank aus dem Kloster
In Nigeria vereint ein Unternehmen traditionelle Pflanzenheilkunde
mit moderner Wissenschaft
Sam Olukoya
46 Schweiz: „Der Regierung auf die Finger schauen“
Gespräch mit dem scheidenden Geschäftsführer der Alliance Sud, Peter Niggli
50 Studie: PPPs sind teuer und riskant
51 Berlin: Steuerinitiative als Trostpflaster
52 Brüssel: Unendliche Geschichte: Die Reform
des EU-Emissionshandels
53 Schweiz: Altersvorsorge-Fonds stoppt
Investitionen in Nahrungsmittel
55 Österreich: Streit über den Umgang mit
Asylbewerbern
57 Kirche und Ökumene: Regierung in Den Haag
kürzt Zuschüsse für Hilfsorganisationen
58 Global Lokal: Baden-Württemberg bleibt
Partner des Krisenlandes Burundi
59 Personalia
service
60 Filmkritik
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61 Rezensionen
65 Termine
| 9-2015
65 Impressum
5
standpunkte die seite sechs
Reife Leistung
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6
Europa, man weiß es, ist in
schlechter Verfassung. Griechenland, Flüchtlinge, das Verhältnis
zu den Nachbarn in Ost und Süd
- nichts kriegt der alte Kontinent
einigermaßen geregelt. Da ist es
tröstlich, dass wenigstens frühere
Erfolge der Europäischen Union
weltweit noch als Vorbild gelten.
Erinnern Sie sich an den Sieg
über Milchberge und Butterseen seit den 1980er Jahren? Was
wir damals nicht selbst essen
und auch nicht verbilligt auf
den Weltmarkt werfen konnten,
wurde zur Preisstützung einfach
vernichtet. Und schon erzeugten die Bauern noch mehr.
Wer ist’s?
„Ich empfinde auf jeden
Fall, dass es eine extrem
nicht zufriedenstellende
Situation ist.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel
zum Umgang mit Flüchtlingen.
Dieses eine Mal hatte er sich
überschätzt: Vor 30 Jahren
wollte er Bürgermeister werden
in der Stadt, in der er die meiste
Zeit seines Lebens verbringen
sollte. Siegesgewiss ließ er sich
vor der Wahl schon einmal im
Chefsessel ablichten. Das gefiel
vielen nicht – sein Konkurrent
gewann. Davon abgesehen legte der Vater von drei Kindern
eine steile politische Karriere
hin. Mehrere Jahre versah er in
seinem Heimatland hochrangige Positionen. Dabei hatte er
sich zunächst auch im Ausland
einen Namen als Wissenschaftler gemacht. Studiert hat er
unter anderem in Frankreich
und in Chile, wo er gemeinsam mit anderen seines Faches
eine linke Entwicklungstheorie
entwickelte, die viel diskutiert
– und natürlich auch bestritten – wurde. In seiner Zeit als
Politiker förderte er dann jedoch die Privatisierung staatli-
cher Unternehmen, wofür ihn
seine früheren Mitstreiter des
Verrats bezichtigten und ihn
in die neoliberale Ecke stellten.
Zugleich setzte er sich für den
Schutz der Menschenrechte
ein, und er gilt als Vater der bis
heute sehr erfolgreichen Sozialprogramme in seiner Heimat.
Trotzdem schwand seine Popularität in der zweiten Amtszeit rapide; damit hinterließ er
seinen Parteifreunden ein gemischtes Erbe. Nach seiner Zeit
in der Politik lehrte er an diversen Universitäten, verfasste
mehrere Bücher und erhielt
zahlreiche Ehrungen. Noch
immer ist der heute 84-jährige, der vier Sprachen spricht,
in verschiedenen Ämtern bei
Stiftungen und hochrangigen
Gremien aktiv. Wer ist’s?
Auflösung aus Heft 8-2015: Gesucht
war Norodom Sihanouk, König und
Staatsoberhaupt von Kambodscha.
Trotzdem ist das Verfahren bei
uns in Verruf gekommen. Dafür
hat sich die Regierung Angolas
daran ein Beispiel genommen.
Elf Millionen Eier hat sie kürzlich
vernichten lassen, weil die angeblich ohne Gesundheitszertifikat
eingeführt worden waren. In
Wahrheit steckt dahinter, dass
Angola im Januar Importquoten für ausländische Speisen
eingeführt hat. Die Regierung
will, dass mehr Eier im Land
gelegt werden – zum Nutzen der
heimischen Bauern. Sie hat das
Prinzip verstanden: Wie weiland
Europa nutzt sie die Vernichtung
von Nahrung, um die Ernährungssicherheit zu stärken.
Nicht verstanden hat es Wladimir Putin. Er lässt tonnenweise
Käse, Fleisch und Obst aus der
EU vernichten, nur weil er sich
für die Sanktionen des Westens
wegen der Ukraine rächen will.
Russlands Bauern wird das
gar nichts nutzen. Oder glaubt
irgend jemand, dass die demnächst richtigen Camembert
herstellen? Freilich, wir sollten
auch hier nicht allzu scharf
urteilen. Immerhin tut Putin
uns im Grunde einen Gefallen:
Wenn deutsches Fleisch und
französischer Käse nicht ihren
Weg nach Russland fänden und
dort vernichtet würden, dann
müssten wir das am Ende gar
wieder selbst tun. Und wie sähe
das denn aus?
9-2015 |
leitartikel standpunkte
Ein unvollendetes Werk
Weltpolitik braucht eine starke Weltorganisation – und noch mehr
Von Tillmann Elliesen
D
ie Vereinten Nationen seien oft „ein Ort der
Frustration und der Unentschlossenheit“.
Und manchmal auch der „wahnsinnig machenden Untätigkeit“ – wie zum Beispiel in Syrien.
Der Stoßseufzer stammt von UN-Generalsekretär
Ban Ki-moon aus einer Rede im Juni zum 70. Geburtstag der Weltorganisation. Im Jubiläumsjahr
2015 sehen die Vereinten Nationen sich mit einer
Vielzahl dramatischer Krisen und schwerer Aufgaben konfrontiert – und nicht nur ihr oberster Boss
findet, dass sie dabei nicht immer die beste Figur
machen. Das fängt an mit den Kriegen in der arabischen Welt, geht weiter mit der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg und reicht bis zur
ungelösten Frage, wie der menschengemachte Klimawandel gebremst werden kann.
Wie ein gutes Leben und eine nachhaltige
Gesellschaft aussehen, lässt sich nicht bei den
Vereinten Nationen beschließen.
Tillmann Elliesen
.
ist Redakteur bei
| 9-2015
In all diesen Krisen haben die Vereinten Nationen bislang bestenfalls an den Symptomen herumdoktern können, etwa indem sie Flüchtlinge mit
Essen und Unterkünften versorgen. Den Ursachen
stehen sie weitgehend hilflos gegenüber. Der Weltorganisation wohlgesonnene Fachleute und Politiker
betonen zu Recht, dass das den UN selbst nur zum
Teil angelastet werden kann. Man kann es nicht oft
genug sagen: Die Vereinten Nationen sind nur so
stark, wie ihre knapp 200 Mitglieder es zulassen.
Und allzu stark haben sie sie oft nicht werden
lassen. Die aktive Rolle etwa, die den UN in der Friedenssicherung zugedacht war, notfalls mit eigenen
Truppen, hat sie nie bekommen. Die USA und die
Sowjetunion wollten das im sich zuspitzenden OstWest-Konflikt nach 1945 nicht. Und heute sind dem
Sicherheitsrat im Krieg in Syrien die Hände gebunden, weil sich Washington und Moskau nicht einigen
können. Wenn es um Entwicklungs- oder Gesundheitspolitik oder um humanitäre Hilfe geht, für die
die vielen Unterorganisationen der UN zuständig
sind, zeigen sich die Mitglieder oft knauserig. Oder
sie zahlen nur dann ihre Beiträge, wenn sie selbst
bestimmen können, wofür das Geld verwendet wird.
Auch das lähmt die Arbeit der Weltorganisationen.
Um die UN schlagkräftiger zu machen, sind deshalb einige Reformen nötig – über die teilweise schon
seit Jahren beraten wird. Dazu gehört die Frage, wer
in Zukunft als ständiges Mitglied dem Sicherheitsrat
angehören soll und ob einzelne Staaten weiter ihr
Veto gegen Entscheidungen einlegen können dürfen.
Zudem müsste der Wirtschafts- und Sozialrat aufgewertet werden und mehr Kompetenzen erhalten, um
globalen sozialen Problemen wie Hunger und Armut
besser gerecht zu werden. Und die Finanzierung der
Weltorganisation muss neu geregelt werden, so dass
sie über ein zuverlässiges und angemessenes Budget
verfügt, über das sie frei verfügen kann.
Allerdings stellt sich auch die Frage, für welche
Aufgaben die Vereinten Nationen heute noch taugen und für welche nicht. Seit ihrer Gründung ist die
Weltlage unübersichtlicher geworden, Kriege und
Konflikte sind komplizierter als früher, nichtstaatliche Kräfte wie Unternehmen, eine internationale
Zivilgesellschaft und ihr dunkles Gegenstück, die organisierte Kriminalität, mischen in der globalen Politik mit, wie das seinerzeit nicht vorstellbar war. Mit
dem Klimawandel und der Suche nach einem Entwicklungsmodell, das den Planeten nicht zugrunde
richtet, muss die Menschheit Probleme bewältigen,
von denen damals keine Rede war.
Nötig sind deshalb nicht nur stärkere Vereinte
Nationen, sondern auch eine neue Arbeitsteilung
zwischen ihr und anderen Spielern in der Weltpolitik. Dazu zählen Regionalorganisationen wie die
Europäische und die Afrikanische Union, aber auch
Staatenbündnisse wie die G7 oder die G20 der großen Schwellen- und Industrieländer. Solche Bündnisse sehen manche Kritiker als nicht legitimierte
Konkurrenten der UN. Tatsächlich aber ergänzen sie
die Weltorganisation und können Aufgaben übernehmen, für die die UN-Zentrale in New York die falsche Adresse ist. Ein Beispiel ist die Regulierung der
Finanzmärkte durch die G20.
Die eine „Weltautorität“, wie sie Papst Franziskus
in seiner Enzyklika „Laudato si“ zur Lösung der globalen Aufgaben vorschlägt, kann es nicht geben. Geht
es um universelle Normen wie das Gewaltverbot und
die Menschenrechte, müssen die Vereinten Nationen
übernehmen. Doch wie ein gutes Leben und eine
nachhaltige Gesellschaft aussehen, lässt sich nicht
am East River beschließen – weshalb sich die UN
mit den Nachhaltigkeitszielen übernommen haben
dürften. Solche Fragen müssen vor Ort entschieden
werden, in Städten etwa, von denen viele heute schon
beim Klimaschutz vorangehen, ob die UN-Klimakonferenzen nun weiterkommen oder nicht.
Die UN seien „ein unvollendetes Werk“, sagte Ban
Ki-moon in seiner Rede. Und das, so könnte man hinzufügen, wird auch immer so bleiben.
7
8
standpunkte kommentar
Ohne Rücksicht für den Fortschritt
Die Weltbank achtet bei vielen Projekten zu wenig auf Mensch und Umwelt
Von Korinna Horta
Eine Welt ohne Armut will die Weltbank schaffen. Gleichzeitig will sie
weiter im Entwicklungsgeschäft
bleiben und sich gegen Konkurrenz
wie die neue Entwicklungsbank
der BRICS-Staaten behaupten. Dafür will das Management die Umwelt- und Sozialstandards der Bank
aufweichen.
Die Situation der Weltbank ist
schwieriger geworden, Länder wie
China und Indien sind nicht mehr
nur Kunden, sondern zunehmend
Konkurrenten im internationalen
Entwicklungsbusiness. Da können
Umwelt- und Sozialstandards zur
lästigen Hürde werden, die dem
schnellen Abfluss von Projektmitteln im Weg steht. Vor diesem
Hintergrund überarbeitet die
Weltbank derzeit ihre Standards.
Die Standards sollen Menschen und Umwelt schützen –
etwa wenn indigene Völker unter
den Folgen von Projekten leiden,
die die Weltbank finanziert. Das
kann der Fall sein, wenn Plantagenwirtschaft, Palmölproduktion,
industrieller Holzeinschlag, Bergbauprojekte und große Staudämme gefördert werden. Für die Einhaltung der Standards kann die
Bank zur Rechenschaft gezogen
Deutschland als viertgrößter Geber muss
auf einem Menschenrechtsansatz bei den
Weltbank-Standards bestehen.
werden. Häufig wurden sie jedoch
nicht eingehalten, wie das Inspection Panel, ein unabhängiger Beschwerdemechanismus der Bank,
in vielen Fällen dokumentiert hat.
Ein Beispiel: Laut Inspection
Panel hat die Demokratische Republik Kongo mit Weltbank-Krediten steigende Exporte aus dem
industriellen Einschlag von Tropenholz gefördert. Die Bedürfnisse von rund 40 Millionen Menschen, deren Lebensunterhalt von
einem intakten Wald abhängt,
wurden ignoriert. Außerdem decken die bestehenden Schutzstan-
dards wichtige Bereiche wie Klimawandel und Menschenrechte
nicht ab. Es wäre also angebracht,
sie zu erweitern und zu stärken.
Weltbank-Präsident Jim Yong
Kim hatte im Oktober 2012 versprochen, die bestehenden Regeln
nicht zu verwässern. Der erste
Entwurf des neuen „Environmental and Social Framework“ wurde
zwei Jahre später im Juli 2014 veröffentlicht. Darin waren die bisherigen Regeln allerdings stark abgeschwächt. Verbindliche Standards
sollten durch weitgehend flexible
Regeln ersetzt werden. Nach
scharfer Kritik aus der Zivilgesellschaft, von einigen Regierungen
und aus dem UN-Menschrechtsrat legte die Bank im vergangenen
August einen zweiten Entwurf vor.
Er enthält einige punktuelle Verbesserungen, aber die Grundprobleme sind geblieben.
Die Regeln sollen für die Anwender so flexibel sein, dass sie in
der Praxis zu freiwilligen Standards herabgestuft wären. Sie
müssten nur dort berücksichtigt
werden, wo es technisch oder finanziell möglich ist. Zudem wird
die Verantwortung auf die Regierungen der Nehmerländer übertragen: Sie sollen das Risiko eines
Projekts einschätzen, die Umweltund Sozialverträglichkeit prüfen
sowie die Anwendung der Standards überwachen. Da die Regierungen oft selbst für die ökologischen und sozialen Probleme verantwortlich sind, besteht hier ein
Interessenkonflikt. Trotzdem verlässt sich die Weltbank auf die
Selbstkontrolle ihrer Klienten.
Der Entwurf des neuen Rahmenwerkes sieht außerdem vor,
dass die Weltbankstandards von
nationalen Standards ersetzt wer-
den können. Das wäre nur sinnvoll, wenn vorab erwiesen ist, dass
diese Standards zumindest gleich
streng sind wie die der Weltbank
und ihre Umsetzung von unabhängiger Seite bestätigt werden
kann. Die Vorgaben dazu fehlen
jedoch in dem Entwurf.
Die Umwelt- und Sozialstandards der Weltbank haben eine
zentrale Bedeutung, weil sie quasi
als globale Vorlage dienen. An ihnen orientieren sich regionale
Entwicklungsbanken, die bilaterale Zusammenarbeit und häufig
auch Regierungen in den Ländern
des globalen Südens. Sie zu schwächen, würde einen Wettbewerb
nach unten bis zum kleinsten gemeinsamen Nenner auslösen.
Und das zu einem Zeitpunkt,
in dem Milliarden US-Dollar in
den Bau neuer Infrastrukturprojekte investiert werden sollen. Der
Bau von Straßen, Häfen, Staudämmen und Eisenbahngleisen
kann dazu beitragen, die Lebensqualität zu verbessern. Aber er hat
auch eine dunkle Seite, nämlich
die Zerstörung der Umwelt und
die Zwangsumsiedlung von Anwohnern. Verbindliche Umweltund Sozialregeln sind wichtig, um
Umweltschäden gering zu halten
und die einheimische Bevölkerung fair zu behandeln. Am härtesten werden von solchen Projekten diejenigen getroffen, die ohnehin am Rande der Gesellschaft
leben und wenig politischen Einfluss haben – die verletzbarsten
Gruppen, denen die Entwicklungszusammenarbeit eigentlich
zugutekommen sollte.
Beim Schutz der Menschenrechte zeigt sich eine weitere
Schwachstelle im neuen Weltbank-Entwurf. Die Bank ist dem-
9-2015 |
9
wolfgang ammer
kommentar standpunkte
Korinna Horta
ist Mitarbeiterin der Umwelt- und
Menschenrechtsorganisation urgewald
und beschäftigt sich außer mit der
Weltbank mit internationaler Klima-,
Wald- und Menschenrechtspolitik.
| 9-2015
nach nicht verpflichtet, in den
von ihr finanzierten Vorhaben die
Menschenrechte zu respektieren
und zu verhindern, dass ihre Tätigkeit nicht zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Das „Vision
Statement“ verweist lediglich darauf, dass die Weltbank die Ziele
der
UN-Menschenrechtscharta
teilt, nimmt sonst aber keinen Bezug auf völkerrechtlich verbindliche Menschenrechtsabkommen.
All das sind keine abstrakten
Fragen: Von der Weltbank finanzierte Projekte haben zwischen
2004 und 2013 geschätzt 3,4 Millionen Menschen um ihre Lebensgrundlage gebracht. Sie wurden
zwangsweise umgesiedelt oder
verloren ihr Land. Das Internationale Konsortium investigativer
Journalisten (ICIJ) hat nach jahrelanger Recherche dokumentiert,
dass Weltbankprojekte in Indien,
Peru, Kenia und im Südsudan viele Menschen ins Elend gestürzt
haben. Bevor das ICIJ seine Ergebnisse veröffentlichte, gab die Weltbank im März 2015 zu, dass sie nur
unzureichenden Überblick darü-
ber hat, wie viele Menschen
zwangsumgesiedelt wurden, und
dass viele dieser Menschen nicht
entschädigt und ihre Lebensgrundlagen nicht wieder aufgebaut wurden.
Der Entwurf der neuen Umwelt- und Sozialstandards enthält
keine Regelungen, solche Probleme zu verhindern. Dabei sind
Menschenrechtsprüfungen der
Weltbankprojekte wichtiger denn
je. Zwischen 2009 und 2013 hat
die Bank rund 50 Milliarden USDollar in Vorhaben investiert, die
mit den höchsten Umwelt- und
Sozialrisiken behaftet sind. Die
Zahl der Hochrisikoprojekte hat
sich im Vergleich zu den vorangegangenen fünf Jahren verdoppelt.
Verschärfend kommt hinzu,
dass sich das neue Rahmenwerk
nur auf Investitionsprojekte bezieht; etwa die Hälfte des Weltbankportfolios wird außen vor
gelassen. Dazu gehört die Unterstützung von Politikreformen, die
einen Großteil der Fördermittel
verschlingen und die keinerlei
Standards unterliegen. Für Refor-
men in den Bereichen Waldschutz
und Bergbau sowie anderen Sektoren, in denen Umwelt- und
Menschenrechtsschutz sehr wichtig sind, gelten keine klaren
Schutzstandards.
Noch diesen Herbst will die
Weltbank eine weitere Beratungsrunde zum zweiten Entwurf ihres
„Environmental and Social Framework“ abhalten. Deutschland als
viertgrößter Geber in der Weltbank muss seine Stimme weiter
einbringen und auf einem Menschenrechtsansatz bei den Standards bestehen.
Die Weltbank braucht verbindliche Umwelt- und Sozialstandards, deren Einhaltung
unabhängig begleitet wird. Statt
den Wettbewerb nach unten zu
beschleunigen, sollte die Bank
auf die besten Richtlinien gegen
Korruption und für Umwelt- und
Sozialverträglichkeit setzen. So
könnte sie dazu beitragen, dass
internationales Kapital dorthin
fließt, wo soziale Verantwortung
und ökologische Nachhaltigkeit
keine leeren Floskeln sind. 10
standpunkte kommentar
Stich ins Wespennest
Amnesty International will die Prostitution legalisieren
Die Menschenrechtsorganisation
bezieht Stellung in einer heiklen
Debatte. Sie tut damit der Sache
der Frauen keinen Gefallen.
In der Frage, ob Prostitution legal
sein soll, stehen sich Befürworter
und Gegner oft unversöhnlich gegenüber. Höchste Zeit, sagen die
einen, nur so könne man der Ausbeutung und Diskriminierung
von Sexarbeiterinnen ein Ende
machen. Bloß nicht, entgegnen
die anderen: Wenn Freier und Zuhälter freie Hand haben, öffne das
dem Frauenhandel Tür und Tor.
In dieser heiklen Diskussion hat
die Menschenrechtsorganisation
Amnesty International klar Stellung bezogen: Auf ihrem International Council Meeting (ICM) Mitte August hat eine Mehrheit der
400 Delegierten aus 70 Ländern
beschlossen, künftig für die weltweite Legalisierung der Prostitution einzutreten – allerdings nur
bei einvernehmlichem Sex zwischen Erwachsenen.
Die Grundsatzentscheidung
gilt als umstritten; das genaue Ab-
stimmungsergebnis teilt Amnesty
nicht mit. Man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht,
hieß es, drei Jahre damit gerungen
sowie zahlreiche Gespräche mit
Sexarbeiterinnen geführt. Nun
ist die internationale Führung der
Organisation beauftragt, eine Politik zu dem Thema zu entwickeln.
Auch wenn Amnesty betont, dass
es bei der Legalisierung nur um
einvernehmlichen Sex gehen soll:
Die Organisation hat mit ihrem
Grundsatzbeschluss der Sache der
Prostituierten keinen Gefallen getan.
Zum einen ist es höchst fragwürdig, wie „Einvernehmlichkeit“
definiert und dokumentiert werden soll. Jeder Freier wird darauf
pochen, wenn er hoffen kann, so
der Strafverfolgung zu entgehen.
Und in den meisten Fällen wird er
Mittel und Wege finden, seine
Partnerin zur selben Äußerung zu
zwingen. Damit ist dann praktisch alles erlaubt.
Zum anderen: Es steht außer
Frage, dass Frauen vor Menschenrechtsverstößen geschützt werden müssen. Ob aber den Frauen,
die ihren Lebensunterhalt mit
Prostitution verdienen, besser
mit einem Verbot oder mit einer
Legalisierung gedient ist – das ist
nicht klar und nicht für alle Gesellschaften gleich. Es hängt unter anderem von kulturellen und
wirtschaftlichen Bedingungen ab
– und es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungen damit. Deshalb
müssen praktische Wege entwickelt, erprobt und immer wieder
kritisch hinterfragt werden, um
Prostituierten ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Die
globale Kampagne von Amnesty,
die die Legalisierung zum universellen Weg erklärt, trägt nicht
dazu bei. (gka)
Die Kunst der schönen Worte
Die Nachhaltigkeitsziele werden die sozial-ökologische Transformation nicht befördern
Universelle Ziele für nachhaltige
Entwicklung wollen die Vereinten
Nationen im September auf ihrer
Generalversammlung verabschieden. Wie sie aussehen werden, ist
nun weitgehend klar. Aber ob die
hehren Ansprüche eingelöst werden, ist fraglich.
Diplomaten und Fachleute aus
193 Staaten haben den Entwurf
für SDGs, den eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen 2014
vorgelegt hatte, praktisch unverändert bestätigt. Damit bleibt es
bei 17 Oberzielen mit insgesamt
169 Zielvorgaben. Bis 2030 sollen
extreme Armut und Hunger beseitigt, Wirtschaftswachstum und
Arbeitsplätze für alle gesichert,
Ungleichheit in und zwischen den
Ländern vermindert und nachhaltige Produktions- und Konsummuster eingeführt werden.
Es ist ein Fortschritt, dass soziale Ungleichheit und die Übernutzung der Natur klar als Entwicklungsprobleme benannt werden.
Allerdings hat der Erdgipfel in Rio
schon 1992 Ähnliches festgestellt.
Es ist zu befürchten, dass die SDGs
ähnlich wirkungslos bleiben. Niemand kann sämtliche 169 gleichrangigen Zielvorgaben befolgen,
die Regierungen dürfen also
selbst Prioritäten setzen. Zudem
soll das Überprüfungsverfahren
zwar offen, transparent und partizipativ sein, jedoch unter der
Kontrolle der Staaten und freiwillig. Damit zeichnet sich eine eher
weiche Prüfung ab.
Die SDGs sind ein Zwitter aus
klarem Arbeitsprogramm und
unverbindlicher Vision. Zielvorgaben wie Zugang zu Bildung
und moderner Energie können
im Prinzip mit einem Ausbau der
Sozialdienste in armen Ländern
erreicht und relativ leicht überprüft werden. Ihre Wirkung wird
davon abhängen, ob reiche Länder das großzügig bezuschussen,
was nach der jüngsten Konferenz
zur
Entwicklungsfinanzierung
in Addis Abeba fraglich ist. Viele
auf gute Regierungsführung oder
Nachhaltigkeit gerichtete Ziele
lassen sich aber nur schwer in
messbare Vorgaben übersetzen:
Wann sind die Naturschätze „effizient und nachhaltig gemanagt“?
Viele sind mit Absicht schwammig. Denn Ziele, die soziale Ungleichheit oder den Umgang mit
Ressourcen betreffen, greifen tief
in die Innenpolitik von Staaten
ein. Und je stärker internationale
Verträge das tun, desto schwerer
sind sie auszuhandeln und desto
weniger werden sie befolgt.
Eine sozial-ökologische Transformation ist eben keine einvernehmliche Management-Aufgabe, sondern mit scharfen Konflikten verbunden. Keine Regierung
wird Kohlekraftwerke abschalten
oder Mindestlöhne erhöhen, weil
sie die SDGs unterschrieben hat
– so etwas muss innenpolitisch erkämpft werden. Dabei werden die
SDGs so wenig helfen wie andere
Konventionen, in denen längst
Ähnliches vereinbart ist.
(bl)
9-2015 |
herausgeberKolumne standpunkte
Im Auge der Zivilgesellschaft
Unternehmen müssen stärker in die Pflicht genommen werden
Die Schweiz ist Heimat vieler international tätiger Konzerne. Doch etliche von ihnen sorgen mit
Menschenrechtsverletzungen für Schlagzeilen. Eine Volksinitiative setzt sich für mehr Sorgfalt
und Verantwortung von Firmen ein.
Von Daniel Hostettler
N
icht schon wieder, denkt
die Leserin nach einem
Blick in die Zeitung. Ein
Minenkonzern zerstört die Lebensgrundlagen von Bauernfamilien in Afrika. Die Regelmäßigkeit
solcher Nachrichten ist beunruhigend. War es vor kurzem nicht
eine Nahrungsmittelfirma, die
mit skrupellosen Paramilitärs in
Südamerika Geschäfte machte?
Und da war doch die bekannte
Die Regierung hofft noch immer, dass die
Unternehmen freiwillig tun, was sie selber
nicht durchzusetzen wagt.
Daniel Hostettler
ist Koordinator Entwicklungspolitik
beim Schweizer Hilfswerk Fastenopfer.
| 9-2015
Kleidermarke, die in Entwicklungsländern unter erbärmlichen
Bedingungen produzieren lässt.
Allesamt Schweizer Unternehmen, denkt bekümmert die
Schweizer Zeitungsleserin. Bei der
Anzahl an internationalen Firmen, die sich in der Schweiz niederlassen, kein Wunder. Es stünde
unserer Regierung gut an, endlich
ein Zeichen zu setzen und den zunehmend schlechten Ruf unseres
Landes zu verbessern. Menschenrechtsverletzungen durch hiesige
Konzerne zerstören unsere Reputation. Und die ist bereits lädiert
durch die Machenschaften des Finanzplatzes. Das können wir nicht
hinnehmen.
Aber die Regierung macht
nichts. Sie hofft noch immer, dass
die Unternehmen freiwillig tun,
was sie selber nicht durchzusetzen wagt. Bern begrüßt zwar die
UN-Leitprinzipien für Wirtschaft
und Menschenrechte, die ein Zusammengehen von freiwilliger
Verpflichtung und gesetzlicher
Regulierung vorsehen, tut aber
nichts dafür. Und auch das Parlament bringt die Sache nicht weiter. Der Versuch, eine Sorgfaltsprüfungspflicht für international
tätige Unternehmen einzuführen, ist diesen Frühling im Parlament gescheitert.
Aber zum Glück gibt es in der
Schweiz das Initiativrecht. Damit
kann die Blockade in der Politik
aufgebrochen werden. „Der Bund
trifft Maßnahmen zur Stärkung
der Respektierung der Menschenrechte und der Umwelt durch die
Wirtschaft.“ Mit diesem schlichten Grundsatz beginnt der Text
einer Volksinitiative, die im vergangenen April in der Schweiz
lanciert wurde. Eine Koalition
von über 70 Hilfswerken und Umweltorganisationen will mit der
Konzernverantwortungsinitiative gesetzlich regeln, was auf freiwilliger Basis offensichtlich nicht
erreichbar ist.
Die Öffentlichkeitsarbeit der
Zivilgesellschaft während der letzten Jahre zahlt sich nun aus. Das
Thema der unternehmerischen
Verantwortung kommt in der Bevölkerung trotz der komplexen
Formulierung im Gesetzesentwurf gut an. Unsere Zeitungsleserin weiß, was sie als Bürgerin
unterschreibt. Die Unternehmen
werden zu einer angemessenen
Sorgfaltsprüfung
verpflichtet.
Nicht nur die Risiken der Investoren und Unternehmenseigner
sollen künftig geprüft werden,
sondern auch die aller anderen
Menschen, die von den Geschäften betroffen sind. Sind schädliche Auswirkungen auf die Menschenrechte oder die Umwelt zu
erwarten, müssen die Unternehmen etwas dagegen tun. Und sie
müssen transparent darüber berichten, denn das geht uns alle an.
Was aber ist mit kleinen und
mittelständischen Unternehmen?
Sind die mit einer solchen Sorgfaltspflicht nicht überfordert?
Nein, weiß die informierte Zeitungsleserin, der Umfang der Prüfungspflicht hängt von den konkreten Risiken ab. Diese sind bei
Konzernen viel größer als bei kleinen und mittleren Unternehmen.
Deren Aufwand bleibt gering, solange sie nicht in einem Hochrisikobereich wie dem Diamanthandel arbeiten. Es sollen keine bürokratischen Leerläufe geschaffen
werden, sondern ein sinnvolles
und effizientes Instrument der
Unternehmensverantwortung.
Und was ist, wenn ein Schweizer Unternehmen doch mit dem
Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen konfrontiert wird?
Auch hier kennt die aufmerksame
Zeitungsleserin inzwischen die
Antwort. Wenn das Unternehmen
beweisen kann, dass es mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen ist,
ist es nicht haftbar. Das Gesetz
wird vor allem präventiv wirken.
Wird die Initiative angenommen,
werden die Unternehmen ein großes Interesse daran haben, möglichen Verletzungen von Menschenrechten und Umweltstandards früh vorzubeugen. Damit
werden sie ihrer Verantwortung
gerecht. Einer Verantwortung, die
die Vereinten Nationen übrigens
vor vier Jahren einstimmig als verbindlich erklärt haben.
Die Zeit ist reif, diese Verantwortung gesetzlich festzulegen.
Immer mehr Menschen sind
überzeugt, dass die Respektierung der Menschenrechte und
der Umwelt nicht der Freiwilligkeit der Unternehmen überlassen
werden darf. Und nicht wenige,
die um den Ruf unseres Landes
fürchten, setzen sich dafür ein,
dass die Schweiz als Vorbild vorangehen soll. 11
12
schwerpunkt entwicklung
Immer vorwärts
Zunächst die Kolonialherren, dann die Industrienationen: Stets definierten die Mächtigen,
was Entwicklung bedeutet. Nun stellen aufstrebende Länder aus dem Globalen Süden den Sinn
und die Strukturen der internationalen Entwicklungspolitik infrage.
Von Corinna R. Unger
V
or gut einem Jahr haben Brasilien, China, Indien, Russland und Südafrika eine neue Entwicklungsbank ins Leben gerufen. Die New
Development Bank (NDB) mit Sitz in Shanghai soll
Ländern des Globalen Südens günstige Kredite für
Entwicklungsvorhaben gewähren und ihre Finanzlage stabilisieren. Damit verbunden ist der politische
Versuch, eine Alternative zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu schaffen. Beide gelten als Pfeiler eines entwicklungspolitischen
Regimes, das laut seinen Kritikern seit 1945 dazu beigetragen hat, die politische und ökonomische Macht
der westlichen Industrienationen in der Welt zu stabilisieren und – zum Teil auf Kosten der Entwicklungs- und Schwellenländer – auszuweiten.
Die Gründung der New Development Bank stellt
einen Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen über Sinn, Ziele und Strukturen von Entwicklungspolitik dar. Kann sie Wirtschaftswachstum hervorbringen und damit den Lebensstandard erhöhen?
Oder wäre es sinnvoller, eine globale Umverteilung
des Besitzes und der Ressourcen anzustreben? Kann
Entwicklung zu Frieden und Sicherheit beitragen
oder verstärkt sie eher Ungleichheiten und Konflikte? Und was bedeutet „Entwicklung“ eigentlich? Um
die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen
besser zu verstehen, bietet sich ein Rückblick in die
Geschichte der Entwicklungspolitik an.
Die Annahme, dass Entwicklung
zu mehr Wachstum und Wohlstand führt,
ist seit Jahrzehnten auffallend stabil.
Der Aufstieg des Begriffs „Entwicklung“, wie er
der traditionellen Entwicklungspolitik zugrunde
liegt, wird meist mit der europäischen Aufklärung
im 18. und frühen 19. Jahrhundert verbunden. Die
göttliche Vorsehung wurde nicht mehr, wie zuvor,
als Erklärung für Armut und Elend allgemein akzep-
tiert; stattdessen setzte sich der Glaube an menschliche Vernunft, Rationalität und Fortschritt durch.
Damit wuchs das Vertrauen in die Fähigkeit, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen und zu steuern. Wenn die
Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens
erst einmal verstanden wären, könnten soziale Ordnungen so geplant werden, dass sie die Probleme
der Vergangenheit und Gegenwart hinter sich ließen, lautete die zentrale Annahme. Charakteristisch
für dieses Denken war eine lineare Perspektive, die
für die Zukunft einen Idealzustand vorsah. Mit „Entwicklung“ waren sowohl ein zeitlicher Verlauf als
auch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse gemeint.
D
ie zukunftsgerichtete Perspektive blieb bis
weit über das Zeitalter der Aufklärung hinaus
erhalten, Vertreter unterschiedlicher Denkrichtungen nahmen sie auf. Viele von ihnen dachten „Entwicklung“ in Stationen oder Phasen. Karl
Marx (1818-1883) etwa deutete verschiedene Stufen
sozioökonomischer Entwicklung als historische Gesetzmäßigkeit. Die Verfechter des Liberalismus erhofften sich von der Ausweitung kapitalistischer
Wirtschaftsformen neben finanziellen Vorteilen
eine über den Handel zunehmend integrierte Welt.
Viele Zeitgenossen im 19. und frühen 20. Jahrhundert teilten die Ansicht, dass die moderne Wissenschaft und Technik die erhofften Entwicklungen beschleunigen könnten.
Tatsächlich trugen der Telegraf und das Telefon,
Dampfschiffe und Flugzeuge dazu bei, dass weit entfernte Regionen bald wachsende Aufmerksamkeit
erhielten. Angesichts der raschen Fortschritte in der
medizinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Forschung schien es möglich, die in der Heimat oder in anderen Gegenden der Welt erkannten
Probleme zu lösen – sei es Epidemien vorzubeugen,
die Wasserversorgung durch Kanäle zu sichern oder
Brücken und Straßen zu bauen, um Verkehr und
Handel zu fördern.
Wenn Ideen
von Fortschritt
auf Traditionen prallen,
flammen leicht
Konflikte auf –
wie hier im
Süden Äthiopiens, wo auf
dem Land der
Mursi am OmoFluss Straßen
und ein großer
Staudamm
gebaut werden
sollen.
Eric Laffourgue/
invision/Laif
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
13
14
schwerpunkt entwicklung
Sie bestimmten
die alte Weltordnung der
Entwicklungs­
politik: Die
Gründungsväter
von IWF und
Weltbank auf
der Konferenz
von Bretton
Woods 1944.
UIG via Getty
Images
Wissenschaft und Technik nahmen eine entscheidende Rolle in einem Denken ein, das sich nicht mit
dem Bestehenden zufriedengab, sondern auf geplante und zielgerichtete Veränderung setzte. Dass dieses
Denken nicht notwendig demokratisch oder philanthropisch ausgerichtet war, machen der europäische und amerikanische Kolonialismus und Imperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
deutlich: Kolonialpolitiker argumentierten, man
müsse die vermeintlich rückständigen Gesellschaften entwickeln, weil sie aus eigener Kraft dazu nicht
in der Lage seien. Die sogenannte Zivilisierungsmission – also die Annahme, die eigene Gesellschaft sei
überlegen und habe die Pflicht, andere Kulturen an
die eigenen Ideale anzupassen – diente wesentlich
dazu, die Fremdherrschaft und die Ausbeutung der
kolonisierten Gesellschaften zu legitimieren.
