5,50 € | 7,80 sFr www.welt-sichten.org 9-2015 september Weltbank: Ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt Flüchtlinge: In den Fängen der Mafia Ägypten: Gemeinsam gegen die Revolution Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit Entwicklung – wohin? en h c o W 10 ende taz.am n Woche uro E 0 1 r fü abo test taz.de/ Mit ihren LeserInnen teilt die taz Informationen und Ideale. Die taz.am wochenende ist die taz für die freien Tage. Und für freie Gedanken. taz.die solidarische Methode editorial Liebe Leserinnen und Leser, Bernd Ludermann Chefredakteur meine Großeltern sind in einer Welt aufgewachsen, die wir uns kaum noch vorstellen können. Nicht nur Computer, Telefon und Autos, sondern auch Zentralheizung, Mähdrescher, elektrisches Licht, Kunstfasern, Ananas und Kaffee waren in ihrer Jugend entweder unbekannt oder selten und teuer. Heute ist das alles selbstverständlich, denn wir sind „entwickelt“. Der Begriff ist eng mit der Vorstellung von linearem Fortschritt verbunden, erklärt Corinna Unger in ihrem Beitrag. „Rückständige“ Gebiete zu entwickeln, diente auch als Rechtfertigung für Herrschaft. Und obwohl sich das Projekt Entwicklung ständig gewandelt hat, ist sein Kern noch immer das Wirtschaftswachstum. In eigener Sache ist erneut Medienpartner der Schweizer Dieses hat den Verbrauch an Rohstoffen und Energie Akademia Engelberg in der Nähe von Luzern. Sie, liebe sowie den Ausstoß von Müll und Treibhausgasen Leserinnen und Leser, sind eingeladen, Mitte Oktober deren immens gesteigert. Muss man sich deshalb vom Jahrestagung „Zukunftsfähige Wirtschaftssysteme“ zu gängigen Entwicklungsmodell verabschieden? In Indien besuchen. Sie erhalten einen Nachlass von 50 Franken auf keinesfalls, sagt die indische Wissenschaftlerin Joyash die Kostenbeteiligung von 200 Franken. Wer sich anmelden ree Roy: Mit welchem Recht dürfte man den Armen den möchte, wendet sich bitte an [email protected]. einzig nachweislich gangbaren Weg zum Wohlstand versperren? Weil er in die Umweltkatastrophe führt, entgegnet ihr Landsmann Chandran Nair. Er vertraut nicht auf den technischen Fortschritt, sondern fordert eine Abkehr vom hemmungslosen Konsum – unter der Führung Asiens. Auch in Europa werden Rufe nach sozialen und ökologischen Wirtschaftsweisen lauter. welt-sichten-Redakteurin Gesine Kauffmann hat sich mit der Gemeinwohl-Ökonomie einen praktischen Ansatz angesehen. Das politische Versagen Europas wird heute nirgends deutlicher als beim Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Davon profitierten nicht nur skrupellose Schlepper, sondern auch die italienische Mafia, schildern Alex Perry und Connie Agius. Und Jean-Pierre Filiu erklärt, warum arabische Diktatoren der falsche Partner im Kampf gegen islamistische Extremisten sind: Sie bekämpfen vor allem Demokraten und fördern den Terror. Wenn Sie das nächste Heft kaum erwarten können, dann schauen Sie doch einmal auf www.welt-sichten.org vorbei. Wir haben unsere Website neu gestaltet und berichten dort wie gewohnt sachlich, gründlich, kritisch – und aktueller als zuvor. Eine spannende Lektüre wünscht | 9-2015 3 inhalt ye aung thu/afp/Getty images 4 12 Was bedeutet Entwicklung? Das kann für den Einzelnen sehr unterschiedlich sein. Die Familie im südafrikanischen Armenviertel Soweto auf dem Titelbild würde sich vermutlich fließendes Wasser und Strom wünschen. Solche Grundvoraussetzungen für Entwicklung müssen erfüllt werden – darüber gibt es keinen Streit. Wohl aber darüber, wie die Menschheit künftig wirtschaften und konsumieren soll ohne die Grenzen der Erde zu sprengen. Hollandse Hoogte/laif Die westliche Lebensweise fördert den Klimawandel. Die Kosten tragen vor allem die Menschen in armen Ländern: Überschwemmungen in Myanmar. 23 schwerpunkt: entwicklung 12 Immer vorwärts Aufstrebende Länder aus dem Globalen Süden stellen die Ordnung der internationalen Entwicklungspolitik infrage Corinna R. Unger 18 Schlechter Start Die neuen Nachhaltigkeitsziele der UN ändern nichts an der neoliberalen Wirtschaftspolitik Tidiane Kassé 20 Fortschritt für alle! Die Armen in Indien müssen in den Genuss technischer Errungenschaften kommen Von Joyashree Roy 23 Die Party ist zu Ende Der Konsum muss gedrosselt werden, damit die Erde überleben kann Von Chandran Nair 27 Das Klima retten aus Kalkül Costa Rica will bis 2021 klimaneutral werden. Ist das ernst gemeint? Markus Plate 28 Anders wachsen Unternehmen probieren aus, wie die Wirtschaft dem Gemeinwohl dienen kann Ein Teil der Auflage enthält Beilagen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung und der informationsstelle südliches afrika e.V. sowie . eine Bestellkarte von Gesine Kauffmann 32 Feuer für das „gute Leben“ Eine Berliner Theatergruppe will ihr Publikum für alternative Lebenskonzepte begeistern Hanna Pütz 9-2015 | Sarah Caron inhalt Standpunkte 6 Die Seite Sechs 7 Leitartikel: Ein unvollendetes Werk. Weltpolitik braucht mehr als eine starke Weltorganisation Tillmann Elliesen 8 Kommentar: Ohne Rücksicht für den Fortschritt. Die Weltbank achtet bei vielen Projekten zu wenig auf Mensch und Umwelt Korinna Horta 10 Kurzkommentar: Die Kunst der schönen Worte. Die SDGs werden die sozial-ökologische Transformation nicht befördern Der Weg über das Mittelmeer ist teuer und endet oft tödlich. Und nach der Ankunft in Italien können Flüchtlinge schnell in die Fänge der Mafia geraten. 34 Bernd Ludermann 10 Kurzkommentar: Stich ins Wespennest. Amnesty International will die Prostitution legalisieren Gesine Kauffmann 11 Herausgeberkolumne: Unternehmen müssen stärker in die Pflicht genommen werden Daniel Hostettler welt-blicke Journal 34 Flüchtlinge: Im Netz der Verbrecher Menschenhändler und Mafia verdienen sich mit dem Elend von Flüchtlingen eine goldene Nase 48 K inderrechte: „Gefängnisse sind eine Schule der Kriminalität“ Alex Perry und Connie Agius 39 Ägypten: Gemeinsam gegen die Revolution Diktatoren und Dschihadisten bekämpfen die demokratischen Bewegungen Jean-Pierre Filiu 43 Gesundheit: Kräutertrank aus dem Kloster In Nigeria vereint ein Unternehmen traditionelle Pflanzenheilkunde mit moderner Wissenschaft Sam Olukoya 46 Schweiz: „Der Regierung auf die Finger schauen“ Gespräch mit dem scheidenden Geschäftsführer der Alliance Sud, Peter Niggli 50 Studie: PPPs sind teuer und riskant 51 Berlin: Steuerinitiative als Trostpflaster 52 Brüssel: Unendliche Geschichte: Die Reform des EU-Emissionshandels 53 Schweiz: Altersvorsorge-Fonds stoppt Investitionen in Nahrungsmittel 55 Österreich: Streit über den Umgang mit Asylbewerbern 57 Kirche und Ökumene: Regierung in Den Haag kürzt Zuschüsse für Hilfsorganisationen 58 Global Lokal: Baden-Württemberg bleibt Partner des Krisenlandes Burundi 59 Personalia service 60 Filmkritik Kommentieren Sie die Artikel im Internet: www.welt-sichten.org 61 Rezensionen 65 Termine | 9-2015 65 Impressum 5 standpunkte die seite sechs Reife Leistung Chappatté – www.globecartoon.com 6 Europa, man weiß es, ist in schlechter Verfassung. Griechenland, Flüchtlinge, das Verhältnis zu den Nachbarn in Ost und Süd - nichts kriegt der alte Kontinent einigermaßen geregelt. Da ist es tröstlich, dass wenigstens frühere Erfolge der Europäischen Union weltweit noch als Vorbild gelten. Erinnern Sie sich an den Sieg über Milchberge und Butterseen seit den 1980er Jahren? Was wir damals nicht selbst essen und auch nicht verbilligt auf den Weltmarkt werfen konnten, wurde zur Preisstützung einfach vernichtet. Und schon erzeugten die Bauern noch mehr. Wer ist’s? „Ich empfinde auf jeden Fall, dass es eine extrem nicht zufriedenstellende Situation ist.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Umgang mit Flüchtlingen. Dieses eine Mal hatte er sich überschätzt: Vor 30 Jahren wollte er Bürgermeister werden in der Stadt, in der er die meiste Zeit seines Lebens verbringen sollte. Siegesgewiss ließ er sich vor der Wahl schon einmal im Chefsessel ablichten. Das gefiel vielen nicht – sein Konkurrent gewann. Davon abgesehen legte der Vater von drei Kindern eine steile politische Karriere hin. Mehrere Jahre versah er in seinem Heimatland hochrangige Positionen. Dabei hatte er sich zunächst auch im Ausland einen Namen als Wissenschaftler gemacht. Studiert hat er unter anderem in Frankreich und in Chile, wo er gemeinsam mit anderen seines Faches eine linke Entwicklungstheorie entwickelte, die viel diskutiert – und natürlich auch bestritten – wurde. In seiner Zeit als Politiker förderte er dann jedoch die Privatisierung staatli- cher Unternehmen, wofür ihn seine früheren Mitstreiter des Verrats bezichtigten und ihn in die neoliberale Ecke stellten. Zugleich setzte er sich für den Schutz der Menschenrechte ein, und er gilt als Vater der bis heute sehr erfolgreichen Sozialprogramme in seiner Heimat. Trotzdem schwand seine Popularität in der zweiten Amtszeit rapide; damit hinterließ er seinen Parteifreunden ein gemischtes Erbe. Nach seiner Zeit in der Politik lehrte er an diversen Universitäten, verfasste mehrere Bücher und erhielt zahlreiche Ehrungen. Noch immer ist der heute 84-jährige, der vier Sprachen spricht, in verschiedenen Ämtern bei Stiftungen und hochrangigen Gremien aktiv. Wer ist’s? Auflösung aus Heft 8-2015: Gesucht war Norodom Sihanouk, König und Staatsoberhaupt von Kambodscha. Trotzdem ist das Verfahren bei uns in Verruf gekommen. Dafür hat sich die Regierung Angolas daran ein Beispiel genommen. Elf Millionen Eier hat sie kürzlich vernichten lassen, weil die angeblich ohne Gesundheitszertifikat eingeführt worden waren. In Wahrheit steckt dahinter, dass Angola im Januar Importquoten für ausländische Speisen eingeführt hat. Die Regierung will, dass mehr Eier im Land gelegt werden – zum Nutzen der heimischen Bauern. Sie hat das Prinzip verstanden: Wie weiland Europa nutzt sie die Vernichtung von Nahrung, um die Ernährungssicherheit zu stärken. Nicht verstanden hat es Wladimir Putin. Er lässt tonnenweise Käse, Fleisch und Obst aus der EU vernichten, nur weil er sich für die Sanktionen des Westens wegen der Ukraine rächen will. Russlands Bauern wird das gar nichts nutzen. Oder glaubt irgend jemand, dass die demnächst richtigen Camembert herstellen? Freilich, wir sollten auch hier nicht allzu scharf urteilen. Immerhin tut Putin uns im Grunde einen Gefallen: Wenn deutsches Fleisch und französischer Käse nicht ihren Weg nach Russland fänden und dort vernichtet würden, dann müssten wir das am Ende gar wieder selbst tun. Und wie sähe das denn aus? 9-2015 | leitartikel standpunkte Ein unvollendetes Werk Weltpolitik braucht eine starke Weltorganisation – und noch mehr Von Tillmann Elliesen D ie Vereinten Nationen seien oft „ein Ort der Frustration und der Unentschlossenheit“. Und manchmal auch der „wahnsinnig machenden Untätigkeit“ – wie zum Beispiel in Syrien. Der Stoßseufzer stammt von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon aus einer Rede im Juni zum 70. Geburtstag der Weltorganisation. Im Jubiläumsjahr 2015 sehen die Vereinten Nationen sich mit einer Vielzahl dramatischer Krisen und schwerer Aufgaben konfrontiert – und nicht nur ihr oberster Boss findet, dass sie dabei nicht immer die beste Figur machen. Das fängt an mit den Kriegen in der arabischen Welt, geht weiter mit der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg und reicht bis zur ungelösten Frage, wie der menschengemachte Klimawandel gebremst werden kann. Wie ein gutes Leben und eine nachhaltige Gesellschaft aussehen, lässt sich nicht bei den Vereinten Nationen beschließen. Tillmann Elliesen . ist Redakteur bei | 9-2015 In all diesen Krisen haben die Vereinten Nationen bislang bestenfalls an den Symptomen herumdoktern können, etwa indem sie Flüchtlinge mit Essen und Unterkünften versorgen. Den Ursachen stehen sie weitgehend hilflos gegenüber. Der Weltorganisation wohlgesonnene Fachleute und Politiker betonen zu Recht, dass das den UN selbst nur zum Teil angelastet werden kann. Man kann es nicht oft genug sagen: Die Vereinten Nationen sind nur so stark, wie ihre knapp 200 Mitglieder es zulassen. Und allzu stark haben sie sie oft nicht werden lassen. Die aktive Rolle etwa, die den UN in der Friedenssicherung zugedacht war, notfalls mit eigenen Truppen, hat sie nie bekommen. Die USA und die Sowjetunion wollten das im sich zuspitzenden OstWest-Konflikt nach 1945 nicht. Und heute sind dem Sicherheitsrat im Krieg in Syrien die Hände gebunden, weil sich Washington und Moskau nicht einigen können. Wenn es um Entwicklungs- oder Gesundheitspolitik oder um humanitäre Hilfe geht, für die die vielen Unterorganisationen der UN zuständig sind, zeigen sich die Mitglieder oft knauserig. Oder sie zahlen nur dann ihre Beiträge, wenn sie selbst bestimmen können, wofür das Geld verwendet wird. Auch das lähmt die Arbeit der Weltorganisationen. Um die UN schlagkräftiger zu machen, sind deshalb einige Reformen nötig – über die teilweise schon seit Jahren beraten wird. Dazu gehört die Frage, wer in Zukunft als ständiges Mitglied dem Sicherheitsrat angehören soll und ob einzelne Staaten weiter ihr Veto gegen Entscheidungen einlegen können dürfen. Zudem müsste der Wirtschafts- und Sozialrat aufgewertet werden und mehr Kompetenzen erhalten, um globalen sozialen Problemen wie Hunger und Armut besser gerecht zu werden. Und die Finanzierung der Weltorganisation muss neu geregelt werden, so dass sie über ein zuverlässiges und angemessenes Budget verfügt, über das sie frei verfügen kann. Allerdings stellt sich auch die Frage, für welche Aufgaben die Vereinten Nationen heute noch taugen und für welche nicht. Seit ihrer Gründung ist die Weltlage unübersichtlicher geworden, Kriege und Konflikte sind komplizierter als früher, nichtstaatliche Kräfte wie Unternehmen, eine internationale Zivilgesellschaft und ihr dunkles Gegenstück, die organisierte Kriminalität, mischen in der globalen Politik mit, wie das seinerzeit nicht vorstellbar war. Mit dem Klimawandel und der Suche nach einem Entwicklungsmodell, das den Planeten nicht zugrunde richtet, muss die Menschheit Probleme bewältigen, von denen damals keine Rede war. Nötig sind deshalb nicht nur stärkere Vereinte Nationen, sondern auch eine neue Arbeitsteilung zwischen ihr und anderen Spielern in der Weltpolitik. Dazu zählen Regionalorganisationen wie die Europäische und die Afrikanische Union, aber auch Staatenbündnisse wie die G7 oder die G20 der großen Schwellen- und Industrieländer. Solche Bündnisse sehen manche Kritiker als nicht legitimierte Konkurrenten der UN. Tatsächlich aber ergänzen sie die Weltorganisation und können Aufgaben übernehmen, für die die UN-Zentrale in New York die falsche Adresse ist. Ein Beispiel ist die Regulierung der Finanzmärkte durch die G20. Die eine „Weltautorität“, wie sie Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“ zur Lösung der globalen Aufgaben vorschlägt, kann es nicht geben. Geht es um universelle Normen wie das Gewaltverbot und die Menschenrechte, müssen die Vereinten Nationen übernehmen. Doch wie ein gutes Leben und eine nachhaltige Gesellschaft aussehen, lässt sich nicht am East River beschließen – weshalb sich die UN mit den Nachhaltigkeitszielen übernommen haben dürften. Solche Fragen müssen vor Ort entschieden werden, in Städten etwa, von denen viele heute schon beim Klimaschutz vorangehen, ob die UN-Klimakonferenzen nun weiterkommen oder nicht. Die UN seien „ein unvollendetes Werk“, sagte Ban Ki-moon in seiner Rede. Und das, so könnte man hinzufügen, wird auch immer so bleiben. 