Viele Zeitgenossen fühlten sich auch deshalb
überlegen, weil sie meinten, jene Methoden zu kennen, die Entwicklung aus ihrer Sicht überhaupt erst
möglich machten. Welcher Art diese Entwicklung
sein sollte, definierten die Kolonialherren zumeist im
1960er und 1970er Jahre
1980er Jahre
• Wirtschaftswachstum durch Industrialisierung
• A
rme Länder geraten nach dem globalen Zinsanstieg der
1970er Jahre in die Schuldenfalle
• Schwerpunkt auf staatliche Großprojekte und Infrastruktur
• Kritiker entwickeln das Konzept der Grundbedürfnisse
• Die Gläubiger verordnen Strukturanpassungsprogramme
1968 D
er Ökumenische Rat der Kirchen beschließt auf seiner
Vollversammlung in Uppsala, seine Entwicklungsarbeit
auszuweiten
1980 B
ericht der Nord-Süd-Kommission „Das Überleben sichern.
Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer“
(Brandt-Report)
1968 R
obert McNamara wird Präsident der Weltbank (bis 1981);
deren Kreditvergabe wächst stark, auch für die Landwirtschaft
1982 M
exiko stellt seinen Schuldendienst ein – Beginn der Schulden­
krise und des „verlorenen Jahrzehnts“ in Lateinamerika
1970 D
ie UN-Generalversammlung fordert, dass Industrieländer
0,7 % ihres Sozialprodukts für Entwicklungshilfe aufwenden
1987 D
er Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung
(Brundtland-Report) führt den Begriff „Nachhaltige Entwicklung“
ein
1972 E
ntwicklungsländer fordern eine Neue Weltwirt­schaftsordnung
• E
ntwicklung durch Schrumpfung des Staates, Privat­
investitionen und Exporte (neoliberales Modell)
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
Sinne der politischen, strategischen und wirtschaftlichen Interessen der eigenen Nation. Damit unterschied sich das koloniale Entwicklungsdenken deutlich von heutigen Erwartungen an die Entwicklungspolitik, die sich mit Schlagworten wie Zusammenarbeit, Dialog und Partnerschaftlichkeit verbinden.
Die Idee, eine Gesellschaft oder Region zu entwickeln, war jedoch nicht allein mit kolonialen Interessen verknüpft. In jedem Land und auf jedem Kontinent fanden sich Gegenden, die aus Sicht der städtischen Eliten rückständig erschienen: sei es von der
Ostküste aus gesehen der Süden der Vereinigten
Staaten, aus der Sicht Mailands Süditalien oder von
Moskau aus betrachtet Zentralasien. Es existierten
unterschiedliche Normen von Entwicklung, die meist
von der Perspektive einer Metropole und dem Selbstverständnis ihrer Bewohner abgeleitet wurden.
Mit der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmenden Praxis, Finanz-, Wirtschafts- und
Bevölkerungsdaten zu erheben und miteinander zu
vergleichen, schärfte sich das Bewusstsein für solche Unterschiede. In der Mitte des 20. Jahrhunderts
Die Vertreter der BRICSStaaten wollen mit ihrer
New Development Bank
ihren Einfluss vergrößern.
Reuters
1990er Jahre
Seit 2000
• F riedensförderung, Demokratie und gute Regierungs­
führung werden Ziele der Hilfe
• A
rmuts- und Hungerbekämpfung sowie Sozialdienste
werden auf­gewertet
• U
mwelt und globale Gemeingüter kommen stärker in
den Blick
• S
taatsaufbau und Stabilisierung fragiler Staaten werden
Ziele der Hilfe
• Zunehmender Streit um das neoliberale Modell
• Schwellenländer werden zu Geberländern
1990 Erster „Bericht über die menschliche Entwicklung“
des UN-Entwicklungsprogramms
2000 D
er Millenniumsgipfel der UN verkündet acht MillenniumsEntwicklungsziele (MDGs)
1992 UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de
Janeiro (Rio-Konferenz)
2002 D
ie erste UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in
Monterrey, Mexiko, verspricht mehr Entwicklungshilfe
1993-1996 UN-Konferenzen verabschieden Aktions­pläne zu Menschenrechten, Weltbevölkerung, Frauenförderung, sozialer
Entwicklung und Welternährung
2005 G
eber- und Partnerstaaten beschließen in Paris gemeinsame
Grundsätze für wirksame Hilfe
1999 Die G7 beschließen in Köln einen Schuldenerlass für arme
hoch verschuldete Länder
| 9-2015
2015 D
iplomaten aus 193 Staaten einigen sich auf 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs)
15
16
schwerpunkt entwicklung
stieg die Wirtschaftswissenschaft zur sozialwissenschaftlichen Leitdisziplin auf und spezialisierte sich
auf quantitative Analysen. Ökonomen definierten
Entwicklung nun vor allem anhand volkswirtschaftlicher Ziffern, die sie auf nationaler Ebene erhoben.
Es setzte sich ein Verständnis von Entwicklungspolitik durch, das darauf zielte, die Wirtschaftsleistung
einer Nation zu erhöhen, wenn sie im regionalen
oder internationalen Vergleich als zu gering eingestuft wurde. Das galt vor allem für Länder, die vorwiegend von der Landwirtschaft lebten und auf den
Export von billigen Rohstoffen und den Import von
teuren Industrieprodukten angewiesen waren.
D
ie Ökonomen Raúl Prebisch (1901-1986) und
Hans W. Singer (1910-2006) kritisierten bereits Ende der 1940er Jahre, dass sich die Handelsbedingungen für diese Länder zunehmend verschlechterten, weil sie keine Chance hätten, sich zu
industrialisieren, und dass ihre wirtschaftliche Entwicklung dadurch beeinträchtigt würde.
André Gunder Frank (1929-2005) spitzte dieses
Argument Ende der 1960er Jahre zu. Er erklärte, die
Industrienationen hätten die ärmeren Länder gezielt
in einen Zustand der Unterentwicklung geführt und
dort gehalten. Inspiriert war seine These von der
„Entwicklung der Unterentwicklung“ von einem
marxistischen Blick auf den Ausbeutungsmechanismus des Kapitalismus. Aus dieser Sicht trafen die
reichen Länder Entscheidungen von globaler Reichweite und legten die Handelsbedingungen fest, während die armen Nationen ungehört und damit auch
unfähig blieben, ihre Lage zu ändern. Die internationale Entwicklungspolitik westlicher Regierungen
und Organisationen hatte somit vor allem den
Zweck, das bestehende System zu festigen, anstatt
das ökonomische und politische Ungleichgewicht
zu verringern.
Insbesondere die US-amerikanische Regierung
galt in den Augen von Kritikern als treibende Kraft
hinter einer Politik, die internationale Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds und
die Weltbank nutzte, um ihre strategischen und wirtschaftlichen Ziele voranzutreiben. Diese Ziele waren
zu einem hohen Grad vom Kalten Krieg definiert, in
dem die USA mit der Sowjetunion um globale Hegemonie konkurrierten und den Einfluss des Gegners
zu begrenzen suchten. Um Unterstützung in den
Ländern der sogenannten Dritten Welt zu erhalten,
insbesondere in den ehemaligen Kolonien, nutzten
Washington und Moskau die Entwicklungspolitik als
diplomatisches Instrument. Beide Seiten investierten im Rahmen der Entwicklungshilfe in den 1950er
Jahren erhebliche Summen in Asien; die neuen Nationen auf dem afrikanischen Kontinent erhielten
dann im folgenden Jahrzehnt wachsende Aufmerksamkeit.
Ebenfalls in den 1960er Jahren beteiligten sich
zahlreiche lateinamerikanische Länder an der sogenannten Allianz für Fortschritt. Dieses Entwicklungsprogramm, das die USA, die Weltbank und die
Regierungen Lateinamerikas gemeinsam finanzier-
ten, setzte auf öffentliche Investitionen, um die Infrastruktur auszubauen und die Industrialisierung
voranzutreiben. Es ging unter anderem auf die Einschätzung von Ökonomen wie Singer und Prebisch
zurück, dass die Länder des Südens unterentwickelt
blieben, solange sie sich nicht industrialisierten. Die
Vereinigten Staaten hofften, mit Hilfe von wirtschaftlichem Wachstum die Armut zu verringern
und damit das Interesse der Menschen in Lateinamerika an sozialistischen und kommunistischen
Ideen zurückzudrängen.
Ähnlich nutzte die Sowjetunion Entwicklungsprojekte in zahlreichen Ländern, um Wohlwollen für
ihre politischen Ziele zu wecken und Verbündete zu
gewinnen. Viele Regierungen in der sogenannten
Dritten Welt erkannten in den strategischen Interessen der Supermächte und ihrer Verbündeter die
Möglichkeit, sich politischen und finanziellen Einfluss und Zugriff auf wirtschaftliche Ressourcen zu
sichern. So wurde die Entwicklungspolitik von mehreren Seiten instrumentalisiert; ihre konkreten Ziele
– die Steigerung der Wirtschaftsleistung, die Verrin-
Seit den 1970er Jahren fragen NGOs
die Menschen vor Ort nach ihren Bedürfnissen
und beziehen sie in Projekte ein.
gerung der Armut, die Verbesserung der Lebensbedingungen – gerieten dabei häufig in den Hintergrund. Die Zweckentfremdung der Entwicklungspolitik, aber auch die Begrenzung von „Entwicklung“
auf Wirtschaftswachstum kam in den späten 1960er
und 1970er Jahren zunehmend in die Kritik. Zu Beginn ihrer Unabhängigkeit waren viele arme Länder
wirtschaftlich gewachsen und hatten Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur deutlich ausgebaut. Doch der Verfall der Rohstoffpreise, innenpolitische Krisen sowie die Auswirkungen regionaler
Konflikte und des Kalten Krieges führten zu Stagnation, wachsendem Unmut der Bevölkerung, zu Unruhen und Putschversuchen.
Im Laufe der 1970er Jahre kamen in Afrika und
Lateinamerika vermehrt autoritäre Regierungen an
die Macht, die von einer oder der anderen Supermacht gestützt wurden. Der optimistische Glaube
internationaler Entwicklungsexperten und nationaler Planungsgremien, Entwicklung lasse sich mit Hilfe geschickter Planung herbeiführen, ging nach und
nach verloren.
Z
war gelang es Vertretern des globalen Südens,
ihre Forderung nach einer gerechteren Verteilung der globalen Ressourcen und besseren
Handelsbedingungen in Gremien wie der United Nations Conference on Trade and Development
(UNCTAD) gegenüber den Industrienationen zu artikulieren. Doch diese verweigerten sich deren Anliegen. Sie sahen ihre Privilegien bedroht und fühlten
sich von den Auswirkungen der Ölkrise 1973 in der
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
Wahrnehmung bestätigt, dass ihr Wohlstand vom
Zugang zu günstigen Rohstoffen abhing.
Angesichts der weltweiten Rezession gewannen
nun Stimmen an Einfluss, die Entwicklungspolitik
für eine Vergeudung von Steuergeld hielten. Die Kritik war zum Teil mit der Forderung verbunden, die
staatliche Entwicklungshilfe zu reduzieren und
mehr auf das Engagement privater Investoren zu
setzen. Diese Position schlug sich in den 1980er und
1990er Jahren in den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des IWF nieder, die Kreditempfängern den Abbau staatlicher Subventionen,
die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Deregulierung der Märkte vorschrieben.
V
or allem in den 1990er Jahren wurden Aspekte wie gute Regierungsführung, Menschenrechte und Geschlechterfragen wichtiger. Das
Verständnis von Entwicklung wurde somit komplexer und reichte über ökonomische Fragen hinaus.
Seit den 1970er Jahren hatten vor allem nichtstaatliche Organisationen (NGOs) neue Wege in der Entwicklungspraxis erprobt. Sie vertraten die Ansicht,
dass es notwendig sei, die Menschen vor Ort nach
ihren Bedürfnissen zu fragen und sie aktiv in dezentral organisierte Projekte einzubeziehen. Im Gegensatz zu den von Experten geleiteten Großprojekten
der Vergangenheit sollte es nun in erster Linie darum gehen, die menschlichen Grundbedürfnisse (basic human needs) wie Ernährung, Gesundheit, Bildung und Arbeit zu befriedigen. Erst wenn diese erfüllt seien, besäßen die Menschen die nötige Freiheit, um ihre eigene Entwicklung voranzutreiben
und damit zur Entwicklung der Gesellschaft insgesamt beizutragen, betonte der Entwicklungsökonom und Philosoph Amartya Sen.
Graswurzelprojekte waren weniger aufwendig
und erforderten flexiblere Strukturen als größere
Vorhaben. Damit boten sie sich für die NGOs an, die
finanziell und administrativ nicht mit nationalen
Regierungen und internationalen Organisationen
konkurrieren konnten. Diese Arbeitsteilung weist
darauf hin, dass Entwicklungspolitik stets auch ein
Geschäft war, das Arbeitsplätze, Gewinnaussichten
und Karrieren bot.
Seit ihrer Entstehung haben sich Ideen von Entwicklung und die davon abgeleiteten Konzepte von
Entwicklungspolitik mehrfach gewandelt. Entwicklungspolitische Ziele sind keine feste, abstrakte Größe, sondern jeweils abhängig von der politischen
und wirtschaftlichen Situation der beteiligten Länder, von den ideologischen und wissenschaftlichen
Annahmen der Experten, von philosophischen und
strategischen Überlegungen. Wie das Beispiel der
New Development Bank zeigt, verändern sich die politischen Strukturen, die die internationale Entwicklungspolitik prägen. Neue Akteure kommen hinzu
und stellen etablierte Muster und Prioritäten in Frage. Auf diese Weise wandelt sich auch die Form, in
der Entwicklungspolitik gedacht und praktiziert
wird.
Gegenüber den vielfältigen Verschiebungen in
der Entwicklungspolitik, die sich über die Jahrzehnte beobachten lassen, ist ein Aspekt jedoch auffallend stabil: die Annahme, dass Entwicklung zu
mehr Wachstum und Wohlstand führt. Zwar wird
seit Jahren über die Notwendigkeit „nachhaltiger“
Entwicklungspolitik gesprochen; die geplanten
Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen sind
das jüngste Beispiel. Doch die ökonomisch geprägte
Wachstumsorientierung scheint davon weitgehend
unbeeinträchtigt weiterzubestehen. Wie realistisch
diese Orientierung angesichts von Klimawandel,
Flüchtlingsbewegungen und wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit ist, wird sich in Zukunft
zeigen müssen. 17
Corinna R. Unger
ist Professorin für Moderne
Euro­päische Geschichte an der Jacobs
University Bremen und forscht zur
Geschichte der Entwicklungspolitik.
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> Jenseits von Europa – Special: African Diaspora Cinema, 17. – 27.9.2015
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> Links zu Afrika Film Festivals in aller Welt
| 9-2015
> Festival Jenseits von Europa XIV – Neue Filme aus Afrika, 15. – 25.9.2016
18
schwerpunkt entwicklung
Schlechter Start
Gut besuchte
Grundschule
im Westen von
Tansania. Ob die
Kinder etwas
lernen, hängt
aber nicht
nur von ihrer
Anwesenheit,
sondern auch
von der Qualität
des Unterrichts
ab.
Till Muellenmeister/Laif
Von Tidiane Kassé
Ob die neuen globalen Ziele
für nachhaltige Entwicklung
Afrika voranbringen werden,
ist fraglich. Denn am neo­
liberalen wirtschaftspolitischen Rahmen ändern sie
nichts.
V
om 25. bis 27. September werden fast alle da
sein: Kaum ein afrikanischer Staats- und Regierungschef dürfte beim Sondergipfel der
Vereinten Nationen (UN) über die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) fehlen. Es wird darum gehen,
das Auslaufen der im Jahr 2000 verabschiedeten
Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) zu bestätigen und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Allerdings
nicht mit dem Gefühl, die Aufgabe der acht MDGs
gelöst zu haben, sondern als Versuch, nach den Fehlschlägen in Afrika neu anzusetzen.
Die MDGs stehen in der Kontinuität der großen
Weltkonferenzen der 1990er Jahre. Sie haben deren
Empfehlungen in einem Leitfaden zusammengeführt. Doch zugleich ging es darum, die Katastrophen zu kaschieren, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank in Volkswirtschaften des Südens verursacht hatten: Die hatten
gerade ein Jahrzehnt gescheiterter Strukturanpassungsprogramme und Strategien zur Armutsreduzierung hinter sich.
15 Jahre nach Einführung der MDGs können in
Afrika die Erfolge in einzelnen Bereichen nicht über
die enormen Fehlschläge hinwegtäuschen; es fragt
sich, was die SGDs hier ändern werden. Vor einem
Jahr stellte der Koordinator des nationalen Rates für
die Versorgung mit Wasser und Sanitäranlagen in Benin fest: „Afrika ist bei der Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele in Verzug. Nur fünf Länder
können die Teilziele bei der Abwasserentsorgung erreichen. Die übrigen werden erst 2048 so weit sein.“
Wenn nicht sofort umfassende Maßnahmen ergriffen würden, dauere es sogar noch länger. Diese Feststellung gilt für die meisten der acht MDGs.
Fortschritte wurden bei der Bildung sowie bei der
Gesundheit von Müttern und Kindern erzielt. Das
spiegelt aber kaum mehr als statistische Verbesserungen. Zwar gehen mehr Kinder zur Schule, aber es
gibt zu wenig Schulgebäude und die Lehrer sind
schlecht ausgebildet. Die allgemeinen Lebensverhältnisse haben sich nicht verbessert, Armut bleibt in Afrika ein tägliches Drama.
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
Angesichts eines Wirtschaftswachstums von bis
zu zehn Prozent seit der Jahrtausendwende (2011 lag
es in Ghana sogar bei 14,4 Prozent) könnte die Lage
ganz anders aussehen. Doch die Finanz- und die Nahrungsmittelkrise in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts
sowie der Klimawandel, die von den Auswüchsen des
westlichen neoliberalen Wirtschaftssystems verursacht sind, haben die Wirtschaft Afrikas stark beeinträchtigt.
Zudem hat das Wirtschaftswachstum die Lebensbedingungen für die breite Bevölkerung kaum verbessert, denn es beruhte hauptsächlich auf ausländischen Investitionen im Rohstoffsektor. Der wird von
westlichen und chinesischen multinationalen Konzernen mithilfe von Knebelverträgen geplündert, die
sie ohne jede Transparenz mit den Regierungen
schließen und die vor allem die Korruption bedienen.
Das Ziel, die extreme Armut zu verringern, haben
lediglich fünf afrikanische Länder erreicht, darunter
der Senegal. Hier hat die Regierung nach dem Vorbild
des brasilianischen Sozialprogramms „Bolsa Familia“
Familien Zuschüsse von umgerechnet 152 Euro pro
Jahr gewährt, damit Eltern ihre Kinder impfen lassen
und in die Schule schicken. Das hat die Situation verbessert, doch die Lebensbedingungen vieler Menschen sind dramatisch geblieben. In den Städten und
auf dem Land fehlen wirtschaftliche Perspektiven.
A
uch wenn die Statistiken auf Fortschritt hindeuten: Afrika ist weit davon entfernt, die Aufgabe der MDGs bewältigt zu haben. Das Wirtschaftswachstum hat die Kluft zwischen Stadt und
Land, wo fast zwei Drittel der Bevölkerung leben, sowie zwischen der Elite und der breiten Masse weiter
vertieft. Eine Umverteilung des Reichtums, um die
soziale Kluft zu verkleinern, hat nicht stattgefunden.
Inzwischen richtet sich der Blick auf die SDGs,
ohne dass bisherige Erfolge und Misserfolge wirklich
ausgewertet worden wären. Im Senegal sind die
MDGs nie einer offenen Evaluation unter Beteiligung der Betroffenen unterzogen worden. Man hält
an dem technokratischen Ansatz fest, der bereits
ihre Festlegung bestimmt hatte. Ein weiteres Mal
kommt das Nachdenken von oben statt aus dem Versuch der Gemeinschaften, ihre eigenen Prioritäten
für das Streben nach einem höheren Lebensstandard zu setzen, ihren Entwicklungsbedarf auszuloten und am Bau ihrer Zukunft teilzuhaben.
Bei den 17 SDGs, die Ende September von der UNGeneralversammlung beschlossen werden sollen,
stellt sich erneut die Frage nach den Besonderheiten Afrikas. Anlässlich ihres 50. Geburtstages im Jahr
2013 hat die Afrikanische Union sich über die Zukunft
des Kontinents Gedanken gemacht. Unter dem Titel
„Das Afrika, das wir in Zukunft haben wollen“ hat sie
für den Kontinent einen Entwicklungsrahmen skizziert. Unter anderem solle er ein „verlässlicher und
einflussreicher Partner auf der Weltbühne“ werden.
Von diesem Willen Afrikas ist in den SDGs nichts zu
finden.
Die afrikanische Zivilgesellschaft hat bei den Diskussionen über die MDGs nur als Fassade gedient. Bei
| 9-2015
den SDGs hat sie sich eingebracht und Empfehlungen und Gegenvorschläge formuliert. Ihre Überlegungen sind in der „Beyond 2015“-Kampagne wie
auch im Rahmen der Offenen Arbeitsgruppe der UN
zum Ausdruck gekommen. Verstärkt wurden sie
durch die Diskussionsforen und die Teilnahme an
Verhandlungen. Beim Weltsozialforum 2015 in Tunis
erkannten zivilgesellschaftliche Organisationen aus
Afrika zwar an, dass sich der Ansatz im Vergleich zu
den MDGs geändert hatte. Sie forderten aber gleichzeitig, dass der „Prozess so offen wie möglich verläuft“, und machten ihren Anspruch geltend, in jeder
Phase „einschließlich der Umsetzung und Überwachung“ beteiligt zu werden.
Auch wenn man von acht MDGs zu 17 SDGs übergegangen ist, liegt das Entscheidende nicht in den
Zielen. Es liegt im politischen und ökonomischen
Rahmen, in dem sie umgesetzt werden. Der entfesselte Neoliberalismus, der als Leitschnur der Globali-
Das Nachdenken kommt von oben –
lokale Gemeinschaften haben keine Chance,
ihre eigenen Prioritäten zu setzen.
sierung dient, kann keinen Rahmen bieten, um eine
inklusive, soziale und solidarische Wirtschaft aufzubauen. Im vorherrschenden System wird Entwicklung weiterhin auf ständig wachsenden Unterschieden in der Gesellschaft gegründet sein, statt deren
Verringerung zu erleichtern.
Die SDGs als universelle, für alle Länder gültige
Ziele zu konzipieren, zeugt von Streben nach Solidarität. Doch bezeichnen Begriffe wie Hunger und Ernährungssicherheit in Afrika und in den Ländern des
Nordens nicht dieselbe Realität. Außerdem ist das
Ziel 13, „umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung
des Klimawandels und seiner Auswirkungen (zu) ergreifen“, ein Vorhaben, bei dem nicht alle Länder in
derselben Weise oder mit derselben Intensität gefordert sind. Wenn Europa sich bemüht, die Ausbeutung
seiner Naturschätze zu beschränken oder zu beenden, dann wird die Logik des Bedarfs den Blick automatisch gen Süden lenken. Aus genau dieser Logik
resultieren die Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Union und den Ländern Afrikas.
Die Plünderung der Bodenschätze des afrikanischen Kontinents wird niemals über die Entwicklungshilfe rückvergütet werden können. Im Übrigen
ist es eine trügerische Illusion zu glauben, diese
künstliche Mildtätigkeit bringe Entwicklung. Ihre
Früchte fließen vielmehr über bekannte Mechanismen wie Lieferbindung, Ausschreibungen, Korruption und Kapitalflucht zu den Gebern zurück. Und gerade jetzt, da die Rücküberweisungen von Migranten
die staatliche Entwicklungshilfe bei weitem übersteigen, greifen die Nationen Europas zu einer repressiveren und restriktiveren Migrationspolitik.
Aus dem Französischen von Juliane Gräbener-Müller.
Tidiane Kassé
ist Journalist im Senegal und
Chefredakteur der französisch­
sprachigen Ausgabe des
Informationsdienstes
Pambazuka News
(www.pambazuka.org).
19
20
schwerpunkt entwicklung
Fortschritt
für alle!
Wissenschaft und Technik haben das Leben
vieler Menschen verbessert. Die große
Mehrheit der Inder profitiert aber noch nicht
von diesen Errungenschaften. Man darf
sie ihnen nicht vorenthalten.
Von Joyashree Roy
W
Badetag in einem Slum in Mumbai. Fließendes Wasser
im Haus würde die Körperpflege erleichtern.
danish siddiqui/Reuters
ie soll es mit Indiens Entwicklung weitergehen? Über diese Frage wird viel diskutiert. In den kommenden zweieinhalb
Jahrzehnten wird das Bevölkerungswachstum seinen höchsten Stand erreicht haben. Sollte das Land
dann das Rad des Fortschritts zurückdrehen? Oder
sollte es versuchen, weiter aufzuholen?
In knapp einem Drittel der indischen Dörfer
und Städte haben die Menschen bereits den Weg
eingeschlagen, der sich als erfolgreich erwiesen hat,
um die Lebensqualität zu verbessern. Sie sind nun
im zweiten Schritt dabei, ihn sozial und umweltverträglich gestalten. Doch der großen Mehrheit der
Inder fehlt noch immer Strom zum Kochen, Licht,
sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung. Sie haben keine schützenden Unterkünfte bei
Naturkatastrophen und zu wenig Wissen, um sich
an öffentlichen Debatten zu beteiligen.
Die Menschheit hat in den vergangenen Jahrhunderten große Fortschritte in ihren Fähigkeiten
erzielt, die Hygiene und Gesundheit zu verbessern
und das soziale Umfeld und die Natur zu schützen.
Harte Arbeit und die Anstrengungen der Wissenschaft haben uns dorthin geführt. Auch Indien ist
bereits auf diesem Weg. Es gibt keinen Grund, warum Menschen in den Armensiedlungen nicht die
bewährten Kenntnisse nutzen sollten, die neue
Technologien, eine angemessene Infrastruktur und
eine moderne Energieversorgung ermöglichen. Aus
Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit darf der
großen Mehrheit von Indiens Bevölkerung der Fortschritt nicht verweigert werden. Je schneller wir die
soziale Lücke schließen, desto schneller werden
Frieden und Harmonie in der Gesellschaft einkehren, die auch der Umwelt zugutekommen.
Politik und Wissenschaft starren manchmal auf
eher simple Zusammenhänge – etwa dass Armut zur
Zerstörung der Umwelt führt oder die verschmutzte
Luft beim Kochen in Innenräumen die Gesundheit
von Frauen gefährdet. Das hat uns in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten nicht wirklich weiter
gebracht. Es hat Subventionsprogramme für moderne Brennstoffe gegeben, Initiativen zur Verteilung von sauberen Herden und Solarlampen sowie
einige Pilotprojekte für die dezentrale Versorgung
mit Solarenergie, die Hilfsorganisationen mit Unterstützung der Regierung durchgeführt haben. Ein
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
tiefgreifender Wandel ist dadurch aber nicht eingetreten.
Es ist an der Zeit, die wirre Suche nach einem
alternativen Wachstumsweg zu hinterfragen. Sie
ist im Blick auf Effizienz und Gerechtigkeit höchst
fragwürdig. Warum sollte sich Indien dem Wissen
um die effiziente Flächennutzung beim Städtebau
verweigern, nach dem auf einem kleinen Straßenabschnitt sämtliche Infrastruktur untergebracht
werden kann: Rohre für die Wasserversorgung, Abwasserkanäle, Leitungen für Strom und Telekommunikation, Straßenbeleuchtung, darüber begrünte Alleen?
Es ist bekannt, wie man sauberes Trinkwasser
gewinnen kann. Dennoch sterben in der großen
Mehrzahl der indischen Dörfer und Städte noch immer Menschen an Krankheiten, die von verschmutztem Wasser verursacht wurden. Hauptursache für
den Mangel an Trinkwasser ist das Fehlen eines
Stromnetzes. Wie kann man da überhaupt diskutieren, ob man alle Dörfer ans Stromnetz anschließen
soll? Der Traum von einem alternativen Entwicklungspfad handelt von Solarlampen in allen Haushalten und dezentraler Stromversorgung. Solche
Versuche mögen ein paar Philanthropen zufriedengestellt und die Forschung zur Solartechnologie um
einige Ergebnisse bereichert haben. Doch sie haben
die Lebensqualität der meisten Inder nicht verbessert, sondern die Entwicklung um zwei bis drei Jahrzehnte verzögert.
cher Geräte produziert das Land heute Dutzende
hochwertige Sorten Reis, Getreide oder Mangos. Mit
der richtigen politischen und wirtschaftlichen Strategie könnten damit nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch große Teile vom Rest der Welt
ernährt werden.
E
s wird viel über die fatalen Folgen für die Qualität von Boden und Trinkwasser geredet. Doch
das ist eine falsche Darstellung der Umweltprobleme: Sie rühren daher, dass zu wenig in das Management dieser Ressourcen investiert wird. Es lässt
hoffen, dass Obstplantagen in einigen der übernutzten Flächen des Punjab den Nassreisanbau ersetzen,
dass Tröpfchen-Bewässerung gegenüber dem Überfluten der Felder beliebter wird und dass der Gemü-
E
s ist absolut falsch, dass Inder nur drei Glühbirnen brauchen, um ihr Haus zu beleuchten, und
damit zufrieden sind, weil ihre Ansprüche gering sind. Müssen denn die Nachzügler der Entwicklung weniger konsumieren, während in den reichen
Ländern die Verschwendung von Lebensmitteln
zum Lebensstil gehört? Dies sind Fragen der Gerechtigkeit.
Das Streben, etwas zu erreichen, und höhere Ansprüche fallen vielmehr dem Fehlen der Infrastruktur zum Opfer. In vielen Dörfern verderben Kartoffeln, Tomaten, Knoblauch, Zwiebeln, Gemüse und
Obst, weil es keine Kühlhäuser gibt. Die Lebensmittelindustrie produziert dort nichts, weil es keine
Stromanschlüsse gibt. So kommt niemand über ein
Existenzminimum hinaus und der Tag endet bei
Sonnenuntergang. Das hat nichts mit niedrigen Ansprüchen zu tun. Heiße Sommertage mit 40 Grad
und einer Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent fordern
Opfer an Leben und Leistungsfähigkeit. Nicht dass
sich Inder keine klimatisierten Räume wünschten.
Und es gibt keine ethische Begründung für die Ansicht, Inder, die es sich leisten können, dürften keine
Klimaanlagen nutzen, weil das die globale Erwärmung verstärke. Und das ist nur die mindeste Voraussetzung für ein gutes Leben und für produktives
Denken.
Indien hat vor 50 Jahren bewiesen, wie mit Hilfe
von Forschung und Technik Nahrungsmittelsicherheit erreicht werden kann. Dank verbesserter Bewässerungssysteme und moderner landwirtschaftli-
| 9-2015
se- und Gartenbau mehr Geld einbringt und die Ernährung auf eine breitere Basis stellt.
Indiens Hunger nach Energie wird in den nächsten 20 Jahren steigen. Die Verbrennung von Kohle
wird deshalb noch mindestens eine Dekade weiter
ansteigen und, wenn sie dann sinkt, auch 2050 noch
auf dem Niveau von 2012 sein. Wenn bis dahin die
Freisetzung von Kohlendioxid gesenkt werden
muss, muss man ernsthaft über Techniken zur seiner Abscheidung und Speicherung nachdenken. In
25 Jahren werden vermutlich fast 40 Prozent des gesamten Stroms aus Solar- und Windkraft gewonnen.
Trotzdem würde es schwierig, den Weg zu mehr
Atom- und Wasserkraft zu versperren, denn es wird
sechs Mal mehr Strom erzeugt werden müssen als
Fabrik für Klimaanlagen im
Bundesstaat Rajasthan:
Bei Temperaturen von 40 Grad
sind gekühlte Räume die mindeste
Voraussetzung für produktives
Denken.
adnan abidi/Reuters
21
22
schwerpunkt entwicklung
heute. Und diese Wachstumsrate ist nötig, nur um
ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen. Das ist noch weit entfernt von einem Lebensstil, bei dem etwa mehr Fleisch oder verarbeitete Produkte verzehrt werden; Inder essen heute rund fünf
Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr, in Deutschland sind es
80 und in den USA 120 Kilo.
D
Joyashree Roy
lehrt Wirtschaftswissenschaften an der
Jadavpur Universität in Kalkutta.
ie energieintensivsten Industrien Indiens
sind fast gleichauf mit den technologischen
Spitzenreitern. Der technische Fortschritt verspricht Leistungsfähigkeit und zugleich Gerechtigkeit. Energieeffiziente Haushaltsgeräte können Millionen von Menschen zusätzlich Dienste wie Kühlung
zugänglich machen, ohne dass sich der Gesamtenergieverbrauch erhöht. Es gibt keinen Grund, warum
die breite Masse in Indien nicht denselben Pfad der
Entwicklung beschreiten sollte wie die Bevölkerung
in den Industrieländern. Die Errungenschaften für
das menschliche Wohl wie bessere Häuser, Arbeitsplätze und Gesundheitssysteme sollten nicht nur
erhalten, sondern mit großem Nachdruck weiterverbreitet werden: Jetzt oder nie.
Wo steht Indien heute? Seine gesamte Stromerzeugung ist so hoch wie die Russlands und entspricht der Chinas im Jahr 1994. Weniger als zehn
Prozent aller städtischen Haushalte besitzen ein
Auto, Car-Sharing gehört zur Lebensart. 42 Prozent
der Bevölkerung fahren noch immer Fahrrad, fast 35
Prozent der städtischen Haushalte besitzen einen
Motorroller. Der Kohlendioxid-Ausstoß pro Kopf beträgt weniger als zwei Tonnen im Jahr, in den USA
sind es siebzehn, in China fast sieben.
Viele Industrien produzieren sauberer, um im
globalen Wettbewerb mitzuhalten. In den 1970er Jahren wuchs der Energiebedarf parallel zum industriellen Wachstum. Heute hat sich das wirtschaftliche
Wachstum weitgehend vom Energieverbrauch abgekoppelt: Dank effizienterer Technik kann heute ein
Wirtschaftswachstum um das Zwanzigfache erreicht
werden, wenn der Energiebedarf nur um das Fünffache steigt. Aus der Sicht Indiens bedeutet Wachstum:
Bessere Technologien führen zu einem gerechten
Fortschritt für die Mehrheit. Die Suche nach alternativen Entwicklungsmodellen sollte und wird weitergehen – allein schon aufgrund der menschlichen
Neugier und Fantasie. Aber Indien zum Experimentierfeld dafür zu machen wäre gleichbedeutend mit
dem Satz „Verzögerte Entwicklung ist verweigerte
Entwicklung“. Wir haben nicht das Recht, den Armen
den Zugang zu besserem Essen, besserer Hygiene
und besserer Gesundheit zu versperren.
Aus dem Englischen von Hanna Pütz.
Joyashree Roy zählt zu den Unterzeichnern des „Ökomodernistischen Manifestes“, in dem 18 Wissenschaftler vornehmlich aus dem Norden den Einsatz moderner Technologien zur
Lösung von Umwelt- und Ernährungskrisen fordern.
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9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
Die Party ist zu Ende
Konsum war gestern: Nur ein neues Wirtschaftsmodell kann das Überleben der Erde sichern.
Die Asiaten sollten bei seiner Entwicklung vorangehen.
Nichts geht
mehr: Stau auf
einer Hauptverkehrsstraße
in Indiens
Haupstadt NeuDelhi.
Hindustan Times
via getty IMages
Von Chandran Nair
E
ine Grundsatzerklärung, die achtzehn Wissenschaftler und Akademiker aus verschiedenen
Ländern verfasst und im April veröffentlicht
haben, hat Aufsehen unter Umweltschützern erregt. Dieses „Ökomodernistische Manifest“ erklärt,
der beschleunigte technologische Fortschritt werde
zusammen mit dem sozio-ökonomischen Wandel
(etwa der Verstädterung) die Wirtschaftstätigkeit
von ihren Auswirkungen auf die Umwelt „abkoppeln“. In naher Zukunft werde also das unablässige
Streben nach Wohlstand keine schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt mehr haben. Das begründen
die Autoren, die mehrheitlich aus westlichen Ländern stammen, mit technischen Innovationen und
dem menschlichen Erfindergeist.
Das ist eine naiv optimistische Zukunftsvision. Sie widerspricht jeder Logik und den meisten
Diagnosen der Tatsachen. Die Autoren sehen den
Schlüssel zur Entkoppelung von Entwicklung und
| 9-2015
Umweltauswirkungen darin, die Wirtschaftstätigkeit
und besonders „Landwirtschaft, Energiegewinnung,
Forstwirtschaft und menschliche Siedlungsflächen“
so zu intensivieren, dass trotz Wachstum der Flächenverbrauch und die Eingriffe in die Natur sinken.
Das ist, als würde man behaupten: Wenn sich zu
einer Party mehr Gäste ansagen als erwartet, dann
backt man einen größeren Kuchen als ursprünglich
geplant und benötigt trotzdem weniger Mehl. Doch
egal wie technisch raffiniert der Ofen ist und wie ausgefeilt die nanotechnologischen Zusätze: Für einen
größeren Kuchen braucht man mehr Mehl.
Eine einfache Rechnung macht das Problem klar.
16 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen heute
80 Prozent der Ressourcen. Doch wir haben bereits
vier der neun Belastungsgrenzen unseres Planeten
überschritten: Artensterben, Entwaldung, Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre und Eintrag
von Stickstoff und Phosphor, die als Dünger dienen,
23
24
schwerpunkt entwicklung
in die Ozeane. Heute leben weniger als 1,7 Milliarden
Menschen in relativem Wohlstand, aber wir beobachten bereits veränderte Wetterverläufe, eine Dezimierung wild lebender Tiere und eine beispiellose weltweite Umweltverschmutzung. Was soll geschehen,
wenn die restlichen 84 Prozent der Menschheit ebenfalls konsumieren wie jetzt die privilegierte Minderheit? Keine technologische Zauberei kann den Schaden ausgleichen, den ungehemmter und wachsender
Verbrauch an den Naturschätzen und globalen Gemeingütern anrichten wird.
D
ie Weltbevölkerung wird in den nächsten 35
Jahren voraussichtlich einen Höchststand
von neun bis zehn Milliarden erreichen. Chinesen und Inder haben gerade erst begonnen, die
„Freuden“ des modernen Lebens zu entdecken, die
sich aus dem Modell ergeben, dass unablässiger
Konsum das Wirtschaftswachstum aufrechterhält.
Falls wir den Punkt, an dem das System kippt, noch
nicht erreicht haben, dann wird das in Kürze der Fall
sein. Die einfache Wahrheit ist, dass fünf bis sechs
Milliarden Menschen allein in Asien den Lebensstil,
der im Westen selbstverständlich ist, nicht anstreben dürfen. Zu behaupten, sie könnten das, ist völlig
unverantwortlich.
Zum Beispiel: Nach einer Prognose des Weltwirtschaftsforums werden bis 2025 zwei Drittel der Weltbevölkerung unter Wassermangel leiden. Der weltweite Energieverbrauch hat seit 1990 um mehr als
50 Prozent zugenommen. Bei einem so hohen Ressourcenverbrauch ist die Regenerationsfähigkeit
von anderthalb Erden erforderlich, damit wir auf
Dauer ungehemmt unsere Wünsche erfüllen können. Kann dann eine Bevölkerung von neun bis zehn
Milliarden Menschen ernährt werden? Ja, sagen die
Ökomodernisten. Sie vertrauen auf die Technologie
– genau die Technologie, die den Planeten seiner Naturschätze beraubt.
Bis 2050 wird Asien 53 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt stellen, 2014 waren es noch 32
Prozent. Wenn die heutigen wirtschaftlichen Wachstumsraten anhalten, ist die Weltwirtschaft 2100 ungefähr 16 Mal größer als heute. Wenn die Chinesen
und Inder einen genauso hohen Energieverbrauch
pro Kopf hätten wie die Amerikaner, wäre ihr Stromverbrauch 14 Mal so hoch wie der der Vereinigten
Staaten. Niemand kann hoffen, dass der globale Energieverbrauch derart zunimmt – vor allem weil wir
auch künftig auf fossile Brennstoffe angewiesen sein
werden. Sie werden in den Entwicklungsländern weiter zu preiswert sein, als dass erneuerbare Energien
sie ersetzen. Der Ausstoß an Kohlendioxid wird dann
die Erde untragbar belasten. Atomkraft wäre eine
technische Lösung, doch wegen ihrer Kosten, der Sicherheitsbedenken und der öffentlichen Meinung in
vielen Ländern wird ihr Beitrag global begrenzt bleiben.
Oder Autos: Wenn China, Indien und andere Entwicklungsländer den westlichen Motorisierungsgrad
Fatale Folgen für die Umwelt:
Wenn Indiens Energiehunger steigt,
muss immer mehr Kohle abgebaut
werden – wie in dieser Mine im
Bundesstaat Jharkhand.
jonas gratzer/lightrocket via Getty images
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
Land unter in Myanmar: Der Monsun hat
in diesem Jahr für besonders heftige
Überschwemmungen gesorgt.
ye aung thu/afp/Getty images
erreichen, könnte es in vier Jahrzehnten schätzungsweise drei Milliarden Autos weltweit geben, viermal
so viele wie heute. Bis zum Auto mit Wasserstoffantrieb ist es noch ein weiter Weg. Elektroautos verschieben nur die Umweltbelastung und werden im
besten Fall ein Spielzeug für die „Öko-Reichen“ sein;
sie sind keine Lösung für die Mobilitätsprobleme in
den bevölkerungsreichsten Regionen. Fünf Milliarden Asiaten, die Auto fahren wie die Amerikaner, wären eine Katastrophe. Die Vorstellung, dass Technik
das ändern kann, ist eine Lüge.
Wenn Technologie das Patentrezept für die Lösung aller Probleme wäre, warum hat sie dann das
Problem menschlicher Exkremente in Städten wie
Mumbai oder Nairobi nicht längst gelöst? Die sind
eine der Hauptursachen für die Wasserverschmutzung und die Ausbreitung von Krankheiten. Die
Technik zur Lösung des Problems existiert seit mindestens einem Jahrhundert: Toiletten, Klärgruben,
Abwasserkanäle und Aufbereitungsanlagen. Doch
immer noch werden die meisten menschlichen Ausscheidungen weder hygienisch noch umweltfreundlich entsorgt. Das liegt nicht an der Technik, sondern
am Geschäftsmodell und seinem Scheitern.
D
ie Wege, Fortschritt und Umweltschutz wieder
ins Gleichgewicht zu bringen, hängen von unserer Fähigkeit ab, die Wirtschaftstätigkeit an
die Grenzen der verfügbaren Technologien und Ressourcen anzupassen. Dafür müssen allerdings etablierte Interessen und viele Dinge, die wir für selbstverständlich halten, infrage gestellt werden.
Zunächst müssen wir anerkennen, dass unser
Wirtschaftsmodell auf einem im Kern falschen Prinzip beruht: Altmodisches Wachstum, dessen Nutzen
zu den Armen heruntersickern soll, wird gefördert
von Schleuderpreisen für Rohstoffe und von der Auslagerung – der Externalisierung – von Kosten. Zum
Beispiel: Ein Preisnachlass auf Ihr neues Hemd erlässt Ihnen nicht nur einen Teil des ursprünglichen
Verkaufspreises. Sie tragen auch nicht die Kosten, die
die Produzenten für die Nutzung von Wasser, Luft
und anderen „Dienstleistungen“ der Natur nicht zahlen mussten. Ausgelagerte Kosten, die mit der Ausbeutung von Arbeitskräften in Entwicklungsländern
wie Sri Lanka und Kambodscha verbunden sind, sind
noch nicht mitgerechnet.
Das Vertrauen in technische Innovationen als Allheilmittel für ökologische Probleme beruht nicht selten auf dem quasi-religiösen Glauben, Technik könne alle Probleme lösen. In Wirklichkeit hat der technische Fortschritt die Probleme in vielen Fällen verschärft. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden Bäume
mit Sägen und Äxten gefällt. Dadurch hatten Millionen Menschen Arbeit und doch hatten die Wälder
genügend Zeit, sich zu regenerieren. Heute können
| 9-2015
Überlastung des Planeten
Der Mensch greift zunehmend in natürliche Prozesse ein.
Bei zweien überschreitet er damit klar die globale Belastungsgrenze.
Beeinträchtigung
der Biosphäre
Klimawandel
- Verlust der Artenvielfalt
- Funktionsverlust
Freisetzung
neuartiger Stoffe
und Organismen
Zerstörung der
Ozonschicht
Veränderte
Landnutzung
Eintrag von
Schwebteilchen in
die Atmosphäre
Süßwassernutzung
Veränderung
biochemischer Flüsse
Versauerung
der Ozeane
- Stickstoffkreislauf
- Phosphorkreislauf
©
Eingriffe im sicheren Bereich
Belastungsgrenze klar überschritten
wachsendes Risiko, Bereich der Unsicherheit
noch nicht quantifiziert
nach Stockholm Resilience Center der Universität Stockholm, www.stockholmresilience.org
25
26
schwerpunkt entwicklung
Holzfäller die Bäume hundert bis tausend Mal
schneller fällen und die Stämme werden von Hubschraubern abtransportiert – das nennt sich Produktivitätssteigerung.
Ähnlich treibt die globale Fischereiindustrie mithilfe der Technik Raubbau an den Ozeanen. Ihre
Schiffe, die mit GPS ausgestattet sind und große
Reichweite haben, durchpflügen die tiefen Ozeane
auf der Suche nach Schwärmen von Fischen, die bis
vor kurzem für traditionelle Fischer zu weit entfernt
und damit unerreichbar waren. Über die Hälfte der
Fanggebiete weltweit sind überfischt; wenn diese
hochtechnische industrielle Fischerei nicht beendet
Elektroautos verschieben nur die Umweltbelastung
und sind keine Lösung für die Mobilitätsprobleme
in dicht bevölkerten Regionen.
Chandran Nair
ist Gründer der Denkfabrik Global
Institute For Tomorrow in Hongkong
und Autor des Buches „Der große Verbrauch: Warum das Überleben unseres
Planeten von den Wirtschaftsmächten
Asiens abhängt“ (Riemann-Verlag).
wird, könnten bis 2048 alle jetzt überfischten Bestände zusammenbrechen. Wenn die Asiaten pro Kopf so
viel Fisch verzehren würden wie zurzeit Australier
oder Europäer, wären die Meere leer. Die Technik ist
hier das Problem. Nach Überzeugung der Ökomodernisten ist sie auch die Lösung. Nun ja – allenfalls
wenn man Thunfisch essen mag, der in einem Labor
in einer Petrischale entsteht und mit genmanipuliertem Futter in Zuchtanlagen gemästet wird.
Warum bekommen wir immer wieder die abgedroschene Geschichte zu hören, Entwicklung lasse
sich von den Auswirkungen auf die Umwelt entkoppeln? Die Antwort ist einfach. Sie ermöglicht es dem
Westen, sein neokoloniales Wirtschaftsmodell auszubreiten und zugleich gegenüber dem Rest der Welt
seine intellektuelle Autorität zu erhalten, die auf
dem Streben nach angeblich intelligenten Lösungen
beruht. Und sie erlaubt es, eine sehr unbequeme
Wahrheit zu leugnen: Die Party ist zu Ende. Die Nachzügler, die Inder, Chinesen und Afrikaner, können
nicht so im Konsum schwelgen wie bisher der Westen.
Wir werden unsere Gesellschaften neu organisieren müssen, um sie an die Tatsache anzupassen, dass
die Ressourcen begrenzt sind. Das erfordert ein neues sozioökonomisches und politisches Leitbild in Bezug auf Nachhaltigkeit, individuelle Rechte, Freiheiten und die Rolle des Staates. In vieler Hinsicht wird
es im Gegensatz zu den heutigen, westlich dominierten Leitbildern des Kapitalismus, der freien Märkte
und der Demokratie stehen. Daher müssen die Entwicklungsländer den Diskurs über dieses neue Leitbild anführen.
Ein neues Wirtschaftsmodell muss drei wesentliche Veränderungen enthalten. Erstens muss akzeptiert werden, dass in einer Welt mit begrenzten Ressourcen auch das Wachstum begrenzt ist; für Rohstoffe müssen Preise gelten, die den wahren Kosten
entsprechen. Zweitens muss die Wirtschaft dem Ziel
untergeordnet sein, die Lebensfähigkeit der Naturschätze zu erhalten – nicht andersherum wie heute.
Drittens muss eine Wirtschaft für das im 21. Jahrhun-
dert das Gemeinwohl über Individualrechte stellen.
In Asien zu beginnen, wäre ein guter erster Schritt.
Schließlich leben hier mehr Menschen als irgendwo
sonst auf der Erde; ihre Konsumgewohnheiten werden das 21. Jahrhundert prägen. Leider leugnen Politiker, Ökonomen und Investoren noch immer die Tatsachen und verbreiten unter Berufung auf die Technologie, auf freie Märkte und das Finanzwesen Botschaften von Innovation und Hoffnung. Asiatische
Regierungen müssen die kurzsichtigen Vorstellungen
zurückweisen, laut denen sie ungezügelten Konsum
politisch fördern sollten, um die Weltwirtschaft ins
Gleichgewicht zu bringen (heute entsteht ein Ungleichgewicht im Welthandel daraus, dass in Asien
mehr produziert als konsumiert wird, in den USA umgekehrt). Asiens Länder müssen erkennen, dass sie
mehr sind als Fabriken, die Wachstum produzieren.
Das soll nicht heißen, dass die Menschen arm
bleiben müssen. Es ist auch kein Argument gegen
wirtschaftliche Entwicklung. Aber gefordert ist eine
Begrenzung des Konsums. Er muss so gelenkt werden, dass die Naturschätze nicht immer stärker beansprucht, unsere Umwelt nicht immer weiter geschädigt und die Existenz und die Gesundheit von Millionen nicht gefährdet werden.
W
enn Asien das Management der Ressourcen sowie der Auswirkungen auf die Umwelt zum entscheidenden Ziel machen will,
dann braucht es starke Staaten. Nur öffentliche Institutionen können Entwicklung vorantreiben und zugleich das Gemeinwohl sichern, die Umweltzerstörung rückgängig machen und die Erschöpfung der
Ressourcen verhindern. Diese Ziele dürfen nicht den
Launen des Marktes oder dem Fortgang der Technologie überlassen werden. Um Wohlstand für die große Mehrheit seiner Bevölkerung zu erreichen, muss
Asien alternative Wege der menschlichen und wirtschaftlichen Entwicklung finden. Priorität müssen
Anreize haben, die wirtschaftliches Handeln nach
dem Motto „Weniger ist mehr“ belohnen und das Management der Ressourcen in den Mittelpunkt stellen.
Der entscheidende erste Schritt in diese Richtung
ist eine Steuer auf Kohlenstoff und Ressourcen; sie
setzt einen Anreiz für Unternehmen, weniger Material und Energie in ihrer Produktion zu verwenden. Der
nächste Schritt ist die Abschaffung der Subventionen
für fossile Brennstoffe. Sobald die Verkaufspreise für
Lebensmittel, Kleidung und Autos die tatsächlichen
Kosten widerspiegeln, werden die Verbraucher beginnen, ihre Konsumgewohnheiten zu ändern.
Das wird den Beginn einer neuen industriellen
Revolution markieren – einer, die anders als die vorige nicht auf Externalisierung der wahren Kosten gegründet ist. Es kann aber nur geschehen, wenn die
Nationen und ihre Entscheidungsträger aus dem
Traum erwachen, die Technologie werde schon irgendwie Lösungen für die Gefahren finden, die das
neue Zeitalter des Anthropozän hervorgebracht hat.
Wir müssen die Grenzen der Technologie erkennen
und unsere Konsumgewohnheiten infrage stellen.
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
Das Klima retten aus Kalkül
Costa Rica will bis 2021 klimaneutral werden.
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Kritiker
werfen der Regierung Augenwischerei vor.
U
nberührte Urwälder, riesige Artenvielfalt, saubere
Energie: Costa Rica ist stolz
auf seinen Ruf als Öko-Paradies.
Zugleich leidet das mittelamerikanische Land unter dem Klimawandel. Niederschläge fallen
deutlich unregelmäßiger als noch
vor 15 Jahren: In der nördlichen
Pazifikregion Guanacaste ist es
extrem trocken, an der Karibikküste dagegen regnet es so heftig,
dass Dörfer unter Wasser stehen
und Brücken weggerissen werden.
Sollte Costa Rica es wirklich schaffen, den Ausstoß von Treibhausgasen auf null zu senken, würde
das Land nicht nur einen Beitrag
zum Schutz des heimischen Klimas leisten – es würde weltweit
zum Vorreiter werden.
Doch hinter dem Vorhaben,
das der damalige Präsident Óscar
Arias Ende 2007 angekündigt hatte, steht ein großes Fragezeichen.
„Bei der Klimaneutralität tut man
so, als ob das ein revolutionärer
Fortschritt sei, aber eigentlich
ändert man gar nichts“, kritisiert
Isaac Rojas von der Umweltorganisation COECOCEIBA. Um das
Ziel zu erreichen, müssten laut
dem nationalen Statistik- und
Entwicklungsbericht insgesamt
acht Milliarden US-Dollar aufgewendet werden. Das entspräche
mehr als einem Viertel des Bruttoinlandsproduktes (BIP) und wäre
schwer zu stemmen: Costa Rica ist
mit mehr als der Hälfte seines BIP
verschuldet.
Das Ziel sei „komplex“ und die
Zeit knapp, lässt das Umweltministerium verlauten. Dennoch
bleibt man auch nach dem Regierungswechsel vor gut einem Jahr
der Linie von Ex-Umweltminister
René Castro treu: Das Land habe,
bezogen auf 2007, bereits vier
Fünftel des Weges zur Klimaneutralität zurückgelegt, hatte er Anfang 2013 gesagt, vor allem durch
Wiederaufforstung und CO2-neut-
| 9-2015
rale Stromproduktion. Die damals
oppositionelle Partei der Bürgeraktion (PAC) hatte die Klimaziele
kritisiert. Doch nach ihrem Wahlsieg im Frühjahr 2014 hält Präsident Luis Guillermo Solís an der
Klimaneutralität fest. Auf dem
Sondergipfel im September 2014
in New York versprach er unter an-
stößt das Unternehmen dort auf
heftigen Widerstand der indigenen Anwohner. 200 Megawatt
Strom werden gegenwärtig durch
Windkraft erzeugt, diese Leistung
soll mit Hilfe weiterer Windparks
verdoppelt werden. Eine Solaranlage ist in Planung, Geothermie
und Biomassekraftwerke werden
derzeit erprobt.
„Alles
Schwindel“,
meint
hingegen Umweltexperte Rojas,
„Wasserkraft ist nicht grün!“ Sie
habe bereits große Umweltschä-
Wasserkraftwerk in Guanacaste. Für gut 80 Tage ist es
Costa Rica in diesem Jahr gelungen, seinen Strombedarf
komplett aus erneuerbaren Energien zu decken.
Joe Raedle/Getty Images
derem Biodiesel-Busse, elektrische Züge und Energiesparmaßnahmen in Privathaushalten. Die
Umsetzung allerdings lässt auf
sich warten.
Bislang ist der staatliche
Stromversorger ICE eine der
Hauptstützen im Klimaplan Costa
Ricas. Laut Energievorstand Luis
Pacheco wird der Strom längst klimaneutral erzeugt. Schwerölkraftwerke dienten derzeit nur noch
zur Abdeckung regenarmer Perioden, wenn die Wasserkraftwerke
nicht genug Strom produzierten.
Die Kapazitäten sollen in den
nächsten Jahren noch deutlich
erweitert werden: Im Süden des
Landes plant ICE seit Jahren ein
Wasserkraftwerk, das 630 Megawatt Strom liefern soll. Allerdings
den und soziale Verwerfungen
verursacht. Die Regierung träume
zudem davon, den angeblich grünen Strom zu exportieren. So wolle sie die eigenen CO2-Emissionen
weiter herunter rechnen. Ähnlich sehe es bei der CO2-Bindung
durch Wiederaufforstung aus, ergänzt Rojas. Costa Rica habe zwar
natürliche Wälder aufgeforstet.
Doch auch kurzlebige Teakholzund Ölpalmenplantagen würden
mit eingerechnet, für die oft sogar
Wälder gerodet wurden.
Allein mit Hilfe von Aufforstung und CO2-neutralem Strom
wird Costa Rica sein Klimaziel ohnehin nicht erreichen. Denn nach
wie vor hängt der Gesamtenergieverbrauch zu 70 Prozent am Öl.
Davon verbrennt der Verkehr fast
80 Prozent. Und der Verbrauch
steigt. Wie viele Entwicklungsund Schwellenländer nähert sich
auch Costa Rica dem Pro-KopfEnergieverbrauch der reichen
Länder an. Die Zahl der Autos
nimmt zu, und sie werden immer
größer. Die Hauptstadt San José
ist in den vergangenen Jahrzehnten unaufhörlich gewachsen. Mit
vielen ehemaligen Dörfern der
Umgebung ist sie zu einer ZweiMillionen-Metropolregion
verschmolzen.
Das fordert auch den Stadtplaner und Architekten Hugo Méndez heraus. „Wir haben Industriegebiete im Westen San Josés und
Wohngebiete ohne Arbeitsplätze
im Osten und Süden“, sagt er. Das
führe zu einem hohen Verkehrsaufkommen. „Wir müssen vor allem das System des öffentlichen
Nahverkehrs radikal ändern, um
unsere Klimaziele zu erreichen“,
erklärt er. Dafür müsste das Busund Straßenbahnnetz so ausgebaut werden, dass öffentliche Verkehrsmittel eine Alternative zum
Auto darstellen. Auch Seilbahnen
könnten errichtet werden, um
durch Täler abgeschnittene Stadtviertel besser anzubinden. Zudem
müsse dafür gesorgt werden, dass
mehr Leute auf das Fahrrad umsteigen, fügt Stadtplaner Méndez
hinzu.
Umweltschützer wie Isaac Rojas werfen der Regierung Costa
Ricas vor, sie sei nicht bereit,
Emissionen wirksam zu reduzieren. Das Konzept der Klimaneutralität sei nicht mehr als eine
Marketing-Strategie, um für internationale Investoren attraktiv
zu sein. Ex-Präsident Arias hatte
den Klimawandel als Krise bezeichnet, die auch Chancen biete:
Costa Rica als Vorreiter beim Klimaschutz könnte Unternehmen
anlocken, die klimaneutral produzieren und so ihr Image aufpolieren wollen. Tatsächlich aber, so
die Umweltschützer, rechne Costa
Rica seinen Treibhausgasausstoß
mittels ökologisch fragwürdiger
Praktiken einfach schön.
Markus Plate
27
28
schwerpunkt entwicklung
Anders wachsen
Die Wirtschaft soll dem Gemeinwohl dienen: Dafür setzt sich eine internationale Bewegung
ein. Einige Unternehmen probieren das schon aus – sie lassen sich an Werten wie Solidarität,
Umweltfreundlichkeit und Mitbestimmung messen.
Von Gesine Kauffmann
Christiane Steinmetz setzt in der
Küche ihres Stiftsgutes Keysermühle
in Klingenmünster auf regionale
Produkte. Gewürzt wird mit
Kräutern aus dem eigenen Garten.
Roland Kauffmann
E
s hat Zeit und Geld gekostet – aber es hat sich
gelohnt. Davon ist Marcus Stadler überzeugt.
Wenn der Beauftragte für Unternehmensverantwortung beim Event-Dienstleister satis&fy über die
Gemeinwohlökonomie spricht, gerät er regelrecht
ins Schwärmen. Seine Firma, ein Mittelständler mit
400 Beschäftigten, hat vor zwei Jahren zum ersten
Mal eine Bilanz nach deren Kriterien erstellt. Soziales
Engagement und Umweltschutz seien schon vorher
wichtig gewesen, sagt Stadler. So verwendet das Unternehmen, das auf Veranstaltungstechnik und -architektur spezialisiert ist, für seine Bauten bei Messen, Konzerten, Konferenzen und Parteitagen nur
noch Holz mit dem FSC-Siegel. Doch die Gemein-
wohlbilanz biete eine solidere Basis, findet er: „Wir
haben jetzt ein Werkzeug an der Hand, das uns sagt,
wo wir stehen und wie wir weiterarbeiten wollen.“
Satis&fy mit Hauptniederlassung in Karben bei
Frankfurt und weiteren Standorten in Deutschland,
den USA und Brasilien zählt zu den gut 200 deutschen Pionierunternehmen, die bislang eine solche
Bilanz erstellt haben. Entwickelt wurde sie von der
Gemeinwohlökonomie-Bewegung, für deren Gründung im Oktober 2010 der österreichische Publizist
Christian Felber den Anstoß gegeben hatte. Sie will
das Wirtschaftssystem so umgestalten, dass es sich
nicht länger an Konkurrenz und Profit orientiert,
sondern an Kooperation und Solidarität. Ziel ist eine
ethische Marktwirtschaft, die nicht Kapital vermehren will, sondern ein gutes Leben für alle anstrebt.
Langfristig sollen so ein ungebremstes Wachstum
ohne Rücksicht auf Mensch und Natur unterbunden
und regionale Wirtschaftskreisläufe gestärkt werden.
Wirtschaftlicher Erfolg soll deshalb nicht länger
an Geld, Kapital und Finanzgewinn gemessen werden, sondern daran, inwieweit ein Unternehmen
dem Gemeinwohl dient und die Lebensqualität fördert. Auf volkswirtschaftlicher Ebene soll das Bruttoinlandsprodukt als Erfolgsindikator vom „Gemeinwohl-Produkt“ abgelöst werden. Ungleichheiten bei
Vermögen und Einkommen will die Gemeinwohlökonomie-Bewegung in demokratischer Entscheidung
begrenzen: die Maximal-Einkommen etwa auf das
Zehnfache des gesetzlichen Mindestlohns, Privatvermögen auf zehn Millionen Euro.
Solche Vorschläge sind offenbar für viele Menschen attraktiv: Mehr als 6000 Privatpersonen, 1800
Unternehmen und sechs Gemeinden in 35 Ländern
tragen die Bewegung derzeit; in 15 Ländern haben
sich Regionalgruppen, sogenannte Energiefelder, gegründet. Firmen und Betrieben kommt eine besonders wichtige Rolle zu. Denn je solidarischer, sozialer,
ökologischer und demokratischer sie handeln, desto
bessere Ergebnisse erzielen sie in der GemeinwohlBilanz und desto mehr können sie den angestrebten
Umbau der Wirtschaft voranbringen. Wie groß diese
Effekte tatsächlich sind, untersuchen zurzeit Wissenschaftler der Europa-Universität Flensburg in einem
dreijährigen Forschungsprojekt. Als Partner aus der
Praxis sind unter anderem Großunternehmen wie
die Deutsche Post, die Drogeriemarkt-Kette dm und
die Otto-Gruppe beteiligt.
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
Bei vielen Unternehmern stoße die Gemeinwohlökonomie auf offene Ohren, sagt Jörg-Arolf Wittig
vom Energiefeld Rhein-Main. „Vielen geht es gar nicht
nur darum, Gewinn zu machen. Sie wollen etwas
Sinnvolles tun.“ Die Gemeinwohl-Bilanz als Instrument der Organisationsentwicklung eigne sich für
jede Größe und Rechtsform. Aktiengesellschaften,
die vor allem auf Profitmaximierung aus sind, seien
davon allerdings „recht weit weg“, räumt er ein.
A
nders als bei der Finanzrechnung, in der es
um Gewinne und Verluste geht, wird das unternehmerische Handeln auf fünf Werte abgeklopft: Menschenrechte, Solidarität, ökologische
Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit sowie demokratische Mitbestimmung und Transparenz. Sie werden in Beziehung gesetzt zu den „Berührungsgruppen“ eines Unternehmens. Bei satis&fy sind das Lieferanten, Geldgeber, Mitarbeiter, Kunden und ein
nicht näher bezeichnetes gesellschaftliches Umfeld.
So entsteht eine Matrix mit 17 Feldern, die jeweils
mit Punktzahlen unterlegt sind – maximal können
1000 Punkte erreicht werden. In Prozenten wird angegeben, wie weit ein Unternehmen bei einem Indikator bereits ist, wie es etwa um das ethische Beschaffungs- und Finanzmanagement steht oder in
welchem Ausmaß es dazu beiträgt, die sozialen und
ökologischen Standards seiner Branche zu erhöhen.
Bei der ökologischen Gestaltung der Produkte
und Dienstleistungen hat satis&fy ein Fünftel von
möglichen 90 Punkten erreicht und bei der gemeinwohlorientierten Gewinnverteilung immerhin mehr
als zwei Drittel von 60 Punkten. Ihren Gewinn investiert die Firma in neues Technik-Equipment und
schüttet Boni an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus. Darüber hinaus unterstützt sie Veranstaltungen und Einrichtungen gemeinnütziger Organisationen. Negativ schlüge hier für die Gemeinwohlökonomie zu Buche, wenn Gewinne an externe Eigentümer
ausgeschüttet würden, also nicht an die Arbeitsleistung geknüpft wären.
Den Bericht und die Bilanz erarbeiten die Unternehmen zunächst selbst und können beides dann
von einem externen Gutachter der Gemeinwohlökonomie-Bewegung überprüfen lassen. Erst dann dürfen sie ihre Leistungen für das Gemeinwohl veröffentlichen und damit werben. satis&fy ist für seinen
Hauptstandort Karben bei Frankfurt auf 247 Punkte
gekommen, ein Fünftel der Höchstzahl. Marcus Stadler ist trotzdem zufrieden: „Die Punkte werden ja für
freiwillige Leistungen vergeben, die über den gesetzlichen Mindeststandards liegen.“ Zugleich ist das Ergebnis für ihn ein Ansporn, noch mehr zu tun – unter
anderem bei der Zufriedenheit der Beschäftigten, bei
der Verwendung umweltfreundlicher Materialien
und beim Recycling.
170 Kilometer südlich sitzt Christiane Steinmetz
in einer kleinen Bibliothek, die mit schön gearbeiteten Holzregalen und einem Parkettfußboden aus
Pfälzer Eiche ausgestattet ist. Die Geschäftsführerin
des Stiftsgutes Keysermühle im pfälzischen Klingenmünster, einem Drei-Sterne-Hotel mit 78 Betten und
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Restaurant, könnte sich angesichts von 656 Punkten
bei ihrer Gemeinwohl-Bilanz eigentlich gemütlich
zurücklehnen. Aber das entspräche nicht ihrem Temperament. Die Theologin und Fundraiserin hat 2005
die Bürgerstiftung Pfalz mitgegründet. Fünf Jahre
später wurde das Stiftsgut als Tochtergesellschaft eröffnet, seit 2014 schreibt es schwarze Zahlen. Rund 40
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der Küche,
im Service und an der Rezeption beschäftigt, darunter ein gutes Dutzend Menschen mit Behinderungen.
Die Stiftung wolle Impulse für eine sozial und
ökologisch nachhaltige Entwicklung in der Region
setzen und zu mehr gesellschaftlicher Mitverantwortung anregen. Dafür würden sämtliche Gewinne verwendet, auch aus dem Stiftsgut, sagt Steinmetz. Da
lag es auf der Hand, diesen Anspruch mit Hilfe der
Gemeinwohlbilanz zu überprüfen. „Wir wollten unser
Profil besser herausarbeiten und schauen, wo wir
nachbessern müssen.“ Steinmetz hat den mehrmonatigen Prozess, der 12.000 Euro gekostet hat, als
sehr hilfreich erlebt, vor allem intern. „Die Mitarbeiter denken jetzt viel mehr mit und stoßen selbst Veränderungen an.“ Das kann Markus Stadler von
satis&fy nur bestätigen. Das Zugehörigkeitsgefühl
zum Unternehmen sei gewachsen, sagt er. Und der
Event-Spezialist sei mit seiner Gemeinwohlorientierung als Arbeitgeber attraktiver geworden – ein klarer
Wettbewerbsvorteil in Zeiten des Fachkräftemangels.
Einen leichten Punktabzug in der GemeinwohlBilanz bekam die Keysermühle unter anderem für
ihre Investitionspolitik. Sie arbeitet mit einer regionalen, genossenschaftlich geführten Bank zusammen, die keine Richtlinien zum Ausschluss unethischer Geldanlagen hat. Steinmetz will trotzdem an
dem Geldhaus festhalten und merkt kritisch an: Die
Gemeinwohl-Bilanz sei eine „Schablone“, die nicht
auf alle gleichermaßen passe.
Die KarmaKonsum-Konferenz
will Unternehmern den Geist
der Nachhaltigkeit nahebringen.
satis&fy hat die Veranstaltung 2012
in Frankfurt mit Technik und
Bühnenbau unterstützt.
satis&fy
29
30
schwerpunkt entwicklung
Der Heidelberger Ökonom Hans Diefenbacher
hat eine noch grundlegendere Kritik. Die Vergabe
von Punkten für einzelne Indikatoren täusche eine
Genauigkeit vor, die so nicht existiere, sagt er. Das
werde vor allem dann schwierig, wenn es darum
gehe, das gemeinwohlorientierte Verhalten der Unternehmen politisch zu belohnen. Denn das strebt
die Bewegung an: Je mehr Punkte ein Unternehmen
hat, desto mehr rechtliche Vorteile soll es genießen.
Laut Felber könnten das ein niedrigerer Mehrwertsteuersatz sein, Vorrang beim öffentlichen Einkauf
oder günstigere Bankkredite. Christiane Steinmetz
von der Bürgerstiftung Pfalz und Marcus Stadler von
satis&fy hingegen schätzen das Punktesystem: Mit
seiner Hilfe ließen sich Fortschritte messen, zudem
würden Vergleiche zwischen Unternehmen möglich.
Beide sind dafür, dass eine Nachhaltigkeitsberichterstattung gesetzlich vorgeschrieben wird.
Zum Weiterlesen:
Christian Felber
Gemeinwohl-Ökonomie
Deuticke-Verlag, Wien 2014
(überarbeitete Neuauflage),
280 Seiten, 17,90 Euro
Gesine Kauffmann
.
ist Redakteurin bei
D
aran arbeitet die Gemeinwohlökonomie-Bewegung bereits, und zwar innerhalb der neuen
Richtlinie der Europäischen Union (EU) zu den
CSR-Berichtspflichten für große Unternehmen. Danach sollen Konzerne mit mehr als 500 Beschäftigten jährlich Auskunft geben über ihr Engagement für
Umweltschutz, faire Arbeitsbedingungen, Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung. Wie sie
das tun, bleibt ihnen überlassen – etwa im Rahmen
des Global Compact der Vereinten Nationen oder der
Leitlinien für multinationale Unternehmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD). Bis Ende 2016 soll die Richtlinie
in nationales Recht umgesetzt werden. „Wir wollen
erreichen, dass die Prinzipien der Gemeinwohl-Bilanz darin Eingang finden“, erklärt Christian Felber.
Beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss
war er im Juni bereits zu Gast, der Ausschuss arbeitet
an einer Stellungnahme zur Gemeinwohlökonomie,
über die im September abgestimmt werden soll.
International verbreitet und vernetzt sich die
Gemeinwohlökonomie-Bewegung weiter. Vor allem
in Lateinamerika stoße sie auf „große Begeisterung“,
sagt Felber. Viele Berührungspunkte gebe es zum
Konzept des „buen vivir“, das ein Zusammenleben in
Solidarität und Harmonie mit der Natur propagiert
und in Ecuador und Bolivien Verfassungsrang genießt. An der Universität von Santiago de Chile werde
derzeit eine erweiterte Gemeinwohl-Bilanz mit Aktiva und Passiva erarbeitet, berichtet er. Unlängst seien
zudem Kontakte zu Bhutan geknüpft worden. Der
asiatische Zwergstaat strebt mit seinem Bruttonationalglück eine sozial gerechte und umweltfreundliche
Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft an.
Die Gemeinwohlökonomie ist eine Graswurzelbewegung, die mit ihren Prinzipien nach und nach
immer weitere Teile von Wirtschaft, Gesellschaft und
Politik durchdringen will. Sie sei ein „partizipativer
und entwicklungsoffener Prozess“, der das Engagement „zahlreicher kreativer und eigenverantwortlicher Menschen“ brauche, betont Christian Felber.
Beim Event-Dienstleister satis&fy und dem Stiftsgut
Keysermühle scheint das Konzept aufzugehen. Beide
haben erfahren, wie sie mit ihrer Orientierung am
Gemeinwohl auf ihre Gäste und Kunden, ihre Dienstleister und Wettbewerber einwirken – und Schritt für
Schritt deren Verhalten ändern.
Marcus Stadler ist deshalb fest entschlossen, am
Ball zu bleiben. „Die Erwartungshaltung von Mitarbeitern und Kunden ist hoch, wir dürfen nicht stehen bleiben“, sagt er. In Kürze soll die Evaluierung
des ersten Gemeinwohlberichts beginnen – denn
das Testat läuft Anfang Mai 2016 aus. Bei der Bürgerstiftung Pfalz ist es erst im März 2017 soweit. Und
beim nächsten Bericht wird sie eine noch größere
Aufgabe stemmen müssen: Ab dem kommenden
Jahr wird sie zusätzlich die nahegelegene Burg Landeck bewirtschaften – ein Touristenmagnet in der
Region.
Bücher zum Thema
Carsten Kaven
Transformation des Kapitalismus
oder grüne Marktwirtschaft?
Pfade zur Nachhaltigkeit bei Altvater,
Jänicke, Nair und Rifkin
oekom Verlag, München 2015,
207 Seiten, 22,95 Euro
Für den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gibt es
sehr unterschiedliche Konzepte.
Der Soziologe Carsten Kaven vergleicht vier von ihnen anhand
von vier Leitfragen: Welche Haltung beziehen sie zum Kapitalismus, zur Rolle von Wirtschaftswachstum, zum Beitrag der Technik und zur Frage, wer die Transformation in Gang setzen soll?