7 8 standpunkte kommentar Ohne Rücksicht für den Fortschritt Die Weltbank achtet bei vielen Projekten zu wenig auf Mensch und Umwelt Von Korinna Horta Eine Welt ohne Armut will die Weltbank schaffen. Gleichzeitig will sie weiter im Entwicklungsgeschäft bleiben und sich gegen Konkurrenz wie die neue Entwicklungsbank der BRICS-Staaten behaupten. Dafür will das Management die Umwelt- und Sozialstandards der Bank aufweichen. Die Situation der Weltbank ist schwieriger geworden, Länder wie China und Indien sind nicht mehr nur Kunden, sondern zunehmend Konkurrenten im internationalen Entwicklungsbusiness. Da können Umwelt- und Sozialstandards zur lästigen Hürde werden, die dem schnellen Abfluss von Projektmitteln im Weg steht. Vor diesem Hintergrund überarbeitet die Weltbank derzeit ihre Standards. Die Standards sollen Menschen und Umwelt schützen – etwa wenn indigene Völker unter den Folgen von Projekten leiden, die die Weltbank finanziert. Das kann der Fall sein, wenn Plantagenwirtschaft, Palmölproduktion, industrieller Holzeinschlag, Bergbauprojekte und große Staudämme gefördert werden. Für die Einhaltung der Standards kann die Bank zur Rechenschaft gezogen Deutschland als viertgrößter Geber muss auf einem Menschenrechtsansatz bei den Weltbank-Standards bestehen. werden. Häufig wurden sie jedoch nicht eingehalten, wie das Inspection Panel, ein unabhängiger Beschwerdemechanismus der Bank, in vielen Fällen dokumentiert hat. Ein Beispiel: Laut Inspection Panel hat die Demokratische Republik Kongo mit Weltbank-Krediten steigende Exporte aus dem industriellen Einschlag von Tropenholz gefördert. Die Bedürfnisse von rund 40 Millionen Menschen, deren Lebensunterhalt von einem intakten Wald abhängt, wurden ignoriert. Außerdem decken die bestehenden Schutzstan- dards wichtige Bereiche wie Klimawandel und Menschenrechte nicht ab. Es wäre also angebracht, sie zu erweitern und zu stärken. Weltbank-Präsident Jim Yong Kim hatte im Oktober 2012 versprochen, die bestehenden Regeln nicht zu verwässern. Der erste Entwurf des neuen „Environmental and Social Framework“ wurde zwei Jahre später im Juli 2014 veröffentlicht. Darin waren die bisherigen Regeln allerdings stark abgeschwächt. Verbindliche Standards sollten durch weitgehend flexible Regeln ersetzt werden. Nach scharfer Kritik aus der Zivilgesellschaft, von einigen Regierungen und aus dem UN-Menschrechtsrat legte die Bank im vergangenen August einen zweiten Entwurf vor. Er enthält einige punktuelle Verbesserungen, aber die Grundprobleme sind geblieben. Die Regeln sollen für die Anwender so flexibel sein, dass sie in der Praxis zu freiwilligen Standards herabgestuft wären. Sie müssten nur dort berücksichtigt werden, wo es technisch oder finanziell möglich ist. Zudem wird die Verantwortung auf die Regierungen der Nehmerländer übertragen: Sie sollen das Risiko eines Projekts einschätzen, die Umweltund Sozialverträglichkeit prüfen sowie die Anwendung der Standards überwachen. Da die Regierungen oft selbst für die ökologischen und sozialen Probleme verantwortlich sind, besteht hier ein Interessenkonflikt. Trotzdem verlässt sich die Weltbank auf die Selbstkontrolle ihrer Klienten. Der Entwurf des neuen Rahmenwerkes sieht außerdem vor, dass die Weltbankstandards von nationalen Standards ersetzt wer- den können. Das wäre nur sinnvoll, wenn vorab erwiesen ist, dass diese Standards zumindest gleich streng sind wie die der Weltbank und ihre Umsetzung von unabhängiger Seite bestätigt werden kann. Die Vorgaben dazu fehlen jedoch in dem Entwurf. Die Umwelt- und Sozialstandards der Weltbank haben eine zentrale Bedeutung, weil sie quasi als globale Vorlage dienen. An ihnen orientieren sich regionale Entwicklungsbanken, die bilaterale Zusammenarbeit und häufig auch Regierungen in den Ländern des globalen Südens. Sie zu schwächen, würde einen Wettbewerb nach unten bis zum kleinsten gemeinsamen Nenner auslösen. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem Milliarden US-Dollar in den Bau neuer Infrastrukturprojekte investiert werden sollen. Der Bau von Straßen, Häfen, Staudämmen und Eisenbahngleisen kann dazu beitragen, die Lebensqualität zu verbessern. Aber er hat auch eine dunkle Seite, nämlich die Zerstörung der Umwelt und die Zwangsumsiedlung von Anwohnern. Verbindliche Umweltund Sozialregeln sind wichtig, um Umweltschäden gering zu halten und die einheimische Bevölkerung fair zu behandeln. Am härtesten werden von solchen Projekten diejenigen getroffen, die ohnehin am Rande der Gesellschaft leben und wenig politischen Einfluss haben – die verletzbarsten Gruppen, denen die Entwicklungszusammenarbeit eigentlich zugutekommen sollte. Beim Schutz der Menschenrechte zeigt sich eine weitere Schwachstelle im neuen Weltbank-Entwurf. Die Bank ist dem- 9-2015 | 9 wolfgang ammer kommentar standpunkte Korinna Horta ist Mitarbeiterin der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation urgewald und beschäftigt sich außer mit der Weltbank mit internationaler Klima-, Wald- und Menschenrechtspolitik. | 9-2015 nach nicht verpflichtet, in den von ihr finanzierten Vorhaben die Menschenrechte zu respektieren und zu verhindern, dass ihre Tätigkeit nicht zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Das „Vision Statement“ verweist lediglich darauf, dass die Weltbank die Ziele der UN-Menschenrechtscharta teilt, nimmt sonst aber keinen Bezug auf völkerrechtlich verbindliche Menschenrechtsabkommen. All das sind keine abstrakten Fragen: Von der Weltbank finanzierte Projekte haben zwischen 2004 und 2013 geschätzt 3,4 Millionen Menschen um ihre Lebensgrundlage gebracht. Sie wurden zwangsweise umgesiedelt oder verloren ihr Land. Das Internationale Konsortium investigativer Journalisten (ICIJ) hat nach jahrelanger Recherche dokumentiert, dass Weltbankprojekte in Indien, Peru, Kenia und im Südsudan viele Menschen ins Elend gestürzt haben. Bevor das ICIJ seine Ergebnisse veröffentlichte, gab die Weltbank im März 2015 zu, dass sie nur unzureichenden Überblick darü- ber hat, wie viele Menschen zwangsumgesiedelt wurden, und dass viele dieser Menschen nicht entschädigt und ihre Lebensgrundlagen nicht wieder aufgebaut wurden. Der Entwurf der neuen Umwelt- und Sozialstandards enthält keine Regelungen, solche Probleme zu verhindern. Dabei sind Menschenrechtsprüfungen der Weltbankprojekte wichtiger denn je. Zwischen 2009 und 2013 hat die Bank rund 50 Milliarden USDollar in Vorhaben investiert, die mit den höchsten Umwelt- und Sozialrisiken behaftet sind. Die Zahl der Hochrisikoprojekte hat sich im Vergleich zu den vorangegangenen fünf Jahren verdoppelt. Verschärfend kommt hinzu, dass sich das neue Rahmenwerk nur auf Investitionsprojekte bezieht; etwa die Hälfte des Weltbankportfolios wird außen vor gelassen. Dazu gehört die Unterstützung von Politikreformen, die einen Großteil der Fördermittel verschlingen und die keinerlei Standards unterliegen. Für Refor- men in den Bereichen Waldschutz und Bergbau sowie anderen Sektoren, in denen Umwelt- und Menschenrechtsschutz sehr wichtig sind, gelten keine klaren Schutzstandards. Noch diesen Herbst will die Weltbank eine weitere Beratungsrunde zum zweiten Entwurf ihres „Environmental and Social Framework“ abhalten. Deutschland als viertgrößter Geber in der Weltbank muss seine Stimme weiter einbringen und auf einem Menschenrechtsansatz bei den Standards bestehen. Die Weltbank braucht verbindliche Umwelt- und Sozialstandards, deren Einhaltung unabhängig begleitet wird. Statt den Wettbewerb nach unten zu beschleunigen, sollte die Bank auf die besten Richtlinien gegen Korruption und für Umwelt- und Sozialverträglichkeit setzen. So könnte sie dazu beitragen, dass internationales Kapital dorthin fließt, wo soziale Verantwortung und ökologische Nachhaltigkeit keine leeren Floskeln sind. 10 standpunkte kommentar Stich ins Wespennest Amnesty International will die Prostitution legalisieren Die Menschenrechtsorganisation bezieht Stellung in einer heiklen Debatte. Sie tut damit der Sache der Frauen keinen Gefallen. In der Frage, ob Prostitution legal sein soll, stehen sich Befürworter und Gegner oft unversöhnlich gegenüber. Höchste Zeit, sagen die einen, nur so könne man der Ausbeutung und Diskriminierung von Sexarbeiterinnen ein Ende machen. Bloß nicht, entgegnen die anderen: Wenn Freier und Zuhälter freie Hand haben, öffne das dem Frauenhandel Tür und Tor. In dieser heiklen Diskussion hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International klar Stellung bezogen: Auf ihrem International Council Meeting (ICM) Mitte August hat eine Mehrheit der 400 Delegierten aus 70 Ländern beschlossen, künftig für die weltweite Legalisierung der Prostitution einzutreten – allerdings nur bei einvernehmlichem Sex zwischen Erwachsenen. Die Grundsatzentscheidung gilt als umstritten; das genaue Ab- stimmungsergebnis teilt Amnesty nicht mit. Man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, hieß es, drei Jahre damit gerungen sowie zahlreiche Gespräche mit Sexarbeiterinnen geführt. Nun ist die internationale Führung der Organisation beauftragt, eine Politik zu dem Thema zu entwickeln. Auch wenn Amnesty betont, dass es bei der Legalisierung nur um einvernehmlichen Sex gehen soll: Die Organisation hat mit ihrem Grundsatzbeschluss der Sache der Prostituierten keinen Gefallen getan. Zum einen ist es höchst fragwürdig, wie „Einvernehmlichkeit“ definiert und dokumentiert werden soll. Jeder Freier wird darauf pochen, wenn er hoffen kann, so der Strafverfolgung zu entgehen. Und in den meisten Fällen wird er Mittel und Wege finden, seine Partnerin zur selben Äußerung zu zwingen. Damit ist dann praktisch alles erlaubt. Zum anderen: Es steht außer Frage, dass Frauen vor Menschenrechtsverstößen geschützt werden müssen. Ob aber den Frauen, die ihren Lebensunterhalt mit Prostitution verdienen, besser mit einem Verbot oder mit einer Legalisierung gedient ist – das ist nicht klar und nicht für alle Gesellschaften gleich. Es hängt unter anderem von kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen ab – und es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungen damit. Deshalb müssen praktische Wege entwickelt, erprobt und immer wieder kritisch hinterfragt werden, um Prostituierten ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Die globale Kampagne von Amnesty, die die Legalisierung zum universellen Weg erklärt, trägt nicht dazu bei. (gka) Die Kunst der schönen Worte Die Nachhaltigkeitsziele werden die sozial-ökologische Transformation nicht befördern Universelle Ziele für nachhaltige Entwicklung wollen die Vereinten Nationen im September auf ihrer Generalversammlung verabschieden. Wie sie aussehen werden, ist nun weitgehend klar. Aber ob die hehren Ansprüche eingelöst werden, ist fraglich. Diplomaten und Fachleute aus 193 Staaten haben den Entwurf für SDGs, den eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen 2014 vorgelegt hatte, praktisch unverändert bestätigt. Damit bleibt es bei 17 Oberzielen mit insgesamt 169 Zielvorgaben. Bis 2030 sollen extreme Armut und Hunger beseitigt, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze für alle gesichert, Ungleichheit in und zwischen den Ländern vermindert und nachhaltige Produktions- und Konsummuster eingeführt werden. Es ist ein Fortschritt, dass soziale Ungleichheit und die Übernutzung der Natur klar als Entwicklungsprobleme benannt werden. Allerdings hat der Erdgipfel in Rio schon 1992 Ähnliches festgestellt. Es ist zu befürchten, dass die SDGs ähnlich wirkungslos bleiben. Niemand kann sämtliche 169 gleichrangigen Zielvorgaben befolgen, die Regierungen dürfen also selbst Prioritäten setzen. Zudem soll das Überprüfungsverfahren zwar offen, transparent und partizipativ sein, jedoch unter der Kontrolle der Staaten und freiwillig. Damit zeichnet sich eine eher weiche Prüfung ab. Die SDGs sind ein Zwitter aus klarem Arbeitsprogramm und unverbindlicher Vision. Zielvorgaben wie Zugang zu Bildung und moderner Energie können im Prinzip mit einem Ausbau der Sozialdienste in armen Ländern erreicht und relativ leicht überprüft werden. Ihre Wirkung wird davon abhängen, ob reiche Länder das großzügig bezuschussen, was nach der jüngsten Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba fraglich ist. Viele auf gute Regierungsführung oder Nachhaltigkeit gerichtete Ziele lassen sich aber nur schwer in messbare Vorgaben übersetzen: Wann sind die Naturschätze „effizient und nachhaltig gemanagt“? Viele sind mit Absicht schwammig. Denn Ziele, die soziale Ungleichheit oder den Umgang mit Ressourcen betreffen, greifen tief in die Innenpolitik von Staaten ein. Und je stärker internationale Verträge das tun, desto schwerer sind sie auszuhandeln und desto weniger werden sie befolgt. Eine sozial-ökologische Transformation ist eben keine einvernehmliche Management-Aufgabe, sondern mit scharfen Konflikten verbunden. Keine Regierung wird Kohlekraftwerke abschalten oder Mindestlöhne erhöhen, weil sie die SDGs unterschrieben hat – so etwas muss innenpolitisch erkämpft werden. Dabei werden die SDGs so wenig helfen wie andere Konventionen, in denen längst Ähnliches vereinbart ist. (bl) 9-2015 | herausgeberKolumne standpunkte Im Auge der Zivilgesellschaft Unternehmen müssen stärker in die Pflicht genommen werden Die Schweiz ist Heimat vieler international tätiger Konzerne. Doch etliche von ihnen sorgen mit Menschenrechtsverletzungen für Schlagzeilen. Eine Volksinitiative setzt sich für mehr Sorgfalt und Verantwortung von Firmen ein. Von Daniel Hostettler N icht schon wieder, denkt die Leserin nach einem Blick in die Zeitung. Ein Minenkonzern zerstört die Lebensgrundlagen von Bauernfamilien in Afrika. Die Regelmäßigkeit solcher Nachrichten ist beunruhigend. War es vor kurzem nicht eine Nahrungsmittelfirma, die mit skrupellosen Paramilitärs in Südamerika Geschäfte machte? Und da war doch die bekannte Die Regierung hofft noch immer, dass die Unternehmen freiwillig tun, was sie selber nicht durchzusetzen wagt. Daniel Hostettler ist Koordinator Entwicklungspolitik beim Schweizer Hilfswerk Fastenopfer. | 9-2015 Kleidermarke, die in Entwicklungsländern unter erbärmlichen Bedingungen produzieren lässt. Allesamt Schweizer Unternehmen, denkt bekümmert die Schweizer Zeitungsleserin. Bei der Anzahl an internationalen Firmen, die sich in der Schweiz niederlassen, kein Wunder. Es stünde unserer Regierung gut an, endlich ein Zeichen zu setzen und den zunehmend schlechten Ruf unseres Landes zu verbessern. Menschenrechtsverletzungen durch hiesige Konzerne zerstören unsere Reputation. Und die ist bereits lädiert durch die Machenschaften des Finanzplatzes. Das können wir nicht hinnehmen. Aber die Regierung macht nichts. Sie hofft noch immer, dass die Unternehmen freiwillig tun, was sie selber nicht durchzusetzen wagt. Bern begrüßt zwar die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die ein Zusammengehen von freiwilliger Verpflichtung und gesetzlicher Regulierung vorsehen, tut aber nichts dafür. Und auch das Parlament bringt die Sache nicht weiter. Der Versuch, eine Sorgfaltsprüfungspflicht für international tätige Unternehmen einzuführen, ist diesen Frühling im Parlament gescheitert. Aber zum Glück gibt es in der Schweiz das Initiativrecht. Damit kann die Blockade in der Politik aufgebrochen werden. „Der Bund trifft Maßnahmen zur Stärkung der Respektierung der Menschenrechte und der Umwelt durch die Wirtschaft.