Elmar Altvater steht für radikale
Kritik am Kapitalismus; er vertraut nicht auf technische Lösungen, sondern auf die Überwindung des Systems durch eine Solidarische Ökonomie. Der Umweltökonom Martin Jänicke fordert
dagegen Reformen von oben, um
die technische Effizienz zu steigern. Das hält der Inder Chandran
Nair für völlig unzureichend; er
plädiert für eine Einschränkung
des Massenkonsums und eine
strenge Regulierung des Kapitalismus, wobei er Asien eine Führungsrolle zuweist. Der US-Amerikaner Jeremy Rifkin schließlich
setzt darauf, dass Technologien
der „Dritten Industriellen Revolution“ – besonders die Digitalisierung und erneuerbare Energien –
eine dezentrale Ordnung der Gesellschaft bewirken.
Kaven beleuchtet Stärken und
Schwächen der Konzepte. Er weist
auf Widersprüche bei Rifkin hin
und darauf, dass Jänickes Ansatz,
wie dieser selbst zugibt, einen bedeutenden Teil der ökologischen
Probleme nicht lösen kann. Seine
Kritik an Nair ist teilweise etwas
vorschnell, etwa wenn er ihm
eine einseitige Sicht auf den Westen vorwirft. Das Buch hinterlässt
insgesamt einen zwiespältigen
Eindruck. Kaven macht Idealtypen sichtbar. Er ignoriert jedoch die Denktraditionen, in denen die Konzepte stehen und aus
denen sie verständlich werden.
Seine Synthese am Ende ist teils
klug – etwa wenn er betont, eine
Transformation sei nur begrenzt
planbar und die Systemfrage führe nicht weiter –, teils aber eher
banal. (bl)
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
se für alternative Wirtschaftsformen werden ebenso benannt wie
die Gefahr, dass sie sich, wenn sie
wachsen, in ganz normale Unternehmen verwandeln. Trotz der
Fallstudien ist das Buch aber theorielastig: Es sucht allgemein Bedingungen zu identifizieren, die
das von Utting erhoffte Bündnis
gegen den Kapitalismus begünstigen oder behindern.
(bl)
ins Gericht: Sie missbrauchten es
als Etikett sogar für große Bergbau- und Infrastrukturprojekte;
damit gerate es zu einem reinen
„Marketingprodukt“. Acosta fasst
die zentralen Aspekte und Streitpunkte des „buen vivir“ gut lesbar
zusammen und bietet eine gute
Einführung in das Modell. (gka)
Peter Utting (Hg.)
Social and Solidarity Economy
Beyond the Fringe?
UNRISD/Zed Books, London 2015,
386 Seiten, ca. 34 Euro
Der Gegenstand dieses Buches ist
aus zwei Gründen schwer greifbar.
Erstens zählt laut Peter Utting zur
„sozialen und solidarischen Wirtschaft“ alles von Genossenschaftsbetrieben und wohltätigen Organisationen über Konsumentenvereine und Fair-Trade-Verbände
bis zu Selbsthilfetruppen und Firmen, die mit Sozialdiensten Geld
verdienen. Zweitens verbergen
sich dahinter verschiedene Konzepte der alternativen Wirtschaft:
Eine Strömung will Auswüchse
des Kapitalismus einhegen und
Firmen sozialen Normen unterwerfen, eine andere den Kapitalismus überwinden. Wenn beide zusammengehen, könnte laut Utting eine Gegenmacht zu etablierte Machteliten entstehen.
Das Buch geht der Frage nach,
unter welchen Bedingungen alternative Wirtschaftsweisen erstarken. Ein Befund lautet: Forderungen und Initiativen von unten
müssen zusammenpassen mit
bürokratischen Lösungsansätzen
und mit dem Bestreben von Politikern, Proteste einzubinden. Die
Fallstudie über eine Milchgenossenschaft in Indien illustriert das:
Zu ihrem Aufstieg haben die starke Organisation an der Basis und
kluge Geschäftsstrategien beigetragen, aber auch politische Vernetzung, Hilfe von lokalen Behörden und der geschickte Bezug zu
Vorhaben der Regierung. Es ist
eine Stärke des Buches, dass es
Wechselwirkungen zwischen Basisinitiativen und dem politischen und wirtschaftlichen Umfeld ins Zentrum stellt. Hindernis-
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Franz Segbers, Simon Wiesgickl (Hg.)
„Diese Wirtschaft tötet“
Kirchen gemeinsam gegen
den Kapitalismus
VSA-Verlag, Hamburg 2015,
254 Seiten, 16,80 Euro
Alberto Acosta
Buen Vivir.
Vom Recht auf ein gutes Leben
Oekom-Verlag, München 2015,
224 Seiten, 16,95 Euro
Wenn es um alternative Entwicklungsmodelle geht, fällt schnell
das Stichwort „Buen vivir“ – das
„gute Leben“. Das Konzept stammt
aus der indigenen Tradition Lateinamerikas und meint eine
Weltanschauung, die auf Harmonie mit der Natur, Solidarität und
Ergänzung zwischen Einzelnen
und Gemeinschaften basiert. In
Ecuador und Bolivien genießt es
Verfassungsrang. Doch inwieweit
findet es Eingang in die Wirtschaftspolitik der beiden Andenländer? Und taugt es auch als globales Modell? Solchen Fragen
widmet sich der Ökonom Alberto
Acosta in diesem Sammelband.
Der Umweltaktivist und Ex-Minister für Energie und Bergbau von
Ecuador erklärt, welches Potenzial
das Konzept hat und wo sich damit an westliche Vorstellungen
von nachhaltigen Lebensweisen
anknüpfen lässt. Ein eigenes Kapitel widmet er den Risiken und Gefahren, denen das „gute Leben“
ausgesetzt ist. Dabei geht er hart
mit seinem früheren Chef Rafael
Correa und dessen bolivianischem Amtskollegen Evo Morales
Le Monde diplomatique (Hg.)
Atlas der Globalisierung
Weniger wird mehr
taz Verlags- und Vertriebs GmbH,
Berlin 2015, 173 Seiten, 16 Euro
Dass die Volkswirtschaft immer
weiter wachsen müsse, sei das
Credo aller politischen Parteien
in Deutschland, heißt es in der
Einleitung zur jüngsten Ausgabe
des Atlas der Globalisierung. Der
Großteil der Beiträge zeigt die fatalen sozialen und ökologischen
Folgen dieses Wachstumswahns –
etwa den Abbau sozialstaatlicher
Sicherheiten oder den Raubbau an
der Natur durch unkonventionelle Öl-Fördermethoden wie Tiefseebohrungen oder Fracking. Der
Grundwiderspruch, den die meisten Autoren identifizieren, ist einfach – und lange bekannt: Die Logik eines unendlichen Wachstums
steht mit den endlichen Ressourcen der Erde im Konflikt. Deshalb
geht es um die Suche nach Alternativen: Ein gutes Leben für alle
ohne den permanenten Zwang
immer mehr zu leisten. Der Atlas
will zu diesem Suchprozess beitragen – und zeigt, neben Krisenszenarien, welche Wege möglich sind.
Die Beiträge greifen auf verständliche Art akademische Debatten
und Prognosen auf und werden
durch umfangreiche Literaturhinweise ergänzt. Der Atlas eignet
sich hervorragend als Einstieg in
die Postwachstumsdebatte. (me)
Eine neue ökumenische Bewegung hat sich formiert, die den
Kapitalismus ablehnt und nach
einer „lebensdienlichen Wirtschaft“ strebt. Viele Glaubensgemeinschaften seien sich einig,
dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, stellen die Herausgeber des Sammelbandes fest. Sie
verweisen auf das Schreiben
„Evangelii Gaudium“ von Papst
Franziskus, dem der Buchtitel entlehnt ist, und den „Aufruf zum
Handeln“ der Zehnten Vollversammlung des Ökumenischen
Rates der Kirchen in Busan zu einer „Ökonomie des Lebens, Gerechtigkeit und Frieden für alle“.
In einem einleitenden Kapitel
werden die Übereinstimmungen
ausgeführt, darunter die Option
für die Armen und Marginalisierten. Im Anschluss kommen weitere Autoren aus verschiedenen
Ländern, darunter Vertreter des
Islam und des Judentums, zu
Wort. Vorrangig geht es um die Begründung, warum eine Umkehr
nötig ist, was Glaubensgemeinschaften und Theologie dazu beitragen können sowie um die Definition der anstehenden Aufgaben.
Eher schmal werden Beispiele aus
der Praxis abgehandelt – das
bleibt Christine Müller von der Arbeitsstelle „Eine Welt“ der sächsischen Landeskirche überlassen:
Sie ergänzt ihre Überlegungen für
eine transformative Spiritualität
mit dem Hinweis auf Kirchengemeinden, die andere Formen des
Lebens und Wirtschaftens bereits
erproben. (gka)
31
32
schwerpunkt entwicklung
Feuer für das
Von Hanna Pütz
Das Konzept des „Vivir Bien“
aus den Anden gilt als
Alternative zum westlichen
Glauben an Fortschritt und
Modernisierung. Eine Berliner
Theatergruppe will ein breites
Publikum dafür begeistern.
H
inter der farbenfrohen Flickendecke ragen
vier Köpfe hervor. Sie verharren kurz, dann
setzt sich der Menschenzug trippelnd in Bewegung. „Null Korruption! Null Bürokratie!“, ruft der
erste in der Reihe. Die Gefolgschaft applaudiert. „Ich
werde mein eigenes Gehalt kürzen und die Gehälter
der Minister halbieren!“ Dieses Mal klatscht niemand, die Gesichter werden lang. Dann bleibt es erst
einmal still, bis Elke Schuster sagt: „Evo Morales,
Dein Einsatz.“
In einem Hinterhaus in Berlin-Kreuzberg proben
die Schauspieler der Berliner Compagnie den Einzug
des frischgebackenen bolivianischen Präsidenten in
seinen Palast. Schuster führt die Regie bei dem neuen
Theaterstück des Ensembles. Dessen Titel spielt auf
ein altes, andines Sprichwort an: Peru und Bolivien
werden oft als „Bettler auf dem goldenen Thron“ bezeichnet. Denn die Länder sind reich an Rohstoffen,
die sie jedoch nie reich, sondern eher zum Opfer von
Ausbeutung gemacht haben.
„Wir wollen zeigen, wie der Gegenentwurf zum
neoliberalen Entwicklungsbegriff aussehen kann“,
sagt Helma Fries und rückt ihre dunkelblaue Seidenbluse zurecht. Seitdem mit Morales erstmals ein Indigener an der Spitze des Staates steht, herrsche in Bolivien Skepsis gegenüber den westlichen, konsumund wachstumsorientierten Vorstellungen von Entwicklung. Fries hat das Stück geschrieben und
verkörpert Evo Morales. Sie hat die Berliner Compagnie 1982 mitgegründet – damals noch als Gerhard
Fries. Das politische Tourneetheater befasst sich seitdem mit Themen wie den Arbeiteraufständen bei
Daimler in Südafrika oder Billiglohnarbeit in der südostasiatischen Bekleidungsindustrie.
In diesem Jahr ist die Wahl auf Bolivien gefallen.
„Der Bettler auf dem goldenen Thron“ ist ein hochpolitisches Stück. Der rote Faden ist die neuere Geschichte des Landes. Erzählt wird von gewerkschaftlichem
Widerstand, ausbeuterischen Konzernen, Wasserprivatisierung und dem politischen Handeln Morales’,
der das Land auf seine Art aus der Armut befreien will.
Wegweisend dafür – und für das Stück – ist das indigene Konzept des „Vivir Bien“, das seit 2009 in der bolivianischen Verfassung verankert ist. In den Andenländern ist mit dem „Guten Leben“ das Zusammenleben
aller in Harmonie mit der Natur gemeint; es stützt
sich auf Werte wie Gemeinschaft und Solidarität.
Bei der Probe: Evo Morales (rechts: Helma Fries),
hat gerade sein Amt angetreten. Das bunte Bühnenbild
ist ein Gemeinschaftswerk von mehr als 100 Beteiligten.
Berliner Compagnie
9-2015 |
entwicklung schwerpunkt
„gute Leben“
Das Bühnenbild der Berliner Compagnie spiegelt
diese Idee wider. „Daran haben mehr als 100 Menschen mitgearbeitet“, sagt Regisseurin Schuster und
zeigt auf das Tuch, hinter dem die Schauspieler zuvor
entlangmarschiert waren. Das Kunstwerk aus hunderten, zusammengenähten Stoff-Quadraten hängt
an der Decke des Probenraums und teilt die Bühne in
zwei Hälften. Im Vordergrund steht ein rostiges Ölfass, das die Erdölvorkommen symbolisieren soll.
Doch in den ersten Szenen dient die Tonne erst
einmal als Büro der US-amerikanischen Botschaft,
die laut Skript vom Geheimdienst CIA gesteuert wird.
Die bolivianischen Beamten kuschen, Morales ordnet
die Räumung des Büros an. Erneut schreitet Schuster
ein. Es müsse noch deutlicher werden, dass die Minister mehr Angst vor dem amerikanischen Geheimdienst haben als vor ihrem eigenen Präsidenten.
E
in CIA-Agent in der Botschaft: Es klingt ein wenig
verschwörungstheoretisch, was auf der Bühne
gespielt und debattiert wird. Doch wie die meisten Szenen im Stück spitzt auch diese eine wahre Begebenheit aus der Geschichte Boliviens zu. In diesem
Fall die von Morales 2013 angedrohte Räumung der
US-Botschaft und den tatsächlichen Hinauswurf der
Entwicklungsagentur USAid, die laut dem Präsidenten politische statt sozialer Ziele verfolgt hatte.
Wie sich das schauspielerisch gut darstellen lässt,
wird in Berlin-Kreuzberg detailreich besprochen. Immer wieder springt Elke Schuster auf und macht vor,
wie genau sich Hände bewegen, Köpfe senken und
Stimmen erheben sollten. Die Sache ist ihr und den
anderen wichtig. Alles soll perfekt sitzen. Vor allem
soll das Stück gleichzeitig unterhalten und zum
Nachdenken anregen. „Wir haben immerhin einen
entwicklungspolitischen Bildungsauftrag“, sagt Fries.
Genug Erfahrung mit politischem Theater haben sie:
Die Berliner Compagnie hat schon knapp 30 Stücke
produziert, jeweils unterstützt von staatlichen und
nichtstaatlichen Organisationen wie dem Evangelischen Entwicklungsdienst.
Auf den Tischen im Probenraum stapelt sich die
Lektüre über Südamerika. Schuster ist die einzige aus
dem Ensemble, die schon einmal in La Paz war, allerdings vor Morales’ Amtszeit. Die Schauspielerin Angelika Warning etwa hat sich vor den Proben kaum
mit der bolivianischen Politik auseinandergesetzt.
Sie spielt unter anderem die Gewerkschafterin Domitila Chungara, die sich in den 1970er Jahren für die
Rechte der Bergarbeiter eingesetzt und gegen die Diktatur gekämpft hatte. Dabei habe sie viel gelernt, sagt
sie, das schätze sie an ihrem Beruf.
Für Drehbuch-Autorin Fries waren vor allem Gespräche mit Hilfsorganisationen und Journalisten in
Bolivien hilfreich, um den richtigen Ton für das Stück
zu finden. Gefördert wird es vom Entwicklungsminis-
| 9-2015
terium, dessen ehemaliger Chef Dirk Niebel allerdings nicht gut wegkommt. Fries hat ihm eine kritische Szene gewidmet, die auf seinen Staatsbesuch im
November 2010 zurückgeht. Damals hatte er dem
linken Präsidenten Morales als Gastgeschenk ein Berliner Mauerstück in die Hand gedrückt – „als Erinnerung an die Überwindung von 40 Jahren sozialistischer Diktatur“. Eine Herabwürdigung von Morales’
Politik, findet Fries.
Dennoch betont sie, dass der indigene Präsident
in ihrem Stück keinesfalls als Held dargestellt wird.
So werde unter anderem der umstrittene Straßenbau
durch den Tipnis-Nationalpark thematisiert, der in
den vergangenen Jahren immer wieder Proteste auslöste. Nicht nur Umweltschützer stehen der widersprüchlichen Politik der bolivianischen Regierung
kritisch gegenüber: Einerseits hat sich Morales das
„Vivir Bien“ auf die Fahne geschrieben. Andererseits
hat er jüngst den Abbau von Rohstoffen in Naturschutzgebieten erlaubt.
Gefördert wird das Stück vom Entwicklungs­
ministerium – dessen ehemaliger Chef Dirk Niebel
kommt jedoch nicht gut weg.
Inwiefern das Theaterstück auch Menschen fernab der entwicklungspolitischen Szene anspricht, ist
fraglich. Vor allem Jüngere sind laut Fries zunehmend schwieriger zu erreichen. Der Tourneeplan ist
jedoch gut gefüllt, die Schauspieler sind bundesweit
unterwegs. Sie treten auf Einladung von Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Theatern, Schulen und
Bürgerinitiativen auf – und da steht zu vermuten,
dass sie im Laufe der Jahre bereits ein breit gefächertes Publikum erreicht haben.
Deutschland könne von Bolivien lernen, heißt es
im Programmheft. „Und zwar, dass Widerstand etwas
bewirkt“, sagt Regisseurin Schuster. Und dass das „Vivir Bien“ auch in einer westlichen Gesellschaft als
Chance wahrgenommen werden könnte. Eins zu eins
sei das Konzept hier zwar nicht umsetzbar. Dennoch
lasse sich bereits ein Wandel erkennen, zum Beispiel
in der Degrowth-Bewegung.
Ein Theaterstück kann die politische Wirklichkeit
eines Landes nie vollständig abbilden – doch Fries ist
überzeugt: „Die Bühne kann ein emotionales Feuer
entfachen.“ Und vielleicht wirke sich das auch auf das
Handeln der Zuschauer aus. In jedem Falle zeigt „Der
Bettler auf dem goldenen Thron“, wie politisches Theater funktionieren kann. Nämlich ganz im Sinne des
„Vivir Bien“: als vielfältiges Gemeinschaftswerk, das
das Publikum bereichert. www.berlinercompagnie.de
Hanna Pütz
ist Volontärin bei
.
33
Im Netz der Verbrecher
Text: Alex Perry und Connie Agius, Fotos: Sarah Caron
Menschenhändler wie der
Äthiopier Ermias Ghermay
verdienen sich mit dem Elend
von Flüchtlingen eine goldene
Nase. Wenn sie in Italien
angekommen sind, übernimmt
die dortige Mafia.
C
alogero Ferrara zündet sich in seinem Büro im zweiten Stock des Justizgebäudes in
Palermo einen Zigarillo an und zeigt uns seine 526-seitige Klageschrift gegen 24 afrikanische Menschenhändler. Der Mafia-Ankläger hat Mitte April auf einer Pressekonferenz einen außergewöhnlichen Erfolg im Kampf der italienischen Behörden gegen die
illegale Einwanderung bekanntgegeben: Über Nacht haben seine Beamten auf Sizilien, in
Mailand und in Rom eine Bande von Menschenschmugglern dingfest gemacht und 14
überwiegend aus Eritrea stammende Männer festgenommen.
Die Probleme, mit denen sich Ferrara herumschlagen muss, sind durch die geografische Lage Siziliens bedingt. Seit Tausenden Jahren kreuzen sich hier die Verkehrswege zwischen Europa, Afrika und dem Mittleren Osten. Die Kirchen mit ihren arabischen Kuppeln
sowie die Straßenschilder auf Italienisch und Arabisch bezeugen, dass die Insel im Mittelmeer seit jeher kosmopolitisch geprägt ist. Migration wird hier als unaufhaltsam und auch
wünschenswert betrachtet. Die Behörden sahen sich selbst angesichts dramatisch zunehmender Flüchtlingszahlen nicht zum Eingreifen genötigt – auch dann nicht, als das Massensterben begann.
Jetzt richten sich neue Hoffnungen auf die Intervention der prominenten italienischen Mafia-Ankläger. Seit dem Schiffsunglück 2013 vor Lampedusa, bei dem mehrere
Hundert Flüchtlinge ertrunken sind, betrachten sie den Menschenhandel als eine Form
9-2015 |
flüchtlinge welt-blicke
des organisierten Verbrechens – und seine Bekämpfung als ihre Aufgabe. Ferrara begann bereits am
Morgen nach dem Unglück, gegen die Menschenschmuggler zu ermitteln. Er beauftragte seine Beamten, die Überlebenden nach den Telefonnummern der Männer zu fragen, die sie auf das Boot
verfrachtet hatten. Dann ließ er die Verbindungen
abhören und verfolgte zusätzlich Anrufe bei anderen Nummern. So erhielt er ein Netz telefonischer
Kontakte zwischen Tausenden Nummern in Afrika,
Europa, dem Mittleren Osten, Asien und den USA.
Im Lauf von 18 Monaten zeichnete sein Team
mehr als 30.000 Telefongespräche auf. Die Mitschnitte enthalten Hinweise auf mehrere transnationale Verbrechersyndikate, die zusammen um die
sieben Milliarden US-Dollar jährlich einnehmen. Die
keinen Geschäftssitz, keine festen Mitarbeiter, und
vor allem geht Ghermay keinerlei Risiko ein. „Drogenhändler verlieren mit der Ware auch ihr Geld“,
sagt Ferrara. „Doch in diesem Geschäft wird im Voraus bezahlt. Auch wenn die Migranten später ertrinken, Ermias hat sein Geld bereits bekommen.“
G
hermays Kunden beschreiben ihn als untersetzten Mann um die 40. Er spricht mehrere
Sprachen fließend, darunter Arabisch und
Tigrinya, das im Norden Äthiopiens und in Eritrea
gesprochen wird. Seit etwa zehn Jahren schmuggelt
er Menschen, sein Geschäft betreibt er an der libyschen Küste, überwiegend in Tripolis oder weiter
westlich im Hafen von Zuwara. Die Migrationspolitiker der Europäischen Union planen Angriffe auf
Links: Vom Boot gerettet – und
jetzt? Bei der Unterbringung von
Flüchtlingen in Italien kassiert die
Mafia mit ab.
Rechts: Die beiden Migranten sollen
die Unterkunft wechseln, um Platz
für Neuankömmlinge zu machen.
Vertreter der Caritas und Behörden in Palermo versuchen, ihnen
die Angst vor der Abschiebung zu
nehmen.
Ermittler stießen auch auf den Mann, der einer der
raffiniertesten und geschäftstüchtigsten Menschenhändler sein soll: Ermias Ghermay, ein Äthiopier, der
in Libyen lebt. Ferrara nennt ihn einen „skrupellosen
Verbrecher, der mit menschlicher Ware handelt, um
Geld zu verdienen“.
Ghermays Organisation bietet Migranten, die
von Zentralafrika über Libyen und Italien in ein weiteres Land gelangen wollen, sämtliche Dienstleistungen an – Transport, Unterkünfte und Verpflegung. Es sei ein kriminelles Geschäft wie kein anderes, erklärt der Staatsanwalt. Es gibt keine Namen,
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Schmugglerschiffe – doch Ghermay sieht seine
Holzkähne und Schlauchboote ohnehin als Wegwerfartikel. Wenn sie in Sizilien ankommen, sinken
sie meistens oder werden beschlagnahmt.
Deshalb kauft er am liebsten die billigsten Boote, die sich gerade noch über Wasser halten. Damit
seine Kunden nicht versuchen, ein besseres Schiff
zu finden, soll er in Zuwara Lagerhallen gepachtet
haben, in denen er sie zu Tausenden monatelang
einsperrt, nachdem er ihnen ihre Handys abgenommen hat. Auf den Booten verstaut er die Migranten
nach Herkunft und Rasse getrennt. Syrer bezahlen
35
36
welt-blicke flüchtlinge
mehr und reisen auf dem Oberdeck; die Afrikaner,
die meist weniger Geld haben, werden ohne Wasser
und Nahrung unter Deck eingeschlossen.
Die meisten Menschenhändler wollen offenbar
nicht mehr sein als ein Rädchen in einem großen
Getriebe. Doch Ghermays Telefongespräche lassen
laut Ferrara größere Ambitionen erkennen. Um einen regelmäßigen Nachschub an Migranten sicherzustellen, pflegt er Geschäftsverbindungen mit
Menschenhändlern im Sudan, in Somalia, Nigeria
und Eritrea, die ihre Ladung auf LKWs durch die Sahara transportieren. Auch in Europa knüpft er ständig neue Kontakte mit Schmugglern, nicht nur innerhalb der Auffanglager in Sizilien, Rom und Mailand, sondern auch in Berlin, Paris, Stockholm und
London.
Die Geschäftspartner, die Ghermay seine „Colonels“ nennt, sind laut den Abhörprotokollen vor allem für zwei Dinge zuständig: Sie transportieren
Menschen und Geld. Sie geben den Migranten aktuelle Informationen über die sichersten Reisewege
und die Telefonnummer des Colonels, der für die
nächste Etappe zuständig ist. Manche von Ghermays
Colonels werben für sich und ihre Dienste auf Facebook und anderen Webseiten. Auch er selbst hat neuerdings sein Angebot erweitert. Zahlungskräftige
Kunden vermittelt er an Leute, die ihnen echte Pässe
und Visa beschaffen. Unterstützt wird er dabei von
mindestens einem korrupten europäischen Botschafter in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
Wer es sich leisten kann, bekommt sogar Flugreisen
angeboten.
Der Mafia-Jäger Ferrara meint, das Geheimnis
von Ghermays Erfolgen liege wohl in seiner sympathischen Ausstrahlung. Er verwendet viel Zeit darauf, mit den Familien zu telefonieren, die für die
Migration eines Verwandten bezahlen. Dabei versichert er ihnen, dass diesem nichts zustoßen wird,
und erinnert sie taktvoll an ihre finanziellen Verpflichtungen – ein besonders heikles Thema. Viele
eritreische Flüchtlinge sind Kinder, manchmal sogar
Kleinkinder. In den äthiopischen Flüchtlingslagern
versprechen die Schmuggler den Eltern, sie umsonst
nach Europa zu bringen. Sie behaupten, dort werde
einem unbegleiteten Minderjährigen automatisch
Asyl gewährt und die ganze Familie könne später
nachkommen.
W
enn die Schmuggler das Kind weggebracht
haben, erfahren die Angehörigen, dass sie
doch bezahlen müssen: rund 1800 USDollar für die Reise bis zum Mittelmeer und weitere
1800 Dollar für die Überfahrt. Bis das Geld eintrifft,
wird das Kind in Ghermays Lagerhallen festgehalten.
Dass er derart fragwürdige Transaktionen häufig erfolgreich abwickelt, liegt zum großen Teil an seinem
Verhandlungsgeschick. „Er raubt ja niemanden aus“,
sagt ein Polizeibeamter in Palermo, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Er kann mit den Menschen umgehen und flößt ihnen Vertrauen ein. Je
vertrauenswürdiger Ghermay wirkt, desto mehr
Leute wenden sich an ihn.“
Sizilien ist bekanntlich ein Zentrum des organisierten Verbrechens. Dass Menschenhändler wie
Ghermay hier Hunderte Millionen US-Dollar verdienen können, wirft die Frage auf, warum die Mafia
das zulässt. Im Dezember 2014 haben Staatsanwälte
in Rom die Antwort gefunden. Nachdem sie den
mutmaßlichen Mafia-Boss Massimo Carminati und
36 weitere Mafiosi festgenommen hatten, wiesen
sie in einer 1200 Seiten umfassenden Klageschrift
nach, dass diese die Verwaltung Roms weitgehend
unterwandert hatten. Im Zuge der gleichen Ermittlungen wurden Anfang Juni weitere 44 Personen
festgenommen. Dabei stellte sich heraus, dass die
Mafia Capitale, Carminatis römisches Verbrecherkartell, an der europäischen Flüchtlingskatastrophe
mitverdient.
Zwar beteiligte sich die Mafia Capitale nicht unmittelbar am Menschenschmuggel. Doch sie riss die
Aufträge für den Bau und die Verwaltung der Auffanglager an sich. Laut Anklageschrift leitete Carminatis engster Vertrauter, ein verurteilter Mörder namens Salvatore Buzzi, eine Kooperative, die Mahlzeiten und Sprachkurse für Migranten organisierte. Damit will Buzzi 45 Millionen US-Dollar eingenommen
haben. Außerdem soll er fremdenfeindliche Übergriffe angezettelt haben: Auf diese Weise sollte die Regierung gezwungen werden, mehr Auffanglager zu bauen, in denen die Ausländer sicher untergebracht werden konnten.
Die Anwälte von Buzzi und Carminati bestritten
die Vorwürfe. Doch die Ermittler hörten ein Gespräch
ab, in dem Buzzi seinen Partner fragte: „Hast du über-
Oben: Ein afrikanischer Migrant
verdient seinen Lebensunterhalt
mit dem Verkauf von gefälschten
Handttaschen im Rotlichtviertel
von Catania.
Rechts oben: Ein Nigerianer wird in
einer mobilen Klinik untersucht,
die zwischen mehreren Aufnahmelagern in Italien unterwegs ist.
Rechts unten: 2014 starben mehr
als 3700 Menschen beim Versuch,
das Mittelmeer zu überqueren.
48 von ihnen werden Anfang Juli
im sizilianischen Pozallo beerdigt.
9-2015 |
flüchtlinge welt-blicke
haupt eine Ahnung davon, wie viel ich an den Einwanderern verdiene? Nicht einmal das Drogengeschäft bringt derart viel ein!“
Noch viel mehr als Buzzis Kooperative soll das
Management des größten europäischen Flüchtlingslagers abgeworfen haben, das in Mineo im Osten Siziliens eingerichtet wurde. Ein Dreijahresvertrag über 110 Millionen US-Dollar versprach den Betreibern für die Unterbringung und Verpflegung
von bis zu 4000 Migranten pro Person und Tag 32
Dollar.
A
us der Anklageschrift und aus unabhängigen
Ermittlungen der Fahnder in Catania im Osten Siziliens geht hervor, dass das Abzockmanöver von einem Beamten namens Luca Odevaine
organisiert wurde. Dank seiner diversen Ämter – als
Stabschef des ehemaligen römischen Bürgermeisters Veltroni, Mitglied der Flüchtlingskommission
beim Innenministerium und offizieller Berater für
Flüchtlingsfragen in Mineo – konnte er alle für Migranten zuständigen Stellen im Sinne der Geschäftsinteressen der Mafia Capitale umfunktionieren. Abgehörte Telefonate belegen, wie Odevaine seinen
Partnern Aufträge für den Bau und den Betrieb der
Lager zuschanzte. Dann schickte er weit mehr
Flüchtlinge dorthin, als sie aufnehmen konnten –
vor allem nach Mineo. Wie die Staatsanwaltschaft
feststellte, war das kein System der Flüchtlingshilfe,
sondern ein „System der Korruption“.
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38
welt-blicke flüchtlingE
Viele waren schockiert über den Umfang der Betrügereien und die Art, wie die Beteiligten eine der
schlimmsten europäischen Krisen ausnutzten. Politiker wurden festgenommen. Ein ehemaliger Bürgermeister von Rom trat von seinen Parteiämtern
zurück. Doch trotz zahlreicher Rücktritte, Verhaftungen und Verurteilungen bleibt die Frage: Wird der
Zustrom nach Europa so schlecht gehandhabt und
damit die Krise verschärft, weil die Flüchtlinge Geld
einbringen und die Mafia samt ihren korrupten politischen Handlangern immer mehr kassiert, je mehr
Migranten eintreffen?
Bei diesem Geschäft wird im Voraus bezahlt.
Auch wenn die Migranten später ertrinken, hat der
Schmuggler sein Geld schon bekommen.
Alex Perry
ist Buchautor, Journalist und
Redakteur bei der internationalen
Ausgabe des Nachrichtenmagazins
„Newsweek“. Dort ist der Beitrag im
ungekürzten Original erschienen.
Connie Agius
ist Journalistin. Sie arbeitet für
„Newsweek“ und für internationale
TV- und Radiosender wie Channel 4,
Deutsche Welle und ABC.
Das Lager in Mineo besteht aus einer Ansammlung von gut 400 Backsteinhäusern inmitten einer
weiten Talsohle. Früher war es eine US-amerikanische Militärbasis, und mit seinen bewachten Toren
und Stacheldrahtzäunen macht es noch immer einen sehr wehrhaften Eindruck. Das Lager ist nicht an
das öffentliche Verkehrsnetz angebunden, und die
meisten Migranten haben kein Geld. Doch tagsüber
dürfen sie das Gelände verlassen, und viele spazieren auf den Landstraßen herum, die jetzt das Ende
ihrer Welt darstellen – wie John aus Nigeria und Kadir aus Äthiopien.
John ist vor elf Monaten hier gelandet. Er hatte
drei Jahre lang in Libyen gearbeitet, doch dann wurde es ihm dort zu gefährlich. Kadir ist schon seit zwei
Jahren hier. Beiden sagte man bei ihrer Ankunft, sie
bekämen binnen 35 Tagen Papiere, mit denen sie
sich als Flüchtlinge und Asylbewerber ausweisen
könnten. Beide wollten nach Deutschland weiterreisen. Doch aus den Wochen wurden Monate und Jahre, und im Lauf der Zeit haben sie erkannt: „Hier geht
es ums Geschäft“, sagt John. „Und das Geschäft sind
wir. Wir sind die Ware. Sie behalten uns hier, weil sie
an uns verdienen.“
John sagt, er habe nicht mehr in einem Land leben wollen, in dem der Staat mit der organisierten
Kriminalität zusammenarbeitet – deshalb sei er
nach Europa gekommen. Doch hier bereichern sich
die Betreiber des Lagers selbst an den zwei Euro Taschengeld, das die Migrantinnen und Migranten pro
Tag erhalten. Anstelle von Bargeld bekommen sie
Kredit auf einer Chipkarte, mit der sie nur in einem
Geschäft im Lager oder in bestimmten Läden außerhalb bezahlen können. Das hört sich geringfügig an,
doch das Monopol bringt rund drei Millionen Euro
pro Jahr ein.
Riccardo Campochiaro aus Catania, der die
Hilfsorganisation Centro Astalli als Anwalt unterstützt, bezeichnet das langfristige Festhalten der
Migranten in Mineo als eine Art stationären Menschenhandel. Seine Kollegin Elvira Iovino fügt hinzu, die Bedingungen im Lager seien aufgrund der
Überfüllung katastrophal. Und da die Migranten
nicht legal arbeiten dürfen, gedeihen zwangsläufig
illegale Aktivitäten wie Prostitution und Drogengeschäfte. Im Lager bieten Menschenhändler Ausreisemöglichkeiten nach Nordeuropa an und außerhalb
Jobs als Erntehelfer für zehn Euro pro Tag. Und davon geschieht „nichts, aber auch gar nichts ohne das
Wissen der Cosa Nostra“, sagt Elvira Iovino.
J
eder scheint von dem System zu profitieren, nur
die Migranten nicht. Sie haben in der Hoffnung
auf ein besseres Leben das Risiko, zu sterben, in
Kauf genommen und ihren letzten Cent für eine
Reise von Tausenden Kilometern ausgegeben, um
dann in Mineo zu landen. Daran seien viele Menschen innerlich zerbrochen, meint John. Mindestens einer hat Selbstmord begangen. Es gab gewaltsame Proteste und gemeinsame Ausbruchsversuche.
Kadir hat Wüsten und Ozeane überquert, um ein
freieres Leben zu führen. Seine Reise nach Norden
dauerte über ein Jahr. Mit Lumpen am Leib und Flipflops an den Füßen war er zu Fuß unterwegs. Er
nahm jede Strapaze in Kauf, um am Leben zu bleiben und das Geld für den nächsten Teil der Strecke
zusammenzubringen. Dabei sah er viele Menschen
sterben – in der Wüste, im Krieg in Libyen und auf
dem Boot, das ihn übers Mittelmeer brachte. Doch
als er schließlich ankam, war alles genauso wie zu
Hause: Anständige und wehrlose Menschen werden
von Kriminellen ausgebeutet. Jetzt weiß Kadir nicht
mehr weiter. „Mein Leben ist genauso wertlos wie eh
und je“, sagt er. „Wenn ich hier sterben soll, dann sterbe ich eben.“
Dass die Flüchtlinge Lebensgefahr in Kauf nehmen, erschüttert diejenigen, die direkt damit konfrontiert sind. Kapitän Giuseppe Margiotta fährt
seit 35 Jahren von Sizilien an die libysche Küste, um
Krabben zu fangen. Neuerdings fischt er immer wieder Migranten aus dem Meer. In der Aprilnacht, in
der 800 Menschen ertranken, kamen Margiotta und
seine sechs Gehilfen um vier Uhr morgens dazu und
zogen den Leichnam eines Jungen ins Boot. Als die
Sonne aufging, sahen sie das volle Ausmaß der Katastrophe. „Wir waren von Kleidungsstücken umgeben“, sagt Margiotta. „Kindersachen, Kleidung von
Frauen und Männern, Flipflops.“ Darunter trieben
die Leichen.
Während er erzählt, beginnt er zu weinen. Auch
damals hat er geweint. „Als ich diese Schweinerei
sah, Kinder zwischen 10 und 15 Jahren, die wir aus
dem Meer zogen wie Thunfische…“ Margiotta atmet
tief durch. Er will den europäischen Politikern etwas
mitteilen. „Ihr sitzt herum und trefft Entscheidungen“, sagt er, „und ihr sagt, ihr seid zivilisiert. Aber
wenn so etwas noch einmal geschieht, dann kommt
selbst und schaut es euch an. Kommt und seht, wie
es ist, wenn man einen Teppich von Menschen im
Meer treiben sieht.“ Dann trocknet er sich die Augen
und sagt: „Ich weine vor Wut.“
Aus dem Englischen von Anna Latz.