“ Mit diesem schlichten Grundsatz beginnt der Text einer Volksinitiative, die im vergangenen April in der Schweiz lanciert wurde. Eine Koalition von über 70 Hilfswerken und Umweltorganisationen will mit der Konzernverantwortungsinitiative gesetzlich regeln, was auf freiwilliger Basis offensichtlich nicht erreichbar ist. Die Öffentlichkeitsarbeit der Zivilgesellschaft während der letzten Jahre zahlt sich nun aus. Das Thema der unternehmerischen Verantwortung kommt in der Bevölkerung trotz der komplexen Formulierung im Gesetzesentwurf gut an. Unsere Zeitungsleserin weiß, was sie als Bürgerin unterschreibt. Die Unternehmen werden zu einer angemessenen Sorgfaltsprüfung verpflichtet. Nicht nur die Risiken der Investoren und Unternehmenseigner sollen künftig geprüft werden, sondern auch die aller anderen Menschen, die von den Geschäften betroffen sind. Sind schädliche Auswirkungen auf die Menschenrechte oder die Umwelt zu erwarten, müssen die Unternehmen etwas dagegen tun. Und sie müssen transparent darüber berichten, denn das geht uns alle an. Was aber ist mit kleinen und mittelständischen Unternehmen? Sind die mit einer solchen Sorgfaltspflicht nicht überfordert? Nein, weiß die informierte Zeitungsleserin, der Umfang der Prüfungspflicht hängt von den konkreten Risiken ab. Diese sind bei Konzernen viel größer als bei kleinen und mittleren Unternehmen. Deren Aufwand bleibt gering, solange sie nicht in einem Hochrisikobereich wie dem Diamanthandel arbeiten. Es sollen keine bürokratischen Leerläufe geschaffen werden, sondern ein sinnvolles und effizientes Instrument der Unternehmensverantwortung. Und was ist, wenn ein Schweizer Unternehmen doch mit dem Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen konfrontiert wird? Auch hier kennt die aufmerksame Zeitungsleserin inzwischen die Antwort. Wenn das Unternehmen beweisen kann, dass es mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen ist, ist es nicht haftbar. Das Gesetz wird vor allem präventiv wirken. Wird die Initiative angenommen, werden die Unternehmen ein großes Interesse daran haben, möglichen Verletzungen von Menschenrechten und Umweltstandards früh vorzubeugen. Damit werden sie ihrer Verantwortung gerecht. Einer Verantwortung, die die Vereinten Nationen übrigens vor vier Jahren einstimmig als verbindlich erklärt haben. Die Zeit ist reif, diese Verantwortung gesetzlich festzulegen. Immer mehr Menschen sind überzeugt, dass die Respektierung der Menschenrechte und der Umwelt nicht der Freiwilligkeit der Unternehmen überlassen werden darf. Und nicht wenige, die um den Ruf unseres Landes fürchten, setzen sich dafür ein, dass die Schweiz als Vorbild vorangehen soll. 11 12 schwerpunkt entwicklung Immer vorwärts Zunächst die Kolonialherren, dann die Industrienationen: Stets definierten die Mächtigen, was Entwicklung bedeutet. Nun stellen aufstrebende Länder aus dem Globalen Süden den Sinn und die Strukturen der internationalen Entwicklungspolitik infrage. Von Corinna R. Unger V or gut einem Jahr haben Brasilien, China, Indien, Russland und Südafrika eine neue Entwicklungsbank ins Leben gerufen. Die New Development Bank (NDB) mit Sitz in Shanghai soll Ländern des Globalen Südens günstige Kredite für Entwicklungsvorhaben gewähren und ihre Finanzlage stabilisieren. Damit verbunden ist der politische Versuch, eine Alternative zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu schaffen. Beide gelten als Pfeiler eines entwicklungspolitischen Regimes, das laut seinen Kritikern seit 1945 dazu beigetragen hat, die politische und ökonomische Macht der westlichen Industrienationen in der Welt zu stabilisieren und – zum Teil auf Kosten der Entwicklungs- und Schwellenländer – auszuweiten. Die Gründung der New Development Bank stellt einen Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen über Sinn, Ziele und Strukturen von Entwicklungspolitik dar. Kann sie Wirtschaftswachstum hervorbringen und damit den Lebensstandard erhöhen? Oder wäre es sinnvoller, eine globale Umverteilung des Besitzes und der Ressourcen anzustreben? Kann Entwicklung zu Frieden und Sicherheit beitragen oder verstärkt sie eher Ungleichheiten und Konflikte? Und was bedeutet „Entwicklung“ eigentlich? Um die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen besser zu verstehen, bietet sich ein Rückblick in die Geschichte der Entwicklungspolitik an. Die Annahme, dass Entwicklung zu mehr Wachstum und Wohlstand führt, ist seit Jahrzehnten auffallend stabil. Der Aufstieg des Begriffs „Entwicklung“, wie er der traditionellen Entwicklungspolitik zugrunde liegt, wird meist mit der europäischen Aufklärung im 18. und frühen 19. Jahrhundert verbunden. Die göttliche Vorsehung wurde nicht mehr, wie zuvor, als Erklärung für Armut und Elend allgemein akzep- tiert; stattdessen setzte sich der Glaube an menschliche Vernunft, Rationalität und Fortschritt durch. Damit wuchs das Vertrauen in die Fähigkeit, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen und zu steuern. Wenn die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens erst einmal verstanden wären, könnten soziale Ordnungen so geplant werden, dass sie die Probleme der Vergangenheit und Gegenwart hinter sich ließen, lautete die zentrale Annahme. Charakteristisch für dieses Denken war eine lineare Perspektive, die für die Zukunft einen Idealzustand vorsah. Mit „Entwicklung“ waren sowohl ein zeitlicher Verlauf als auch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse gemeint. D ie zukunftsgerichtete Perspektive blieb bis weit über das Zeitalter der Aufklärung hinaus erhalten, Vertreter unterschiedlicher Denkrichtungen nahmen sie auf. Viele von ihnen dachten „Entwicklung“ in Stationen oder Phasen. Karl Marx (1818-1883) etwa deutete verschiedene Stufen sozioökonomischer Entwicklung als historische Gesetzmäßigkeit. Die Verfechter des Liberalismus erhofften sich von der Ausweitung kapitalistischer Wirtschaftsformen neben finanziellen Vorteilen eine über den Handel zunehmend integrierte Welt. Viele Zeitgenossen im 19. und frühen 20. Jahrhundert teilten die Ansicht, dass die moderne Wissenschaft und Technik die erhofften Entwicklungen beschleunigen könnten. Tatsächlich trugen der Telegraf und das Telefon, Dampfschiffe und Flugzeuge dazu bei, dass weit entfernte Regionen bald wachsende Aufmerksamkeit erhielten. Angesichts der raschen Fortschritte in der medizinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Forschung schien es möglich, die in der Heimat oder in anderen Gegenden der Welt erkannten Probleme zu lösen – sei es Epidemien vorzubeugen, die Wasserversorgung durch Kanäle zu sichern oder Brücken und Straßen zu bauen, um Verkehr und Handel zu fördern. Wenn Ideen von Fortschritt auf Traditionen prallen, flammen leicht Konflikte auf – wie hier im Süden Äthiopiens, wo auf dem Land der Mursi am OmoFluss Straßen und ein großer Staudamm gebaut werden sollen. Eric Laffourgue/ invision/Laif 9-2015 | entwicklung schwerpunkt 13 14 schwerpunkt entwicklung Sie bestimmten die alte Weltordnung der Entwicklungs politik: Die Gründungsväter von IWF und Weltbank auf der Konferenz von Bretton Woods 1944. UIG via Getty Images Wissenschaft und Technik nahmen eine entscheidende Rolle in einem Denken ein, das sich nicht mit dem Bestehenden zufriedengab, sondern auf geplante und zielgerichtete Veränderung setzte. Dass dieses Denken nicht notwendig demokratisch oder philanthropisch ausgerichtet war, machen der europäische und amerikanische Kolonialismus und Imperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts deutlich: Kolonialpolitiker argumentierten, man müsse die vermeintlich rückständigen Gesellschaften entwickeln, weil sie aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage seien. Die sogenannte Zivilisierungsmission – also die Annahme, die eigene Gesellschaft sei überlegen und habe die Pflicht, andere Kulturen an die eigenen Ideale anzupassen – diente wesentlich dazu, die Fremdherrschaft und die Ausbeutung der kolonisierten Gesellschaften zu legitimieren. Viele Zeitgenossen fühlten sich auch deshalb überlegen, weil sie meinten, jene Methoden zu kennen, die Entwicklung aus ihrer Sicht überhaupt erst möglich machten. Welcher Art diese Entwicklung sein sollte, definierten die Kolonialherren zumeist im 1960er und 1970er Jahre 1980er Jahre • Wirtschaftswachstum durch Industrialisierung • A rme Länder geraten nach dem globalen Zinsanstieg der 1970er Jahre in die Schuldenfalle • Schwerpunkt auf staatliche Großprojekte und Infrastruktur • Kritiker entwickeln das Konzept der Grundbedürfnisse • Die Gläubiger verordnen Strukturanpassungsprogramme 1968 D er Ökumenische Rat der Kirchen beschließt auf seiner Vollversammlung in Uppsala, seine Entwicklungsarbeit auszuweiten 1980 B ericht der Nord-Süd-Kommission „Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer“ (Brandt-Report) 1968 R obert McNamara wird Präsident der Weltbank (bis 1981); deren Kreditvergabe wächst stark, auch für die Landwirtschaft 1982 M exiko stellt seinen Schuldendienst ein – Beginn der Schulden krise und des „verlorenen Jahrzehnts“ in Lateinamerika 1970 D ie UN-Generalversammlung fordert, dass Industrieländer 0,7 % ihres Sozialprodukts für Entwicklungshilfe aufwenden 1987 D er Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Report) führt den Begriff „Nachhaltige Entwicklung“ ein 1972 E ntwicklungsländer fordern eine Neue Weltwirtschaftsordnung • E ntwicklung durch Schrumpfung des Staates, Privat investitionen und Exporte (neoliberales Modell) 9-2015 | entwicklung schwerpunkt Sinne der politischen, strategischen und wirtschaftlichen Interessen der eigenen Nation. Damit unterschied sich das koloniale Entwicklungsdenken deutlich von heutigen Erwartungen an die Entwicklungspolitik, die sich mit Schlagworten wie Zusammenarbeit, Dialog und Partnerschaftlichkeit verbinden. Die Idee, eine Gesellschaft oder Region zu entwickeln, war jedoch nicht allein mit kolonialen Interessen verknüpft. In jedem Land und auf jedem Kontinent fanden sich Gegenden, die aus Sicht der städtischen Eliten rückständig erschienen: sei es von der Ostküste aus gesehen der Süden der Vereinigten Staaten, aus der Sicht Mailands Süditalien oder von Moskau aus betrachtet Zentralasien. Es existierten unterschiedliche Normen von Entwicklung, die meist von der Perspektive einer Metropole und dem Selbstverständnis ihrer Bewohner abgeleitet wurden. Mit der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmenden Praxis, Finanz-, Wirtschafts- und Bevölkerungsdaten zu erheben und miteinander zu vergleichen, schärfte sich das Bewusstsein für solche Unterschiede. In der Mitte des 20. Jahrhunderts Die Vertreter der BRICSStaaten wollen mit ihrer New Development Bank ihren Einfluss vergrößern. Reuters 1990er Jahre Seit 2000 • F riedensförderung, Demokratie und gute Regierungs führung werden Ziele der Hilfe • A rmuts- und Hungerbekämpfung sowie Sozialdienste werden aufgewertet • U mwelt und globale Gemeingüter kommen stärker in den Blick • S taatsaufbau und Stabilisierung fragiler Staaten werden Ziele der Hilfe • Zunehmender Streit um das neoliberale Modell • Schwellenländer werden zu Geberländern 1990 Erster „Bericht über die menschliche Entwicklung“ des UN-Entwicklungsprogramms 2000 D er Millenniumsgipfel der UN verkündet acht MillenniumsEntwicklungsziele (MDGs) 1992 UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (Rio-Konferenz) 2002 D ie erste UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Monterrey, Mexiko, verspricht mehr Entwicklungshilfe 1993-1996 UN-Konferenzen verabschieden Aktionspläne zu Menschenrechten, Weltbevölkerung, Frauenförderung, sozialer Entwicklung und Welternährung 2005 G eber- und Partnerstaaten beschließen in Paris gemeinsame Grundsätze für wirksame Hilfe 1999 Die G7 beschließen in Köln einen Schuldenerlass für arme hoch verschuldete Länder | 9-2015 2015 D iplomaten aus 193 Staaten einigen sich auf 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs) 15 16 schwerpunkt entwicklung stieg die Wirtschaftswissenschaft zur sozialwissenschaftlichen Leitdisziplin auf und spezialisierte sich auf quantitative Analysen. Ökonomen definierten Entwicklung nun vor allem anhand volkswirtschaftlicher Ziffern, die sie auf nationaler Ebene erhoben. Es setzte sich ein Verständnis von Entwicklungspolitik durch, das darauf zielte, die Wirtschaftsleistung einer Nation zu erhöhen, wenn sie im regionalen oder internationalen Vergleich als zu gering eingestuft wurde. Das galt vor allem für Länder, die vorwiegend von der Landwirtschaft lebten und auf den Export von billigen Rohstoffen und den Import von teuren Industrieprodukten angewiesen waren. D ie Ökonomen Raúl Prebisch (1901-1986) und Hans W. Singer (1910-2006) kritisierten bereits Ende der 1940er Jahre, dass sich die Handelsbedingungen für diese Länder zunehmend verschlechterten, weil sie keine Chance hätten, sich zu industrialisieren, und dass ihre wirtschaftliche Entwicklung dadurch beeinträchtigt würde. André Gunder Frank (1929-2005) spitzte dieses Argument Ende der 1960er Jahre zu. Er erklärte, die Industrienationen hätten die ärmeren Länder gezielt in einen Zustand der Unterentwicklung geführt und dort gehalten. Inspiriert war seine These von der „Entwicklung der Unterentwicklung“ von einem marxistischen Blick auf den Ausbeutungsmechanismus des Kapitalismus. Aus dieser Sicht trafen die reichen Länder Entscheidungen von globaler Reichweite und legten die Handelsbedingungen fest, während die armen Nationen ungehört und damit auch unfähig blieben, ihre Lage zu ändern. Die internationale Entwicklungspolitik westlicher Regierungen und Organisationen hatte somit vor allem den Zweck, das bestehende System zu festigen, anstatt das ökonomische und politische Ungleichgewicht zu verringern. Insbesondere die US-amerikanische Regierung galt in den Augen von Kritikern als treibende Kraft hinter einer Politik, die internationale Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank nutzte, um ihre strategischen und wirtschaftlichen Ziele voranzutreiben. Diese Ziele waren zu einem hohen Grad vom Kalten Krieg definiert, in dem die USA mit der Sowjetunion um globale Hegemonie konkurrierten und den Einfluss des Gegners zu begrenzen suchten. Um Unterstützung in den Ländern der sogenannten Dritten Welt zu erhalten, insbesondere in den ehemaligen Kolonien, nutzten Washington und Moskau die Entwicklungspolitik als diplomatisches Instrument. Beide Seiten investierten im Rahmen der Entwicklungshilfe in den 1950er Jahren erhebliche Summen in Asien; die neuen Nationen auf dem afrikanischen Kontinent erhielten dann im folgenden Jahrzehnt wachsende Aufmerksamkeit. Ebenfalls in den 1960er Jahren beteiligten sich zahlreiche lateinamerikanische Länder an der sogenannten Allianz für Fortschritt. Dieses Entwicklungsprogramm, das die USA, die Weltbank und die Regierungen Lateinamerikas gemeinsam finanzier- ten, setzte auf öffentliche Investitionen, um die Infrastruktur auszubauen und die Industrialisierung voranzutreiben. Es ging unter anderem auf die Einschätzung von Ökonomen wie Singer und Prebisch zurück, dass die Länder des Südens unterentwickelt blieben, solange sie sich nicht industrialisierten. Die Vereinigten Staaten hofften, mit Hilfe von wirtschaftlichem Wachstum die Armut zu verringern und damit das Interesse der Menschen in Lateinamerika an sozialistischen und kommunistischen Ideen zurückzudrängen. Ähnlich nutzte die Sowjetunion Entwicklungsprojekte in zahlreichen Ländern, um Wohlwollen für ihre politischen Ziele zu wecken und Verbündete zu gewinnen. Viele Regierungen in der sogenannten Dritten Welt erkannten in den strategischen Interessen der Supermächte und ihrer Verbündeter die Möglichkeit, sich politischen und finanziellen Einfluss und Zugriff auf wirtschaftliche Ressourcen zu sichern. So wurde die Entwicklungspolitik von mehreren Seiten instrumentalisiert; ihre konkreten Ziele – die Steigerung der Wirtschaftsleistung, die Verrin- Seit den 1970er Jahren fragen NGOs die Menschen vor Ort nach ihren Bedürfnissen und beziehen sie in Projekte ein. gerung der Armut, die Verbesserung der Lebensbedingungen – gerieten dabei häufig in den Hintergrund. Die Zweckentfremdung der Entwicklungspolitik, aber auch die Begrenzung von „Entwicklung“ auf Wirtschaftswachstum kam in den späten 1960er und 1970er Jahren zunehmend in die Kritik. Zu Beginn ihrer Unabhängigkeit waren viele arme Länder wirtschaftlich gewachsen und hatten Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur deutlich ausgebaut. Doch der Verfall der Rohstoffpreise, innenpolitische Krisen sowie die Auswirkungen regionaler Konflikte und des Kalten Krieges führten zu Stagnation, wachsendem Unmut der Bevölkerung, zu Unruhen und Putschversuchen. Im Laufe der 1970er Jahre kamen in Afrika und Lateinamerika vermehrt autoritäre Regierungen an die Macht, die von einer oder der anderen Supermacht gestützt wurden. Der optimistische Glaube internationaler Entwicklungsexperten und nationaler Planungsgremien, Entwicklung lasse sich mit Hilfe geschickter Planung herbeiführen, ging nach und nach verloren. Z war gelang es Vertretern des globalen Südens, ihre Forderung nach einer gerechteren Verteilung der globalen Ressourcen und besseren Handelsbedingungen in Gremien wie der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) gegenüber den Industrienationen zu artikulieren. Doch diese verweigerten sich deren Anliegen. Sie sahen ihre Privilegien bedroht und fühlten sich von den Auswirkungen der Ölkrise 1973 in der 9-2015 | entwicklung schwerpunkt Wahrnehmung bestätigt, dass ihr Wohlstand vom Zugang zu günstigen Rohstoffen abhing. Angesichts der weltweiten Rezession gewannen nun Stimmen an Einfluss, die Entwicklungspolitik für eine Vergeudung von Steuergeld hielten. Die Kritik war zum Teil mit der Forderung verbunden, die staatliche Entwicklungshilfe zu reduzieren und mehr auf das Engagement privater Investoren zu setzen. Diese Position schlug sich in den 1980er und 1990er Jahren in den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des IWF nieder, die Kreditempfängern den Abbau staatlicher Subventionen, die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Deregulierung der Märkte vorschrieben. V or allem in den 1990er Jahren wurden Aspekte wie gute Regierungsführung, Menschenrechte und Geschlechterfragen wichtiger. Das Verständnis von Entwicklung wurde somit komplexer und reichte über ökonomische Fragen hinaus. Seit den 1970er Jahren hatten vor allem nichtstaatliche Organisationen (NGOs) neue Wege in der Entwicklungspraxis erprobt. Sie vertraten die Ansicht, dass es notwendig sei, die Menschen vor Ort nach ihren Bedürfnissen zu fragen und sie aktiv in dezentral organisierte Projekte einzubeziehen. Im Gegensatz zu den von Experten geleiteten Großprojekten der Vergangenheit sollte es nun in erster Linie darum gehen, die menschlichen Grundbedürfnisse (basic human needs) wie Ernährung, Gesundheit, Bildung und Arbeit zu befriedigen. Erst wenn diese erfüllt seien, besäßen die Menschen die nötige Freiheit, um ihre eigene Entwicklung voranzutreiben und damit zur Entwicklung der Gesellschaft insgesamt beizutragen, betonte der Entwicklungsökonom und Philosoph Amartya Sen. Graswurzelprojekte waren weniger aufwendig und erforderten flexiblere Strukturen als größere Vorhaben. Damit boten sie sich für die NGOs an, die finanziell und administrativ nicht mit nationalen Regierungen und internationalen Organisationen konkurrieren konnten. Diese Arbeitsteilung weist darauf hin, dass Entwicklungspolitik stets auch ein Geschäft war, das Arbeitsplätze, Gewinnaussichten und Karrieren bot. Seit ihrer Entstehung haben sich Ideen von Entwicklung und die davon abgeleiteten Konzepte von Entwicklungspolitik mehrfach gewandelt. Entwicklungspolitische Ziele sind keine feste, abstrakte Größe, sondern jeweils abhängig von der politischen und wirtschaftlichen Situation der beteiligten Länder, von den ideologischen und wissenschaftlichen Annahmen der Experten, von philosophischen und strategischen Überlegungen. Wie das Beispiel der New Development Bank zeigt, verändern sich die politischen Strukturen, die die internationale Entwicklungspolitik prägen. Neue Akteure kommen hinzu und stellen etablierte Muster und Prioritäten in Frage. Auf diese Weise wandelt sich auch die Form, in der Entwicklungspolitik gedacht und praktiziert wird. Gegenüber den vielfältigen Verschiebungen in der Entwicklungspolitik, die sich über die Jahrzehnte beobachten lassen, ist ein Aspekt jedoch auffallend stabil: die Annahme, dass Entwicklung zu mehr Wachstum und Wohlstand führt. Zwar wird seit Jahren über die Notwendigkeit „nachhaltiger“ Entwicklungspolitik gesprochen; die geplanten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen sind das jüngste Beispiel. Doch die ökonomisch geprägte Wachstumsorientierung scheint davon weitgehend unbeeinträchtigt weiterzubestehen. Wie realistisch diese Orientierung angesichts von Klimawandel, Flüchtlingsbewegungen und wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit ist, wird sich in Zukunft zeigen müssen. 17 Corinna R. Unger ist Professorin für Moderne Europäische Geschichte an der Jacobs University Bremen und forscht zur Geschichte der Entwicklungspolitik. 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September werden fast alle da sein: Kaum ein afrikanischer Staats- und Regierungschef dürfte beim Sondergipfel der Vereinten Nationen (UN) über die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) fehlen. Es wird darum gehen, das Auslaufen der im Jahr 2000 verabschiedeten Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) zu bestätigen und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Allerdings nicht mit dem Gefühl, die Aufgabe der acht MDGs gelöst zu haben, sondern als Versuch, nach den Fehlschlägen in Afrika neu anzusetzen. Die MDGs stehen in der Kontinuität der großen Weltkonferenzen der 1990er Jahre. Sie haben deren Empfehlungen in einem Leitfaden zusammengeführt. Doch zugleich ging es darum, die Katastrophen zu kaschieren, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank in Volkswirtschaften des Südens verursacht hatten: Die hatten gerade ein Jahrzehnt gescheiterter Strukturanpassungsprogramme und Strategien zur Armutsreduzierung hinter sich. 15 Jahre nach Einführung der MDGs können in Afrika die Erfolge in einzelnen Bereichen nicht über die enormen Fehlschläge hinwegtäuschen; es fragt sich, was die SGDs hier ändern werden. Vor einem Jahr stellte der Koordinator des nationalen Rates für die Versorgung mit Wasser und Sanitäranlagen in Benin fest: „Afrika ist bei der Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele in Verzug. Nur fünf Länder können die Teilziele bei der Abwasserentsorgung erreichen. Die übrigen werden erst 2048 so weit sein.“ Wenn nicht sofort umfassende Maßnahmen ergriffen würden, dauere es sogar noch länger. Diese Feststellung gilt für die meisten der acht MDGs. Fortschritte wurden bei der Bildung sowie bei der Gesundheit von Müttern und Kindern erzielt. Das spiegelt aber kaum mehr als statistische Verbesserungen. Zwar gehen mehr Kinder zur Schule, aber es gibt zu wenig Schulgebäude und die Lehrer sind schlecht ausgebildet. Die allgemeinen Lebensverhältnisse haben sich nicht verbessert, Armut bleibt in Afrika ein tägliches Drama. 9-2015 | entwicklung schwerpunkt Angesichts eines Wirtschaftswachstums von bis zu zehn Prozent seit der Jahrtausendwende (2011 lag es in Ghana sogar bei 14,4 Prozent) könnte die Lage ganz anders aussehen. Doch die Finanz- und die Nahrungsmittelkrise in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts sowie der Klimawandel, die von den Auswüchsen des westlichen neoliberalen Wirtschaftssystems verursacht sind, haben die Wirtschaft Afrikas stark beeinträchtigt. Zudem hat das Wirtschaftswachstum die Lebensbedingungen für die breite Bevölkerung kaum verbessert, denn es beruhte hauptsächlich auf ausländischen Investitionen im Rohstoffsektor. Der wird von westlichen und chinesischen multinationalen Konzernen mithilfe von Knebelverträgen geplündert, die sie ohne jede Transparenz mit den Regierungen schließen und die vor allem die Korruption bedienen. Das Ziel, die extreme Armut zu verringern, haben lediglich fünf afrikanische Länder erreicht, darunter der Senegal. Hier hat die Regierung nach dem Vorbild des brasilianischen Sozialprogramms „Bolsa Familia“ Familien Zuschüsse von umgerechnet 152 Euro pro Jahr gewährt, damit Eltern ihre Kinder impfen lassen und in die Schule schicken. Das hat die Situation verbessert, doch die Lebensbedingungen vieler Menschen sind dramatisch geblieben. In den Städten und auf dem Land fehlen wirtschaftliche Perspektiven. A uch wenn die Statistiken auf Fortschritt hindeuten: Afrika ist weit davon entfernt, die Aufgabe der MDGs bewältigt zu haben. Das Wirtschaftswachstum hat die Kluft zwischen Stadt und Land, wo fast zwei Drittel der Bevölkerung leben, sowie zwischen der Elite und der breiten Masse weiter vertieft. Eine Umverteilung des Reichtums, um die soziale Kluft zu verkleinern, hat nicht stattgefunden. Inzwischen richtet sich der Blick auf die SDGs, ohne dass bisherige Erfolge und Misserfolge wirklich ausgewertet worden wären. Im Senegal sind die MDGs nie einer offenen Evaluation unter Beteiligung der Betroffenen unterzogen worden. Man hält an dem technokratischen Ansatz fest, der bereits ihre Festlegung bestimmt hatte. Ein weiteres Mal kommt das Nachdenken von oben statt aus dem Versuch der Gemeinschaften, ihre eigenen Prioritäten für das Streben nach einem höheren Lebensstandard zu setzen, ihren Entwicklungsbedarf auszuloten und am Bau ihrer Zukunft teilzuhaben. Bei den 17 SDGs, die Ende September von der UNGeneralversammlung beschlossen werden sollen, stellt sich erneut die Frage nach den Besonderheiten Afrikas. Anlässlich ihres 50. Geburtstages im Jahr 2013 hat die Afrikanische Union sich über die Zukunft des Kontinents Gedanken gemacht. Unter dem Titel „Das Afrika, das wir in Zukunft haben wollen“ hat sie für den Kontinent einen Entwicklungsrahmen skizziert. Unter anderem solle er ein „verlässlicher und einflussreicher Partner auf der Weltbühne“ werden. Von diesem Willen Afrikas ist in den SDGs nichts zu finden. Die afrikanische Zivilgesellschaft hat bei den Diskussionen über die MDGs nur als Fassade gedient. Bei | 9-2015 den SDGs hat sie sich eingebracht und Empfehlungen und Gegenvorschläge formuliert. Ihre Überlegungen sind in der „Beyond 2015“-Kampagne wie auch im Rahmen der Offenen Arbeitsgruppe der UN zum Ausdruck gekommen. Verstärkt wurden sie durch die Diskussionsforen und die Teilnahme an Verhandlungen. Beim Weltsozialforum 2015 in Tunis erkannten zivilgesellschaftliche Organisationen aus Afrika zwar an, dass sich der Ansatz im Vergleich zu den MDGs geändert hatte. Sie forderten aber gleichzeitig, dass der „Prozess so offen wie möglich verläuft“, und machten ihren Anspruch geltend, in jeder Phase „einschließlich der Umsetzung und Überwachung“ beteiligt zu werden. Auch wenn man von acht MDGs zu 17 SDGs übergegangen ist, liegt das Entscheidende nicht in den Zielen. Es liegt im politischen und ökonomischen Rahmen, in dem sie umgesetzt werden. Der entfesselte Neoliberalismus, der als Leitschnur der Globali- Das Nachdenken kommt von oben – lokale Gemeinschaften haben keine Chance, ihre eigenen Prioritäten zu setzen. sierung dient, kann keinen Rahmen bieten, um eine inklusive, soziale und solidarische Wirtschaft aufzubauen. Im vorherrschenden System wird Entwicklung weiterhin auf ständig wachsenden Unterschieden in der Gesellschaft gegründet sein, statt deren Verringerung zu erleichtern. Die SDGs als universelle, für alle Länder gültige Ziele zu konzipieren, zeugt von Streben nach Solidarität. Doch bezeichnen Begriffe wie Hunger und Ernährungssicherheit in Afrika und in den Ländern des Nordens nicht dieselbe Realität. Außerdem ist das Ziel 13, „umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen (zu) ergreifen“, ein Vorhaben, bei dem nicht alle Länder in derselben Weise oder mit derselben Intensität gefordert sind. Wenn Europa sich bemüht, die Ausbeutung seiner Naturschätze zu beschränken oder zu beenden, dann wird die Logik des Bedarfs den Blick automatisch gen Süden lenken. Aus genau dieser Logik resultieren die Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Union und den Ländern Afrikas. Die Plünderung der Bodenschätze des afrikanischen Kontinents wird niemals über die Entwicklungshilfe rückvergütet werden können. Im Übrigen ist es eine trügerische Illusion zu glauben, diese künstliche Mildtätigkeit bringe Entwicklung. Ihre Früchte fließen vielmehr über bekannte Mechanismen wie Lieferbindung, Ausschreibungen, Korruption und Kapitalflucht zu den Gebern zurück. Und gerade jetzt, da die Rücküberweisungen von Migranten die staatliche Entwicklungshilfe bei weitem übersteigen, greifen die Nationen Europas zu einer repressiveren und restriktiveren Migrationspolitik. Aus dem Französischen von Juliane Gräbener-Müller. Tidiane Kassé ist Journalist im Senegal und Chefredakteur der französisch sprachigen Ausgabe des Informationsdienstes Pambazuka News (www.pambazuka.org). 19 20 schwerpunkt entwicklung Fortschritt für alle! Wissenschaft und Technik haben das Leben vieler Menschen verbessert. Die große Mehrheit der Inder profitiert aber noch nicht von diesen Errungenschaften. Man darf sie ihnen nicht vorenthalten. Von Joyashree Roy W Badetag in einem Slum in Mumbai. Fließendes Wasser im Haus würde die Körperpflege erleichtern. danish siddiqui/Reuters ie soll es mit Indiens Entwicklung weitergehen? Über diese Frage wird viel diskutiert. In den kommenden zweieinhalb Jahrzehnten wird das Bevölkerungswachstum seinen höchsten Stand erreicht haben. Sollte das Land dann das Rad des Fortschritts zurückdrehen? Oder sollte es versuchen, weiter aufzuholen? In knapp einem Drittel der indischen Dörfer und Städte haben die Menschen bereits den Weg eingeschlagen, der sich als erfolgreich erwiesen hat, um die Lebensqualität zu verbessern. Sie sind nun im zweiten Schritt dabei, ihn sozial und umweltverträglich gestalten. Doch der großen Mehrheit der Inder fehlt noch immer Strom zum Kochen, Licht, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung. Sie haben keine schützenden Unterkünfte bei Naturkatastrophen und zu wenig Wissen, um sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Die Menschheit hat in den vergangenen Jahrhunderten große Fortschritte in ihren Fähigkeiten erzielt, die Hygiene und Gesundheit zu verbessern und das soziale Umfeld und die Natur zu schützen. Harte Arbeit und die Anstrengungen der Wissenschaft haben uns dorthin geführt. Auch Indien ist bereits auf diesem Weg. Es gibt keinen Grund, warum Menschen in den Armensiedlungen nicht die bewährten Kenntnisse nutzen sollten, die neue Technologien, eine angemessene Infrastruktur und eine moderne Energieversorgung ermöglichen. Aus Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit darf der großen Mehrheit von Indiens Bevölkerung der Fortschritt nicht verweigert werden. Je schneller wir die soziale Lücke schließen, desto schneller werden Frieden und Harmonie in der Gesellschaft einkehren, die auch der Umwelt zugutekommen. Politik und Wissenschaft starren manchmal auf eher simple Zusammenhänge – etwa dass Armut zur Zerstörung der Umwelt führt oder die verschmutzte Luft beim Kochen in Innenräumen die Gesundheit von Frauen gefährdet. Das hat uns in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten nicht wirklich weiter gebracht. Es hat Subventionsprogramme für moderne Brennstoffe gegeben, Initiativen zur Verteilung von sauberen Herden und Solarlampen sowie einige Pilotprojekte für die dezentrale Versorgung mit Solarenergie, die Hilfsorganisationen mit Unterstützung der Regierung durchgeführt haben. Ein 9-2015 | entwicklung schwerpunkt tiefgreifender Wandel ist dadurch aber nicht eingetreten. Es ist an der Zeit, die wirre Suche nach einem alternativen Wachstumsweg zu hinterfragen. Sie ist im Blick auf Effizienz und Gerechtigkeit höchst fragwürdig. Warum sollte sich Indien dem Wissen um die effiziente Flächennutzung beim Städtebau verweigern, nach dem auf einem kleinen Straßenabschnitt sämtliche Infrastruktur untergebracht werden kann: Rohre für die Wasserversorgung, Abwasserkanäle, Leitungen für Strom und Telekommunikation, Straßenbeleuchtung, darüber begrünte Alleen? Es ist bekannt, wie man sauberes Trinkwasser gewinnen kann. Dennoch sterben in der großen Mehrzahl der indischen Dörfer und Städte noch immer Menschen an Krankheiten, die von verschmutztem Wasser verursacht wurden. Hauptursache für den Mangel an Trinkwasser ist das Fehlen eines Stromnetzes. Wie kann man da überhaupt diskutieren, ob man alle Dörfer ans Stromnetz anschließen soll? Der Traum von einem alternativen Entwicklungspfad handelt von Solarlampen in allen Haushalten und dezentraler Stromversorgung. Solche Versuche mögen ein paar Philanthropen zufriedengestellt und die Forschung zur Solartechnologie um einige Ergebnisse bereichert haben. Doch sie haben die Lebensqualität der meisten Inder nicht verbessert, sondern die Entwicklung um zwei bis drei Jahrzehnte verzögert. cher Geräte produziert das Land heute Dutzende hochwertige Sorten Reis, Getreide oder Mangos. Mit der richtigen politischen und wirtschaftlichen Strategie könnten damit nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch große Teile vom Rest der Welt ernährt werden. E s wird viel über die fatalen Folgen für die Qualität von Boden und Trinkwasser geredet. Doch das ist eine falsche Darstellung der Umweltprobleme: Sie rühren daher, dass zu wenig in das Management dieser Ressourcen investiert wird. Es lässt hoffen, dass Obstplantagen in einigen der übernutzten Flächen des Punjab den Nassreisanbau ersetzen, dass Tröpfchen-Bewässerung gegenüber dem Überfluten der Felder beliebter wird und dass der Gemü- E s ist absolut falsch, dass Inder nur drei Glühbirnen brauchen, um ihr Haus zu beleuchten, und damit zufrieden sind, weil ihre Ansprüche gering sind. Müssen denn die Nachzügler der Entwicklung weniger konsumieren, während in den reichen Ländern die Verschwendung von Lebensmitteln zum Lebensstil gehört? Dies sind Fragen der Gerechtigkeit. Das Streben, etwas zu erreichen, und höhere Ansprüche fallen vielmehr dem Fehlen der Infrastruktur zum Opfer. In vielen Dörfern verderben Kartoffeln, Tomaten, Knoblauch, Zwiebeln, Gemüse und Obst, weil es keine Kühlhäuser gibt. Die Lebensmittelindustrie produziert dort nichts, weil es keine Stromanschlüsse gibt. So kommt niemand über ein Existenzminimum hinaus und der Tag endet bei Sonnenuntergang. Das hat nichts mit niedrigen Ansprüchen zu tun. Heiße Sommertage mit 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent fordern Opfer an Leben und Leistungsfähigkeit. Nicht dass sich Inder keine klimatisierten Räume wünschten. Und es gibt keine ethische Begründung für die Ansicht, Inder, die es sich leisten können, dürften keine Klimaanlagen nutzen, weil das die globale Erwärmung verstärke. Und das ist nur die mindeste Voraussetzung für ein gutes Leben und für produktives Denken. Indien hat vor 50 Jahren bewiesen, wie mit Hilfe von Forschung und Technik Nahrungsmittelsicherheit erreicht werden kann. Dank verbesserter Bewässerungssysteme und moderner landwirtschaftli- | 9-2015 se- und Gartenbau mehr Geld einbringt und die Ernährung auf eine breitere Basis stellt. Indiens Hunger nach Energie wird in den nächsten 20 Jahren steigen. Die Verbrennung von Kohle wird deshalb noch mindestens eine Dekade weiter ansteigen und, wenn sie dann sinkt, auch 2050 noch auf dem Niveau von 2012 sein. Wenn bis dahin die Freisetzung von Kohlendioxid gesenkt werden muss, muss man ernsthaft über Techniken zur seiner Abscheidung und Speicherung nachdenken. In 25 Jahren werden vermutlich fast 40 Prozent des gesamten Stroms aus Solar- und Windkraft gewonnen. Trotzdem würde es schwierig, den Weg zu mehr Atom- und Wasserkraft zu versperren, denn es wird sechs Mal mehr Strom erzeugt werden müssen als Fabrik für Klimaanlagen im Bundesstaat Rajasthan: Bei Temperaturen von 40 Grad sind gekühlte Räume die mindeste Voraussetzung für produktives Denken. adnan abidi/Reuters 21 22 schwerpunkt entwicklung heute. Und diese Wachstumsrate ist nötig, nur um ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen. Das ist noch weit entfernt von einem Lebensstil, bei dem etwa mehr Fleisch oder verarbeitete Produkte verzehrt werden; Inder essen heute rund fünf Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr, in Deutschland sind es 80 und in den USA 120 Kilo. D Joyashree Roy lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Jadavpur Universität in Kalkutta. ie energieintensivsten Industrien Indiens sind fast gleichauf mit den technologischen Spitzenreitern. Der technische Fortschritt verspricht Leistungsfähigkeit und zugleich Gerechtigkeit. Energieeffiziente Haushaltsgeräte können Millionen von Menschen zusätzlich Dienste wie Kühlung zugänglich machen, ohne dass sich der Gesamtenergieverbrauch erhöht. Es gibt keinen Grund, warum die breite Masse in Indien nicht denselben Pfad der Entwicklung beschreiten sollte wie die Bevölkerung in den Industrieländern. Die Errungenschaften für das menschliche Wohl wie bessere Häuser, Arbeitsplätze und Gesundheitssysteme sollten nicht nur erhalten, sondern mit großem Nachdruck weiterverbreitet werden: Jetzt oder nie. Wo steht Indien heute? Seine gesamte Stromerzeugung ist so hoch wie die Russlands und entspricht der Chinas im Jahr 1994. Weniger als zehn Prozent aller städtischen Haushalte besitzen ein Auto, Car-Sharing gehört zur Lebensart. 