9-2015 |
ägypten welt-blicke
Gemeinsam
gegen die
Revolution
Die arabischen Diktatoren stellen sich als Bollwerk
gegen den islamistischen Terror dar. Doch in Wahrheit
fördern sie ihn. Denn ihr Hauptziel ist, die demokratischen
Bewegungen auszuschalten.
Den neuen Herrschern ein Dorn im Auge:
Anhänger des gestürzten ägyptischen Präsidenten
Mohammed Mursi stehen im März 2014
in Alexandria vor Gericht.
Reuters
| 9-2015
Von Jean-Pierre Filiu
D
er tunesische Diktator Ben Ali wurde im Januar 2011 in einem Volksaufstand gestürzt. Im
Monat darauf ereilte den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak nach beinahe 30 Jahren an
der Macht das gleiche Schicksal. Ein altgedienter
amerikanischer Geheimdienstmitarbeiter vertraute
mir damals seine Befürchtung an: Eine Niederlage
der demokratischen Bewegung in der arabischen
Welt werde den Dschihadisten solchen Auftrieb geben, dass man das Budget für die Terrorismusabwehr
nicht nur verdoppeln, sondern gleich verdreifachen
sollte, um der Bedrohung begegnen zu können.
Genau das ist heute das Problem der arabischen
Welt – abgesehen einzig von Tunesien, wo die Demokratisierung erfolgreich verlaufen ist. Und die arabischen Diktaturen sind mitverantwortlich für das
Aufkommen und Erstarken ihrer dschihadistischen
Erzrivalen – also der Heiligen Krieger von Gruppen
wie al-Qaida und dem Islamischen Staat. Eine perverse und destruktive Logik hat die Militärregime veranlasst, auf das Schreckgespenst der extremistischen,
gewalttätigen Islamisten zu setzen, um die Proteste
der von ihnen unterjochten Völker zu ersticken. Das
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welt-blicke ägypten
Ägyptenfeldzug begann. Ein Teil davon ist zweitens
das halbe Jahrhundert von 1922 bis 1971, in dem die
arabischen Länder nach und nach ihre Unabhängigkeit und formelle Souveränität als Nationalstaaten
erhielten – zuerst Ägypten 1922, zuletzt die Vereinigten Arabischen Emirate 1971. Ein weiterer Teil
dieses Prozesses waren schließlich die zwei Jahrzehnte von 1949 bis 1969, in denen Militärcliquen
die nationalistischen Eliten ausschalteten und den
Unabhängigkeitsbestrebungen eine neue Richtung
gaben.
V
Oben: Der Führer der algerischen
Islamischen Heilsfront, Abassi
Madani (links) 1997 auf dem Weg
zur Moschee. Seine Gruppierung verlor ihren Einfluss an Dschihadisten.
dpa/Picture Alliance
Unten: US-Präsident George W. Bush
2008 mit seinem ägyptischen Amtskollegen Hosni Mubarak, der vom
„Krieg gegen den Terror“profitierte.
afp/Getty Images
erklärt den Widerspruch, dass die Antiterror-Apparate immer weiter aufgebläht wurden, während zugleich die terroristische Bedrohung, die diese Apparate bekämpfen sollten, ständig wuchs. Tatsächlich
machen diese beiden in einen blutigen Kampf verstrickten Kräfte bereitwillig gemeinsame Sache,
wenn es darum geht, den gemeinsamen Feind zu unterdrücken: die demokratische Protestbewegung.
Die derzeitige Krise muss im Rahmen von drei
langfristigen historischen Prozessen gesehen werden. Da ist zunächst die mehr als zwei Jahrhunderte
dauernde Nahda, die „Renaissance“ und das Erwachen der Völker Arabiens, die 1798 mit Napoleons
or diesem Hintergrund zeigt sich: Die Krise,
die derzeit die arabische Welt erschüttert, ist
von revolutionärer Art. Sie ist darin begründet,
dass Regime, die gewaltsam die Früchte des Kampfs
gegen die Kolonialherren an sich gerissen haben, reformunwillig sind. Ich sehe darin die tragische Verlängerung dieses Kampfes der Völker um Selbstbestimmung. Diktatoren und Dschihadisten sind wild
entschlossen, der Volkssouveränität als Grundlage
politischer Legitimation keine Chance zu geben. Diese Weigerung scheint mir viel aufschlussreicher für
das Verständnis der derzeitigen Wirren als die Gegenüberstellung von Laizisten und Fundamentalisten
oder gar von Sunniten und Schiiten.
Um herauszuarbeiten, wo Diktatoren und Dschihadisten gemeinsame Sache machen, schlage ich
zwei etwas behelfsmäßige Begriffe vor: Moderne Mamelucken nenne ich die heute herrschenden Militärdiktaturen. Und als Sicherheitsmafia bezeichne ich
die Antiterror-Apparate, die sich in einen weltweiten
Kampf gegen den schwer fassbaren und damit im
Grunde unbesiegbaren „Terror“ eingliedern.
Die Mamelucken, die Ägypten und Syrien zwischen 1260 und 1516 regierten, waren ursprünglich
eine dem Herrscher ergebene Kriegertruppe aus
Sklaven. Wie sie stellen auch die modernen Mamelucken eine Kaste dar. Sie leben abgesondert vom Rest
der Bevölkerung, deren Reichtümer sie sich unter
den Nagel gerissen haben – angeblich für die Verteidigung nationaler Interessen, in Wahrheit aber für
die ihrer herrschenden Clique. Wie früher herrscht
eine ständige Spannung: Der oberste Mameluck ist
versucht, eine Dynastie zu gründen, und seinen Waffengefährten wollen dies verhindern. Der Sturz Mubaraks durch den Obersten Rat der Streitkräfte im
Februar 2011 erklärt sich durch diese Ablehnung einer Erbherrschaft oder jamlaka, für die das Syrien
der Assads heute das letzte Beispiel darstellt.
Zur Kategorie der modernen Mamelucken zähle
ich die Militärregime von Algerien, Ägypten, Syrien
und Jemen. In den drei erstgenannten Ländern hat
eine Serie von Staatsstreichen und blutigen Intrigen
in einem Ausleseprozess ähnlich der darwinistischen Evolution die schlimmsten der Despoten an
die Macht gebracht. Im Jemen hat die Einigung des
Landes unter der ungeteilten Macht von Ali Abdallah Saleh im Jahr 1990 eine lokale Variante des modernen Mamelucken begründet.
Die modernen Mamelucken geben vor, das Volk,
das laut den Verfassungen der Souverän ist, regelmä-
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ägypten welt-blicke
ßig wählen zu lassen, aber die Beteiligung ist meist
fragwürdig und die Ergebnisse sind völlig unglaubhaft. Die Parallele zwischen der Präsidentschaftswahl, die Abd al-Fattah as-Sisi im Mai 2014 in Ägypten mit offiziell 97 Prozent der Stimmen gewonnen
haben will, und den 89 Prozent Zustimmung zu Baschar al-Assad im darauffolgenden Monat ist hier
sehr aufschlussreich.
Was die Sicherheitsmafia angeht: Sie führt einen
Krieg gegen das eigene Volk, den gegen ausländische Gegner zu führen sie nicht in der Lage ist, und
lebt geradezu von der terroristischen Bedrohung,
die sie zu bekämpfen vorgibt. Der von George W.
Bush ausgerufene „globale Krieg gegen den Terror“
hat das Phänomen noch verstärkt. Für die moder-
Pakistan gefasst und dann insgeheim an Damaskus
ausgeliefert, weil man ihn nicht nach Guantánamo
bringen wollte.
Auf die Spitze getrieben hat das skrupellose Doppelspiel der Sicherheitsmafia Ali Abdullah Saleh im
Jemen. Nach den Attentaten vom 11. September 2001
bekannte sich auch sein Regime zum „globalen Krieg
gegen den Terror“. In der Folge konnte al-Quaida auf
der arabischen Halbinsel erstarken, während zugleich eine von einem Sohn und einem Neffen des
Staatschefs geführte Elitetruppe gebildet und von
den USA mit Waffen, Ausbildung und Geld versorgt
wurde. Diese angeblichen Antiterror-Einheiten waren in erster Linie eine Art Garde zum Schutz des
Despoten.
Mit einem
Militärputsch
ist Ägyptens
gewählter
Präsident
Mohammed
Mursi im Juli
2013 aus dem
Amt gejagt worden. In Kairo
stehen sich ein
Soldat der Republikanischen
Garde und ein
Mitglied der
Muslimbrüder
gegenüber.
Asmaa Waguih/
Reuters
nen Mamelucken hat sich dieser Krieg als wahrer
Glücksfall erwiesen: Den algerischen Militärs verschaffte er die Rehabilitation auf der internationalen Bühne, Mubarak konnte Ägypten zum Teilhaber
am Netz der geheimen Folterzentren für „Terroristen“ machen. Und Assad Junior unterstützte in einem bravourösen Doppelspiel die Dschihadisten im
Irak und kooperierte zugleich in Sicherheitsfragen
mit den USA gegen dieselben Extremisten. Abu
Musab al-Suri, ein geistiger Wegbereiter und Propagandist von al-Qaida, wurde 2005 von der CIA in
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D
er Horror, in dem heute die arabische Welt
versinkt, hatte seinen Vorläufer in den 1990er
Jahren, dem schwarzen Jahrzehnt, in Algerien.
Die „Entscheider“, wie man dort den undurchsichtigen Zirkel der militärischen Machthaber nennt, setzten im Januar 1992 Präsident Chadli Bendjedid ab.
Sie warfen ihm vor, dass er bereit war, mit einer islamistischen Parlamentsmehrheit und einer von dieser gebildeten Regierung zusammenzuarbeiten.
Dieser Staatsstreich brach den Wahlprozess ab,
nachdem die Islamische Heilsfront (FIS) aus dem ers-
41
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welt-blicke ägypten
ten Wahlgang als klare Siegerin hervorgegangen war.
Er war der Auftakt eines Bürgerkriegs von unerhörter
Grausamkeit, in dem die gesetzestreue FIS bald die
Rolle als Führer des islamistischen Lagers an die
dschihadistischen Kommandos der Groupe Islamique Armé (GIA) verlor. Laut offiziellen Zahlen verloren 150.000 Menschen ihr Leben, Tausende verschwanden spurlos. Dennoch gelang es den algerischen „Entscheidern“ nie, die dschihadistische Bedrohung auszurotten. Sie machten aber jede Chance
auf eine einigermaßen harmonische Integration des
Islamismus in das politische Kräftespiel zunichte.
Diktatoren und Dschihadisten
sind gleichermaßen wild entschlossen, der
Volkssouveränität keine Chance zu geben.
Genau dieselbe Linie verfolgte General Abd alFattah as-Sisi nach seinem Staatsstreich im Juli 2013
gegen Mohammed Mursi, den ersten demokratisch
gewählten Präsidenten in der Geschichte Ägyptens.
Mehr als tausend Anhänger der Muslimbruderschaft
wurden getötet, als im Monat darauf Kundgebungen
für den gestürzten Präsidenten unterdrückt wurden.
Doch dieses Blutbad, wie es Kairo seit dem ÄgyptenFeldzug Napoleons nicht mehr in einem solchen
Ausmaß erlebt hatte, verbesserte nicht etwa die Sicherheitslage, sondern ließ im Gegenteil den islamistischen Terror eskalieren.
W
Jean-Pierre Filiu
ist Professor für Zeitgeschichte des
Nahen Ostens an der Paris School of
International Affairs der Universität
Sciences Po. Zusammen mit dem
Zeichner David B. hat er die Graphic
Novel „Die Besten Feinde. Eine
Geschichte der Beziehungen der
Vereinigten Staaten mit dem Nahen
Osten“ (avant-verlag) verfasst.
ie die ägyptischen Mamelucken im Jahr
2013 haben die algerischen 1992 im Namen
des Kampfs gegen den Terrorismus direkt
Öl in dessen Feuer gegossen: durch die brutale Unterdrückung der islamistischen Partei mit der größten
Anhängerschaft. Der darauf folgende „Restterrorismus“, an den sich Algerien schließlich gewöhnt hat,
wirkte weit über die Landesgrenzen hinaus. Er trug
zur Instabilität im benachbarten Tunesien bei (vor
allem im Dschebel Chambi) und brachte dann den
dschihadistischen Schrecken in den Norden Malis.
Vergleichbar damit ist jetzt: Die eine halbe Million Soldaten starke ägyptische Armee kann nicht mit
tausend Dschihadisten im Norden der Halbinsel Sinai fertig werden. Das hat dazu geführt, dass deren
Hauptorganisation Ansar Bait al-Maqdis (ABM) sich
zur Provinz Sinai des Islamischen Staats erklärt und
dem von Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufenen „Kalifat“ angeschlossen hat. Die Verbindungen, die ABM
zu dschihadistischen Zellen im Gazastreifen entwickelt hat, könnten angesichts der Ohnmacht der
ägyptischen Armee Israel zum Eingreifen veranlassen. Die Folgen einer solchen Flucht nach vorn wären kaum einzuschätzen. Doch bereits jetzt verlässt
sich das ägyptische Militär bei Einsätzen gegen die
Dschihadisten auf der Halbinsel Sinai weitgehend
auf israelische Aufklärung.
Man sieht: Der Kampf der Militärregime gegen
den Terrorismus verstärkt die dschihadistische Be-
drohung und destabilisiert die ganze Region. Besonders ausgeprägt zeigt sich das in Syrien und im Jemen. Präsident Saleh, der im Februar 2012 die Macht
im Jemen an Vizepräsident Hadi abgeben musste,
trieb in den darauf folgenden Monaten ein undurchsichtiges Spiel mit seinen Beziehungen zu al-Qaida
auf der Arabischen Halbinsel, um den Demokratisierungsprozess zu torpedieren. Dazu gehörten Angriffe auf Soldaten im Süden und Attentate mitten im
Sicherheitsapparat der Hauptstadt.
S
yriens Präsident Assad erklärte seit März 2011
sein Land immer wieder zum Opfer einer Terrorkampagne, obwohl die Proteste gegen ihn
zunächst absolut gewaltfrei verliefen. Er ließ inhaftierte Dschihadisten frei und füllte dafür die Gefängnisse mit friedlichen Oppositionellen. Auf der anderen Seite nahm die Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
erst im Mai 2015 mit Palmyra die erste vom AssadRegime gehaltene Stadt ein; bis dahin hatte sie sämtliche Territorien, die sie in Syrien eroberte, der Koalition der Revolutionäre abgenommen. Der syrische
Despot wiederum hat im Januar 2014 einen verheerenden Angriff mit so genannten Fassbomben, das
sind mit Sprengstoff und Metallschrot gefüllte Behälter, auf Wohnquartiere der Aufständischen in Aleppo
befohlen – aber erst, nachdem diese die islamistischen Terroristen aus dieser Zone vertrieben hatten.
Generell richteten die Dschihadisten im Jahr 2014
weniger als zehn Prozent ihrer Angriffe gegen das
Assad-Regime und umgekehrt. Assad und Baghdadi
verstehen sich prächtig, wenn es gilt, ihren gemeinsamen Feind zu bekämpfen: die syrische Revolution.
Tunesien scheint trotz allen verständlichen Problemen mit dem Erbe der Diktatur besser gerüstet,
um der dschihadistischen Bedrohung entgegenzutreten – nicht militärisch, sondern mit seiner demokratischen Legitimation. Das Attentat im März, dem
im tunesischen Museum Bardo 22 Menschen zum
Opfer fielen, bewirkte eine spektakuläre Mobilisierung der Bevölkerung, und das ist das sicherste Bollwerk gegen einen dschihadistischen Umsturz. Drei
Monate später versetzte das Blutbad in einem Badeort nahe Sousse mit 39 Toten, zum größten Teil Briten, dem Tourismus und damit der tunesischen
Wirtschaft einen schweren Schlag. Doch es brachte
den Demokratisierungsprozess nicht zum Stillstand.
Man stelle sich vor, wie destabilisierend sich solche
Attentate in Ägypten auswirken würden.
Man sollte aufhören, Terrorismus und Terrorismusbekämpfung als einander entgegengesetzt zu
sehen. Das verdeckt nur, in welch furchtbares Dilemma die modernen Mamelucken ihre Gesellschaften
gestürzt haben. Eingedenk des „schwarzen Jahrzehnts“ in Algerien ist dies auch gar nichts Neues. Die
Brutalität von Regimen, die bedenkenlos ihre Bevölkerung opfern, um das Überleben der herrschenden
Kaste zu sichern, findet ihre Entsprechung in der Barbarei des Islamischen Staates. Sein Schrecken wird
nicht für immer auf die arabische Welt beschränkt
bleiben. Aus dem Französischen von Thomas Wollermann.
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gesundheit welt-blicke
Kräutertrank
aus dem Kloster
Wirksam und
beliebt: Die Mittel
von Paxherbals
helfen gegen
Malaria, Typhus
und Bluthochdruck.
Text und Fotos: Sam Olukoya
Der Mönch Anselm Adodo hat in
Nigeria das Unternehmen
Paxherbals gegründet. Darin
vereint er traditionelle
Pflanzenheilkunde mit moderner
Wissenschaft. Ein durch­
schlagender Erfolg – wenn nur
die Chinesen nicht wären.
| 9-2015
D
ie wohl kühnste Initiative in der afrikanischen Heilkunde begann in
einer Holzhütte im katholischen
Sankt-Benedikt-Kloster in Ewu im nigerianischen Bundesstaat Edo. Dort hatte Bruder Anselm Adodo beobachtet, dass die
üblichen Medikamente gegen Malaria den
Mönchen und Arbeitern nicht halfen. Also
beschloss er, stattdessen pflanzliche Medizin auszugeben. „Ich bereitete ein Gebräu
mit Kräutern und es funktionierte besser
als die anderen Mittel“, erinnert er sich.
Als die Neuigkeit über das pflanzliche
Mittel aus dem Kloster in umliegenden
Städten und Dörfern die Runde machte,
schnellte die Zahl von Bruder Adodos Patienten in die Höhe. Sie nahm noch weiter zu,
als Menschen mit anderen Leiden wie Typhus und Bluthochdruck zur Behandlung
kamen. „Das hatte ich so nie geplant“, sagt
Bruder Adodo. „Später dachte ich: Wenn
das Bedürfnis so groß ist, dann muss man
es auch richtig machen.“ Das gab ihm den
Anstoß, 1996 die Paxherbals-Klinik und das
Paxherbals- Forschungslabor zu gründen.
Die traditionelle Heilkunde in Afrika
basiert laut Bruder Adodo vor allem auf
sehr alten Bräuchen in der Verwendung
von Kräutern. Paxherbals kombiniert sie
mit moderner Wissenschaft. Genau wie
frühere Generationen nutzt das Unternehmen das indigene Wissen um die heilende
Wirkung natürlicher Materialien wie Wurzeln, Baumrinde, Blütenstiele und Blätter. „Wir ernten die Pflanzen, trocknen sie,
verarbeiten sie weiter und verwandeln sie
in pflanzliche Medikamente“, sagt Bruder
Adodo. Manchmal werden sogar Abfallpro-
43
44
welt-blicke gesundheit
Die Medikamente werden unter
den gleichen Bedingungen hergestellt wie in Pharmazie-Unterneh-
Viele Patienten von Paxherbals
haben sich zuvor von traditionellen Heilern behandeln lassen. Sie
sind vom neuen Gesicht der
Pflanzenheilkunde beeindruckt.
„Die Medikamente sind sehr wirksam, sie sind sauber und ordent-
men. Labore überprüfen die Inhaltsstoffe und testen, ob die richtigen chemischen Zusätze beigemischt werden, damit die
Arzneimittel wirken. Danach werden sie mit Seriennummer, Herstellungs- und Haltbarkeitsdatum
versehen. Es gibt Kapseln, Tropfen,
Tee, Salbe, Seife, Tabletten, Öl und
Puder. „Wir haben Kräuterheilkunde studiert und wir müssen
dieses Wissen nutzen“, sagt Professor Joseph Okogun. Er ist der
wissenschaftliche Leiter bei Paxherbals und einer der führenden
Experten Nigerias für Pflanzenchemie.
wird“, sagt Aferuan Odion Francis,
der Leiter des klinischen Labors
bei Paxherbals.
Über die Behandlung von Malaria und Typhus hinaus hat sich
Paxherbals auch komplizierteren
Erkrankungen zugewandt: Herzproblemen, Diabetes, Bluthochdruck, Unfruchtbarkeit und Krebs.
Das wissenschaftliche Team hat
bereits zahlreiche Heilpflanzen
ausfindig gemacht: „Wir haben
Bestandteile in Pflanzen entdeckt,
die bei Prostata- und Brustkrebs
helfen“, sagt Professor Okogun.
Das habe schon das Leben vieler
Menschen verlängert.
lich verpackt. Die traditionellen
Heiler arbeiten oft in einem
schmutzigen Umfeld. Das ist hier
anders“, sagt Agunu Albert. Er hat
seinen traditionellen Arzt gegen
eine Behandlung in der Paxherbals-Klinik ausgewechselt.
Mehr als 1000 Händler vertreiben inzwischen die Produkte
von Paxherbals. Trotzdem ist Bruder Adodo nicht ganz zufrieden.
Die afrikanische Medizin müsse
weiter wachsen, sagt er, sie sei
noch immer zu stark in der Vergangenheit verwurzelt. Das liegt
seiner Ansicht nach auch daran,
dass die meisten Heiler ihr Wissen
Die Mischung wird
im Labor überprüft
Die richtigen Pflanzen und Kräuter
bilden die Grundlage für den Erfolg
von Paxherbals. Das Unternehmen
nutzt das indigene Wissen über
die heilende Wirkung von Wurzeln,
Rinde und Blättern.
Für Bruder Adodo beweist
Paxherbals, dass die traditionelle
Medizin in Afrika modernisiert
werden kann. Dafür sorgten die
wissenschaftlichen Methoden sowie das Aussortieren alter Praktiken. Die afrikanische Heilkunst
sei geprägt von Ritualen und Hexerei, sagt er.
Neben der Arzneimittel-Produktion betreibt Paxherbals drei
Krankenhäuser, dort verschreiben
ausgebildete Berater die pflanzlichen Medikamente. In der größten Klinik in Ewu arbeiten acht
Mönche unter der Leitung von
Bruder Adodo. Traditionelle Heiler in Nigeria und anderen afrikanischen Ländern geben ihren Patienten pflanzliche Medikamente
für gewöhnlich ohne vorherige
Tests. Die Krankenhäuser von Paxherbals werden hingegen geführt
wie schulmedizinische Einrichtungen. „Wir machen hier kein
Rätselraten, wir stellen Diagnosen.
Man muss den Zustand des Patienten kennen, bevor er behandelt
dukte wie kalziumreiche tierische
Knochen, Schneckenhäuser und
Schalen von Erdnüssen und Eiern verwendet. Auch Orangen-,
Ananas- und Yams-Schalen werden genutzt. Sie helfen bei Sichelzellenanämie, einer in Afrika
weit verbreiteten Blutkrankheit.
Traditionelle afrikanische Heiler
sind oft nicht für die Herstellung
solcher pflanzlichen Arzneimittel
ausgebildet. Paxherbals beschäftigt dafür Wissenschaftler.
Traditionelle Heiler verlieren
ihre Patienten
9-2015 |
gesundheit welt-blicke
kunde könnte man viele Probleme des afrikanischen Gesundheitswesens lösen, das vor allem
in vielen ländlichen Gegenden
schlecht ausgebaut ist. In der
Stadt Ewu hätten die Produkte
von Paxherbals und die Krankenhäuser bereits geholfen, das lokale Gesundheitssystem zu verbessern, erklärt Bürgermeister Zaiki
Rasaz Isesele. „Manche unserer ältesten Einwohner behandeln sie
sogar umsonst.“
Bruder Adodos große Sorge:
Der Nachwuchs fehlt
Bedroht wird die afrikanische
Heilpflanzen-Industrie von Produkten aus China. Mit der Handelsliberalisierung haben sie viele afrikanische Länder überflutet.
Das hat den Unternehmen vor
Ort geschadet, auch in Nigeria.
Dort wurden nahezu alle lokalen
Hersteller vom Markt verdrängt.
Manche von ihnen importieren
nun sogar die chinesischen Heilpflanzen. Paxherbals hat es trotzdem geschafft, im Geschäft zu
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Wirtschaftlicher Aufschwung: Boom
oder Trugbild? Süd-Süd-Zusammenarbeit.
Landwirtschaftliche Entwicklung
und Zusammenarbeit. Literatur und
Zeitgeschehen. Afrikanisches Kino.
Länderberichte. Demokratiebewegung.
Jährlich vier Ausgaben, Abonnement CHF 30.–
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vertiefen wir einzelne Aspekte:
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ist freier Journalist in Lagos, Nigeria.
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Aus dem Englischen von Hanna Pütz.
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bleiben. Bruder Adodo schiebt
das auf die hohen Investitionen:
Paxherbals hat in den vergangenen fünf Jahren mehr als 500.000
Dollar für Forschung und Entwicklung ausgegeben.
Viele loben Bruder Adodo dafür, dass er mit Paxherbals den
Menschen in ganz Nigeria hilft. Er
selbst sieht die Sache anders. Es
gebe noch viel zu tun, meint er.
Eine seiner größten Sorgen ist die
fehlende Infrastruktur. Sie müsse dringend verbessert werden,
damit die Pflanzenheilkunde in
Afrika eines Tages mit der chinesischen oder westeuropäischen Medizin gleichauf ist. Ein wichtiger
Schritt sei es, Ausbildungsstätten
einzurichten, in denen Studenten
einen Universitätsabschluss in
Pflanzenheilkunde machen können. Bisher gibt es solche Schulen
nicht. Eines Tages, hofft er, wird er
eine eröffnen. Eine, in der Kräuterärzte genauso ausgebildet werden wie Schulmediziner. Numm
für sich behalten. Sie teilten es
höchstens mit Familienmitgliedern. Doch so werde es sich niemals weiterentwickeln. „Viele der
guten Pflanzenheilkundler sterben, und wir verlieren die Informationen“, meint er.
Das will Bruder Adodo ändern.
Er sammelt und dokumentiert die
medizinischen Kenntnisse der
traditionellen Ärzte. So sollen sie
bewahrt und künftigen Generationen zugänglich gemacht werden.
Auf diese Weise hatte er auch das
Rezept für das Malaria-Mittel für
die Mönche und Arbeiter im
Sankt-Benedikt-Kloster gefunden.
Er habe nie die Absicht gehabt,
selbst als Pflanzenheiler zu arbeiten, sagt er. „Zufallsdoktor“ nennen ihn deshalb viele.
Doch Paxherbals aufzubauen,
sei es wert gewesen. Denn damit
habe er gezeigt: Geteiltes Wissen
führe zur Verbesserung. „Wissen
lässt sich am besten in Produkten
bewahren, nicht in einer Bibliothek“, erklärt er. Bruder Adodo ist
überzeugt: Mit der Pflanzenheil-
45
Afrika-Komitee Basel
Postfach 1072
4001 Basel
[email protected]
www.afrikakomitee.ch
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welt-blicke schweiz
„Der Regierung auf die Finger schauen“
Der Schweizer Entwicklungsfachmann Peter Niggli beklagt das Schwinden der Solidarität mit den Armen
Nach 17 Jahren an der Spitze von Alliance Sud, der Arbeitsgemeinschaft der sechs großen
Schweizer Hilfswerke, geht Peter Niggli in den Ruhestand. Der Journalist, Lokalpolitiker und
Globalisierungskritiker erzählt von politischen Kämpfen und wirft einen kritischen Blick auf
Gegenwart und Zukunft der Entwicklungshilfe.
Gespräch mit Peter Niggli
Herr Niggli, lassen Sie uns einen
Blick zurück werfen auf Ihre Anfänge bei Alliance Sud.
Im Sommer 1998 war gerade
der russische Kapitalmarkt zusammengebrochen, ein großer
amerikanischer Hedge Fonds geplatzt. Es war das Ende der asiatischen Finanzkrise. Ein heißer Moment, in dem alle Zentralbanken
nochmals viel Geld einschießen
mussten, damit es nicht zum Kollaps kam. Aus der angelsächsischen Welt kam die erste breit abgestützte Globalisierungskritik.
Ende 1999 war die Ministerkonfe-
„Die Schweiz hat den Vorteil,
ein politisch und militärisch machtloser
Kleinstaat zu sein.“
renz der Welthandelsorganisation
WTO in Seattle, bei der der Westen
seine zweite Liberalisierungswelle
durchsetzen wollte. Meine erste
Aufgabe war es, unsere Position
und unser Engagement zu definieren.
War Alliance Sud dafür gerüstet?
Die Verhandlungen in der
WTO zwan­­gen uns zu überlegen,
wie wir die Globalisierung analysieren und verstehen wollten und
wie wir uns politisch einmischen
könnten. Wir mussten herausfinden, wer unser politischer Gegner
war. Das verlängerte Sprachrohr
der Regierung zu sein, kam nicht
in Frage. Dieser interne Prozess
schärfte das Profil von Alliance
Sud. Wir sahen klarer, wofür wir
stehen, was die Widersprüche
und welches die Konfliktlinien
sind, die wir bearbeiten wollen.
Welche Erfolge sind Ihnen wichtig?
Wir haben Ende der 1990er
Jahre dazu beigetragen die Beitrittsinitiative der Schweiz zu den
Vereinten Nationen zu retten. Sie
wäre beinahe an zu wenigen Unterschriften gescheitert. Dann kamen die Millenniumsentwicklungsziele und in Ziel acht die Erhöhung der Mittel für die Entwicklungshilfe. Die „Weltwoche“
und die „Neue Zürcher Zeitung“
wetterten kampagnenartig dagegen, behaupteten, das Geld verpuffe, fließe in die falschen Taschen und hemme die Entwicklung. Wir konzipierten in diesem
Klima die 0,7-Prozent-Kampagne.
Sie mündete im Kompromiss,
dass die Schweiz 0,5 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für
die Entwicklungshilfe zur Verfügung stellt. Der Bund erhöhte das
Budget der realen Entwicklungshilfe nach und nach. Dieses Jahr
erreichen wir das Ziel dank der
Krise voraussichtlich.
Gleichzeitig sind die Mittel für Entwicklungshilfe stark unter Druck.
Ja. Wir haben etwas gewonnen.
Und wenn man etwas gewinnt, arbeiten die Verlierer unermüdlich
daran, ihre Niederlage rückgängig
zu machen. Laut den Richtlinien
der OECD darf bei der öffentlichen Entwicklungshilfe vieles
mitgezählt werden, das damit eigentlich gar nichts zu tun hat. Bei
uns sind das Kosten für die Flüchtlinge, was 15 bis 20 Prozent ausmacht. Der Bundesrat bedient
sich seit 2015 für die immer höheren Asylkosten aus der Entwicklungshilfe. Das Bundesamt für
Umwelt will die internationalen
Klimaverpflichtungen aus dem
Budget der staatlichen Entwicklungsagenturen finanzieren. Es
geht hier – allein für die Schweiz –
um 400 Millionen bis 1,4 Milliarden Franken im Jahr, je nach Finanzierungsschlüssel. Da kommen große Streitereien auf uns zu.
Die Klimafinanzierung ist richtig,
aber man kann nicht Entwicklungshilfe durch Klimaschutz ersetzen. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist auch richtig. Dass dies
aber als Entwicklungshilfe gilt, ist
ein fauler Beschluss der OECD.
Täuscht der Eindruck oder kommt
auch die Solidarität mit den Ärmsten unter Druck?
Den größten Druck auf die Solidarität machen die westlichen
Regierungen selbst. Wenn man
beginnt, den Sozialstaat zu beschneiden und abzubauen, dann
verschwindet das Verständnis der
Menschen dafür, dass man noch
9-2015 |
Daniel Rihs/Alliance Sud
schweiz welt-blicke
Peter Niggli verabschiedet sich in
den Ruhestand. Doch einen Fuß
behält er in der Schweizer
entwicklungspolitischen Szene.
| 9-2015
„Ich kann sehr gut leben, ohne zu arbeiten.
Zum ersten Mal, seit ich 19 war, ist die Zukunft
völlig offen. Das hat man selten im Leben.“
Geld für die Ärmsten im Ausland
bereitstellt. Zudem sprechen die
westlichen Regierungen Entwicklungsländern ihren Status ab und
reden vom afrikanischen Mittelstand. Das sind Menschen, die
zwischen zwei bis vier Dollar pro
Tag verdienen. Das vermittelt bei
uns einen völlig falschen Eindruck
davon, was Armut und Ungleichheit bedeuten. Und es senkt die
Bereitschaft, als privilegiertes reiches Land den Armen in armen
Ländern zu helfen.
Wie hat diese Auseinandersetzung
mit der Kritik Ihr Bild der Entwicklungshilfe beeinflusst?
Ich denke, dass noch immer
viel Blödsinn passieren kann. Und
es hat mir gezeigt, dass es die
wichtigste Aufgabe der Zivilgesellschaft ist, ihrer Regierung auf
die Finger zu schauen, was sie mit
ihrem Geld macht. Die Schweiz
hat den Vorteil, ein politisch und
militärisch machtloser Kleinstaat
zu sein. Wir hatten nie eine expansive Außenpolitik, wir hatten
nie Kolonien. Es konnte sich kein
Filz zwischen Kolonialverwaltung
und Schweizer Unternehmen entwickeln, der heute wegen der interessanten Ressourcen geschützt
werden müsste. Deshalb war und
ist die Autonomie relativ groß,
die Entwicklungshilfe für das einzusetzen, wofür sie gedacht ist,
also die armen Länder zu fördern.
Ist Kritik an der Entwicklungshilfe
unerwünscht?
Ich habe mich während der
0,7-Prozent-Kampagne intensiv
mit der Kritik an der Entwicklungshilfe
auseinandergesetzt,
die Tausende von universitären
Studien füllt. Ich glaube, vieles davon stimmt auch irgendwie. Nur:
Die meisten Kritiker fassen den
Platz der Entwicklungshilfe falsch
auf. Sie sehen nicht, dass sie ein
Instrument der Außenpolitik ist
und die Gelder entsprechend eingesetzt werden. Meist wurde die
Entwicklungshilfe zur Förderung
der eigenen Interessen benutzt,
seien es politische, geopolitische,
militärische oder wirtschaftliche.
Oft war und ist die Entwicklungshilfe das Schmiergeld für die Willigkeit der unterstützten Staaten.
Was braucht es, damit die Welt
besser wird?
Die geplanten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen
geben fast alle Antworten auf die
anstehenden Probleme, auch
wenn sie oft vage formuliert sind.
Es bräuchte ein neues Handelsregime, die WTO-Verträge müssten
revidiert werden. Man muss weg
kommen vom Geflecht der biund multilateralen Freihandelsverträge und es braucht eine starke Korrektur zugunsten der Entwicklungsländer. Was man machen müsste, wissen und
debattieren wir seit Jahren. Wir
kommen aber nicht vorwärts,
weil diejenigen, die davon profitieren, es nicht wollen. Gleiches
gilt bei den Finanzmärkten und
beim Klimaschutz.
Was war der Antrieb für Ihr En­
gagement?
Seit 1968 wollte ich begreifen,
wie die Welt läuft. Je älter ich wurde, desto mehr merkte ich, wie
wenig ich weiß. Die 17 Jahre bei
Alliance Sud waren ein Schub
nach vorne. Ich durfte mich professionell damit beschäftigen.
Das ist eine große Freude, denn
die Welt ist unerschöpflich. Am
befriedigendsten war, wenn ich
aufgrund unseres Wissens strategisch und politisch planen konnte. Ich kann nicht sagen, dass wir
unglaublichen Erfolg hatten. Aber
wir hatten ab und zu ein Erfölgli,
ein kleineres oder ein größeres.
Hinzu kommt, dass Alliance Sud
eine erfreuliche politische Gruppe ist. Wir konnten einen Stil von
Zusammenarbeit, von politischer
Arbeit entwickeln, der befriedigend ist. Und wenn man so etwas
inspirieren, anleiten und vorwärts bringen kann, macht das
Freude, und nicht müde.
Was wird man künftig von Peter
Niggli hören?
Seit zwei Jahren werde ich
nach meinen Projekten nach der
Pensionierung gefragt. Ich suche
keine Projekte. Ich kann sehr gut
sein, ohne zu arbeiten. Ich will
meine Freundschaften pflegen,
lesen, wieder in Zürich leben. Ich
werde bei den Hilfswerken Fastenopfer und Helvetas im Vorstand sein und so in der Szene einen Fuß drin haben. Aber zum
ersten Mal, seit ich 19 war, ist die
Zukunft völlig offen. Das hat man
selten im Leben.
Das Gespräch führten Rebecca Vermot
und Theodora Peter.
47
48
journal
kinderrechte
„Eine Schule der Kriminalität“
Der Verein Kinderrechte Afrika kümmert sich um Kinder im Gefängnis
Hälfte der inhaftierten Kinder unschuldig. Viele waren noch nicht
einmal strafmündig. In Kamerun
sitzt heute dort, wo unsere Partner arbeiten, kein Kind unter 14
Jahren mehr im Gefängnis.
In den 20 Jahren seines Bestehens
hat der Verein gemeinsam mit seinen Partnern rund 26.000 inhaftierte Mädchen und Jungen in acht
afrikanischen Ländern unterstützt.