42 Prozent der Bevölkerung fahren noch immer Fahrrad, fast 35 Prozent der städtischen Haushalte besitzen einen Motorroller. Der Kohlendioxid-Ausstoß pro Kopf beträgt weniger als zwei Tonnen im Jahr, in den USA sind es siebzehn, in China fast sieben. Viele Industrien produzieren sauberer, um im globalen Wettbewerb mitzuhalten. In den 1970er Jahren wuchs der Energiebedarf parallel zum industriellen Wachstum. Heute hat sich das wirtschaftliche Wachstum weitgehend vom Energieverbrauch abgekoppelt: Dank effizienterer Technik kann heute ein Wirtschaftswachstum um das Zwanzigfache erreicht werden, wenn der Energiebedarf nur um das Fünffache steigt. Aus der Sicht Indiens bedeutet Wachstum: Bessere Technologien führen zu einem gerechten Fortschritt für die Mehrheit. Die Suche nach alternativen Entwicklungsmodellen sollte und wird weitergehen – allein schon aufgrund der menschlichen Neugier und Fantasie. Aber Indien zum Experimentierfeld dafür zu machen wäre gleichbedeutend mit dem Satz „Verzögerte Entwicklung ist verweigerte Entwicklung“. Wir haben nicht das Recht, den Armen den Zugang zu besserem Essen, besserer Hygiene und besserer Gesundheit zu versperren. Aus dem Englischen von Hanna Pütz. Joyashree Roy zählt zu den Unterzeichnern des „Ökomodernistischen Manifestes“, in dem 18 Wissenschaftler vornehmlich aus dem Norden den Einsatz moderner Technologien zur Lösung von Umwelt- und Ernährungskrisen fordern. Anzeige 14th Dialogue on Science Zukunftsfähige Wirtschaftssysteme Wie gut funktioniert unser Wirtschaftssystem? Und wie zukunftsfähig ist es? Die Finanz- und Wirtschaftskrisen der jüngsten Zeit sowie gesellschaftspolitische Veränderungen sind Anlass, unser Wirtschaftssystem und die Marktwirtschaft zu überdenken. Der 14 th Dialogue on Science der Stiftung Academia Engelberg bietet dazu eine pluralistische Plattform mit generationenübergreifenden Diskussionen neuer Ideen. Weitere Informationen sind unter www.academia-engelberg.ch Konferenz 2015 abrufbar. Jetzt anmelden und die Zukunft mitgestalten! Interdisziplinärer und generationenübergreifender Wissenschafts-Dialog, 14. bis 16. Oktober 2015 in Engelberg, Schweiz 9-2015 | entwicklung schwerpunkt Die Party ist zu Ende Konsum war gestern: Nur ein neues Wirtschaftsmodell kann das Überleben der Erde sichern. Die Asiaten sollten bei seiner Entwicklung vorangehen. Nichts geht mehr: Stau auf einer Hauptverkehrsstraße in Indiens Haupstadt NeuDelhi. Hindustan Times via getty IMages Von Chandran Nair E ine Grundsatzerklärung, die achtzehn Wissenschaftler und Akademiker aus verschiedenen Ländern verfasst und im April veröffentlicht haben, hat Aufsehen unter Umweltschützern erregt. Dieses „Ökomodernistische Manifest“ erklärt, der beschleunigte technologische Fortschritt werde zusammen mit dem sozio-ökonomischen Wandel (etwa der Verstädterung) die Wirtschaftstätigkeit von ihren Auswirkungen auf die Umwelt „abkoppeln“. In naher Zukunft werde also das unablässige Streben nach Wohlstand keine schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt mehr haben. Das begründen die Autoren, die mehrheitlich aus westlichen Ländern stammen, mit technischen Innovationen und dem menschlichen Erfindergeist. Das ist eine naiv optimistische Zukunftsvision. Sie widerspricht jeder Logik und den meisten Diagnosen der Tatsachen. Die Autoren sehen den Schlüssel zur Entkoppelung von Entwicklung und | 9-2015 Umweltauswirkungen darin, die Wirtschaftstätigkeit und besonders „Landwirtschaft, Energiegewinnung, Forstwirtschaft und menschliche Siedlungsflächen“ so zu intensivieren, dass trotz Wachstum der Flächenverbrauch und die Eingriffe in die Natur sinken. Das ist, als würde man behaupten: Wenn sich zu einer Party mehr Gäste ansagen als erwartet, dann backt man einen größeren Kuchen als ursprünglich geplant und benötigt trotzdem weniger Mehl. Doch egal wie technisch raffiniert der Ofen ist und wie ausgefeilt die nanotechnologischen Zusätze: Für einen größeren Kuchen braucht man mehr Mehl. Eine einfache Rechnung macht das Problem klar. 16 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen heute 80 Prozent der Ressourcen. Doch wir haben bereits vier der neun Belastungsgrenzen unseres Planeten überschritten: Artensterben, Entwaldung, Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre und Eintrag von Stickstoff und Phosphor, die als Dünger dienen, 23 24 schwerpunkt entwicklung in die Ozeane. Heute leben weniger als 1,7 Milliarden Menschen in relativem Wohlstand, aber wir beobachten bereits veränderte Wetterverläufe, eine Dezimierung wild lebender Tiere und eine beispiellose weltweite Umweltverschmutzung. Was soll geschehen, wenn die restlichen 84 Prozent der Menschheit ebenfalls konsumieren wie jetzt die privilegierte Minderheit? Keine technologische Zauberei kann den Schaden ausgleichen, den ungehemmter und wachsender Verbrauch an den Naturschätzen und globalen Gemeingütern anrichten wird. D ie Weltbevölkerung wird in den nächsten 35 Jahren voraussichtlich einen Höchststand von neun bis zehn Milliarden erreichen. Chinesen und Inder haben gerade erst begonnen, die „Freuden“ des modernen Lebens zu entdecken, die sich aus dem Modell ergeben, dass unablässiger Konsum das Wirtschaftswachstum aufrechterhält. Falls wir den Punkt, an dem das System kippt, noch nicht erreicht haben, dann wird das in Kürze der Fall sein. Die einfache Wahrheit ist, dass fünf bis sechs Milliarden Menschen allein in Asien den Lebensstil, der im Westen selbstverständlich ist, nicht anstreben dürfen. Zu behaupten, sie könnten das, ist völlig unverantwortlich. Zum Beispiel: Nach einer Prognose des Weltwirtschaftsforums werden bis 2025 zwei Drittel der Weltbevölkerung unter Wassermangel leiden. Der weltweite Energieverbrauch hat seit 1990 um mehr als 50 Prozent zugenommen. Bei einem so hohen Ressourcenverbrauch ist die Regenerationsfähigkeit von anderthalb Erden erforderlich, damit wir auf Dauer ungehemmt unsere Wünsche erfüllen können. Kann dann eine Bevölkerung von neun bis zehn Milliarden Menschen ernährt werden? Ja, sagen die Ökomodernisten. Sie vertrauen auf die Technologie – genau die Technologie, die den Planeten seiner Naturschätze beraubt. Bis 2050 wird Asien 53 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt stellen, 2014 waren es noch 32 Prozent. Wenn die heutigen wirtschaftlichen Wachstumsraten anhalten, ist die Weltwirtschaft 2100 ungefähr 16 Mal größer als heute. Wenn die Chinesen und Inder einen genauso hohen Energieverbrauch pro Kopf hätten wie die Amerikaner, wäre ihr Stromverbrauch 14 Mal so hoch wie der der Vereinigten Staaten. Niemand kann hoffen, dass der globale Energieverbrauch derart zunimmt – vor allem weil wir auch künftig auf fossile Brennstoffe angewiesen sein werden. Sie werden in den Entwicklungsländern weiter zu preiswert sein, als dass erneuerbare Energien sie ersetzen. Der Ausstoß an Kohlendioxid wird dann die Erde untragbar belasten. Atomkraft wäre eine technische Lösung, doch wegen ihrer Kosten, der Sicherheitsbedenken und der öffentlichen Meinung in vielen Ländern wird ihr Beitrag global begrenzt bleiben. Oder Autos: Wenn China, Indien und andere Entwicklungsländer den westlichen Motorisierungsgrad Fatale Folgen für die Umwelt: Wenn Indiens Energiehunger steigt, muss immer mehr Kohle abgebaut werden – wie in dieser Mine im Bundesstaat Jharkhand. jonas gratzer/lightrocket via Getty images 9-2015 | entwicklung schwerpunkt Land unter in Myanmar: Der Monsun hat in diesem Jahr für besonders heftige Überschwemmungen gesorgt. ye aung thu/afp/Getty images erreichen, könnte es in vier Jahrzehnten schätzungsweise drei Milliarden Autos weltweit geben, viermal so viele wie heute. Bis zum Auto mit Wasserstoffantrieb ist es noch ein weiter Weg. Elektroautos verschieben nur die Umweltbelastung und werden im besten Fall ein Spielzeug für die „Öko-Reichen“ sein; sie sind keine Lösung für die Mobilitätsprobleme in den bevölkerungsreichsten Regionen. Fünf Milliarden Asiaten, die Auto fahren wie die Amerikaner, wären eine Katastrophe. Die Vorstellung, dass Technik das ändern kann, ist eine Lüge. Wenn Technologie das Patentrezept für die Lösung aller Probleme wäre, warum hat sie dann das Problem menschlicher Exkremente in Städten wie Mumbai oder Nairobi nicht längst gelöst? Die sind eine der Hauptursachen für die Wasserverschmutzung und die Ausbreitung von Krankheiten. Die Technik zur Lösung des Problems existiert seit mindestens einem Jahrhundert: Toiletten, Klärgruben, Abwasserkanäle und Aufbereitungsanlagen. Doch immer noch werden die meisten menschlichen Ausscheidungen weder hygienisch noch umweltfreundlich entsorgt. Das liegt nicht an der Technik, sondern am Geschäftsmodell und seinem Scheitern. D ie Wege, Fortschritt und Umweltschutz wieder ins Gleichgewicht zu bringen, hängen von unserer Fähigkeit ab, die Wirtschaftstätigkeit an die Grenzen der verfügbaren Technologien und Ressourcen anzupassen. Dafür müssen allerdings etablierte Interessen und viele Dinge, die wir für selbstverständlich halten, infrage gestellt werden. Zunächst müssen wir anerkennen, dass unser Wirtschaftsmodell auf einem im Kern falschen Prinzip beruht: Altmodisches Wachstum, dessen Nutzen zu den Armen heruntersickern soll, wird gefördert von Schleuderpreisen für Rohstoffe und von der Auslagerung – der Externalisierung – von Kosten. Zum Beispiel: Ein Preisnachlass auf Ihr neues Hemd erlässt Ihnen nicht nur einen Teil des ursprünglichen Verkaufspreises. Sie tragen auch nicht die Kosten, die die Produzenten für die Nutzung von Wasser, Luft und anderen „Dienstleistungen“ der Natur nicht zahlen mussten. Ausgelagerte Kosten, die mit der Ausbeutung von Arbeitskräften in Entwicklungsländern wie Sri Lanka und Kambodscha verbunden sind, sind noch nicht mitgerechnet. Das Vertrauen in technische Innovationen als Allheilmittel für ökologische Probleme beruht nicht selten auf dem quasi-religiösen Glauben, Technik könne alle Probleme lösen. In Wirklichkeit hat der technische Fortschritt die Probleme in vielen Fällen verschärft. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden Bäume mit Sägen und Äxten gefällt. Dadurch hatten Millionen Menschen Arbeit und doch hatten die Wälder genügend Zeit, sich zu regenerieren. Heute können | 9-2015 Überlastung des Planeten Der Mensch greift zunehmend in natürliche Prozesse ein. Bei zweien überschreitet er damit klar die globale Belastungsgrenze. Beeinträchtigung der Biosphäre Klimawandel - Verlust der Artenvielfalt - Funktionsverlust Freisetzung neuartiger Stoffe und Organismen Zerstörung der Ozonschicht Veränderte Landnutzung Eintrag von Schwebteilchen in die Atmosphäre Süßwassernutzung Veränderung biochemischer Flüsse Versauerung der Ozeane - Stickstoffkreislauf - Phosphorkreislauf © Eingriffe im sicheren Bereich Belastungsgrenze klar überschritten wachsendes Risiko, Bereich der Unsicherheit noch nicht quantifiziert nach Stockholm Resilience Center der Universität Stockholm, www.stockholmresilience.org 25 26 schwerpunkt entwicklung Holzfäller die Bäume hundert bis tausend Mal schneller fällen und die Stämme werden von Hubschraubern abtransportiert – das nennt sich Produktivitätssteigerung. Ähnlich treibt die globale Fischereiindustrie mithilfe der Technik Raubbau an den Ozeanen. Ihre Schiffe, die mit GPS ausgestattet sind und große Reichweite haben, durchpflügen die tiefen Ozeane auf der Suche nach Schwärmen von Fischen, die bis vor kurzem für traditionelle Fischer zu weit entfernt und damit unerreichbar waren. Über die Hälfte der Fanggebiete weltweit sind überfischt; wenn diese hochtechnische industrielle Fischerei nicht beendet Elektroautos verschieben nur die Umweltbelastung und sind keine Lösung für die Mobilitätsprobleme in dicht bevölkerten Regionen. Chandran Nair ist Gründer der Denkfabrik Global Institute For Tomorrow in Hongkong und Autor des Buches „Der große Verbrauch: Warum das Überleben unseres Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt“ (Riemann-Verlag). wird, könnten bis 2048 alle jetzt überfischten Bestände zusammenbrechen. Wenn die Asiaten pro Kopf so viel Fisch verzehren würden wie zurzeit Australier oder Europäer, wären die Meere leer. Die Technik ist hier das Problem. Nach Überzeugung der Ökomodernisten ist sie auch die Lösung. Nun ja – allenfalls wenn man Thunfisch essen mag, der in einem Labor in einer Petrischale entsteht und mit genmanipuliertem Futter in Zuchtanlagen gemästet wird. Warum bekommen wir immer wieder die abgedroschene Geschichte zu hören, Entwicklung lasse sich von den Auswirkungen auf die Umwelt entkoppeln? Die Antwort ist einfach. Sie ermöglicht es dem Westen, sein neokoloniales Wirtschaftsmodell auszubreiten und zugleich gegenüber dem Rest der Welt seine intellektuelle Autorität zu erhalten, die auf dem Streben nach angeblich intelligenten Lösungen beruht. Und sie erlaubt es, eine sehr unbequeme Wahrheit zu leugnen: Die Party ist zu Ende. Die Nachzügler, die Inder, Chinesen und Afrikaner, können nicht so im Konsum schwelgen wie bisher der Westen. Wir werden unsere Gesellschaften neu organisieren müssen, um sie an die Tatsache anzupassen, dass die Ressourcen begrenzt sind. Das erfordert ein neues sozioökonomisches und politisches Leitbild in Bezug auf Nachhaltigkeit, individuelle Rechte, Freiheiten und die Rolle des Staates. In vieler Hinsicht wird es im Gegensatz zu den heutigen, westlich dominierten Leitbildern des Kapitalismus, der freien Märkte und der Demokratie stehen. Daher müssen die Entwicklungsländer den Diskurs über dieses neue Leitbild anführen. Ein neues Wirtschaftsmodell muss drei wesentliche Veränderungen enthalten. Erstens muss akzeptiert werden, dass in einer Welt mit begrenzten Ressourcen auch das Wachstum begrenzt ist; für Rohstoffe müssen Preise gelten, die den wahren Kosten entsprechen. Zweitens muss die Wirtschaft dem Ziel untergeordnet sein, die Lebensfähigkeit der Naturschätze zu erhalten – nicht andersherum wie heute. Drittens muss eine Wirtschaft für das im 21. Jahrhun- dert das Gemeinwohl über Individualrechte stellen. In Asien zu beginnen, wäre ein guter erster Schritt. Schließlich leben hier mehr Menschen als