Der Vorsitzende Horst Buchmann
erzählt, wo die größten Hürden liegen.
Herr Buchmann, welcher Ihrer Gefängnisbesuche hat Sie besonders
beeindruckt?
Die Mutter-Teresa-Schwestern
haben mich 1995 in das Gefängnis
von Conakry in Guinea mitgenommen. Viele Häftlinge im hinteren Trakt sahen aus wie uralte
Greise – ohne Haare, ohne Zähne,
eine faltige schlaffe Haut. Ich fragte einen, wie alt er sei, und er sagte
16. Ich habe dann versucht, seine
Familie im Senegal zu kontaktieren, doch als ich am nächsten Tag
wieder kam, war er tot. Das hat
mich sehr bewegt und war der Anstoß für unser Engagement in
Guinea.
Warum werden die Kinder inhaftiert?
Horst Buchmann ist Vorsitzender
des Vereins Kinderrechte Afrika.
Privat
Das sind oft eher Lappalien.
Kleine Diebstähle wie Mangos,
Zigaretten, ein Huhn, in jüngster
Zeit zunehmend Handys. Dann
sind es Veruntreuungen, anvertrautes Geld oder Waren wurden
nicht zurückgegeben, sowie Streit
mit Körperverletzung. Mädchen
werden vor allem in muslimischen Ländern wegen Abtreibung
eingesperrt. Zu Beginn unserer
Arbeit war schätzungsweise die
Ein Junge
wird aus einer
Haftzelle einer
Polizeistation in
Abidjan in der
Elfenbeinküste
entlassen.
Jacky Naegelen/
Kinderrechte
Afrika e. V.
Wie leben die Kinder im Gefängnis?
Als wir mit unserer Arbeit im
Senegal, in Mali, der Elfenbeinküste und in Zaire begonnen haben, waren Gefängnisse so etwas
wie geschlossene Welten, geprägt
von Elend, Gewalt, Terror. Sie
waren eine Schule der Kriminalität. Die Kinder waren zum Teil
mehrere Jahre inhaftiert, ohne je
einem Richter vorgeführt zu werden. Akten existierten nicht oder
waren nicht auffindbar. Die Gefängnisse waren völlig überfüllt,
die hygienischen Bedingungen
katastrophal. Nur in einer einzigen Haftanstalt waren Kinder von
Erwachsenen getrennt. Inzwischen sind sie in den meisten Gefängnissen, in denen wir uns engagieren, getrennt untergebracht.
Wie helfen Sie sonst?
Wir versuchen, menschenwürdige Haftbedingungen herzustellen, mit Hilfe von Sanitär- und
Hygienemaßnahmen, Schlafmatten, Gesundheitsfürsorge, Beschäftigungstherapie und Alphabetisierungsprogrammen.
Die
Kinder erhalten einen Rechtsbeistand und oft finden wir Haftalternativen für sie.
Was wäre eine Haftalternative?
Unsere Partner arbeiten eng
mit Polizeistationen zusammen.
Manchmal kann eine Haftstrafe
durch einen Täter-Opfer-Ausgleich verhindert werden, wenn es
gelingt, die Eltern mit ins Boot holen, um den Schaden wiedergutzumachen. Wir haben schnell gelernt, dass wir auch präventiv arbeiten müssen.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit
staatlichen Kräften?
Die Grundlage sind Abkommen mit den Justizministerien.
Man darf den Staat nicht wegen
Kinderrechtsverletzungen auf die
Anklagebank setzen, sonst schließen sich die Gefängnistore und
wir kommen nicht mehr an die
Kinder ran. Mit unseren Partnern
haben wir etwa im Kongo, in der
Elfenbeinküste, in Mali und Kamerun sämtliche nationalen Gesetze und internationale Rechtsnormen zusammengetragen, die
für die Jugendstrafgerichtsbarkeit
wichtig sind. Gemeinsam mit einheimischen Juristen haben wir sie
analysiert und Empfehlungen für
einen besseren Schutz von Kinderrechten ausgesprochen. Sie
wurden mit Zustimmung der zuständigen Ministerien veröffentlicht und landesweit an staatliche
Institutionen und an Kinderrechtsaktivisten verteilt. Als Ergebnis sind in Mali, Togo und im
Kongo auch Gesetzesänderungen
für einen wirksameren Kinderschutz verabschiedet worden. Ein
Hauptproblem ist aber, dass die
Gesetze meist nur unzureichend
angewendet werden.
An welche Grenzen stoßen Sie?
Manchmal geraten wir in ein
Dilemma zwischen dem Kindeswohl und dem Prinzip, dass wir
den Staat nicht aus seiner Verantwortung gegenüber den minderjährigen Häftlingen entlassen
dürfen. Wir haben erlebt, dass
Kinder bei einem Gefängnisbesuch am Freitagnachmittag klagten, sie bekämen seit zwei Tagen
nichts zu essen. Der Staat hatte die
Rechnungen an den Lieferanten
der Grundnahrungsmittel nicht
bezahlt. Man weiß genau, dass
man die Gefängnisverwaltung
und vor allem die Entscheider im
Justizministerium am Wochenende nicht erreicht und erst am
Montag wieder gearbeitet wird.
Inzwischen müssten die Kinder
weiter hungern. Also organisierten unsere Partner Notrationen.
9-2015 |
journal
Arbeiten Sie auch mit einzelnen Sicherheitskräften?
Wir schulen Richter, Staatsanwälte, Gefängnispersonal und die
Polizei. Das läuft sehr gut, aber es
gibt auch Vorbehalte. Einige Polizisten haben noch Diktaturen
erlebt. Sie wurden während ih-
rer Ausbildung schwer geschleift
und sind selbst Opfer von Gewalt.
Sie kennen nur Repression, die
Schutzfunktion der Polizei ist ihnen wenig vertraut. Aber es hilft
sehr, sie zur Weiterbildung einzuladen, sie ernst zu nehmen, ihre
Probleme anzuhören.
Welche Rolle spielen die Eltern?
Gerade in muslimischen Ländern ist es für die Eltern eine große Schande, wenn ihr Kind im Gefängnis sitzt. Oft besuchen sie es
dann nicht einmal. Außerdem ist
es leider vielen Eltern fast egal,
was mit ihrem Kind passiert. Sie
sagen, dem geschieht es recht,
und wir haben einen Esser weniger. Sie übernehmen keine Verantwortung. Das ist eines der
größten Probleme, mit dem unsere Partner und die Justiz kämpfen.
Das Gespräch führte
Gesine Kauffmann.
Nothilfe
Das Schlimmste verhindern
Frühwarnsysteme werden in der humanitären Hilfe immer wichtiger
Wirbelstürme, Dürren und Überschwemmungen: Die Folgen des
Klimawandels sind oft verheerend.
Das Deutsche Rote Kreuz testet
nun ein neues System der Katastrophenvorsorge.
on zu erhalten. Spenden flössen
in der Regel erst nach einer Überschwemmung oder einem Wirbelsturm. Und bei den Behörden sei
die Angst vor finanziellen Verlusten im Fall eines Fehlalarms groß.
Myanmar wurde Anfang August
von den stärksten Überschwemmungen der vergangenen Jahrzehnte heimgesucht – akute Katastrophenhilfe war gefragt. „Bisher
findet humanitäre Hilfe leider allzu oft erst nach dem Eintreten einer Katastrophe statt. Dabei wissen wir oft schon voher, in welchen Gebieten ein Unwetter
droht“, sagt Thorsten Klose vom
Deutschen Roten Kreuz (DRK).
Deshalb testet das Hilfswerk mit
Fördermitteln aus dem Auswärtigen Amt in den nächsten zwei Jahren ein neues Frühwarnsystem.
Das Pilotprojekt zielt darauf
ab, die Nothilfe besser mit meteorologischen Vorhersagen zu
verzahnen. Die sind mittlerweile
ziemlich zuverlässig: Klimaforscher und Wetterexperten können
die Wahrscheinlichkeit von Dürren bis zu sechs Monate im Voraus
bestimmen, auch Überschwemmungen könnten oft schon Tage
vorher erkannt werden. Doch oft
können die Menschen in gefährdeten Gebieten die Wetterdaten
nicht deuten. Und die Behörden
sind nicht darauf vorbereitet, angemessen zu reagieren. Noch tauschen sich Wissenschaftler zu wenig mit Hilfsorganisationen aus.
Die Warnungen der Meteorologen
laufen ins Leere. Laut DRK-Mann
Klose ist es zudem schwierig, Mittel für die Katastrophenpräventi-
Bei zu viel Regen wird das
Saatgut weggepackt
| 9-2015
In Peru, Bangladesch und Mosambik ermitteln die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften gemeinsam mit regionalen Wetterexperten Frühwarnindikatoren. Überschreitet etwa die
Menge der Niederschläge im Süden Mosambiks einen bestimmten Wert, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Limpopo-Fluss über
die Ufer tritt. Dann werden vorher
vereinbarte Abläufe ausgelöst:
Flutkanäle werden gereinigt, das
Saatgut wird in Plastiksäcken gesichert. Im Ernstfall können einzelne Regionen frühzeitig evakuiert
werden. Die nationalen Rotkreuzgesellschaften legen die Abläufe
gemeinsam mit den Katastrophenschutzbehörden vor Ort fest
und sorgen dafür, dass sie eingehalten werden. So sei garantiert,
dass eine bessere Vorbereitung
auf Katastrophen nicht an den
regionalen Strukturen vorbei organisiert wird, betont Klose.
In den drei Ländern des Pilotprojektes bestehen bereits Frühwarnsysteme auf nationaler Ebene. In Bangladesch etwa warnt
das staatliche Katastrophenamt
die Bevölkerung via SMS vor
Überschwemmungen. Ähnliche
Maßnahmen haben auch internationale Hilfsorganisationen ins
Leben gerufen. Peter Rottach von
der Diakonie Katastrophenhilfe
weist auf die Schwächen solcher
Systeme hin. „Wenn zu oft Alarm
ausgelöst wird, ohne dass etwas
passiert, reagieren die Menschen
nicht mehr“, sagt er. Selbst ein
technisch einwandfreies Frühwarnsystem reiche nicht aus. Das
wichtigste sei, Menschen in gefährdeten Regionen regelmäßig
zu schulen. Das DRK ist nicht die
einzige Hilfsorganisation, die sich
mit neuen Methoden zur Katastrophenprävention befasst. Aus
Myanmar berichtet Johannes Kaltenbach von Malteser International: „Unsere Frühwarnung hat
funktioniert.“ Die von der Organisation geschulten Katastrophenvorsorgeteams seien gut vorbereitet gewesen und konnten per
Handy mitteilen, welche Hilfe
noch fehlt.
Moritz Elliesen/Hanna Pütz
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journal studien
studien
Teuer und riskant
Mischfinanzierung ist das Zauberwort für mehr Geld für öffentliche Aufgaben im globalen Süden. Doch öffentlich-private Partnerschaften sind oft zweifelhaft,
findet eine neue Studie von Eurodad, dem Netzwerk europäischer
Entwicklungsorganisationen mit
Schwerpunkt auf Finanzfragen.
Die weltweiten Investitionen in
solche Partnerschaften (Public
Private Partnerships, PPP) im Entwicklungsbereich sind zwischen
2004 und 2012 um das Sechsfache auf rund 122 Milliarden Euro
gestiegen. Die Europäische Union
und ihre Investitionsbank gehören zu den eifrigsten Befürwortern.
Laut Eurodad ist die Bilanz
von PPP im Blick auf rein ökonomische Gesichtspunkte bestenfalls gemischt. Vorhaben in der
Wasser- und Energieversorgung
schneiden besonders schlecht ab,
während bei der Telekommunikation auch gute Ergebnisse zu ver-
zeichnen sind. Fest steht laut der
Studie: PPP sind teurer als rein
staatlich finanzierte Vorhaben.
Denn wenn private Anleger einbezogen sind, muss eine Rendite
herausspringen. Aufgrund der Finanzkonstruktion sind zudem so
gut wie immer Beratungsbüros
oder Audit-Unternehmen mit
horrenden Honoraren beteiligt.
Bringt das Projekt nicht genügend ein oder macht es sogar Verlust, dann ist die öffentliche Hand
in der Pflicht.
Grotesk sind die meist nicht
vorab klargelegten und berechneten Folgekosten für öffentliche
Haushalte. Sogar in einem EULand wie Portugal übertreffen die
Unterhalts- und Finanzkosten für
zwei Stücke PPP-finanzierter Autobahn mit 800 Millionen Euro
den gesamten Haushalt des Verkehrsministeriums von 700 Millionen Euro, heißt es in der Studie.
Wenn sie einen Vertrag für ein
PPP-Projekt einmal geschlossen
hat, befindet sich die öffentliche
Hand in einer Zwangslage: Gibt es
Probleme in der Durchführung,
sind Nachverhandlungen fällig,
in denen sie allemal zahlen muss
– wie Peru für die „Inter-OzeanRoute“, die statt den ursprünglich
veranschlagten 800 Millionen
US-Dollar schließlich mehr als
das Doppelte kostete.
Schlecht bewertet werden PPP
bei der Beteiligung von Bewohnern von Projektgebieten. Mindeststandards werden nicht eingehalten, Informationen vorenthalten. Die Beteiligung privater
Anleger an einem PPP-Projekt
schafft hier ein systematisches
Problem, weil damit bedeutsame
Details als Geschäftsgeheimnis
behandelt werden können. Dass
es anders geht, zeigt ein peruanisches PPP-Vorhaben, für das mit
offener Aufklärung breite Anerkennung erreicht wurde.
Auch Instanzen wie die Weltbank oder die EU-Kommission
darf an Investitionen in öffentliche Dienste schon weniger groß,
schreibt sie in einem Diskussionspapier.
Darüber hinaus kritisiert sie
irreführende Vergleiche: Man
könne nicht einfach grobe Schätzungen von Steuerverlusten der
tatsächlich gezahlten Entwicklungshilfe oder errechneten Lücken in der Finanzierung von Gesundheitssystemen gegenüberstellen. Es sei unwahrscheinlich,
dass oft zitierte Aussagen wie
„Entwicklungsländer
verlieren
drei Mal so viel Geld an Steueroasen wie sie an Entwicklungshilfe
bekommen“ der Wirklichkeit
standhalten könnten.
Regierungen armer Länder sei
es nur begrenzt möglich, zusätzliches Geld aus der Besteuerung
multinationaler Konzerne zu erhalten. Das hänge zum einen von
der Höhe der Profite ab, der durch
ausländische Investitionen erzielt
wird, erklärt Forstater. Zum anderen könnten Unternehmen als
Folge einer effektiveren Besteuerung ihre Investitionspolitik ändern – und so die möglichen Steuereinnahmen verringern. Eine
nationale Steuerstrategie dürfe
deshalb nicht nur auf die Unternehmenssteuern bauen, warnt
Forstater.
Die „großen Zahlen“ im Zusammenhang mit Steuervermeidung hätten zwar klar gemacht,
wie wichtig einheimische Ressourcen für Entwicklungsfinanzierung sind und dass die internationale Zusammenarbeit in Steuerfragen gestärkt werden müsse,
betont die Wissenschaftlerin. Die
Berechnungen seien aber oft unvollständig und vernachlässigten
unbeabsichtigte Folgen von Steuerreformen. Nötig seien solide Daten und eine objektive Debatte,
um daraus passende politische
Strategien abzuleiten.
(gka)
verweisen in ihrer eigenen Expertise auf Nachteile von PPP-Projekten. Warum dringen sie trotzdem
darauf, sie zu nutzen? Auch dazu
liefert die Studie Denkanstöße
und Erklärungsansätze. (hc)
María José Romero
What lies beneath?
A critical assessment of PPPs and their
impact on sustainable development
Eurodad, Brüssel, Juli 2015, 36 Seiten
www.eurodad.org/whatliesbeneath
Irreführende Vergleiche
Nach der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba
war bei vielen armen Ländern
und Vertretern der Zivilgesellschaft die Enttäuschung groß,
dass das heiße Eisen der Steuervermeidung multinationaler Konzerne nicht in ihrem Sinne aufgegriffen wurde. Denn damit gehen
Entwicklungs- und Schwellenländern laut Schätzungen der UNKonferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) jährlich zwischen 100 und 200 Milliarden
US-Dollar verloren. Geld, das dringend für Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur
benötigt wird.
Maya Forstater vom Center for
Global Development warnt jedoch vor Missverständnissen und
überzogenen Erwartungen. Es
gehe zwar um eine bedeutende
Summe – wenn man sie jedoch
auf die einzelnen Länder umrechne, sei sie im Vergleich zum Be-
Maya Forstater
Can stopping ‘tax dodging’ by
multinational enterprises close the
gap in finance for development?
What do the big numbers really mean?
Center for Global Development,
Washington D.C., July 2015, 41 Seiten,
www.cgdev.org
9-2015 |
studien | berlin journal
berlin
Aufwind in der Nische
Forum Fairer Handel: Unternehmen für Menschenrechtsverstöße in die Pflicht nehmen
Der Handel mit fair produzierten
Waren boomt. Um mehr Bauern
und Herstellern im globalen Süden
ein gerechtes Auskommen zu sichern, sehen Aktivisten aber die
Politik am Zug.
Bekommt einen fairen Preis für
seine Ware: Zuckerrohrproduzent
von der Kooperative Nakalang auf
den Philippinen.
Mehr als eine Milliarde Euro haben deutsche Verbraucher im vergangenen Jahr für fair gehandelte
Produkte ausgegeben, ein Drittel
mehr als im Jahr zuvor. Innerhalb
von drei Jahren habe sich der Umsatz verdoppelt, gab das Forum
Fairer Handel Anfang August auf
seiner Jahrespressekonferenz bekannt. Besonders beliebt seien
Kaffee, Südfrüchte, Blumen und
Textilien. Trotz der befürchteten
Preissteigerungen aufgrund der
Euro-Schwäche gegenüber dem
US-Dollar erwartet das Forum
auch 2015 ein ungebrochenes
Wachstum.
Allerdings gäben die Deutschen durchschnittlich pro Kopf
bislang nur 13 Euro im Jahr für faire Waren aus, so das Netzwerk des
Fairen Handels in Deutschland.
Spitzenreiter ist die Schweiz mit
57 Euro, gefolgt von Großbritannien mit 33 Euro. Es gebe also noch
viel Luft nach oben, sagte Armin
Massing, politischer Referent des
Forums.
schreiben, und Großbritannien
habe die Berichtspflichten verschärft, erklärte Sarah Lincoln
von Brot für die Welt. Vorschläge
der EU für striktere Vorgaben
würden vor allem von Deutschland verwässert.
Solange Unternehmen nicht
für Menschenrechtsverstöße oder
Umweltschäden im Ausland zur
Rechenschaft gezogen werden,
würden weiter große Mengen der
in Supermärkten angebotenen
Waren unter katastrophalen Bedingungen produziert, lautet das
Fazit des Forums Fairer Handel.
Dazu trügen auch große Supermarkt- und Discountketten bei,
die ihren Preiskampf auf dem Rücken kleiner Bauern und Hersteller austragen. Marina Zapf
Freiwillige Regelungen
reichen nicht aus
„Für gerechtere Wirtschafts- und
Handelsstrukturen reichen individuelle Konsumentscheidungen
und freiwillige Unternehmensinitiativen alleine nicht aus“, betonte
Massing. Deshalb fordert das
Netzwerk eine Veränderung der
politischen Rahmenbedingungen.
Konkret solle die Bundesregierung in ihrem für Mai 2016 geplanten Aktionsplan „Wirtschaft
und Menschenrechte“ Unternehmen für Menschenrechtsverstöße
entlang ihrer Lieferketten in die
Pflicht nehmen.
Obwohl sich zeige, dass Freiwilligkeit nicht funktioniere, sei
| 9-2015
Nusch/GEPA/The Fair Trade company
dies der von der Wirtschaft bevorzugte Weg, so Massing. Daran
hätten auch Lippenbekenntnisse
bei den jüngsten Beschlüssen der
sieben führenden Industrienationen (G7) nichts geändert. Dabei
wüssten Firmen im Allgemeinen
Bescheid über die Abläufe in ihren Lieferketten und wären in
der Lage, entsprechende Verträge
durchzusetzen.
Ausgehend von den Prinzipien der Vereinten Nationen für
Menschenrechte und Unternehmensverantwortung in Entwicklungsländern erwartet die Europäische Union (EU) von ihren Mitgliedstaaten derzeit, diese Grundsätze
in
nationale
Pläne
umzusetzen. Frankreich sei dabei,
gesetzliche Sorgfaltspflichten für
größere Unternehmen festzu-
BERLIN
Trostpflaster für arme Länder
Steuerinitiative soll Staatseinnahmen steigern
Die Bundesregierung hat bei der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba mit den USA und europäischen Partnern eine Steuerinitiative gestartet. Sie soll
Entwicklungsländern helfen, ihre Einnahmen zu erhöhen.
Das reiche nicht aus, mahnen Kritiker.
Mit der Initiative sollen die Steuer- und Zollsysteme so
modernisiert werden, dass die niedrige Steuerquote in
armen Ländern gesteigert wird. Entwicklungsminister
Gerd Müller hatte in Addis deren Eigenverantwortung in
den Vordergrund gerückt. Zwar seien auch internationale Transparenzstandards erforderlich, um Steuertricks
großer Konzerne und damit verursachte Milliardenverluste zu unterbinden, sagte er. Zunächst müssten aber
die Steuersysteme im Süden verbessert werden.
Dafür wollen die beteiligten Länder bis 2020 ihre Beratungsleistungen für eine effizientere Haushaltspla-
nung und die Eintreibung von
Steuern verdoppeln. Die Strukturen sind oft undurchsichtig und
für Bürger nicht nachvollziehbar
– etwa beim Umgang mit Erlösen
aus Rohstoffvorkommen. Regeln
für öffentliche Rechenschaftslegung fehlen, eine Kontrolle wird
somit erschwert. „Wer Steuersysteme fördert, stärkt zugleich die
Demokratie“, sagte Staatssekretär
Friedrich Kitschelt.
Nach Ansicht von Hilfsorganisationen darf die Initiative aber
nicht überdecken, dass die Industriestaaten sich der eigenen Verantwortung entziehen: Nämlich
51
52
journal berlin | brüssel
globale Finanzflüsse zwischen Teilen großer Unternehmen transparent zu machen, damit Entwicklungsländer den Steuerhebel
überhaupt erst ansetzen können.
Denn eine zwischenstaatliche UNKommission für die globale Kooperation in Steuerfragen haben
die Mitglieder der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in
Addis geschlossen verhindert.
Die Entwicklungsländer säßen
weiter am Katzentisch politischer
Entscheidungen in der OECD und
verlören jährlich Milliarden USDollar durch Steuerflucht und
-vermeidung, kritisiert das katholische Hilfswerk Misereor. Oxfam
unterstreicht, dass die Einnahmen in armen Ländern steigen
müssten. Aber: „Solche Initiativen können nur Ergänzung, nie
Ersatz für eine gleichberechtigte
Mitsprache bei der internationalen Steuerregelsetzung sein.“
Im Trüben fischen mit
besseren Netzen
Die Lobbyorganisation One bemängelt, selbst mit gestärkten
Steuerbehörden könnten afrikanische Regierungen Mittel nur
eintreiben, „wenn effektiver ge-
gen Scheinfirmen und Steuerhinterziehung vorgegangen wird“.
Eine Zusage für die Aufnahme in
den Kreis der Länder, die Steuerinformationen automatisch austauschen, bleibe viel zu vage. Um
Kriminellen das Handwerk zu legen müssten Konzerne in einem
Register offenlegen, welche Eigentümer sich hinter bestimmten
Firmenkonstruktionen verbergen
und länderbezogene Berichte erstellen. „Bis das nicht geschieht,
werden Steuerbehörden im Trüben fischen – wenn auch mit besseren Netzen“, betonte Tobias
Kahler, der Direktor von One.
Die Bundesregierung berät
bereits seit der vorangegangenen
UN-Finanzierungskonferenz in
Doha rund 30 Entwicklungsländer
in Finanz- und Steuerfragen, darunter das westafrikanische Ghana.
Dort wurden zwar – wie auch in
Kenia oder Kolumbien – im öffentlichen Finanzwesen Abläufe
verbessert und mehr Steuern eingetrieben. Zugleich gaben die Regierungen vor allem in Wahljahren stets mehr aus als sie einnahmen. Die Infrastruktur bleibt unterfinanziert und der Staat trotz
der erschlossenen Ölvorkommen
hoch verschuldet.
Marina Zapf
brüssel
Verschmutzen wird nicht wirklich teuer
Die nächste Reform des EU-Emissionshandels kommt in Sicht
Gerade hat sich die Europäische
Union auf eine Notreparatur am
EU-Emissionshandel geeinigt, da
legt die EU-Kommission Vorschläge vor, die den Effekt wieder abschwächen. Ob der Emissionshandel je genug Geld für die Klimafinanzierung im Süden einbringen
kann, ist fraglich.
Das europäische Handelssystem
für Emissionserlaubnisse (Emissions Trading System, ETS) soll für
Stromerzeuger und große Industriebetriebe Anreize schaffen,
Treibhausgase einzusparen: Wer
viel emittiert, muss Zertifikate zukaufen. Doch bisher geben die EUStaaten Zertifikate im Übermaß
aus; bis 2020 wird sich ein Überschuss von zwei Millionen Tonnen angehäuft haben.
Wegen dieses Überangebotes
ist der Preis im vergangenen Jahr
unter fünf Euro für eine Tonne
Kohlendioxid-Äquivalent gesunken – zu wenig, um saubere Technik rentabler zu machen. Die EUGremien haben deshalb drei Jahre
darum gerungen, wie viele Zertifikate man wann vom Markt nehmen soll.
Am 8. Juli hat das EU-Parlament den mit den Ministern und
der Kommission ausgehandelten
Kompromiss gebilligt. Danach
werden 900 Millionen Zertifikate
ab 2019 sowie weitere ÜberschussZertifikate ab 2021 in eine „Marktreserve“ weggeschlossen. Das Parlament wollte den Beginn 2017,
die Kommission auf Druck der
Kohlelobby, gerade auch der deutschen, erst 2021. Nur wenn der
Handelspreis auf mindestens 25
Euro je Tonne steigt, sollen Zertifikate aus der Reserve freigegeben
werden. Der Ministerrat will den
Beschluss am 18. September absegnen.
Die Kommission will großzügig
zuteilen
Doch nun hat die Kommission
am 15. Juli eine „Überprüfung“ des
ETS vorgelegt und dabei Änderungen für die Zeit ab 2020 vorgeschlagen, mit denen die Begrenzung wieder untergraben
wird. So sollen von vornherein
gut 40 Prozent der Gesamtmenge
von Emissionserlaubnissen nicht
(wie für Stromkonzerne) versteigert, sondern gratis zugeteilt werden: an energieintensive Unternehmen, die drohen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern, wo
Emissionen kostenlos sind.
Hersteller von Stahl, Aluminium, Chemie, Papier, Dünger, Kalk
und Glas würden dann auch nach
2020 bis zur „nach bester Technik
nötigen“ Menge Zertifikate umsonst bekommen. Was sie davon
nicht verbrauchen, können sie
verkaufen. So konnte der Stahlkonzern Mittal für seine EU-Tochter ARCELOR im Geschäftsjahr
2013/14 über eine Milliarde Euro
aus dem Verkauf ungenutzter
Zertifikate kassieren.
Weiter sollen laut der Kommission zwischen 2020 und 2030
aus der Marktreserve 250 Millionen Zertifikate in einen „Fonds für
Innovationen“ verschoben werden, mit dessen Hilfe beispielsweise polnische Kohlekraftwerke
Wenig Anreize, CO2 einzusparen:
Stahlwerk von Thyssen Krupp in
Duisburg.
Ina Fassbender/Reuters
modernisiert werden könnten.
Auch diese Zertifikate sind dann
handelbar. Zudem sieht die Kommission 300 Millionen Zertifikate
für Unternehmen vor, die möglicherweise künftig neu vom ETS
erfasst werden. Das alles wird das
Angebot erhöhen und den Preis
drücken.
Die Kommission geht davon
aus, dass im Zeitraum von 2021
bis 2030 insgesamt 15,5 Milliar-
9-2015 |
brüssel | schweiz journal
den Zertifikate zu einem Gesamtwert von 387,5 Milliarden Euro
ausgegeben werden. Sie hofft somit auf ein durchschnittliches
Preisniveau um 25 Euro pro Tonne
aus den Versteigerungen. Ein Drittel der Einnahmen sollen laut der
Kommission für Klimafinanzierung auswärts verwendet werden,
zum Beispiel für den Beitrag zum
UN-Klimafonds. Dafür haben die
Industrieländer 100 Milliarden
US-Dollar jährlich ab 2020 zugesagt, die EU müsste davon etwa
ein Fünftel aufbringen.
Die Einnahmen aus dem ETS
werden das jedoch nicht abdecken
können. Zum einen finden Experten die veranschlagten 25 Euro
pro Tonne zu optimistisch; ein
Anstieg des Handelspreises von
derzeit 7,5 Euro auf 14 bis 16 Euro
ab 2020 sei eher realistisch. Zum
anderen werden dank der Gratisvergabe an die Industrie, auf der
gerade die deutsche Regierung besteht, höchsten 57 Prozent der Zertifikate tatsächlich versteigert.
Selbst wenn sie bei der Ausgabe
pro Tonne 25 Euro einbringen, kämen damit 2020 bis 2030 vielleicht 22 Milliarden Euro pro Jahr
zusammen. Dieses Geld fließt in
die Finanzkassen der EU-Mitgliedsländer. Auch wenn die sich
an die Empfehlung der EU-Kommission halten, ein Drittel dieser
Einnahmen aus ETS-Auktionen
für die Klimafinanzierung der übrigen Welt abzugeben, wären die
Verpflichtungen gegenüber dem
UN-Klimafonds daraus bei weitem nicht zu erfüllen.
Heimo Claasen
brüssel
Nachwirkung der Skandale
In Europa bilden sich neue Bündnisse für Transparenz bei Steuern und Finanzanlagen
Seit langem fordern Entwicklungsorganisationen, mehr Licht in die
Steuerzahlungen von Konzernen
und die Verschiebung großer Vermögen zu bringen. Das EU-Parlament drängt nun ebenfalls darauf
– aus Sorge um die Steuereinnahmen in Europa.
Die Aufregung über Luxemburger
Steuerprivilegien für Großunternehmen, die nach den „LuxLeak“Enthüllungen im vorigen Herbst
entstanden ist, zeitigt auch Folgen
für entwicklungspolitische Anliegen. Im Juli hat das EU-Parlament
den Entwurf der Kommission für
die Neufassung der Richtlinie
zu Rechten von Anteilseignern
(Shareholders’ Rights Directive)
entscheidend verschärft: Das
Parlament beschloss am 8. Juli,
dass börsennotierte Kapitalgesellschaften für jedes Land, in dem
sie direkt oder mit von ihnen beherrschten Firmen tätig sind, über
alle Zahlungen von Steuern und
Abgaben berichten müssen. Das
hat giftige Kommentare von Verbänden der Finanzwirtschaft und
heftige Bemühungen von Lobbyisten ausgelöst. Absehbar ist ein
langwieriges Tauziehen in und
zwischen den EU-Instanzen, ehe
diese Vorschrift wirksam werden
könnte.
Schon im vergangenen Dezember hatte sich das EU-Parlament mit dem EU-Ministerrat geeinigt, die Richtlinie zu Geldwäsche deutlich zu verschärfen. Sie
| 9-2015
sieht nun vor, dass die wahren Eigentümer von Kapital- und Finanzgesellschaften in einem zentralen Register erfasst werden, das
neben den Finanzämtern auch
„berechtigten Interessenten“ zugänglich sein soll. Die ursprüngliche Vorlage der EU-Kommission
enthielt nur eine Meldepflicht der
Eigentümer bei den Finanzbehörden und überließ es den Finanzministerien der EU-Länder, untereinander und vertraulich Informationen auszutauschen. Das
zielte vornehmlich auf die Erfassung mafiöser Geldströme in der
EU. Die verschärfte Fassung bietet
nun die Möglichkeit, im Geflecht
von Briefkastenfirmen, Treuhandgesellschaften und Fonds die tatsächlichen Eigner zu ermitteln –
auch korrupte Politiker aus Drittsaaten. Die EU-Staaten haben
zwei Jahre Zeit, die Direktive in
nationales Recht umzusetzen.
In beiden Fällen ist erkennbar,
wie auch bei konservativen EURegierungen und Parlamentariern die Besorgnis über den Ausfall
von Steuereinnahmen die Oberhand gewinnt. Damit ergibt sich
eine seltene Koalition mit Vertretern entwicklungspolitischer Anliegen. Deren Forderung nach
steuerlicher Transparenz von
Großfirmen und Finanzinstituten
hatte bisher kaum Chancen, sich
durchzusetzen.
Weniger erfolgreich sind sie
bei der Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT), die seit
anderthalb Jahren im EU-Minis-
terrat feststeckt. Bisher sind nur
elf der 28 EU-Regierungen beteiligt, und die sind sich über die
Einzelheiten nicht einig. Die FTT
und auch die Pflicht der Unternehmen, länderbezogene Berichte vorzulegen, wären zudem gefährdet, wenn das Abkommen
über eine Handelspartnerschaft
zwischen den USA und der EU
(TTIP) noch in der Amtszeit von
US-Präsident Barack Obama zustande kommt. Denn nach den
bisher festgeklopften TTIP-Regeln
wären dies neue staatliche Vorschriften, die vorab von der gemeinsamen
Regulierungskommission der USA und der EU behandelt werden müssten. Ob sie
damit infrage stehen würden, ist
offen.
Heimo Claasen
schweiz
Mit Essen spekuliert man nicht
Schweizer Sozialwerk ändert seine Anlagestrategie
Der Schweizer Altersvorsorge-Fonds stoppt Investitionen
in Nahrungsmittel. Der Grund: Die politische Sensibilität
für diese Anlageform sei gestiegen. Druck kommt von einer Volksinitiative, über die noch gar nicht abgestimmt
worden ist.
Investitionen in Nahrungsmittel sind umstritten. Sie
können zu spekulativen Preisanstiegen und somit zu
Versorgungsproblemen führen. In der Schweiz reichten
die Jungsozialisten (JUSO), die Sozialdemokraten (SP), die
Grünen und mehrere Hilfswerke
deshalb im Frühling 2014 eine
Volksinitiative ein, die Spekulationen mit Nahrungsmitteln verbieten will. Darüber abgestimmt
wird frühestens 2016.
Doch die Forderung zeigt bereits Wirkung: Die Führung des
Schweizer Sozialwerks hat laut
Jahresbericht 2014 beschlossen,
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journal schweiz
ab diesem Jahr nur noch in Energie und Edelmetalle zu investieren, nicht mehr hingegen in Agrarrohstoffe und Viehwirtschaft.
Begründet wird der Strategiewechsel mit der erhöhten „politischen Sensibilität“ für das Thema.
JUSO und SP begrüßen die
Entscheidung. Der Fonds verwalte
öffentliche Mittel und habe somit
eine spezielle Sorgfaltspflicht,
schreibt die SP. JUSO-Präsident Fa-
bian Molina deutet den Beschluss
als Zeichen dafür, dass „der Druck
der Spekulationsstopp-Initiative
wirkt“. Er zeige, „dass sich die
Fonds-Verantwortlichen der verheerenden Auswirkungen der
Spekulation mit Agrarrohstoffen
bewusst sind“.
Der Fonds von Alters- und Invalidenversicherung sowie Erwerbsersatzordnung ist mit einem Vermögen von mehr als 30
Milliarden Franken (gut 28 Milliarden Euro) einer der größten öffentlichen Investoren. Mit großen
finanziellen Einschnitten ist seine
Strategieänderung nicht verbunden: Im Jahr 2014 investierte der
Fonds nur 1,6 Prozent oder knapp
500 Millionen Franken (gut 471
Millionen Euro) seines gesamten
Anlagevermögens in Rohstoffe. 41
Prozent davon entfielen auf landwirtschaftliche Produkte.
JUSO-Chef Molina betont dennoch, der Beschluss sei „ein klarer
Wink mit dem Zaunpfahl an den
Nationalrat“, etwas gegen die Nahrungsmittelspekulation zu unternehmen. Im Herbst wird die große Kammer des Parlamentes über
die Initiative beraten. In der kleinen Kammer hatte die Idee keine
Chance. Und auch der Bundesrat
empfiehlt, die Initiative abzulehnen. Kathrin Ammann
schweiz
Die Flüchtlinge kommen trotzdem
Migrationspartnerschaften helfen vor allem bei der Rückführung
Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren vermehrt auf Migrationspartnerschaften gesetzt, um
die Migration zu bremsen und abgewiesene Asylsuchende einfacher
abzuschieben. Das Instrument sei
nützlich, aber wenig wirksam,
meint die Flüchtlingshilfe.
Bislang hat die Schweiz mit fünf
Ländern Migrationspartnerschaften geschlossen: Nigeria, Tunesien, Kosovo, Serbien und Bosnien.
In den Abkommen verpflichten
sich die Länder zur Kooperation
bei der Rückführung ihrer Landsleute. Im Gegenzug erhalten sie
Hilfe, etwa bei der Ausbildung von
Polizisten oder durch Praktikumsplätze für Berufsanfänger in
Schweizer Unternehmen.