irgendwo sonst auf der Erde; ihre Konsumgewohnheiten werden das 21. Jahrhundert prägen. Leider leugnen Politiker, Ökonomen und Investoren noch immer die Tatsachen und verbreiten unter Berufung auf die Technologie, auf freie Märkte und das Finanzwesen Botschaften von Innovation und Hoffnung. Asiatische Regierungen müssen die kurzsichtigen Vorstellungen zurückweisen, laut denen sie ungezügelten Konsum politisch fördern sollten, um die Weltwirtschaft ins Gleichgewicht zu bringen (heute entsteht ein Ungleichgewicht im Welthandel daraus, dass in Asien mehr produziert als konsumiert wird, in den USA umgekehrt). Asiens Länder müssen erkennen, dass sie mehr sind als Fabriken, die Wachstum produzieren. Das soll nicht heißen, dass die Menschen arm bleiben müssen. Es ist auch kein Argument gegen wirtschaftliche Entwicklung. Aber gefordert ist eine Begrenzung des Konsums. Er muss so gelenkt werden, dass die Naturschätze nicht immer stärker beansprucht, unsere Umwelt nicht immer weiter geschädigt und die Existenz und die Gesundheit von Millionen nicht gefährdet werden. W enn Asien das Management der Ressourcen sowie der Auswirkungen auf die Umwelt zum entscheidenden Ziel machen will, dann braucht es starke Staaten. Nur öffentliche Institutionen können Entwicklung vorantreiben und zugleich das Gemeinwohl sichern, die Umweltzerstörung rückgängig machen und die Erschöpfung der Ressourcen verhindern. Diese Ziele dürfen nicht den Launen des Marktes oder dem Fortgang der Technologie überlassen werden. Um Wohlstand für die große Mehrheit seiner Bevölkerung zu erreichen, muss Asien alternative Wege der menschlichen und wirtschaftlichen Entwicklung finden. Priorität müssen Anreize haben, die wirtschaftliches Handeln nach dem Motto „Weniger ist mehr“ belohnen und das Management der Ressourcen in den Mittelpunkt stellen. Der entscheidende erste Schritt in diese Richtung ist eine Steuer auf Kohlenstoff und Ressourcen; sie setzt einen Anreiz für Unternehmen, weniger Material und Energie in ihrer Produktion zu verwenden. Der nächste Schritt ist die Abschaffung der Subventionen für fossile Brennstoffe. Sobald die Verkaufspreise für Lebensmittel, Kleidung und Autos die tatsächlichen Kosten widerspiegeln, werden die Verbraucher beginnen, ihre Konsumgewohnheiten zu ändern. Das wird den Beginn einer neuen industriellen Revolution markieren – einer, die anders als die vorige nicht auf Externalisierung der wahren Kosten gegründet ist. Es kann aber nur geschehen, wenn die Nationen und ihre Entscheidungsträger aus dem Traum erwachen, die Technologie werde schon irgendwie Lösungen für die Gefahren finden, die das neue Zeitalter des Anthropozän hervorgebracht hat. Wir müssen die Grenzen der Technologie erkennen und unsere Konsumgewohnheiten infrage stellen. Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner. 9-2015 | entwicklung schwerpunkt Das Klima retten aus Kalkül Costa Rica will bis 2021 klimaneutral werden. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Kritiker werfen der Regierung Augenwischerei vor. U nberührte Urwälder, riesige Artenvielfalt, saubere Energie: Costa Rica ist stolz auf seinen Ruf als Öko-Paradies. Zugleich leidet das mittelamerikanische Land unter dem Klimawandel. Niederschläge fallen deutlich unregelmäßiger als noch vor 15 Jahren: In der nördlichen Pazifikregion Guanacaste ist es extrem trocken, an der Karibikküste dagegen regnet es so heftig, dass Dörfer unter Wasser stehen und Brücken weggerissen werden. Sollte Costa Rica es wirklich schaffen, den Ausstoß von Treibhausgasen auf null zu senken, würde das Land nicht nur einen Beitrag zum Schutz des heimischen Klimas leisten – es würde weltweit zum Vorreiter werden. Doch hinter dem Vorhaben, das der damalige Präsident Óscar Arias Ende 2007 angekündigt hatte, steht ein großes Fragezeichen. „Bei der Klimaneutralität tut man so, als ob das ein revolutionärer Fortschritt sei, aber eigentlich ändert man gar nichts“, kritisiert Isaac Rojas von der Umweltorganisation COECOCEIBA. Um das Ziel zu erreichen, müssten laut dem nationalen Statistik- und Entwicklungsbericht insgesamt acht Milliarden US-Dollar aufgewendet werden. Das entspräche mehr als einem Viertel des Bruttoinlandsproduktes (BIP) und wäre schwer zu stemmen: Costa Rica ist mit mehr als der Hälfte seines BIP verschuldet. Das Ziel sei „komplex“ und die Zeit knapp, lässt das Umweltministerium verlauten. Dennoch bleibt man auch nach dem Regierungswechsel vor gut einem Jahr der Linie von Ex-Umweltminister René Castro treu: Das Land habe, bezogen auf 2007, bereits vier Fünftel des Weges zur Klimaneutralität zurückgelegt, hatte er Anfang 2013 gesagt, vor allem durch Wiederaufforstung und CO2-neut- | 9-2015 rale Stromproduktion. Die damals oppositionelle Partei der Bürgeraktion (PAC) hatte die Klimaziele kritisiert. Doch nach ihrem Wahlsieg im Frühjahr 2014 hält Präsident Luis Guillermo Solís an der Klimaneutralität fest. Auf dem Sondergipfel im September 2014 in New York versprach er unter an- stößt das Unternehmen dort auf heftigen Widerstand der indigenen Anwohner. 200 Megawatt Strom werden gegenwärtig durch Windkraft erzeugt, diese Leistung soll mit Hilfe weiterer Windparks verdoppelt werden. Eine Solaranlage ist in Planung, Geothermie und Biomassekraftwerke werden derzeit erprobt. „Alles Schwindel“, meint hingegen Umweltexperte Rojas, „Wasserkraft ist nicht grün!“ Sie habe bereits große Umweltschä- Wasserkraftwerk in Guanacaste. Für gut 80 Tage ist es Costa Rica in diesem Jahr gelungen, seinen Strombedarf komplett aus erneuerbaren Energien zu decken. Joe Raedle/Getty Images derem Biodiesel-Busse, elektrische Züge und Energiesparmaßnahmen in Privathaushalten. Die Umsetzung allerdings lässt auf sich warten. Bislang ist der staatliche Stromversorger ICE eine der Hauptstützen im Klimaplan Costa Ricas. Laut Energievorstand Luis Pacheco wird der Strom längst klimaneutral erzeugt. Schwerölkraftwerke dienten derzeit nur noch zur Abdeckung regenarmer Perioden, wenn die Wasserkraftwerke nicht genug Strom produzierten. Die Kapazitäten sollen in den nächsten Jahren noch deutlich erweitert werden: Im Süden des Landes plant ICE seit Jahren ein Wasserkraftwerk, das 630 Megawatt Strom liefern soll. Allerdings den und soziale Verwerfungen verursacht. Die Regierung träume zudem davon, den angeblich grünen Strom zu exportieren. So wolle sie die eigenen CO2-Emissionen weiter herunter rechnen. Ähnlich sehe es bei der CO2-Bindung durch Wiederaufforstung aus, ergänzt Rojas. Costa Rica habe zwar natürliche Wälder aufgeforstet. Doch auch kurzlebige Teakholzund Ölpalmenplantagen würden mit eingerechnet, für die oft sogar Wälder gerodet wurden. Allein mit Hilfe von Aufforstung und CO2-neutralem Strom wird Costa Rica sein Klimaziel ohnehin nicht erreichen. Denn nach wie vor hängt der Gesamtenergieverbrauch zu 70 Prozent am Öl. Davon verbrennt der Verkehr fast 80 Prozent. Und der Verbrauch steigt. Wie viele Entwicklungsund Schwellenländer nähert sich auch Costa Rica dem Pro-KopfEnergieverbrauch der reichen Länder an. Die Zahl der Autos nimmt zu, und sie werden immer größer. Die Hauptstadt San José ist in den vergangenen Jahrzehnten unaufhörlich gewachsen. Mit vielen ehemaligen Dörfern der Umgebung ist sie zu einer ZweiMillionen-Metropolregion verschmolzen. Das fordert auch den Stadtplaner und Architekten Hugo Méndez heraus. „Wir haben Industriegebiete im Westen San Josés und Wohngebiete ohne Arbeitsplätze im Osten und Süden“, sagt er. Das führe zu einem hohen Verkehrsaufkommen. „Wir müssen vor allem das System des öffentlichen Nahverkehrs radikal ändern, um unsere Klimaziele zu erreichen“, erklärt er. Dafür müsste das Busund Straßenbahnnetz so ausgebaut werden, dass öffentliche Verkehrsmittel eine Alternative zum Auto darstellen. Auch Seilbahnen könnten errichtet werden, um durch Täler abgeschnittene Stadtviertel besser anzubinden. Zudem müsse dafür gesorgt werden, dass mehr Leute auf das Fahrrad umsteigen, fügt Stadtplaner Méndez hinzu. Umweltschützer wie Isaac Rojas werfen der Regierung Costa Ricas vor, sie sei nicht bereit, Emissionen wirksam zu reduzieren. Das Konzept der Klimaneutralität sei nicht mehr als eine Marketing-Strategie, um für internationale Investoren attraktiv zu sein. Ex-Präsident Arias hatte den Klimawandel als Krise bezeichnet, die auch Chancen biete: Costa Rica als Vorreiter beim Klimaschutz könnte Unternehmen anlocken, die klimaneutral produzieren und so ihr Image aufpolieren wollen. Tatsächlich aber, so die Umweltschützer, rechne Costa Rica seinen Treibhausgasausstoß mittels ökologisch fragwürdiger Praktiken einfach schön. Markus Plate 27 28 schwerpunkt entwicklung Anders wachsen Die Wirtschaft soll dem Gemeinwohl dienen: Dafür setzt sich eine internationale Bewegung ein. Einige Unternehmen probieren das schon aus – sie lassen sich an Werten wie Solidarität, Umweltfreundlichkeit und Mitbestimmung messen. Von Gesine Kauffmann Christiane Steinmetz setzt in der Küche ihres Stiftsgutes Keysermühle in Klingenmünster auf regionale Produkte. Gewürzt wird mit Kräutern aus dem eigenen Garten. Roland Kauffmann E s hat Zeit und Geld gekostet – aber es hat sich gelohnt. Davon ist Marcus Stadler überzeugt. Wenn der Beauftragte für Unternehmensverantwortung beim Event-Dienstleister satis&fy über die Gemeinwohlökonomie spricht, gerät er regelrecht ins Schwärmen. Seine Firma, ein Mittelständler mit 400 Beschäftigten, hat vor zwei Jahren zum ersten Mal eine Bilanz nach deren Kriterien erstellt. Soziales Engagement und Umweltschutz seien schon vorher wichtig gewesen, sagt Stadler. So verwendet das Unternehmen, das auf Veranstaltungstechnik und -architektur spezialisiert ist, für seine Bauten bei Messen, Konzerten, Konferenzen und Parteitagen nur noch Holz mit dem FSC-Siegel. Doch die Gemein- wohlbilanz biete eine solidere Basis, findet er: „Wir haben jetzt ein Werkzeug an der Hand, das uns sagt, wo wir stehen und wie wir weiterarbeiten wollen.“ Satis&fy mit Hauptniederlassung in Karben bei Frankfurt und weiteren Standorten in Deutschland, den USA und Brasilien zählt zu den gut 200 deutschen Pionierunternehmen, die bislang eine solche Bilanz erstellt haben. Entwickelt wurde sie von der Gemeinwohlökonomie-Bewegung, für deren Gründung im Oktober 2010 der österreichische Publizist Christian Felber den Anstoß gegeben hatte. Sie will das Wirtschaftssystem so umgestalten, dass es sich nicht länger an Konkurrenz und Profit orientiert, sondern an Kooperation und Solidarität. Ziel ist eine ethische Marktwirtschaft, die nicht Kapital vermehren will, sondern ein gutes Leben für alle anstrebt. Langfristig sollen so ein ungebremstes Wachstum ohne Rücksicht auf Mensch und Natur unterbunden und regionale Wirtschaftskreisläufe gestärkt werden. Wirtschaftlicher Erfolg soll deshalb nicht länger an Geld, Kapital und Finanzgewinn gemessen werden, sondern daran, inwieweit ein Unternehmen dem Gemeinwohl dient und die Lebensqualität fördert. Auf volkswirtschaftlicher Ebene soll das Bruttoinlandsprodukt als Erfolgsindikator vom „Gemeinwohl-Produkt“ abgelöst werden. Ungleichheiten bei Vermögen und Einkommen will die Gemeinwohlökonomie-Bewegung in demokratischer Entscheidung begrenzen: die Maximal-Einkommen etwa auf das Zehnfache des gesetzlichen Mindestlohns, Privatvermögen auf zehn Millionen Euro. Solche Vorschläge sind offenbar für viele Menschen attraktiv: Mehr als 6000 Privatpersonen, 1800 Unternehmen und sechs Gemeinden in 35 Ländern tragen die Bewegung derzeit; in 15 Ländern haben sich Regionalgruppen, sogenannte Energiefelder, gegründet. Firmen und Betrieben kommt eine besonders wichtige Rolle zu. Denn je solidarischer, sozialer, ökologischer und demokratischer sie handeln, desto bessere Ergebnisse erzielen sie in der GemeinwohlBilanz und desto mehr können sie den angestrebten Umbau der Wirtschaft voranbringen. Wie groß diese Effekte tatsächlich sind, untersuchen zurzeit Wissenschaftler der Europa-Universität Flensburg in einem dreijährigen Forschungsprojekt. Als Partner aus der Praxis sind unter anderem Großunternehmen wie die Deutsche Post, die Drogeriemarkt-Kette dm und die Otto-Gruppe beteiligt. 9-2015 | entwicklung schwerpunkt Bei vielen Unternehmern stoße die Gemeinwohlökonomie auf offene Ohren, sagt Jörg-Arolf Wittig vom Energiefeld Rhein-Main. „Vielen geht es gar nicht nur darum, Gewinn zu machen. Sie wollen etwas Sinnvolles tun.“ Die Gemeinwohl-Bilanz als Instrument der Organisationsentwicklung eigne sich für jede Größe und Rechtsform. Aktiengesellschaften, die vor allem auf Profitmaximierung aus sind, seien davon allerdings „recht weit weg“, räumt er ein. A nders als bei der Finanzrechnung, in der es um Gewinne und Verluste geht, wird das unternehmerische Handeln auf fünf Werte abgeklopft: Menschenrechte, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit sowie demokratische Mitbestimmung und Transparenz. Sie werden in Beziehung gesetzt zu den „Berührungsgruppen“ eines Unternehmens. Bei satis&fy sind das Lieferanten, Geldgeber, Mitarbeiter, Kunden und ein nicht näher bezeichnetes gesellschaftliches Umfeld. So entsteht eine Matrix mit 17 Feldern, die jeweils mit Punktzahlen unterlegt sind – maximal können 1000 Punkte erreicht werden. In Prozenten wird angegeben, wie weit ein Unternehmen bei einem Indikator bereits ist, wie es etwa um das ethische Beschaffungs- und Finanzmanagement steht oder in welchem Ausmaß es dazu beiträgt, die sozialen und ökologischen Standards seiner Branche zu erhöhen. Bei der ökologischen Gestaltung der Produkte und Dienstleistungen hat satis&fy ein Fünftel von möglichen 90 Punkten erreicht und bei der gemeinwohlorientierten Gewinnverteilung immerhin mehr als zwei Drittel von 60 Punkten. Ihren Gewinn investiert die Firma in neues Technik-Equipment und schüttet Boni an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus. Darüber hinaus unterstützt sie Veranstaltungen und Einrichtungen gemeinnütziger Organisationen. Negativ schlüge hier für die Gemeinwohlökonomie zu Buche, wenn Gewinne an externe Eigentümer ausgeschüttet würden, also nicht an die Arbeitsleistung geknüpft wären. Den Bericht und die Bilanz erarbeiten die Unternehmen zunächst selbst und können beides dann von einem externen Gutachter der Gemeinwohlökonomie-Bewegung überprüfen lassen. Erst dann dürfen sie ihre Leistungen für das Gemeinwohl veröffentlichen und damit werben. satis&fy ist für seinen Hauptstandort Karben bei Frankfurt auf 247 Punkte gekommen, ein Fünftel der Höchstzahl. Marcus Stadler ist trotzdem zufrieden: „Die Punkte werden ja für freiwillige Leistungen vergeben, die über den gesetzlichen Mindeststandards liegen.“ Zugleich ist das Ergebnis für ihn ein Ansporn, noch mehr zu tun – unter anderem bei der Zufriedenheit der Beschäftigten, bei der Verwendung umweltfreundlicher Materialien und beim Recycling. 170 Kilometer südlich sitzt Christiane Steinmetz in einer kleinen Bibliothek, die mit schön gearbeiteten Holzregalen und einem Parkettfußboden aus Pfälzer Eiche ausgestattet ist. Die Geschäftsführerin des Stiftsgutes Keysermühle im pfälzischen Klingenmünster, einem Drei-Sterne-Hotel mit 78 Betten und | 9-2015 Restaurant, könnte sich angesichts von 656 Punkten bei ihrer Gemeinwohl-Bilanz eigentlich gemütlich zurücklehnen. Aber das entspräche nicht ihrem Temperament. Die Theologin und Fundraiserin hat 2005 die Bürgerstiftung Pfalz mitgegründet. Fünf Jahre später wurde das Stiftsgut als Tochtergesellschaft eröffnet, seit 2014 schreibt es schwarze Zahlen. Rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der Küche, im Service und an der Rezeption beschäftigt, darunter ein gutes Dutzend Menschen mit Behinderungen. Die Stiftung wolle Impulse für eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung in der Region setzen und zu mehr gesellschaftlicher Mitverantwortung anregen. Dafür würden sämtliche Gewinne verwendet, auch aus dem Stiftsgut, sagt Steinmetz. Da lag es auf der Hand, diesen Anspruch mit Hilfe der Gemeinwohlbilanz zu überprüfen. „Wir wollten unser Profil besser herausarbeiten und schauen, wo wir nachbessern müssen.“ Steinmetz hat den mehrmonatigen Prozess, der 12.000 Euro gekostet hat, als sehr hilfreich erlebt, vor allem intern. „Die Mitarbeiter denken jetzt viel mehr mit und stoßen selbst Veränderungen an.“ Das kann Markus Stadler von satis&fy nur bestätigen. Das Zugehörigkeitsgefühl zum Unternehmen sei gewachsen, sagt er. Und der Event-Spezialist sei mit seiner Gemeinwohlorientierung als Arbeitgeber attraktiver geworden – ein klarer Wettbewerbsvorteil in Zeiten des Fachkräftemangels. Einen leichten Punktabzug in der GemeinwohlBilanz bekam die Keysermühle unter anderem für ihre Investitionspolitik. Sie arbeitet mit einer regionalen, genossenschaftlich geführten Bank zusammen, die keine Richtlinien zum Ausschluss unethischer Geldanlagen hat. Steinmetz will trotzdem an dem Geldhaus festhalten und merkt kritisch an: Die Gemeinwohl-Bilanz sei eine „Schablone“, die nicht auf alle gleichermaßen passe. Die KarmaKonsum-Konferenz will Unternehmern den Geist der Nachhaltigkeit nahebringen. satis&fy hat die Veranstaltung 2012 in Frankfurt mit Technik und Bühnenbau unterstützt. satis&fy 29 30 schwerpunkt entwicklung Der Heidelberger Ökonom Hans Diefenbacher hat eine noch grundlegendere Kritik. Die Vergabe von Punkten für einzelne Indikatoren täusche eine Genauigkeit vor, die so nicht existiere, sagt er. Das werde vor allem dann schwierig, wenn es darum gehe, das gemeinwohlorientierte Verhalten der Unternehmen politisch zu belohnen. Denn das strebt die Bewegung an: Je mehr Punkte ein Unternehmen hat, desto mehr rechtliche Vorteile soll es genießen. Laut Felber könnten das ein niedrigerer Mehrwertsteuersatz sein, Vorrang beim öffentlichen Einkauf oder günstigere Bankkredite. Christiane Steinmetz von der Bürgerstiftung Pfalz und Marcus Stadler von satis&fy hingegen schätzen das Punktesystem: Mit seiner Hilfe ließen sich Fortschritte messen, zudem würden Vergleiche zwischen Unternehmen möglich. Beide sind dafür, dass eine Nachhaltigkeitsberichterstattung gesetzlich vorgeschrieben wird. Zum Weiterlesen: Christian Felber Gemeinwohl-Ökonomie Deuticke-Verlag, Wien 2014 (überarbeitete Neuauflage), 280 Seiten, 17,90 Euro Gesine Kauffmann . ist Redakteurin bei D aran arbeitet die Gemeinwohlökonomie-Bewegung bereits, und zwar innerhalb der neuen Richtlinie der Europäischen Union (EU) zu den CSR-Berichtspflichten für große Unternehmen. Danach sollen Konzerne mit mehr als 500 Beschäftigten jährlich Auskunft geben über ihr Engagement für Umweltschutz, faire Arbeitsbedingungen, Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung. Wie sie das tun, bleibt ihnen überlassen – etwa im Rahmen des Global Compact der Vereinten Nationen oder der Leitlinien für multinationale Unternehmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Bis Ende 2016 soll die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. „Wir wollen erreichen, dass die Prinzipien der Gemeinwohl-Bilanz darin Eingang finden“, erklärt Christian Felber. Beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss war er im Juni bereits zu Gast, der Ausschuss arbeitet an einer Stellungnahme zur Gemeinwohlökonomie, über die im September abgestimmt werden soll. International verbreitet und vernetzt sich die Gemeinwohlökonomie-Bewegung weiter. Vor allem in Lateinamerika stoße sie auf „große Begeisterung“, sagt Felber. Viele Berührungspunkte gebe es zum Konzept des „buen vivir“, das ein Zusammenleben in Solidarität und Harmonie mit der Natur propagiert und in Ecuador und Bolivien Verfassungsrang genießt. An der Universität von Santiago de Chile werde derzeit eine erweiterte Gemeinwohl-Bilanz mit Aktiva und Passiva erarbeitet, berichtet er. Unlängst seien zudem Kontakte zu Bhutan geknüpft worden. Der asiatische Zwergstaat strebt mit seinem Bruttonationalglück eine sozial gerechte und umweltfreundliche Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft an. Die Gemeinwohlökonomie ist eine Graswurzelbewegung, die mit ihren Prinzipien nach und nach immer weitere Teile von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik durchdringen will. Sie sei ein „partizipativer und entwicklungsoffener Prozess“, der das Engagement „zahlreicher kreativer und eigenverantwortlicher Menschen“ brauche, betont Christian Felber. Beim Event-Dienstleister satis&fy und dem Stiftsgut Keysermühle scheint das Konzept aufzugehen. Beide haben erfahren, wie sie mit ihrer Orientierung am Gemeinwohl auf ihre Gäste und Kunden, ihre Dienstleister und Wettbewerber einwirken – und Schritt für Schritt deren Verhalten ändern. Marcus Stadler ist deshalb fest entschlossen, am Ball zu bleiben. „Die Erwartungshaltung von Mitarbeitern und Kunden ist hoch, wir dürfen nicht stehen bleiben“, sagt er. In Kürze soll die Evaluierung des ersten Gemeinwohlberichts beginnen – denn das Testat läuft Anfang Mai 2016 aus. Bei der Bürgerstiftung Pfalz ist es erst im März 2017 soweit. Und beim nächsten Bericht wird sie eine noch größere Aufgabe stemmen müssen: Ab dem kommenden Jahr wird sie zusätzlich die nahegelegene Burg Landeck bewirtschaften – ein Touristenmagnet in der Region. Bücher zum Thema Carsten Kaven Transformation des Kapitalismus oder grüne Marktwirtschaft? Pfade zur Nachhaltigkeit bei Altvater, Jänicke, Nair und Rifkin oekom Verlag, München 2015, 207 Seiten, 22,95 Euro Für den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gibt es sehr unterschiedliche Konzepte. Der Soziologe Carsten Kaven vergleicht vier von ihnen anhand von vier Leitfragen: Welche Haltung beziehen sie zum Kapitalismus, zur Rolle von Wirtschaftswachstum, zum Beitrag der Technik und zur Frage, wer die Transformation in Gang setzen soll? Elmar Altvater steht für radikale Kritik am Kapitalismus; er vertraut nicht auf technische Lösungen, sondern auf die Überwindung des Systems durch eine Solidarische Ökonomie. Der Umweltökonom Martin Jänicke fordert dagegen Reformen von oben, um die technische Effizienz zu steigern. Das hält der Inder Chandran Nair für völlig unzureichend; er plädiert für eine Einschränkung des Massenkonsums und eine strenge Regulierung des Kapitalismus, wobei er Asien eine Führungsrolle zuweist. Der US-Amerikaner Jeremy Rifkin schließlich setzt darauf, dass Technologien der „Dritten Industriellen Revolution“ – besonders die Digitalisierung und erneuerbare Energien – eine dezentrale Ordnung der Gesellschaft bewirken. Kaven beleuchtet Stärken und Schwächen der Konzepte. Er weist auf Widersprüche bei Rifkin hin und darauf, dass Jänickes Ansatz, wie dieser selbst zugibt, einen bedeutenden Teil der ökologischen Probleme nicht lösen kann. Seine Kritik an Nair ist teilweise etwas vorschnell, etwa wenn er ihm eine einseitige Sicht auf den Westen vorwirft. Das Buch hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck. Kaven macht Idealtypen sichtbar. Er ignoriert jedoch die Denktraditionen, in denen die Konzepte stehen und aus denen sie verständlich werden. Seine Synthese am Ende ist teils klug – etwa wenn er betont, eine Transformation sei nur begrenzt planbar und die Systemfrage führe nicht weiter –, teils aber eher banal. (bl) 9-2015 | entwicklung schwerpunkt se für alternative Wirtschaftsformen werden ebenso benannt wie die Gefahr, dass sie sich, wenn sie wachsen, in ganz normale Unternehmen verwandeln. Trotz der Fallstudien ist das Buch aber theorielastig: Es sucht allgemein Bedingungen zu identifizieren, die das von Utting erhoffte Bündnis gegen den Kapitalismus begünstigen oder behindern. (bl) ins Gericht: Sie missbrauchten es als Etikett sogar für große Bergbau- und Infrastrukturprojekte; damit gerate es zu einem reinen „Marketingprodukt“. Acosta fasst die zentralen Aspekte und Streitpunkte des „buen vivir“ gut lesbar zusammen und bietet eine gute Einführung in das Modell. (gka) Peter Utting (Hg.) Social and Solidarity Economy Beyond the Fringe? UNRISD/Zed Books, London 2015, 386 Seiten, ca. 34 Euro Der Gegenstand dieses Buches ist aus zwei Gründen schwer greifbar. Erstens zählt laut Peter Utting zur „sozialen und solidarischen Wirtschaft“ alles von Genossenschaftsbetrieben und wohltätigen Organisationen über Konsumentenvereine und Fair-Trade-Verbände bis zu Selbsthilfetruppen und Firmen, die mit Sozialdiensten Geld verdienen. Zweitens verbergen sich dahinter verschiedene Konzepte der alternativen Wirtschaft: Eine Strömung will Auswüchse des Kapitalismus einhegen und Firmen sozialen Normen unterwerfen, eine andere den Kapitalismus überwinden. Wenn beide zusammengehen, könnte laut Utting eine Gegenmacht zu etablierte Machteliten entstehen. Das Buch geht der Frage nach, unter welchen Bedingungen alternative Wirtschaftsweisen erstarken. Ein Befund lautet: Forderungen und Initiativen von unten müssen zusammenpassen mit bürokratischen Lösungsansätzen und mit dem Bestreben von Politikern, Proteste einzubinden. Die Fallstudie über eine Milchgenossenschaft in Indien illustriert das: Zu ihrem Aufstieg haben die starke Organisation an der Basis und kluge Geschäftsstrategien beigetragen, aber auch politische Vernetzung, Hilfe von lokalen Behörden und der geschickte Bezug zu Vorhaben der Regierung. Es ist eine Stärke des Buches, dass es Wechselwirkungen zwischen Basisinitiativen und dem politischen und wirtschaftlichen Umfeld ins Zentrum stellt. Hindernis- | 9-2015 Franz Segbers, Simon Wiesgickl (Hg.) „Diese Wirtschaft tötet“ Kirchen gemeinsam gegen den Kapitalismus VSA-Verlag, Hamburg 2015, 254 Seiten, 16,80 Euro Alberto Acosta Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben Oekom-Verlag, München 2015, 224 Seiten, 16,95 Euro Wenn es um alternative Entwicklungsmodelle geht, fällt schnell das Stichwort „Buen vivir“ – das „gute Leben“. Das Konzept stammt aus der indigenen Tradition Lateinamerikas und meint eine Weltanschauung, die auf Harmonie mit der Natur, Solidarität und Ergänzung zwischen Einzelnen und Gemeinschaften basiert. In Ecuador und Bolivien genießt es Verfassungsrang. Doch inwieweit findet es Eingang in die Wirtschaftspolitik der beiden Andenländer? Und taugt es auch als globales Modell? Solchen Fragen widmet sich der Ökonom Alberto Acosta in diesem Sammelband. Der Umweltaktivist und Ex-Minister für Energie und Bergbau von Ecuador erklärt, welches Potenzial das Konzept hat und wo sich damit an westliche Vorstellungen von nachhaltigen Lebensweisen anknüpfen lässt. Ein eigenes Kapitel widmet er den Risiken und Gefahren, denen das „gute Leben“ ausgesetzt ist. Dabei geht er hart mit seinem früheren Chef Rafael Correa und dessen bolivianischem Amtskollegen Evo Morales Le Monde diplomatique (Hg.) Atlas der Globalisierung Weniger wird mehr taz Verlags- und Vertriebs GmbH, Berlin 2015, 173 Seiten, 16 Euro Dass die Volkswirtschaft immer weiter wachsen müsse, sei das Credo aller politischen Parteien in Deutschland, heißt es in der Einleitung zur jüngsten Ausgabe des Atlas der Globalisierung. Der Großteil der Beiträge zeigt die fatalen sozialen und ökologischen Folgen dieses Wachstumswahns – etwa den Abbau sozialstaatlicher Sicherheiten oder den Raubbau an der Natur durch unkonventionelle Öl-Fördermethoden wie Tiefseebohrungen oder Fracking. Der Grundwiderspruch, den die meisten Autoren identifizieren, ist einfach – und lange bekannt: Die Logik eines unendlichen Wachstums steht mit den endlichen Ressourcen der Erde im Konflikt. Deshalb geht es um die Suche nach Alternativen: Ein gutes Leben für alle ohne den permanenten Zwang immer mehr zu leisten. Der Atlas will zu diesem Suchprozess beitragen – und zeigt, neben Krisenszenarien, welche Wege möglich sind. Die Beiträge greifen auf verständliche Art akademische Debatten und Prognosen auf und werden durch umfangreiche Literaturhinweise ergänzt. Der Atlas eignet sich hervorragend als Einstieg in die Postwachstumsdebatte. (me) Eine neue ökumenische Bewegung hat sich formiert, die den Kapitalismus ablehnt und nach einer „lebensdienlichen Wirtschaft“ strebt. Viele Glaubensgemeinschaften seien sich einig, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, stellen die Herausgeber des Sammelbandes fest. Sie verweisen auf das Schreiben „Evangelii Gaudium“ von Papst Franziskus, dem der Buchtitel entlehnt ist, und den „Aufruf zum Handeln“ der Zehnten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan zu einer „Ökonomie des Lebens, Gerechtigkeit und Frieden für alle“. In einem einleitenden Kapitel werden die Übereinstimmungen ausgeführt, darunter die Option für die Armen und Marginalisierten. Im Anschluss kommen weitere Autoren aus verschiedenen Ländern, darunter Vertreter des Islam und des Judentums, zu Wort. Vorrangig geht es um die Begründung, warum eine Umkehr nötig ist, was Glaubensgemeinschaften und Theologie dazu beitragen können sowie um die Definition der anstehenden Aufgaben. Eher schmal werden Beispiele aus der Praxis abgehandelt – das bleibt Christine Müller von der Arbeitsstelle „Eine Welt“ der sächsischen Landeskirche überlassen: Sie ergänzt ihre Überlegungen für eine transformative Spiritualität mit dem Hinweis auf Kirchengemeinden, die andere Formen des Lebens und Wirtschaftens bereits erproben. (gka) 31 32 schwerpunkt entwicklung Feuer für das Von Hanna Pütz Das Konzept des „Vivir Bien“ aus den Anden gilt als Alternative zum westlichen Glauben an Fortschritt und Modernisierung. Eine Berliner Theatergruppe will ein breites Publikum dafür begeistern. H inter der farbenfrohen Flickendecke ragen vier Köpfe hervor. Sie verharren kurz, dann setzt sich der Menschenzug trippelnd in Bewegung. „Null Korruption! Null Bürokratie!“, ruft der erste in der Reihe. Die Gefolgschaft applaudiert. „Ich werde mein eigenes Gehalt kürzen und die Gehälter der Minister halbieren!“ Dieses Mal klatscht niemand, die Gesichter werden lang. Dann bleibt es erst einmal still, bis Elke Schuster sagt: „Evo Morales, Dein Einsatz.“ In einem Hinterhaus in Berlin-Kreuzberg proben die Schauspieler der Berliner Compagnie den Einzug des frischgebackenen bolivianischen Präsidenten in seinen Palast. Schuster führt die Regie bei dem neuen Theaterstück des Ensembles. Dessen Titel spielt auf ein altes, andines Sprichwort an: Peru und Bolivien werden oft als „Bettler auf dem goldenen Thron“ bezeichnet. Denn die Länder sind reich an Rohstoffen, die sie jedoch nie reich, sondern eher zum Opfer von Ausbeutung gemacht haben. „Wir wollen zeigen, wie der Gegenentwurf zum neoliberalen Entwicklungsbegriff aussehen kann“, sagt Helma Fries und rückt ihre dunkelblaue Seidenbluse zurecht. Seitdem mit Morales erstmals ein Indigener an der Spitze des Staates steht, herrsche in Bolivien Skepsis gegenüber den westlichen, konsumund wachstumsorientierten Vorstellungen von Entwicklung. Fries hat das Stück geschrieben und verkörpert Evo Morales. Sie hat die Berliner Compagnie 1982 mitgegründet – damals noch als Gerhard Fries. Das politische Tourneetheater befasst sich seitdem mit Themen wie den Arbeiteraufständen bei Daimler in Südafrika oder Billiglohnarbeit in der südostasiatischen Bekleidungsindustrie. In diesem Jahr ist die Wahl auf Bolivien gefallen. „Der Bettler auf dem goldenen Thron“ ist ein hochpolitisches Stück. Der rote Faden ist die neuere Geschichte des Landes. Erzählt wird von gewerkschaftlichem Widerstand, ausbeuterischen Konzernen, Wasserprivatisierung und dem politischen Handeln Morales’, der das Land auf seine Art aus der Armut befreien will. Wegweisend dafür – und für das Stück – ist das indigene Konzept des „Vivir Bien“, das seit 2009 in der bolivianischen Verfassung verankert ist. In den Andenländern ist mit dem „Guten Leben“ das Zusammenleben aller in Harmonie mit der Natur gemeint; es stützt sich auf Werte wie Gemeinschaft und Solidarität. Bei der Probe: Evo Morales (rechts: Helma Fries), hat gerade sein Amt angetreten. Das bunte Bühnenbild ist ein Gemeinschaftswerk von mehr als 100 Beteiligten. Berliner Compagnie 9-2015 | entwicklung schwerpunkt „gute Leben“ Das Bühnenbild der Berliner Compagnie spiegelt diese Idee wider. „Daran haben mehr als 100 Menschen mitgearbeitet“, sagt Regisseurin Schuster und zeigt auf das Tuch, hinter dem die Schauspieler zuvor entlangmarschiert waren. Das Kunstwerk aus hunderten, zusammengenähten Stoff-Quadraten hängt an der Decke des Probenraums und teilt die Bühne in zwei Hälften. Im Vordergrund steht ein rostiges Ölfass, das die Erdölvorkommen symbolisieren soll. Doch in den ersten Szenen dient die Tonne erst einmal als Büro der US-amerikanischen Botschaft, die laut Skript vom Geheimdienst CIA gesteuert wird. Die bolivianischen Beamten kuschen, Morales ordnet die Räumung des Büros an. Erneut schreitet Schuster ein. Es müsse noch deutlicher werden, dass die Minister mehr Angst vor dem amerikanischen Geheimdienst haben als vor ihrem eigenen Präsidenten. E in CIA-Agent in der Botschaft: Es klingt ein wenig verschwörungstheoretisch, was auf der Bühne gespielt und debattiert wird. Doch wie die meisten Szenen im Stück spitzt auch diese eine wahre Begebenheit aus der Geschichte Boliviens zu. In diesem Fall die von Morales 2013 angedrohte Räumung der US-Botschaft und den tatsächlichen Hinauswurf