Weil das Parlament den Nutzen der Partnerschaften anzweifelte, ließ die Regierung das außenpolitische Instrument von der
Maastrichter Graduate School of
Governance überprüfen und bewerten. Der Anfang Juli veröffentlichte Bericht belegt: Eine Migrationspartnerschaft trägt nicht unmittelbar dazu bei, dass die Zahl
der Asylgesuche aus dem Partnerland sinkt.
Trotzdem erhielt das Instrument von den Prüfern befriedigende Noten. Zum einen, weil es
für eine reibungslosere Rückführung abgewiesener Asylbewerber
sorgt – etwa bei Serben und Kosovaren, die innerhalb von 48 Stunden abgeschoben werden, wenn
ihr Gesuch abgelehnt worden ist.
Zum anderen tragen die Partnerschaften laut den Prüfern dazu
bei, den gemeinsamen Kampf gegen den Menschenhandel zu verstärken. Der Schweizer Bundesrat
sieht sie deshalb nicht grundsätzlich infrage gestellt, da sie „über
die Migrationsthematik hinaus zu
einer deutlichen Verbesserung
der bilateralen Beziehungen“ führen, wie das Staatssekretariat für
Migration schreibt.
Langfristige Hilfen bei der
Berufsbildung wären besser
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) findet die Migrationspartnerschaften zwar „nützlich“, aber
„in der Wirkung bescheiden“.
Wichtiger seien langfristige Hilfen in den Herkunftsländern,
Ängste schüren vor dem „Asylchaos“
In der Schweiz ist die Zahl der Asylgesuche
im ersten Halbjahr 2015 im Vergleich zum
selben Zeitraum des Vorjahres um 16 Prozent gestiegen. Im Vergleich zu den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die
eine Zunahme von 68 Prozent verkraften
müssen, ist der Anstieg aber moderat.
Trotzdem schürt die rechtskonservative
Volkspartei (SVP) wenige Monate vor den
Wahlen Mitte Oktober Ängste vor einem
vermeintlichen „Asylchaos“ in der Schweiz.
Auch wird angezweifelt, ob Eritreer – sie
stellen die größte Flüchtlingsgruppe – in
ihrer Heimat überhaupt bedroht sind. Dabei beruft sich die SVP auf einen von der
dänischen Einwanderungsbehörde in Auftrag gegebenen Bericht, laut dem die Lage
in Eritrea weit weniger problematisch ist
als bisher dargestellt. Dieser Befund wird
von Menschenrechtsorganisationen und
UN-Experten bestritten. Das dänische Justizministerium musste den als lückenhaft
kritisierten Bericht nachträglich korrigieren. Europaweit liegt die Anerkennungsquote von Flüchtlingen aus Eritrea bei
weit über 80 Prozent. (tp)
etwa bei der Berufsbildung, sagt
Sprecher Stefan Frey. Die Partnerschaften umfassen zwar sogenannte Stagiaires-Abkommen, in
denen den Partnerländern Praktikumsplätze bei Firmen in der
Schweiz angeboten werden. Im
Fall von Tunesien konnte die
Schweiz ihr Versprechen von bis
zu 150 solchen Aufenthaltsbewilligungen pro Jahr aber bei weitem
nicht einlösen. Bislang fanden
sich laut Behörden lediglich für
drei Tunesier Praktikumsplätze
bei Schweizer Unternehmen.
So bietet der Lebensmittelkonzern Nestlé fünf jungen Nigerianern befristete Ausbildungsplätze in der Schweiz an. Die Plätze sind Lehrlingen vorbehalten,
die bei Nestlé in Nigeria zu Polymechanikern ausgebildet werden.
Die Behörden hoffen, dass andere
Schweizer Unternehmen dem Beispiel folgen. Das Beispiel Nestlé
zeige, „dass Schweizer Investoren
tatsächlich positive Effekte bei der
Berufsbildung erzielen können“,
meint SFH-Sprecher Frey.
Zur besseren Einbindung von
Schweizer Firmen bei Migrationspartnerschaften ist ein parlamentarischer Vorstoß anhängig. Die
sozialdemokratische Nationalrätin Bea Heim fordert den Bundesrat auf, zu prüfen, wie die Bemühungen bei der Berufsbildung als
Strategie zur Armutsbekämpfung
„gezielt und messbar“ verstärkt
werden können. Theodora Peter
9-2015 |
schweiz | österreich journal
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schweiz — kurz informiert
In Mexiko sollen mit Maschinengewehren ausgerüstete Schweizer
Flugzeuge gegen Demonstranten
eingesetzt worden sein. Laut Medienberichten überflogen die Maschinen Anfang Juni protestierende Lehrer im Bundestaat Oaxaca. Es soll sich um Pilatus-Flugzeuge des Typs PC-7 handeln, die
in den 1980er Jahren nach Mexi-
ko exportiert worden waren. Sie
gelten als Trainings- oder Schulungsmaschinen, können aber
leicht aufgerüstet werden: Sie
verfügen über Aufhängepunkte,
an denen Waffen befestigt werden können. Der Flugzeughersteller Pilatus hat nach eigenen Aussagen „keine Kenntnis“ von den
Vorfällen. Es wäre nicht das erste
Mal, dass bewaffnete Pilatus-Flugzeuge gegen Zivilisten eingesetzt
werden. Nebst Mexiko gehören
auch Tschad, Myanmar, Irak und
Iran zu den Abnehmern der
Schweizer Flugzeuge. 2008 bombardierten solche Maschinen ein
Flüchtlingslager im Tschad. In
Mexiko kamen 1994 mehrere
Hundert Indigene durch Bom-
benabwürfe ums Leben. Die
Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) fordert, dass die Flugzeuge künftig als Kriegsmaterial
eingestuft werden. Das ist für die
Typen PC-7, PC-9 und PC-21 bislang nicht der Fall. Sie unterliegen
somit dem Güterkontrollgesetz
und nicht der strengeren Kriegsmaterialverordnung. (kam)
österreich
Wer nimmt die Flüchtlinge?
Österreich streitet über seine Asylpolitik
Die einen wettern gegen Flüchtlinge, die anderen engagieren sich.
Das gilt für Politik und Zivilgesellschaft. Derweil bekommt die Regierung in Wien von Amnesty International eine Ohrfeige.
Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation hatten Anfang August das größte österreichische
Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Traiskirchen besucht. Das
Lager sei völlig überbelegt, die
medizinische und soziale Versorgung seien katastrophal, erklärten sie.
Während des Besuchs von
Amnesty waren rund 2400 Flüchtlinge in dem Lager untergebracht.
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Die Organisation schätzt, dass
etwa 1500 von ihnen im Freien
schlafen mussten. „Ein unhaltbarer Zustand“, kritisierte Teamleiterin Daniela Pichler. Viele Asylbewerber, darunter auch Schwangere, müssten sich stundenlang bei
sengender Hitze für ihre Identitätskarten anstellen. Ein einfaches System mit Wartenummern
würde diese Situation deutlich
verbessern, so Pichler.
Das zuständige Innenministerium reagierte mit einem Aufnahmestopp für Traiskirchen. Mehrere Hundert Asylsuchende wurden
in andere Bundesländer gebracht.
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Das Aufnahmelager Traiskirchen bei Wien ist hoffnungslos überfüllt.
Laut Amnesty International müssen 1500 Flüchtlinge im Freien schlafen.
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04.12.2013 15:46:12
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journal österreich | KIRCHE und ökumene
präsidenten) und Bürgermeister
versuchen nun, die Unterbringung von Flüchtlingen mit einfallsreichen Ausreden abzuwehren. Sie berufen sich auf die Ängste in der Bevölkerung.
Gleichzeitig bieten Tausende
Freiwillige in Traiskirchen ihre
Hilfe an, werden aber von der gewinnorientierten Betreiberfirma
ORS zurückgewiesen. Die Firma
arbeitet im Auftrag des Innenministeriums. Ärzte, die das überforderte Team in Traiskirchen
verstärken wollten, wurden erst
nach einer Amnesty-Rüge vom
Innenministerium autorisiert.
Innenministerin
Johanna
Mikl-Leitner (ÖVP) zeigt sich
überfordert. Sie ließ mehrere Zeltlager errichten, um Flüchtlinge
unterzubringen, und schloss ein
Abkommen mit der Slowakei, die
sich bereit erklärte, vorübergehend 500 Asylwerber zu versorgen. Österreich übernimmt den
Großteil der Kosten und bleibt
für das Asylverfahren zuständig.
Zudem hat die Ministerin 80 Polizisten an die ungarisch-serbische
und die serbisch-mazedonische
Grenze geschickt, um Flüchtlinge
schon dort zu stoppen.
Der ehemalige sozialdemokratische Innenminister Franz
Löschnak wirft der Regierung Dilettantismus vor: „Experten wissen seit vielen Monaten, dass dieser Zustrom an Kriegsflüchtlingen nicht nachlassen wird.“ Bis
Ende Juli wurden in diesem Jahr
mehr als 40.000 Asylsuchende
registriert. Bis Jahresende wird
mit mindestens 35.000 weiteren
gerechnet. Da die meisten aus
Bürgerkriegsländern
kommen,
liegt die Anerkennungsquote bei
rund 50 Prozent.
Die rechte Partei FPÖ plädiert
dafür, Auffanglager in Nordafrika
zu errichten – dort könne auch
über Anträge auf Asyl entschieden werden. Ex-Minister Löschnak
erklärt dazu, in Bürgerkriegsländern mit chaotischen Verhältnissen komme das nicht infrage. In
afrikanischen Ländern hingegen
könne Aufklärung betrieben werden. In Westafrika gebe es etwa als
Reisebüros getarnte Menschenhändler-Büros: „Da müsste längst
schon die EU mit ihren Botschaften eingreifen.“
Im Kosovo hat eine Aufklärungskampagne des Innenministeriums im Frühjahr bereits ge-
wirkt: Anfang des Jahres waren
Tausende Menschen nach Österreich gekommen, um zunächst
Asyl und dann einen Arbeitsplatz
zu bekommen. Inzwischen ist die
Zahl der Asylbewerber aus dem
Kosovo stark gesunken.
Doch während sich in einigen
Orten Bürger gegen Flüchtlinge
organisieren, verzeichnen Hilfsorganisationen gleichzeitig mehr
Zulauf von Freiwilligen, die etwas
spenden, Sprachunterricht geben
oder eine Patenschaft übernehmen wollen. Der Verein „Afghanische Jugendliche – Neuer Start in
Österreich“ hat Anfang August
bereits zum vierten Mal ein Fußballturnier organisiert, um den
interkulturellen Austausch zwischen Österreichern und Afghanen zu fördern. Ralf Leonhard
KIRCHE und ökumene
Kein Kuschelkurs mit den Konzernen
Die katholische Kirche fordert einschneidende Veränderungen beim Bergbau
Die Bergbauindustrie kämpft um
ein besseres Image und will künftig
als Entwicklungspartner auftreten.
Die Kirche dürfe sich von dieser
Charme-Offensive nicht blenden
lassen, warnten Basisgruppen bei
einem Treffen Mitte Juli in Rom.
Von der angekündigten Dialogbereitschaft sei in den betroffenen
Gemeinden bisher nichts zu spüren.
Zum ersten Mal kamen Menschen
aus allen Erdteilen zusammen,
die unter den Folgen des kommerziellen Bergbaus leiden. Egal ob
die Rohstoffe in Asien, Afrika oder
Lateinamerika abgebaut werden –
die Schäden für die lokale Bevölkerung sind überall die gleichen:
Wälder und Felder werden zerstört, das Grundwasser wird vergiftet, Menschen müssen ihre
Dörfer verlassen. Sie können dem
oft wenig entgegensetzen, weil die
Konzerne mit Hilfe von Sonderregelungen der Regierungen ihr
Vorgehen legalisiert haben.
Zu den hartnäckigsten Mitstreitern der Betroffenen zählen
einheimische Priester und Or-
Bergwerke schaffen Probleme –
aber auch Jobs: Im Juli protestieren
Minenarbeiter aus Potosi in Bolivien
für mehr Investitionen in die
Infrastruktur der Region.
david mercado/reuters
bauindustrie getroffen. Die versuchten, die katholische Kirche
davon zu überzeugen, dass sie
künftig den Dialog mit den Anwohnern führen und die Schäden
so gering wie möglich halten
wollten. Der Päpstliche Rat sah
sich bereits in der Rolle des Brückenbauers.
densleute. Über den Lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM
haben sie Zugang zum Vatikan
bekommen und dort Gehör gefunden. „Das Ziel dieses Treffens
ist es, Eure Würde anzuerkennen“,
sagte Kardinal Peter Turkson, der
Präsident des Päpstlichen Rats
für Gerechtigkeit und Frieden.
„Es ist uns bewusst, dass eure
Menschenrechte verletzt werden,
dass ihr verfolgt werdet, dass es
ein Ungleichgewicht der Kräfte
gibt.“
Die Kontroverse um Bergbauaktivitäten ist für den Vatikan
nicht neu. Doch die Deutlichkeit,
mit der sich Rom jetzt hinter die
Basisgruppen stellt, lässt aufhorchen. Vor anderthalb Jahren hatte
sich der Päpstliche Rat mit Vertretern der internationalen Berg-
Auch Verweigerung muss
akzeptiert werden
Doch Vertreter der Basis warfen
Rom vor, die wichtigsten Gesprächspartner, nämlich die lokalen Gemeinschaften, vergessen
zu haben. „Es ist nicht Aufgabe
der katholischen Kirche, sich für
die Bergbauindustrie einzusetzen“, schrieb der internationale
Verband katholischer Hilfswerke
CIDSE vor gut einem Jahr an Kar-
9-2015 |
KIRCHE und ökumene journal
E100_Anz_04_WS-1_110x141.qxd:L100
dinal Turkson. Ein Dialog müsse
offen geführt werden. „Wir müssen auch akzeptieren, wenn Gemeinden gar nicht wollen, dass
Rohstoffe auf ihrem Gebiet abgebaut werden.“
Wie viele von der Basis glaubt
auch Dario Bossi vom lateinamerikanischen Netzwerk Kirchen
und Bergbau nicht an die Dialogbereitschaft der Konzerne. „Bei
den Menschen an der Basis ist davon noch nichts angekommen.
Ihre Situation hat sich nicht verbessert“, sagt der Comboni-Missionar. In Rom hätten sich die Konzernchefs zwar offen und dialogbereit gezeigt, auf lokaler Ebene
gehe aber alles weiter wie bisher.
Die Menschen mit ihren Anliegen
würden nicht ernst genommen.
Viele lehnten deshalb das Gespräch mit den Bergbauunternehmen ab.
Papst Franziskus findet
deutliche Worte
Bossi sieht das Treffen zwischen
Vatikan und Industrie als Teil einer groß angelegten Imagekampagne, mit der sich die Konzerne
reinwaschen wollten. In der Tat
liegt eine vom Kellogg Innovation
Network in den USA erstellte und
von internationalen Bergbauunternehmen finanzierte Studie vor,
wie das Image der Branche grundlegend verbessert werden könne.
Darin wird den Konzernen die
Rolle von Entwicklungspartnern
zugeschrieben, die mit allen Beteiligten zum Wohle aller zusammenarbeiten.
Nach Wunsch der PR-Strategen soll das neue Image ausge-
rechnet über die transportiert
werden, die bisher den Widerstand organisiert haben: die
Glaubensgemeinschaften.
Das
Treffen mit dem Päpstlichen Rat
wird in der Studie explizit als Teil
dieser Strategie genannt, ebenso
wie ein ähnliches Treffen mit der
anglikanischen Kirche im Oktober 2014. „Die Konzerne wollen
die Kirche kooptieren“, sagt Bossi.
Er warnt vor einer weiteren Initiative, bei der die Bergbau-Industrie
theologische Seminare bei der
Ausbildung von Pfarrern und Kirchenführern unterstützen will,
die in vom Bergbau betroffenen
Gemeinden Dienst tun werden.
Die Charme-Offensive geht jedoch mit Papst Franziskus nicht
auf. In der Umweltenzyklika „Laudato si“ hat er festgehalten, dass
er die Kirche an der Seite der
Ärmsten und Unterdrückten sieht.
Bei seinem Besuch in Bolivien Anfang Juli hat er den Basisgruppen
seine Wertschätzung ausgesprochen. In einem Brief an die Teilnehmer des Treffens im Vatikan
schreibt er, es gehe nicht um kleine Änderungen im Verhalten der
Bergbauindustrie oder eine Anhebung der ökologischen und sozialen Standards. Der Bergbausektor
sei vielmehr „dazu aufgerufen, einen radikalen Paradigmenwechsel zu vollziehen, um die Situation in vielen Ländern zu verbessern“.
Die Basisgruppen hoffen nun,
dass Kardinal Turkson und der
Päpstliche Rat eine Stellungnahme veröffentlichen, in der alle Bischöfe und Diözesen aufgefordert
werden, den vom Bergbau betrof-
21.07.2015
10:58 Uhr
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2015 erinnern wir an Albert Schweitzers
Vermächtnis mit einem Programm aus
Konzerten, Vorträgen und Publikationen.
albert-schweitzer-100.de
fenen Gemeinden noch enger beizustehen und sich vor einer zu
schnellen und unreflektierten Annäherung an die Konzerne zu hüten. Wie das geht, wird der Päpstli-
che Rat bald schon selbst demonstrieren können. Im September ist
das nächste Treffen mit den Konzernchefs geplant. Katja Dorothea Buck
Hilferuf aus Utrecht
Die niederländische Regierung kürzt Zuschüsse für Hilfsorganisationen
| 9-2015
ICCO befindet sich in einer äußerst schwierigen Lage: Die Regierung in Den Haag wird dem
Zusammenschluss
kirchlicher
Hilfswerke und Entwicklungsorganisationen vom kommenden
Jahr an nicht mehr wie bisher
Seite 1
1915 begründete Albert Schweitzer eine
universelle Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben. Für unsere gefährdete Welt heute,
in der das Lebensrecht unzähliger Tiere,
Pflanzen und Menschen missachtet wird,
ist diese Ethik zukunftsweisend.
kirche und ökumene
Das niederländische Hilfswerk
ICCO hat Brot für die Welt angefragt, die Förderung für eine Reihe
seiner Partner zu übernehmen.
Denn die staatlichen Zuschüsse für
seine Arbeit werden im kommenden Jahr drastisch sinken.
57
70 Millionen Euro, sondern nur
noch sieben Millionen Euro überweisen. Der Betrag darf zudem
nur noch für die Lobby- und Advocacy-Arbeit verwendet werden.
Bisher hatten die Fördermittel
der niederländischen Regierung
etwa zwei Drittel des Gesamtbudgets von ICCO ausgemacht.
Wie die Arbeit des Hilfswerks und
seiner 900 lokalen Partner in 44
Ländern nach diesem Einschnitt
weitergehen soll, weiß derzeit
niemand genau zu sagen.
58
journal KIRCHE und ökumene | global lokal
Klar ist nur, dass es Kürzungen bei den 95 Beschäftigten in
der Geschäftsstelle in Utrecht
und den 256 Mitarbeitenden in
den Regionalbüros geben wird.
Zudem wird man sich von einigen Projektpartnern
trennen
müssen; von welchen, mag derzeit aber niemand sagen. „Entweder wir finden andere Sponsoren
für die einzelnen Projekte, oder
aber wir können die Zusammenarbeit nicht weiterführen“, sagt
Ben Nijkamp, der bei ICCO Investments, dem Investmentzweig des
Hilfswerks, die Garantiefonds
managt. Der Einschnitt sei nicht
über Nacht gekommen, sagt Nijkamp. Schon länger denke man
bei ICCO über neue Strategien
nach, Mittel einzuwerben, und
habe in den vergangenen Jahren
stark in den Fundraising-Bereich
investiert. Ob das reichen wird,
könne aber nicht gesagt werden.
Brot für die Welt prüft
Übernahme von Projekten
Auf seiner Suche nach neuen Wegen hat sich ICCO an Brot für die
Welt gewandt, das als kirchliches
Hilfswerk einen ähnlichen Hin-
tergrund hat. Man werde prüfen,
welche Projekte man übernehmen könne, heißt es dort. Bei gemeinsamen Partnern sei dies relativ einfach. Da würde Brot für
die Welt dann den ICCO-Anteil in
der Finanzierung übernehmen.
Auch wolle man Projekte von
Partnern, mit denen ICCO schon
seit vielen Jahren gut zusammenarbeite, prüfen, ob sie in das eigene Portfolio passten. Noch stünden die inhaltlichen Kriterien
aber nicht fest.
Bereits vor fünf Jahren musste
ICCO einen empfindlichen Rück-
gang der staatlichen Fördermittel
verkraften. Damals waren die Zuschüsse von 130 Millionen Euro
auf 70 Millionen Euro zurückgefahren worden. Hintergrund
der Kürzungen ist ein radikaler
Politikwechsel der niederländischen Regierung, die in der Entwicklungszusammenarbeit künftig stärker bilateral mit Partnern
zusammenarbeiten und nicht
länger die Arbeit von nichtstaatlichen Organisationen (NGO) kofinanzieren möchte. Neben ICCO
sind auch andere NGOs betroffen.
Katja Dorothea Buck
kirche und ökumene
Hilfswerke fordern andere Flüchtlingspolitik
Brot für die Welt und Misereor legen Jahresbilanzen vor
Das evangelische Hilfswerk Brot für
die Welt wirft der Bundesregierung
eine verfehlte Flüchtlingspolitik
vor. Berlin solle sich für sichere
Fluchtwege nach Europa einsetzen,
forderte die Präsidentin des Hilfswerkes, Cornelia Füllkrug-Weitzel.
Die Entwicklungspolitik dürfe nicht
den Ausputzer spielen und an die
Bedingung gebunden werden, dass
die Empfängerländer Flüchtlinge
und Migranten aufhalten.
„Verantwortlich für Armut und
Gewalt und damit letztlich auch
für Flucht sind Ungleichheit und
Ungerechtigkeit, politische Instabilität und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen“, betonte Füllkrug-Weitzel bei der Bilanzpressekonferenz in Berlin. Wenn
Deutschland langfristig Fluchtursachen bekämpfen wolle, müsse
es sich stärker für gerechtere Bedingungen im globalen Handel
einsetzen.
„Wenn Menschenrechte, Zugang zu Land und Wasser, Umweltund Sozialstandards nicht entlang
der gesamten Wertschöpfungskette eines Produkts gelten – ob
Fisch, Textilien oder Smartphones
–, nehmen wir Menschenrechtsverletzungen und Konflikte in
Kauf“, sagte Füllkrug-Weitzel. Zudem müsse die Bundesregierung
der Vorbeugung, Bearbeitung und
Nachsorge von Gewaltkonflikten
größere Bedeutung beimessen als
bislang, unterstrich die Theologin.
Füllkrug-Weitzel zufolge stellt
der Strom hilfesuchender Menschen aus fragilen Staaten oder
Konfliktregionen auch Brot für
die Welt und seine Partner vor
große Aufgaben. Drei von vier
Flüchtlingen fänden Aufnahme in
anderen Entwicklungsländern. Im
vergangenen Jahr hat die Hilfsorganisation nach eigenen Angaben
636 Projekte neu bewilligt, darunter auch friedenspädagogische
Projekte etwa in der Demokrati-
schen Republik Kongo, am Horn
von Afrika und in Nigeria.
Der Hauptgeschäftsführer des
katholischen Hilfswerkes Misereor, Pirmin Spiegel, betonte ebenfalls, die Ursachen von Armut und
Flucht müssten auf europäischer
und globaler Ebene bekämpft werden. Das Elend vieler Menschen
werde mitverursacht von politischen Entscheidungen der Industrie- und Schwellenländer, sagte
Spiegel bei der Jahrespressekonferenz von Misereor in Bonn.
Insgesamt standen Brot für
die Welt im vergangenen Jahr
knapp 255 Millionen Euro für sei-
ne Arbeit zur Verfügung, darunter
55,7 Millionen Euro Spenden und
Kollekten, 51,4 Millionen aus Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes sowie 123,5 Millionen Euro Beiträge Dritter, vor allem aus dem Entwicklungsministerium (BMZ). Misereor nahm im
selben Zeitraum 185,8 Millionen
Euro ein, darunter 55,5 Millionen
Euro Spenden und Kollekten sowie Zuwendungen aus Mitteln
des Entwicklungsministeriums in
Höhe von 118,9 Millionen Euro.
Beide Hilfswerke verbuchten eine
Steigerung bei den öffentlichen
Mitteln.
Marina Zapf
global lokal
Partner eines Krisenlandes
Baden-Württemberger wollen weiter mit Burundi zusammenarbeiten
Baden-Württemberg ist seit einem Jahr offiziell in einer
Partnerschaft mit Burundi verbunden. Wegen der politischen Krise in dem zentralafrikanischen Land ruhen die
staatlichen Kontakte, doch das Engagement aus der Gesellschaft geht weiter.
Seit der Ankündigung von Burundis Präsident Pierre
Nkurunziza im April, für eine dritte Amtszeit zu kandidieren, dreht sich in Burundi die Spirale der Gewalt. Es
gab politische Proteste und Unruhen, Gegner des Präsidenten werden verfolgt und mehr als
100.000 Menschen sind in Nachbarländer geflohen. Seit seiner
Wiederwahl am 21. Juli ist die Krise
weiter eskaliert.
In Deutschland engagiert sich
neben der Bundesregierung vor
9-2015 |
global lokal | personalia journal
allem Baden-Württemberg in Burundi. Seit den 1980er Jahren bestehen zahlreiche Kontakte, mehr
als hundert Vereine, Schulen,
Kommunen, Krankenhäuser und
Hochschulen im Bundesland haben Partner in Burundi. Auch von
kirchlicher Seite ist das Engagement groß. Allein in der Diözese
Rottenburg-Stuttgart pflegen 14
Kirchengemeinden Beziehungen
zu Partnergemeinden in Burundi.
Projektpartner haben Angst,
sich politisch zu äußern
Die Initiativen unterstützen Kinder, Behinderte, Frauen und alte
Menschen, fördern Alphabetisierung sowie die Ausbildung von
jungen Menschen in einem der
ärmsten Länder der Welt. Seit 2011
kooperieren die Hochschule für
Forstwirtschaft in Rottenburg und
die Universität Tübingen mit der
Hochschule in Burundis Hauptstadt Bujumbura. Der badenwürttembergische Städtetag und
der Sparkassenverband sind mit
eigenen Programmen aktiv. Im
Mai 2014 wurde die bereits seit
Jahrzehnten bestehende Zusammenarbeit formal als Landespartnerschaft besiegelt.
In Stuttgart bündelt und koordiniert das Kompetenzzentrum Burundi bei der Stiftung Ent-
wicklungszusammenarbeit (SEZ)
das Engagement. Für Oktober hat
die Stiftung zu einem Informationstag zur aktuellen Situation
eingeladen. Die Krise wirke sich
zurzeit nicht direkt auf die Projektarbeit aus, sagt Geschäftsführer Klaus Weingärtner. Hilfsgüter
würden allerdings verzögert ausgeliefert. Es sei schwierig, sich ein
genaues Bild der Lage im Land zu
machen, da Projektpartner sich
aus Angst vor Repressionen nicht
dazu äußern wollten.
Doch in Baden-Württemberg
herrscht große Einigkeit, Burundi
weiter zu unterstützen. „Es gibt
keine Stimmen im Bundesland,
die die Zusammenarbeit beenden
wollen“, sagt Weingärtner. „Im Gegenteil, wir wollen unsere Partner
jetzt nicht im Stich lassen.“ Eine
Kooperation sei weiter möglich.
Da viele Kontakte bereits seit langem bestehen, habe man Erfahrungen mit Krisen.
Für die Landesregierung in
Stuttgart ist die Frage heikler.
Die Bundesregierung hat ihre
staatliche Entwicklungshilfe für
Burundi bereits im Juni eingefroren. Das Entwicklungsministerium (BMZ) hat erklärt, man wolle
alle „regierungsnahen Aktivitäten“ der deutschen bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit
Gottesdienst in Burundis Hauptstadt Bujumbura.
Deutsche und burundische Gemeinden arbeiten auch in
der gegenwärtigen politischen Krise weiter zusammen.
marco longari/getty images
mit Burundi aussetzen, weil die
Regierung demokratische Prinzipien missachte.
Die rot-grüne Landesregierung Baden-Württembergs betonte, nach der Wiederwahl von Pierre Nkurunziza zum Staatspräsidenten gebe es „keine vertrauenswürdigen Vertreter für eine
staatliche Zusammenarbeit“. Die
offiziellen Kontakte zwischen beiden Ländern ruhen derzeit. Sie
sollen erst wieder aufgenommen
werden, wenn sich die Lage im
Land normalisiert hat. Allerdings
will die Landesregierung das Engagement der Zivilgesellschaft in
Burundi weiter im Rahmen der
Projektförderung unterstützen.
Claudia Mende
Matthias Schmidt-Rosen das
KfW-Büro in Sarajevo/BosnienHerzogowina übernommen. In
Daressalam/Tansania ist Helmut
Schön jetzt Vertreter der KfW und
in Windhuk/Namibia Uwe Stoll.
Elsner, ist seit Anfang August
verantwortlich für das regionale „Rechtsstaatsprogramm
Asien“ mit Sitz in Singapur.
personalia
Christoffel-Blindenmission
(CBM)
Esther Dopheide
ist die neue
Pressesprecherin der Christoffel-Blindenmission in
Bensheim. Die
40-Jährige folgt auf Peter Liebe,
der das Hilfswerk Anfang des
Jahres verlassen hatte. Dopheide
war zuletzt Pressesprecherin der
Stiftung Lesen. Davor hat sie als
PR-Beraterin gearbeitet.
KfW-Entwicklungsbank
Zum 1. August hat die KfWEntwicklungsbank die
| 9-2015
Leitung zahlreicher Auslandsbüros neu besetzt:
Für das Büro in Teguci­galpa/
Honduras ist jetzt Lydia Andler
zuständig; das Büro in Kigali/
Ruanda leitet Markus Bär.
Neuer Leiter der KfW-Vertre­­tung
für die Palästinensischen Gebiete
mit Sitz in Ramallah
ist Jonas Blume, für die Mongolei in Ulan Bator Petar
Gjorgjiev, für die Ukraine
in Kiew Lutz Horn-Haake.
Das Büro in Lilongwe/Malawi
leitet jetzt Torsten Jellestad,
das in Amman/Jordanien
Florian-Helge Rabe. Vertreter
der KfW in Cotonou/Benin
ist ab August Robert Roth.
Ebenfalls zum 1. August hat
Konrad-Adenauer-Stiftung
(KAS)
Das Büro der Konrad-AdenauerStiftung in Schanghai/VR China,
wird seit Juli von Tim Wenniges
geleitet. Er war zuvor Leiter des
Referats Hochschulpolitik und
Leiter der Stabsstelle Politischer Dialog bei Südwestmetall. Die bisherige Leiterin der
Lateinamerikaabteilung in der
Berliner KAS-Zentrale, Gisela
Deutsche Welle (DW)
Schanna
Nemzowa, die
Tochter des im
Februar in
Moskau
ermordeten
russischen
Politikers Boris Nemzow, verstärkt die Russisch-Redaktion der
Deutschen Welle. Sie hat im
August ihre Arbeit als Reporterin
bei der Deutschen Welle in Bonn
aufgenommen.
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service filmkritik
filmkritik
Aufräumen mit der Scheinwelt
In seinem Dokumentarfilm „The Look of Silence“ thematisiert der US-amerikanische Regisseur Joshua Oppenheimer die brutale Verfolgung der indonesischen
Linken vor 50 Jahren und die Straflosigkeit der Täter. In
Indonesien darf der Film offiziell nicht gezeigt werden.
The Look of Silence
Dänemark, Norwegen, Finnland,
Indonesien, Großbritannien 2014
99 Minuten
Regie: Joshua Oppenheimer
Filmstart: 1. Oktober 2015
In einem Garten im Norden der indonesischen Insel
Sumatra: Der Optiker Adi Rukun packt seine Instrumententasche aus. Der Kunde, dem er die Brillengläser anpasst, ist heute ein Greis mit zahnlosem
Mund. Vor 50 Jahren war er bei allen in der Gegend
gefürchtet. Denn er gehörte zu jenen, die vermeintliche Kommunisten abschlachteten. Zu dem Blutbad, das Hunderttausende Menschenleben kostete,
hatte das Militär unzählige Zivilisten angestachelt.
Eigentlich dürfe man Menschen nicht zerstückeln,
sinniert der gläubige Muslim. Doch bei schlechten
Menschen sei es erlaubt. Was ihn davor bewahrt
habe, bei seiner blutigen „Aufgabe“ verrückt zu werden: Das Blut der Ermordeten zu trinken.
Adi Rukun, der dem Massenmörder gegenüber
sitzt, ist nicht irgendein Optiker. Sein älterer Bruder
Ramli wurde 1965 ermordet – auf die gleiche Weise,
wie der Alte sie schildert. Rukun macht sich auf eine
Reise, von der es keine Wiederkehr in die „Normalität“ gibt. Er trägt Einzelheiten zum Mord an seinem
Bruder zusammen, um schließlich die Mörder damit zu konfrontieren. Erbarmungslos hält die Kamera auf jene, denen sich das Grauen eingeschrieben hat: Rukuns kranker Vater, der sich nicht an
seinen Erstgeborenen erinnert; die Mutter, die nach
dem Verlust ihres Erstgeborenen mit beinahe 50
noch einmal ein Kind gebar – Adi.
Da ist der Bruder der Mutter, der als Gefängniswärter dafür sorgte, dass die Verhafteten nicht entkamen. Da sind die Mörder in der Nachbarschaft,
die sich nie für ihr Tun verantworten mussten und
deren Kommandeure heute hohe politische Ämter
bekleiden. Und da ist immer wieder der Satz: „Was
gewesen ist, ist gewesen.“ Aus dem Mund der Opfer
spricht Resignation, aus dem der Täter die Drohung,
dass jene, die zu sehr an der Geschichte rühren, riskieren, dass sich diese wiederholt. Adi Rukuns beharrliche Suche macht allen Beteiligten klar, dass
ihre „Normalität“ eine Scheinwelt ist. Er verstößt
damit gegen alle Konventionen, gegen die „Kultur“
des harmonischen Miteinanders, die vor allem der
Stabilisierung der Macht gilt.
„The Look of Silence“ ist nach „The Act of Killing“
der zweite Film von Joshua Oppenheimer über die
Ereignisse von 1965 in Indonesien, die die Basis für
die 32-jährige Diktatur des prowestlichen Generals
Suharto bildeten. Zuvor hatte Indonesiens erster
Präsident Sukarno in einer riskanten Schaukelpolitik zwischen zivilen linken, nationalistischen und
religiösen Kräften und dem Militär zu vereinen versucht, was angesichts des Kalten Krieges nicht zu
vereinen war. Schließlich entführte und ermordete
eine Gruppe links gerichteter Offiziere sieben prowestliche Militärführer, von denen sie annahmen,
dass sie mit einem Putsch Präsident Sukarno entmachten wollten. General Suharto setzte sich an Sukarnos Stelle, schob die Schuld am „Putsch“ den Linken zu und ließ alle politischen Gegner ausschalten.
Mit der Zerschlagung der damals drittgrößten
kommunistischen Partei der Welt (sie ist bis heute
in Indonesien verboten) wurde die „rote Gefahr“ gebannt und – anders als in Vietnam – mussten die
USA im größten und ressourcenreichsten Land Südostasiens keinen einzigen GI „opfern“.
Nachdem kritische Intellektuelle, Gewerkschaftsführer und Frauenrechtsaktivistinnen entweder ermordet oder im Gefängnis waren, wurden
die Wirtschaftsgesetze des Landes neu geschrieben.
Westliche Investoren gaben sich in Jakarta die Klinke
in die Hand und Großunternehmer freuten sich
über die Re-Privatisierung der zuvor verstaatlichten
Firmen.
Der Rest ist Geschichte. Und Gegenwart. In einer
Szene des Films sitzt Adi Rukuns Sohn im Geschichtsunterricht, wo der Lehrer viele Worte für die
vermeintliche Brutalität der Kommunisten findet,
vor denen die Armee die Nation bewahrt habe. Kein
Wort über die Grausamkeit mit der Hunderttausende Menschen von Milizen und Militärs ermordet
wurden; kein Wort über Folter und systematische
sexuelle Gewalt in Gefängnissen. Bis heute sind die
Täter straflos geblieben und an Indonesiens Schulen
ist Suhartos Geschichtsversion weitgehend unangetastet. In den Diktaturjahren errichtete Monumente, die Suharto als „Retter der Nation“ und „Vater des
Wirtschaftsaufschwungs“ preisen, dominieren noch
immer das öffentliche Geschichtsbild.
Immerhin ist es dank der Beharrlichkeit zivilgesellschaftlicher Gruppen seit Suhartos Rücktritt
1998 gelungen, die Stimmen der Überlebenden zumindest einem Teil der Öffentlichkeit vernehmbar
zu machen. Opferverbände formierten sich, Bücher
und Filme entstanden und progressive Historiker
arbeiten mit jungen Lehrern und Dozenten daran,
eine alternative Sicht auf die Geschichte zu verbreiten.
Doch dieses Bemühen wird immer wieder behindert: Treffen von Überlebenden werden mit Gewalt aufgelöst. Diskussionen und Filmvorführungen von der Polizei mit Hinweis auf die „Gefährdung
der Sicherheit“ verboten. So geschah es auch einige
Male bei Vorführungen von „Look of Silence“. Offiziell darf der Film nicht im Kino laufen. Trotzdem haben ihn Tausende Menschen in von Aktivisten und
Studenten organisierten Vorführungen gesehen, Er
hat die Diskussionen über die überfällige Aufarbeitung der Geschichte weiter vorangetrieben. Anett Keller
9-2015 |
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rezensionen
Gefährlich lebendig: Besuch in Lagos
Der frühe Roman von Teju Cole, der jetzt auf Deutsch
vorliegt, zeichnet das Portrait der seit Jahren explodierenden Megastadt Lagos und das Bild eines urbanen
Grenzgängers zwischen verschiedenen Kulturen. Das
liest sich unterhaltsam, leicht und dennoch anspruchsvoll.
Teju Cole
Jeder Tag gehört dem Dieb
Hanser-Verlag, Berlin, München 2015,
176 Seiten, 18,90 Euro
Eine namenlose Erzählerfigur durchstreift die nigerianische Metropole auf der Suche nach einer inneren
Ordnung der städtischen Gesellschaft. Lagos zeigt
sich als ein Ort der Kindheit, an den der Ich-Erzähler
nach langem Aufenthalt in den USA zurückkehrt; unentschieden, ob er für immer bleiben will. Denn diese
Stadt – darüber herrscht nie ein Zweifel – ist so faszinierend wie verstörend, Moloch und Kreativitätsmotor zugleich. Der Erzähler wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Empörung und Faszination gegenüber der eigenen Herkunft und Cole inszeniert diese
Gratwanderung auf literarisch spannendem Niveau.
27 Kapitel berichten vom Alltag in der Großstadt:
Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, Marktund Museumsbesuche, Treffen mit Freunden. Aus
dem urbanen Alltagskolorit entwickelt sich stets das
Charakteristische der nigerianischen Lebensart. Ausnahmslos durchzieht ein Grundtenor von Unsicherheit und Bedrohung die Geschichten. Alles Erlebte ist
durchsetzt von den Konflikten um Eigentum; das
Ungleichgewicht von Reichtum und Armut birgt jederzeit das Risiko, abgezockt, überfallen oder irgendwie zur Kasse gebeten zu werden. Diese Wirklichkeit
lässt sich niemals ausblenden – genausowenig, wie
die Nigerianer das können.
Zahlreiche, locker erzählte Erlebnisse zeichnen
ein lebendiges Bild der Stadt und ihrer Einwohner.
Bei einem Auffahrunfall etwa regelt eine ausgiebige
Prügelei der Beteiligten den Streit (weniger wütend
als rituell) und zeigt, dass es auch in einer schwer kalkulierbaren Gesellschaft vitale Formen der Selbstregulation gibt. Bei der Installation einer Antenne,
nach der statt der versprochenen 30 nur ein einziger
Sender schneereich zu empfangen ist, lernt man ein
weiteres Prinzip nigerianischer Lebensart kennen:
Allein die Idee zählt, ungeachtet ihrer praktischen
Umsetzung. Das kann lebensgefährlich werden,
etwa, wenn es im Verkehr zur Anwendung kommt.
Trotz seines lockeren Tons folgt der Roman einem deutlich soziologischen Kurs. Die Kapitel fügen
sich zu wohlkalkulierten Stationen sozialer Existenz:
Familie, Freundschaft, Besitz, Gesetz, Sprache, Geschichte und Kultur bis hin zum abschließenden
Blick auf den Tod in der Straße der Sargmacher. Stück
für Stück erfährt man Wesentliches über die Gemengelage der Weltstadt und noch mehr über die dort
herrschende Vernunft und deren (manchmal vermeintlichen) Mangel. Lagos ist auf der einen Seite
dem kritischen Blick des rationalen Erzählers ausgesetzt, westliche Vorstellungen von Chaos und Korruption werden bestätigt. Fehlende Standards von
Recht und Sicherheit begründen in weiten Teilen der
Gesellschaft soziale und kulturelle Schieflagen.
Umgekehrt aber werden die rationalen Maßstäbe des Erzählers durch die Realität in Lagos und den
nigerianischen Kontext selbst auf die Probe gestellt.
Gerade der Erfindungsreichtum und die Lebendigkeit der Stadt scheinen den nicht-rationalen Traditionen des Landes verbundener zu sein, als dies dem
Erzähler lieb ist. Seine Reise bleibt schließlich nur ein
Besuch, und er gegenüber seiner Herkunft unentschieden. Mehr als alles andere lässt sich das Buch
als gelungener Versuch lesen, zwei unterschiedliche
Denktraditionen verständlich zu machen.
Dorothée Appel
Wo Kritik an Israel antisemitisch wird
Israel hat in Deutschland einen schlechten Ruf – da
kann es tun und lassen, was es will. Die beiden Journalisten Georg M. Hafner und Esther Schapira erklären,
warum das so ist.
Georg M. Hafner, Esther Schapira
Israel ist an allem schuld
Warum der Judenstaat so gehasst wird
Eichborn Verlag, Köln 2015, 317 Seiten,
19,99 Euro
| 9-2015
Gaza ist das „am dichtesten besiedelte Gebiet der
Welt“. So stand es in einer Pressemitteilung der Fraktion der Grünen im Europaparlament zum GazaKrieg im Sommer 2014. Und so steht es seit vielen
Jahren in unzähligen anderen Stellungnahmen zum
Israel-Palästina-Konflikt. Die Wirkung beim Leser ist
immer dieselbe: Jeder Krieg ist schlimm, aber Bomben auf das „am dichtesten besiedelte Gebiet der
Welt“ zu werfen, ist besonders barbarisch. Das Problem ist nur: Das Bild ist falsch, denn praktisch jede
Millionenstadt ist dichter besiedelt als Gaza, sei es
nun Paris, Tokio oder Mumbai. Wenn Gaza das am
dichtesten besiedelte Gebiet der Welt sein soll, muss
es sich diesen ersten Platz mit Berlin-Marzahn teilen: Dort wohnen genauso viele Einwohner pro Quadratkilometer.
Für Georg M. Hafner und Esther Schapira ist es
kein Versehen, dass sich solche Falschinformationen so lange halten, denn sie haben einen Zweck:
den Staat Israel zu dämonisieren. Der frühere ARDRedakteur und die leitende Redakteurin beim Hessischen Rundfunk haben sich für ihr Buch genau angesehen, wer in Deutschland Israel auf welche Art kritisiert. Ihr Fazit: „Vielen ,Israelkritikern‘ ist in Wahrheit
nicht die Politik des Staates, sondern seine Existenz
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service rezensionen
ein Dorn im Auge.“ Und für Hafner und Schapira ist
auch klar, warum das so ist: Weil Israel der Staat der
Juden ist. Die „säuberliche Auftrennung“ in den Hass
auf Israel einerseits und die Juden andererseits ist
für sie „politische Kosmetik“.
Als ein Beleg dafür dient Hafner und Schapira
die Verurteilung Israels als „Kindermörder“, wie sie
nicht nur auf Demonstrationen hitzköpfiger muslimischer Jugendlicher üblich ist, sondern auch zu
jeder Pro-Palästina-Mahnwache auf evangelischen
Kirchentagen gehört.
Der Vorwurf des Kindsmordes ist nicht nur eine
vernichtende Kritik, sondern bedient zugleich ein
uraltes antisemitisches Vorurteil. Warum nicht „Kindermörder Syrien“ oder „Kindermörder Nordkorea“,
fragen Hafner und Schapira. Weil diese beiden Staaten – wenn überhaupt – lediglich für ihre Taten angeprangert werden und nicht wie Israel dafür, dass
es sie gibt.
Hafner und Schapira verdeutlichen an einer Fülle von Beispielen, dass hinter der „Israelkritik“ vieler
Friedensbewegter in Deutschland nicht die Sorge
um die Palästinenser steht, sondern eine tief sitzende Abneigung gegen den Zionismus und einen starken Judenstaat. Viele selbst ernannte Freunde der
Palästinenser interessierten sich nur soweit für das
Unrecht, das diesem Volk widerfährt, wie Israel dafür
verantwortlich gemacht werden könne. Das Los der
Palästinenser etwa in Syrien oder im Libanon sei den
meisten völlig egal.
Das ist ein wichtiges und lesenswertes Buch. Einziger Wermutstropfen: Für eine Streitschrift, die es
sein will, ist es zu lang geraten; viele Argument wiederholen sich. Und auch der Ton ist manchmal zu
weinerlich und anklagend. In dieser Hinsicht sind
Hafner und Schapira der Gegenseite in dieser Debatte ähnlicher, als ihnen lieb sein dürfte.
Tillmann Elliesen
Revolution der Frauen
Die syrischen Kurden haben sich größtenteils von der
Herrschaft Baschar al-Assads befreit. Der Sammelband beschreibt, wie sie ihr Leben in Westkurdistan
organisieren – und welche prominente Rolle Frauen
dabei spielen.
Anja Flach, Ercan Ayboga,
Michael Knapp
Revolution in Rojava
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo
VSA Verlag, Hamburg 2015, 352 Seiten,
19,80 Euro
Die nordsyrische Stadt Kobane gerät immer wieder in
die internationalen Schlagzeilen. Denn dort tobt eine
Schlacht: Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat
wiederholt versucht, sie zu erobern. Bislang sind die
Islamisten jedoch stets von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zurückgedrängt worden.
In Kobane begann jedoch auch die Revolution in Rojava – und darauf richten die Herausgeber dieses Buches, Anja Flach, Ercan Ayboga und Michael Knapp,
ihren Blick. Als Rojava oder Westkurdistan werden
die überwiegend von Kurden bewohnten Gebiete in
Syrien bezeichnet. Im Machtvakuum des syrischen
Bürgerkriegs gelang es den Kurden 2012, sich größtenteils von der Herrschaft der regierenden BaathPartei unter Präsident Baschar al-Assad zu befreien.
Flach, Ayboga und Knapp, waren im Mai 2014 für
vier Wochen in Rojava und haben dort zahlreiche
Gespräche geführt. Das Buch basiert auf ihren Eindrücken und Recherchen. Dazu vermitteln sie die
theoretischen Konzepte, die der kurdischen Revolution zugrunde liegen. Ein zentraler Begriff ist „demokratische Autonomie“, die inzwischen auch die PKK,
die Arbeiterpartei Kurdistans, für sich in Anspruch
nimmt. Ihre neuen Paradigmen lauten: Geschlechterbefreiung, Radikaldemokratie, Ökologie, alternative Ökonomie. Die PKK, so erläutert Knapp, begreife
die kurdische Frage heute als eine Frage der Befreiung der Gesellschaft, der Geschlechter und aller
Menschen.
Daneben spielt das Modell des „demokratischen
Konföderalismus“ eine wesentliche Rolle. Es meint
die Organisation in Räten, was die politische Partizipation der Bevölkerung erlaubt. Eine der zentralen
Säulen ist der Feminismus. Denn PKK-Führer Abdullah Öcalan, einst klassischer Marxist, sieht schon seit
geraumer Zeit das Patriarchat als Basis für Hierarchien und staatliche Unterdrückung. Diese Erkenntnis
scheint weitreichende praktische Folgen zu haben.
Eine Episode aus dem Buch: Im Mai 2014 – die erste
Angriffswelle des IS war gerade zurückgeschlagen
worden – wurden in der Akademie für Verteidigungskräfte in Rojava Frauen zu Kommandantinnen
ausgebildet. In der Küche standen derweil männliche Kämpfer, kochten und wuschen ab.
Die selbstbewussten Frauen in Uniform, die gegen den Islamischen Staat kämpfen, sind hierzulande wahrgenommen worden. Die dahinter stehenden
Gesellschaftsmodelle und praktischen Erfahrungen
– etwa die Frauenräte in allen Städten Westkurdistans, die direktdemokratische Selbstverwaltung, das
neue Rechtssystem, die Gesundheitsräte – jedoch
nicht. Auch über die alternative Ökonomie in Rojava
erfährt man in den hiesigen Medien nichts. An ihrem Aufbau scheinen Frauen maßgeblich beteiligt
zu sein – Anja Flach spricht sogar von einer „FrauenÖkonomie“ und listet Frauenprojekte auf wie eine
Näherei, eine Käsekooperative, eine Linsen-Kooperative, eine Frauen-Bäckerei.
Wer mehr wissen will, dem sei das Buch empfohlen. Es ist teilweise etwas holprig und sperrig. Man
merkt, dass es aus einer parteilichen Aktivisten-Perspektive verfasst ist. Und man fragt sich, ob die geschilderten Sachverhalte sich nicht inzwischen
schon wieder stark verändert haben. Dennoch, die
Mühe des Lesens lohnt sich, wenn man besser verstehen will, welche Grundsätze und Ansätze in Kobane und an anderen Orten Rojavas entwickelt worden sind. Anja Ruf
9-2015 |
rezensionen service
Landraub ist oft hausgemacht
Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes
schauen sich die Enteignungen von Land in Ostafrika
näher an. Sie erklären, wer daran beteiligt ist und warum transparente Vergabeverfahren nötig sind.
An Ansoms, Thea Hilhorst (Hg.)
Losing your Land
Dispossession in the Great Lakes
James Currey, Suffolk 2014, 218 Seiten,
ca. 28 Euro
Großflächige Landenteignungen in Afrika sorgen für
Furore. Während manche Befürworter sie als Neuordnung der Besitzverhältnisse und Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung preisen, skandalisieren ihre Gegner die Existenzverluste von Kleinbauern. Vor allem
in Nachkriegsländern wird Land privatisiert. Hier haben staatliche Institutionen wenig Durchsetzungskraft oder sie sind parteiisch. Auch lokale Autoritäten
tragen aktiv dazu bei. Viele haben in langjährigen
Kriegen ihre Glaubwürdigkeit verloren und gewinnen sie nicht zurück, weil sie mit Investoren gute Geschäfte machen – häufig auf Kosten derjenigen, deren Interesse sie eigentlich vertreten sollten.
Von diesen Strukturproblemen handelt das vorliegende Buch. Es konzentriert sich auf die Demokratische Republik Kongo, hinzukommen Fallbeispiele
aus Uganda, Ruanda und Burundi. Angesichts der
anstehenden Wahlen 2016 im Kongo und der gegenwärtigen Unruhen in Burundi haben die Auseinandersetzungen über die kostbare Ressource Land auch
eine tagespolitische Bedeutung. Alle Autorinnen und
Autoren kommen aus ostafrikanischen Ländern, den
Niederlanden und Belgien. Sie ziehen zeitliche Längsschnitte und illustrieren, wie Patronage, Klientelismus und Nepotismus bereits in der Kolonialzeit und
unter den nachkolonialen Diktatoren verbreitet waren. Darauf bauen heutige Eliten auf. So wurden unter der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo zwischen 1920 und 1945 zwölf Millionen Hektar Land für
die Plantagenwirtschaft enteignet. Die Agrarpolitik
der belgischen Kolonialverwaltung schuf beziehungsweise verstärkte ethnische Differenzen, etwa
zwischen Hema und Lendu. Letztere galten als kolonialkritische Unruhestifter.
Nach der politischen Unabhängigkeit 1960 setzte
Präsident Mobutu Sese Seko ethnische Patronage
und die Agro-Industrie fort. Er bevorzugte vor allem
Hema-Geschäftsleute, die großflächige Landwirtschaft betreiben ließen. Diese jahrzehntelangen Ungleichheiten wirken sich auf die heutigen Konflikte
aus, wie verschiedene Autoren an Fallstudien zu
Nord- und Süd-Kivu sowie zu Ituri zeigen. So rauben
keineswegs nur ausländische Investoren die Identität
stiftende Ernährungsbasis der kleinbäuerlichen Bevölkerung, wobei sie korrupte lokale Autoritäten als
Partner gewinnen. Konkurrenten auf dem Landmarkt setzen zudem gezielt Milizen ein, um die jeweiligen Gegenspieler zu besiegen. Die kongolesische
Regierung und die Provinzverwaltungen gebieten
Thilo Thielke
Melanie Gärtner
TANSANIA –
Grenzen am Horizont
Reportagen und Reiseberichte
aus dem Herzen Ostafrikas
Drei Menschen. Drei Geschichten.
Drei Wege nach Europa.
184 S., Pb. Großoktav mit vierfarb. Fototeil, € 19,90
ISBN 978-3-95558-110-7
168 S., Pb. mit Fototeil, € 19,90, ISBN 978-3-95558-148-0
Spannende Reportagen und historische Exkursionen in
ein Land mit bewegter Vergangenheit. Denn in Tansania
trieben sowohl deutsche Kolonialisten als auch brutale
Sklavenhändler ihr Unwesen. Doch mit seinen Rohstoffen
und einer beeindruckenden Natur birgt Tansania viele
Schätze. Heute ist es das beliebteste Reiseziel Ostafrikas.
Drei junge Männer aus Afrika und Indien machen
sich auf den gefährlichen Weg nach Europa. Doch
sie stecken in Ceuta fest, der spanischen Exklave im
Norden Marokkos. Die Autorin begleitet sie in ihrem
Alltag in Ceuta, begibt sich zu ihren Familien in den
Heimatländern und beschreibt die Ungewissheit, als die
drei es auf das europäische Festland erreicht haben.
Martina Hahn / Frank Herrmann
Brigitte Hargasser
Fair einkaufen – aber wie?
Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge
Der Ratgeber für Fairen Handel, für Mode,
Geld, Reisen, Elektronik und Genuss
5. akt. u. erw. Aufl., 388 S., Pb. Großoktav
€ 29,90, ISBN 978-3-86099-610-2
»Der exzellente Ratgeber ist eine nützliche Handreichung
für den fairnessbewussten, ökosozial orientierten
Verbraucher – und die, die es werden wollen.«
(Publik Forum)
Sequentielle Traumatisierungsprozesse
und die Aufgaben der Jugendhilfe
2. Aufl., 268 S., Pb., € 24,90, ISBN 978-3-95558-072-8
»Es kommen junge Flüchtlinge zu Wort. Die meisten wurden Schleppern anvertraut, weil ihre Eltern Sicherheit für
sie wollten. Vorsichtig formulieren sie die Gründe ihrer
Flucht: Krieg, Gewalt, Armut und Hunger. Aber auch ihre
Wünsche und Hoffnungen benennen sie.« (Publik Forum)
Scheidswaldstr. 22 · 60385 Frankfurt am Main · [email protected] · www.brandes-apsel-verlag.de
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service rezensionen
diesen Machenschaften kaum Einhalt, obwohl einige
Gesetze und Abkommen das verlangen. Auch in
Uganda, Ruanda und Burundi entscheiden lokale und
nationale Machtkonstellationen über den Landbesitz.
Nach dem dortigen Ende der gewaltsamen Konflikte
beziehungsweise des Genozids wurden teilweise neue
Landrechte erlassen, deren Umsetzung jedoch um-
stritten ist. Mancherorts legen in- und ausländische
Interessenten die Besitzregeln sehr eigenwillig aus.
Die einheimische Bevölkerung wird häufig ausgebeutet oder vertrieben, Konflikte eskalieren. Umso wichtiger sind transparente Vergabeprozesse und Konfliktmediationen. Dazu fordern die Herausgeberinnen in
ihrem lesenswerten Buch auf.
Rita Schäfer
Welt ohne Sinn
Der ägyptische Autor Ahmed Khaled Towfik hat einen
düsteren und verstörenden, gleichzeitig aber ungemein spannenden Roman vorgelegt: Bleibt nur die
Hoffnung, dass seine Vision sich nicht erfüllen wird.
Ahmed Khaled Towfik
Utopia
Roman aus Ägypten
Lenos-Verlag, Basel 2015, 188 Seiten,
19,90 Euro
Towfik bedient keines der gängigen Klischees über die
arabische Literatur. Nichts erinnert an das erzählerische Schwelgen des Literaturnobelpreisträgers Nagib
Mahfus und nirgends wird ein Orient beschworen, an
dem sich westliche Leser ergötzen könnten. „Utopia“
ist ein erschreckendes Gesellschaftsbild, das die aktuellen Verhältnisse in Ägypten in eine nicht allzu ferne
Zukunft verlegt. Die Schere zwischen Arm und Reich
ist so weit aufgegangen, dass sich zwei getrennte, extrem polarisierte Völker herausgebildet haben, die keine Mittelschicht mehr verbindet: eine hochexplosive
Situation.
Der Romantitel ist der Name, den Towfik einer
Luxuskolonie irgendwo an der ägyptischen Mittelmeerküste gegeben hat. In „Utopia“ haben sich die Superreichen eingerichtet. Scharfe Kontrollsysteme und
ein Heer von Marines halten sie abgeschottet von den
Armen, die in dem verelendeten, anarchischen Moloch Kairo leben. In drastischer Manier, teilweise sogar ekelerregend, beschreibt Towfik das sinnentleerte
Leben hier wie dort. Die einen sind durch Armut und
Hunger zu gefühllosen Tieren geworden. Die anderen
ersticken förmlich an den unbegrenzten Möglichkeiten und ertragen die große Langeweile nur noch mit
Sex, Drogen und Horrorvideos.
Die Jeunesse d’Orée in Utopia hat nur noch einen großen Traum: Einmal einen Menschen aus der
Armenkolonie zu jagen, brutal zu töten und dann
mit einer Trophäe – etwa einem abgetrennten Arm
– nach Utopia zurückzukehren. Dann werden ein junger Mann und seine Freundin auf einer solchen Jagd
enttarnt – und es beginnt ein spannungsgeladener
Thriller, bei dem nie klar ist, wer hinter wem her ist.
Beide „Völker“ sind sich erschreckend ähnlich. Die
Reichen „nehmen Drogen, um der Langeweile zu entfliehen. Sie praktizieren die Religion, weil sie fürchten, alles zu verlieren, denn sie wissen nicht, warum
und wie sie es verdienen. Wir nehmen Drogen, um
die quälende Gegenwart zu vergessen. Wir praktizieren die Religion, weil wir es nicht aushalten, uns für
nichts und wieder nichts so zu schinden“, lässt Towfik
einen jungen Mann aus der Armenkolonie sagen. Das
mag zynisch klingen, angesichts der realen Kluft zwischen Arm und Reich in Ägypten und der gesamten
arabischen Welt, lässt sich diese Aussage aber kaum
von der Hand weisen.
Erstaunlich ist, dass Towfik seinen Roman schon
2009 geschrieben hat, also vor den Umwälzungen,
die als Arabischer Frühling bezeichnet werden. Die
Hoffnungen der jüngsten Revolutionen sind mittlerweile wieder zerstört und mehr denn je steht die Frage im Raum: Wohin treibt die arabische Welt? Es fällt
schwer, der Utopie Towfiks etwas entgegenzusetzen,
der eingangs klarstellt, dass die Luxuskolonie und
alle beschriebenen Personen rein fiktiv seien, „wenn
sich der Autor auch der baldigen Existenz dieses Ortes
gewiss ist“. Bleibt zu hoffen, dass „Utopia“ eine Utopie
bleibt und nicht irgendwann zur Realität wird. Katja Dorothea Buck
kurzrezensionen
Ausgewogene
Offenheit
42 Prozent der Deutschen schenken laut Studien großen zivilgesellschaftlichen Organisationen
kein Vertrauen mehr. Immer
mehr Menschen seien „beunruhigt von Vorgängen, die sie ahnen, von denen sie aber nichts
oder wenig wissen“, schreibt der
Politikwissenschaftler
Ruppert
Graf Strachwitz zur Einleitung
seines Buches. Das gelte sogar für
renommierte
Hilfsorganisationen wie Unicef. Und es ist besonders fatal, weil die Zivilgesellschaft vom freiwilligen Engagement der Bürger lebt – Vertrauen
ist eine Grundvoraussetzung. Die
Politik begegne diesem Manko oft
mit der einfachen Forderung
nach mehr Transparenz, erklärt
Strachwitz. Der schließt er sich
grundsätzlich an, plädiert aber
zugleich für eine differenzierte
Auseinandersetzung damit. So
müssten die Handlungsfelder der
Organisationen
berücksichtigt
werden. Ein Beispiel: Wenn eine
Organisation Proteste gegen den
Staat organisiere, sei es zum
Schutz vor Repression wichtig,
ihre Struktur nicht komplett offenzulegen. Auch hätten in manchen Fällen bestimmte Interessensgruppen wie Mitglieder einen anderen Anspruch auf Transparenz als die breite Öffentlichkeit.
Das Buch ist in Teilen etwas sperrig geschrieben – manchmal erschließt sich erst am Ende eines
Abschnittes, worauf der Autor hinauswill. Dafür veranschaulicht
es die vielfältigen Anforderungen
an zivilgesellschaftliche Organisationen und liefert einen Beitrag
zur Diskussion, wie weit Transparenz gehen sollte.
(me)
Ruppert Graf Strachwitz
Transparente Zivilgesellschaft?
Accountability und Compliance in NonProfit-Organisationen
Wochenschau Verlag, Schwalbach
2015, 174 Seiten, 14,80 Euro
9-2015 |
termine service
termine – veranstaltungen
25. bis 27. September 2015
Das kann ja heiter werden!
Entwicklungspolitische Bildung
im Geiste des Humors
Bildungsstelle Nord von
Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst
Kontakt: Tel. 040-6052559
www.brot-fuer-die-welt.de
Berlin
21. bis 22. September 2015
Inklusiv politisch bilden –
zusammen politisch gestalten
Bundeszentrale für
politische Bildung
Kontakt: Tel. 0228-99515-200
www.bpb.de
Koblenz
15. bis 17. Oktober 2015
Frieden lernen? Perspektiven
einer Friedensbildung im
21. Jahrhundert
Friedensakademie
Rheinland-Pfalz
Kontakt: Tel. 0228-2499927
www.uni-koblenz-landau.de
Kochel am See
5. bis 9. Oktober 2015
Internationale Konflikte um
Wasser
Georg-von-Vollmar-Akademie
Kontakt: Tel. 08851-780
www.vollmar-akademie.de
Königswinter
25. bis 27. September 2015
Frauen im Islam
9. bis 11. Oktober 2015
Tourismus in der Dritten Welt und
seine Folgen
Beispiel Jamaika und Karibik Stiftung ChristlichSoziale Politik e.V.
Kontakt: Tel. 0 22 23 / 730
www.azk-csp.de
Münster
18. bis 19. September 2015
Hoffen auf Paris?
Chancen und Grenzen internationaler Klimapolitik und die Rolle
von Religionsgemeinschaften
Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche
von Westfalen
Kontakt: Tel. 02304-755-332
www.kircheundgesellschaft.de
Weingarten
4. bis 9. Oktober 2015
Einwanderung – Flüchtlingsschutz
– soziale Rechte
Weingartener Herbstwoche
zum Migrationsrecht
Impressum
Redaktion:
Bernd Ludermann (bl, verantw.),
Tillmann Elliesen (ell), Gesine Kauffmann (gka),
Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online)
Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main;
Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main
Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162
E-Mail: [email protected]
Akademie der Diözese
Rottenburg-Stuttgart
Kontakt: Tel. 0751-5686-0
www.akademie-rs.de
Würzburg
5. bis 9. Oktober 2015
Brennpunkt Orient –
Krisen mit globalen Auswirkungen?
Akademie Frankenwarte
Kontakt: Tel. 0931-80-464-0
www.frankenwarte.de
Österreich
Linz
18. bis 20. September 2015
Messe WearFair & mehr 2015
Verein zur Förderung eines fairen
und ökologischen Lebensstils
Kontakt: Tel. 0732-772-652-29
www.wearfair.at
Bern
11. September 2015
Hunger, Wut & Wandel
Empörung als treibende Kraft für
gesellschaftliche Veränderung
Brot für alle
Kontakt: Tel. +41-31-38065-65
www.brotfueralle.ch www.welt-sichten.org
Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der
Servicestelle Kommunen in der Einen Welt/Engagement
Global gGmbH.
Anzeigenleitung: Yvonne Christoph,
m-public Medien Services GmbH,
Zimmerstraße 90, 10117 Berlin,
Telefon: 030-325321-433,
www.m-public.de
Grafische Gestaltung:
Angelika Fritsch, Silke Jarick
Druck: Strube Druck&Medien
OHG,
Stimmerswiesen 3, 34587 Felsberg
Ansprechpartner in Österreich:
Gottfried Mernyi, Kindernot­hilfe Österreich, 1010 Wien,
Dorotheergasse 18
Verlegerischer Dienstleister:
Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH,
Frankfurt am Main
Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP), Hans Spitzeck (Vorsitzender), Brot
für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, CarolineMichaelis-Straße 1, 10115 Berlin
Preis der Einzel-Nr.: 5,50 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten
Preis im Jahresabonnement: 49,20 Euro, ermäßigt 36,90 Euro.
Preisänderungen vorbehalten.
| 9-2015
Freitag, 11. September
16:15-17:00, ARTE
Afghanistans verkleidete Mädchen. Die Bacha
Posh. „Der Mensch denkt
mit den Augen“, so lautet
ein afghanisches Sprichwort. Und so werden aus
Toheba und ihrer Schwester
Rosmana zwei Mädchen
„als Junge verkleidet“. Mit
dieser Tradition können
afghanische Mütter dem
Stigma entgehen, keine
Söhne geboren zu haben.
Schweiz
Ständig Mitarbeitende:
Kathrin Ammann (kam), Bern; Katja Dorothea Buck (kb), Tübingen; Heimo Claasen (hc), Brüssel; Ralf Leonhard (rld), Wien;
Claudia Mende (cm), München; Theodora Peter (tp), Bern;
Rebecca Vermot (ver), Bern; Marina Zapf (maz), Berlin
Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt
– Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), Christoffel-Blindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern), Kindernothilfe
(Duisburg), Misereor (Aachen)
tv-tipps
© Katrin Eigendorf
Ammersbek
ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“
und „eins Entwicklungspolitik“.
ISSN 1865-7966 „welt-sichten“
Montag, 28. September
22:50-00:20, ARTE
Hannas Garten. Spielfilm
von Hadar Friedlich. Die
80-jährige Hanna hat ihr
Leben lang im Kibbuz
gelebt. Seit sie in Rente
und nicht mehr versichert
ist, darf sie offiziell nicht
mehr für das Kollektiv
arbeiten – und fühlt sich
nutzlos. Sie beginnt, heimlich nachts zu arbeiten
Radio-tipps
Montag, 14. September
19:20-20:00, SWR2
Ohne Netz und doppelten
Boden: Die mexikanische Journalistin Yohali
Reséndiz berichtet über
Korruption, Polizeigewalt
und Drogenkartelle.
Sonntag, 27. September
09:30-10:00, DLF
Essay und Diskurs: Warum
gehen Amerikas Kriege so
häufig schief?
Weitere TV- und Hörfunk-Tipps
unter www.welt-sichten.org
65
66
service termine
termine – kulturtipps
Gestalten aus Licht und Schatten
Schattenspielfigur aus Java vom
Ende des 19. Jahrhunderts.
a.dreyer/lindenmuseum Stuttgart
Berlin
Das Lindenmuseum in Stuttgart
widmet der Welt des Schattentheaters eine Ausstellung und legt
Düsseldorf
dabei besonderes Augenmerk
auf regionale Besonderheiten.
In Indien, auf Java und in Thailand ist das Schattentheater im
Rahmen von Tempelfesten eine
zeremonielle Handlung. Es erzählt aber auch große Epen und
ist bis heute Teil der kulturellen
Identität. In China nimmt es
Elemente der chinesischen Oper
wie Musik, Kostüme und Masken
auf und wird zu einem künstlerischen Gesamterlebnis. Im Orient
hingegen diente es vor allem als
Spiegel der Gesellschaft und zur
Unterhaltung des Publikums.
Zu sehen sind Stücke aus der
Sammlung des Museums, die bislang nicht öffentlich zugänglich
gewesen sind. Dazu zählen Figuren aus China, Südostasien und
Friedrichshafen
Ägypten, darunter die ältesten
bekannten Schattenspielfiguren
der islamischen Welt. Mit Musik,
Gesang, Bild und Film sollen die
alten Erzähltraditionen nachgestellt werden. Darüber hinaus
will die Ausstellung die engen
Verbindungen der asiatischen
und orientalischen Schattentheater-Tradition nach Europa beleuchten. Dafür hat das Internationale Schattentheater Zentrum
Schwäbisch Gmünd Leihgaben
zur Verfügung gestellt.
Stuttgart
3. Oktober 2015 bis 10. April 2016
Linden-Museum
Die Welt des Schattentheaters
Kontakt: Tel. 0711-2022-3
www.lindenmuseum.de
Paderborn
10. bis 20. September 2015
Nuevo Cine Argentino
Seite Mitte der 1990er Jahre
feiern argentinische Filme
Erfolge bei internationalen
Festivals und finden ihren Weg
in europäische Programmkinos.
Das Haus der Kulturen geht der
Entwicklung der argentinischen
Filmszene nach. Impulsgeber
für das erfolgreiche „nuevo cine
argentino“ waren IndependentFilmemacher. Sie reflektierten
in ihren Low-Budget-Filmen die
gesellschaftlichen Umbrüche,
die das neoliberale Wirtschaftsprogramm des damaligen
Präsidenten Carlos Menem
(1989-1999) mit sich brachte. Die
Finanzkrise von 2001 und die
Auswirkungen der Militärdiktatur sowie persönliche Themen
bestimmen die Werke von Filmemachern wie Lucrecia Martel,
Pablo Trapero und Albertina
Carri. Gemeinsam ist ihnen der
experimentelle, dokumentarische Stil. Kurator des Festivals ist
der argentinische Filmkritiker
und Schriftsteller Alan Pauls.
26. September 2015 bis
24. Januar 2016
The Problem of God
Die Kunstsammlung NordrheinWestfalen beleuchtet den Einfluss der christlichen Bildsprache
auf Gesellschaft und Kunst.
Die Ausstellung zeigt Arbeiten
internationaler Künstler, die
christliche Themen in neue
Zusammenhänge stellen oder
kritisch reflektieren: in Installationen, Videos, Fotografien
und Bildern. Titelgebend ist eine
Installation von Pavel Büchler.
Der in Tschechien geborene
Künstler verweist mit einem
theologischen Buch und einem
Vergrößerungsglas, auf dem „invisible“ steht, auf die Unsichtbarkeit Gottes. Die Ausstellung stellt
Arbeiten zu Spiritualität und
Transzendenz den Werken zu
Leid, Schmerz und Fleischlichkeit
gegenüber. Mit Kunstschätzen
aus den vergangenen Jahrhunderten sollen die Symbole und
Themen ergänzt werden, die
von den Künstlerinnen und
Künstlern aufgegriffen wurden.
bis 4. Oktober 2015
Fließende Grenzen
Im Bodensee vor Friedrichshafen schwimmt ein kleines
Hausboot. Es ist Teil der Kunstaktion „fließende Grenzen“
des deutsch-marokkanischen
Künstlerduos Katrin Ströbel und
Mohammed Laouli. Sie arbeiten seit zwei Jahren an einem
Videoprojekt zum Thema Flucht
und Migration, und zeigen ihre
bisherigen Ergebnisse derzeit
im Zeppelin-Museum Friedrichshafen. Zu sehen und zu
hören sind Videoinstallationen,
die sich aus Film- und Tonaufnahmen von verschiedenen
Begegnungen und Gesprächen
mit Menschen vorangegangener
Stationen zusammensetzen. Die
beiden Künstler laden dazu ein,
über Flucht, Vertreibung und
Migration zu diskutieren. Sie
wählen Museen an Grenzen aus,
die per Schiff passiert werden
können. Bislang waren sie in
Rabat, auf Lanzarote, in Marseille
und in Amsterdam zu Gast. Die
nächste Station ist Bregenz.
bis 13. Dezember 2015
Caritas – Nächstenliebe von den
frühen Christen bis zur Gegenwart
Warum setzen sich Menschen
für andere ein? Die Ausstellung
will zeigen, wie sich Nächstenliebe in Kunst und Kultur in
verschiedenen Epochen äußerte.
Der Schwerpunkt liegt dabei auf
der christlichen Haltung, der
Caritas, die mit Exponaten aus
Europa und den USA beleuchtet
werden soll. Antike Sarkophage,
Wandmalereien aus römischen
Katakomben und mittelalterliche Schatzkunst bieten eine
kulturhistorische Rückschau. Der
Bogen spannt sich dann über
Gemälde bedeutender Künstler
wie Raffael, Peter Paul Rubens,
Eugène Delacroix, Ernst Ludwig
Kirchner und Pablo Picasso bis zu
Foto- und Videoarbeiten von Vanessa Beecroft und Bill Viola, die
mit den Werken der alten Kunst
in einen spannungsreichen
Dialog treten. Zudem werden
Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme in Zeiten wirtschaftlicher
Globalisierung beleuchtet.
Haus der Kulturen der Welt
Kontakt: Tel. 030-397-87-0
www.hkw.de
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Kontakt: Tel. 0211-8381-204
www.kunstsammlung.de
Zeppelin Museum
Kontakt: Tel. 07541-38010
www.zeppelin-museum.de
Diözesanmuseum Paderborn
Kontakt: Tel. 05251-125-1400
www.dioezesanmuseum-paderborn.de
9-2015 |
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