der Entwicklungsagentur USAid, die laut dem Präsidenten politische statt sozialer Ziele verfolgt hatte. Wie sich das schauspielerisch gut darstellen lässt, wird in Berlin-Kreuzberg detailreich besprochen. Immer wieder springt Elke Schuster auf und macht vor, wie genau sich Hände bewegen, Köpfe senken und Stimmen erheben sollten. Die Sache ist ihr und den anderen wichtig. Alles soll perfekt sitzen. Vor allem soll das Stück gleichzeitig unterhalten und zum Nachdenken anregen. „Wir haben immerhin einen entwicklungspolitischen Bildungsauftrag“, sagt Fries. Genug Erfahrung mit politischem Theater haben sie: Die Berliner Compagnie hat schon knapp 30 Stücke produziert, jeweils unterstützt von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen wie dem Evangelischen Entwicklungsdienst. Auf den Tischen im Probenraum stapelt sich die Lektüre über Südamerika. Schuster ist die einzige aus dem Ensemble, die schon einmal in La Paz war, allerdings vor Morales’ Amtszeit. Die Schauspielerin Angelika Warning etwa hat sich vor den Proben kaum mit der bolivianischen Politik auseinandergesetzt. Sie spielt unter anderem die Gewerkschafterin Domitila Chungara, die sich in den 1970er Jahren für die Rechte der Bergarbeiter eingesetzt und gegen die Diktatur gekämpft hatte. Dabei habe sie viel gelernt, sagt sie, das schätze sie an ihrem Beruf. Für Drehbuch-Autorin Fries waren vor allem Gespräche mit Hilfsorganisationen und Journalisten in Bolivien hilfreich, um den richtigen Ton für das Stück zu finden. Gefördert wird es vom Entwicklungsminis- | 9-2015 terium, dessen ehemaliger Chef Dirk Niebel allerdings nicht gut wegkommt. Fries hat ihm eine kritische Szene gewidmet, die auf seinen Staatsbesuch im November 2010 zurückgeht. Damals hatte er dem linken Präsidenten Morales als Gastgeschenk ein Berliner Mauerstück in die Hand gedrückt – „als Erinnerung an die Überwindung von 40 Jahren sozialistischer Diktatur“. Eine Herabwürdigung von Morales’ Politik, findet Fries. Dennoch betont sie, dass der indigene Präsident in ihrem Stück keinesfalls als Held dargestellt wird. So werde unter anderem der umstrittene Straßenbau durch den Tipnis-Nationalpark thematisiert, der in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste auslöste. Nicht nur Umweltschützer stehen der widersprüchlichen Politik der bolivianischen Regierung kritisch gegenüber: Einerseits hat sich Morales das „Vivir Bien“ auf die Fahne geschrieben. Andererseits hat er jüngst den Abbau von Rohstoffen in Naturschutzgebieten erlaubt. Gefördert wird das Stück vom Entwicklungs ministerium – dessen ehemaliger Chef Dirk Niebel kommt jedoch nicht gut weg. Inwiefern das Theaterstück auch Menschen fernab der entwicklungspolitischen Szene anspricht, ist fraglich. Vor allem Jüngere sind laut Fries zunehmend schwieriger zu erreichen. Der Tourneeplan ist jedoch gut gefüllt, die Schauspieler sind bundesweit unterwegs. Sie treten auf Einladung von Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Theatern, Schulen und Bürgerinitiativen auf – und da steht zu vermuten, dass sie im Laufe der Jahre bereits ein breit gefächertes Publikum erreicht haben. Deutschland könne von Bolivien lernen, heißt es im Programmheft. „Und zwar, dass Widerstand etwas bewirkt“, sagt Regisseurin Schuster. Und dass das „Vivir Bien“ auch in einer westlichen Gesellschaft als Chance wahrgenommen werden könnte. Eins zu eins sei das Konzept hier zwar nicht umsetzbar. Dennoch lasse sich bereits ein Wandel erkennen, zum Beispiel in der Degrowth-Bewegung. Ein Theaterstück kann die politische Wirklichkeit eines Landes nie vollständig abbilden – doch Fries ist überzeugt: „Die Bühne kann ein emotionales Feuer entfachen.“ Und vielleicht wirke sich das auch auf das Handeln der Zuschauer aus. In jedem Falle zeigt „Der Bettler auf dem goldenen Thron“, wie politisches Theater funktionieren kann. Nämlich ganz im Sinne des „Vivir Bien“: als vielfältiges Gemeinschaftswerk, das das Publikum bereichert. www.berlinercompagnie.de Hanna Pütz ist Volontärin bei . 33 Im Netz der Verbrecher Text: Alex Perry und Connie Agius, Fotos: Sarah Caron Menschenhändler wie der Äthiopier Ermias Ghermay verdienen sich mit dem Elend von Flüchtlingen eine goldene Nase. Wenn sie in Italien angekommen sind, übernimmt die dortige Mafia. C alogero Ferrara zündet sich in seinem Büro im zweiten Stock des Justizgebäudes in Palermo einen Zigarillo an und zeigt uns seine 526-seitige Klageschrift gegen 24 afrikanische Menschenhändler. Der Mafia-Ankläger hat Mitte April auf einer Pressekonferenz einen außergewöhnlichen Erfolg im Kampf der italienischen Behörden gegen die illegale Einwanderung bekanntgegeben: Über Nacht haben seine Beamten auf Sizilien, in Mailand und in Rom eine Bande von Menschenschmugglern dingfest gemacht und 14 überwiegend aus Eritrea stammende Männer festgenommen. Die Probleme, mit denen sich Ferrara herumschlagen muss, sind durch die geografische Lage Siziliens bedingt. Seit Tausenden Jahren kreuzen sich hier die Verkehrswege zwischen Europa, Afrika und dem Mittleren Osten. Die Kirchen mit ihren arabischen Kuppeln sowie die Straßenschilder auf Italienisch und Arabisch bezeugen, dass die Insel im Mittelmeer seit jeher kosmopolitisch geprägt ist. Migration wird hier als unaufhaltsam und auch wünschenswert betrachtet. Die Behörden sahen sich selbst angesichts dramatisch zunehmender Flüchtlingszahlen nicht zum Eingreifen genötigt – auch dann nicht, als das Massensterben begann. Jetzt richten sich neue Hoffnungen auf die Intervention der prominenten italienischen Mafia-Ankläger. Seit dem Schiffsunglück 2013 vor Lampedusa, bei dem mehrere Hundert Flüchtlinge ertrunken sind, betrachten sie den Menschenhandel als eine Form 9-2015 | flüchtlinge welt-blicke des organisierten Verbrechens – und seine Bekämpfung als ihre Aufgabe. Ferrara begann bereits am Morgen nach dem Unglück, gegen die Menschenschmuggler zu ermitteln. Er beauftragte seine Beamten, die Überlebenden nach den Telefonnummern der Männer zu fragen, die sie auf das Boot verfrachtet hatten. Dann ließ er die Verbindungen abhören und verfolgte zusätzlich Anrufe bei anderen Nummern. So erhielt er ein Netz telefonischer Kontakte zwischen Tausenden Nummern in Afrika, Europa, dem Mittleren Osten, Asien und den USA. Im Lauf von 18 Monaten zeichnete sein Team mehr als 30.000 Telefongespräche auf. Die Mitschnitte enthalten Hinweise auf mehrere transnationale Verbrechersyndikate, die zusammen um die sieben Milliarden US-Dollar jährlich einnehmen. Die keinen Geschäftssitz, keine festen Mitarbeiter, und vor allem geht Ghermay keinerlei Risiko ein. „Drogenhändler verlieren mit der Ware auch ihr Geld“, sagt Ferrara. „Doch in diesem Geschäft wird im Voraus bezahlt. Auch wenn die Migranten später ertrinken, Ermias hat sein Geld bereits bekommen.“ G hermays Kunden beschreiben ihn als untersetzten Mann um die 40. Er spricht mehrere Sprachen fließend, darunter Arabisch und Tigrinya, das im Norden Äthiopiens und in Eritrea gesprochen wird. Seit etwa zehn Jahren schmuggelt er Menschen, sein Geschäft betreibt er an der libyschen Küste, überwiegend in Tripolis oder weiter westlich im Hafen von Zuwara. Die Migrationspolitiker der Europäischen Union planen Angriffe auf Links: Vom Boot gerettet – und jetzt? Bei der Unterbringung von Flüchtlingen in Italien kassiert die Mafia mit ab. Rechts: Die beiden Migranten sollen die Unterkunft wechseln, um Platz für Neuankömmlinge zu machen. Vertreter der Caritas und Behörden in Palermo versuchen, ihnen die Angst vor der Abschiebung zu nehmen. Ermittler stießen auch auf den Mann, der einer der raffiniertesten und geschäftstüchtigsten Menschenhändler sein soll: Ermias Ghermay, ein Äthiopier, der in Libyen lebt. Ferrara nennt ihn einen „skrupellosen Verbrecher, der mit menschlicher Ware handelt, um Geld zu verdienen“. Ghermays Organisation bietet Migranten, die von Zentralafrika über Libyen und Italien in ein weiteres Land gelangen wollen, sämtliche Dienstleistungen an – Transport, Unterkünfte und Verpflegung. Es sei ein kriminelles Geschäft wie kein anderes, erklärt der Staatsanwalt. Es gibt keine Namen, | 9-2015 Schmugglerschiffe – doch Ghermay sieht seine Holzkähne und Schlauchboote ohnehin als Wegwerfartikel. Wenn sie in Sizilien ankommen, sinken sie meistens oder werden beschlagnahmt. Deshalb kauft er am liebsten die billigsten Boote, die sich gerade noch über Wasser halten. Damit seine Kunden nicht versuchen, ein besseres Schiff zu finden, soll er in Zuwara Lagerhallen gepachtet haben, in denen er sie zu Tausenden monatelang einsperrt, nachdem er ihnen ihre Handys abgenommen hat. Auf den Booten verstaut er die Migranten nach Herkunft und Rasse getrennt. Syrer bezahlen 35 36 welt-blicke flüchtlinge mehr und reisen auf dem Oberdeck; die Afrikaner, die meist weniger Geld haben, werden ohne Wasser und Nahrung unter Deck eingeschlossen. Die meisten Menschenhändler wollen offenbar nicht mehr sein als ein Rädchen in einem großen Getriebe. Doch Ghermays Telefongespräche lassen laut Ferrara größere Ambitionen erkennen. Um einen regelmäßigen Nachschub an Migranten sicherzustellen, pflegt er Geschäftsverbindungen mit Menschenhändlern im Sudan, in Somalia, Nigeria und Eritrea, die ihre Ladung auf LKWs durch die Sahara transportieren. Auch in Europa knüpft er ständig neue Kontakte mit Schmugglern, nicht nur innerhalb der Auffanglager in Sizilien, Rom und Mailand, sondern auch in Berlin, Paris, Stockholm und London. Die Geschäftspartner, die Ghermay seine „Colonels“ nennt, sind laut den Abhörprotokollen vor allem für zwei Dinge zuständig: Sie transportieren Menschen und Geld. Sie geben den Migranten aktuelle Informationen über die sichersten Reisewege und die Telefonnummer des Colonels, der für die nächste Etappe zuständig ist. Manche von Ghermays Colonels werben für sich und ihre Dienste auf Facebook und anderen Webseiten. Auch er selbst hat neuerdings sein Angebot erweitert. Zahlungskräftige Kunden vermittelt er an Leute, die ihnen echte Pässe und Visa beschaffen. Unterstützt wird er dabei von mindestens einem korrupten europäischen Botschafter in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Wer es sich leisten kann, bekommt sogar Flugreisen angeboten. Der Mafia-Jäger Ferrara meint, das Geheimnis von Ghermays Erfolgen liege wohl in seiner sympathischen Ausstrahlung. Er verwendet viel Zeit darauf, mit den Familien zu telefonieren, die für die Migration eines Verwandten bezahlen. Dabei versichert er ihnen, dass diesem nichts zustoßen wird, und erinnert sie taktvoll an ihre finanziellen Verpflichtungen – ein besonders heikles Thema. Viele eritreische Flüchtlinge sind Kinder, manchmal sogar Kleinkinder. In den äthiopischen Flüchtlingslagern versprechen die Schmuggler den Eltern, sie umsonst nach Europa zu bringen. Sie behaupten, dort werde einem unbegleiteten Minderjährigen automatisch Asyl gewährt und die ganze Familie könne später nachkommen. W enn die Schmuggler das Kind weggebracht haben, erfahren die Angehörigen, dass sie doch bezahlen müssen: rund 1800 USDollar für die Reise bis zum Mittelmeer und weitere 1800 Dollar für die Überfahrt. Bis das Geld eintrifft, wird das Kind in Ghermays Lagerhallen festgehalten. Dass er derart fragwürdige Transaktionen häufig erfolgreich abwickelt, liegt zum großen Teil an seinem Verhandlungsgeschick. „Er raubt ja niemanden aus“, sagt ein Polizeibeamter in Palermo, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Er kann mit den Menschen umgehen und flößt ihnen Vertrauen ein. Je vertrauenswürdiger Ghermay wirkt, desto mehr Leute wenden sich an ihn.“ Sizilien ist bekanntlich ein Zentrum des organisierten Verbrechens. Dass Menschenhändler wie Ghermay hier Hunderte Millionen US-Dollar verdienen können, wirft die Frage auf, warum die Mafia das zulässt. Im Dezember 2014 haben Staatsanwälte in Rom die Antwort gefunden. Nachdem sie den mutmaßlichen Mafia-Boss Massimo Carminati und 36 weitere Mafiosi festgenommen hatten, wiesen sie in einer 1200 Seiten umfassenden Klageschrift nach, dass diese die Verwaltung Roms weitgehend unterwandert hatten. Im Zuge der gleichen Ermittlungen wurden Anfang Juni weitere 44 Personen festgenommen. Dabei stellte sich heraus, dass die Mafia Capitale, Carminatis römisches Verbrecherkartell, an der europäischen Flüchtlingskatastrophe mitverdient. Zwar beteiligte sich die Mafia Capitale nicht unmittelbar am Menschenschmuggel. Doch sie riss die Aufträge für den Bau und die Verwaltung der Auffanglager an sich. Laut Anklageschrift leitete Carminatis engster Vertrauter, ein verurteilter Mörder namens Salvatore Buzzi, eine Kooperative, die Mahlzeiten und Sprachkurse für Migranten organisierte. Damit will Buzzi 45 Millionen US-Dollar eingenommen haben. Außerdem soll er fremdenfeindliche Übergriffe angezettelt haben: Auf diese Weise sollte die Regierung gezwungen werden, mehr Auffanglager zu bauen, in denen die Ausländer sicher untergebracht werden konnten. Die Anwälte von Buzzi und Carminati bestritten die Vorwürfe. Doch die Ermittler hörten ein Gespräch ab, in dem Buzzi seinen Partner fragte: „Hast du über- Oben: Ein afrikanischer Migrant verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von gefälschten Handttaschen im Rotlichtviertel von Catania. Rechts oben: Ein Nigerianer wird in einer mobilen Klinik untersucht, die zwischen mehreren Aufnahmelagern in Italien unterwegs ist. Rechts unten: 2014 starben mehr als 3700 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. 48 von ihnen werden Anfang Juli im sizilianischen Pozallo beerdigt. 9-2015 | flüchtlinge welt-blicke haupt eine Ahnung davon, wie viel ich an den Einwanderern verdiene? Nicht einmal das Drogengeschäft bringt derart viel ein!“ Noch viel mehr als Buzzis Kooperative soll das Management des größten europäischen Flüchtlingslagers abgeworfen haben, das in Mineo im Osten Siziliens eingerichtet wurde. Ein Dreijahresvertrag über 110 Millionen US-Dollar versprach den Betreibern für die Unterbringung und Verpflegung von bis zu 4000 Migranten pro Person und Tag 32 Dollar. A us der Anklageschrift und aus unabhängigen Ermittlungen der Fahnder in Catania im Osten Siziliens geht hervor, dass das Abzockmanöver von einem Beamten namens Luca Odevaine organisiert wurde. Dank seiner diversen Ämter – als Stabschef des ehemaligen römischen Bürgermeisters Veltroni, Mitglied der Flüchtlingskommission beim Innenministerium und offizieller Berater für Flüchtlingsfragen in Mineo – konnte er alle für Migranten zuständigen Stellen im Sinne der Geschäftsinteressen der Mafia Capitale umfunktionieren. Abgehörte Telefonate belegen, wie Odevaine seinen Partnern Aufträge für den Bau und den Betrieb der Lager zuschanzte. Dann schickte er weit mehr Flüchtlinge dorthin, als sie aufnehmen konnten – vor allem nach Mineo. Wie die Staatsanwaltschaft feststellte, war das kein System der Flüchtlingshilfe, sondern ein „System der Korruption“. | 9-2015 37 38 welt-blicke flüchtlingE Viele waren schockiert über den Umfang der Betrügereien und die Art, wie die Beteiligten eine der schlimmsten europäischen Krisen ausnutzten. Politiker wurden festgenommen. Ein ehemaliger Bürgermeister von Rom trat von seinen Parteiämtern zurück. Doch trotz zahlreicher Rücktritte, Verhaftungen und Verurteilungen bleibt die Frage: Wird der Zustrom nach Europa so schlecht gehandhabt und damit die Krise verschärft, weil die Flüchtlinge Geld einbringen und die Mafia samt ihren korrupten politischen Handlangern immer mehr kassiert, je mehr Migranten eintreffen? Bei diesem Geschäft wird im Voraus bezahlt. Auch wenn die Migranten später ertrinken, hat der Schmuggler sein Geld schon bekommen. Alex Perry ist Buchautor, Journalist und Redakteur bei der internationalen Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Newsweek“. Dort ist der Beitrag im ungekürzten Original erschienen. Connie Agius ist Journalistin. Sie arbeitet für „Newsweek“ und für internationale TV- und Radiosender wie Channel 4, Deutsche Welle und ABC. Das Lager in Mineo besteht aus einer Ansammlung von gut 400 Backsteinhäusern inmitten einer weiten Talsohle. Früher war es eine US-amerikanische Militärbasis, und mit seinen bewachten Toren und Stacheldrahtzäunen macht es noch immer einen sehr wehrhaften Eindruck. Das Lager ist nicht an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden, und die meisten Migranten haben kein Geld. Doch tagsüber dürfen sie das Gelände verlassen, und viele spazieren auf den Landstraßen herum, die jetzt das Ende ihrer Welt darstellen – wie John aus Nigeria und Kadir aus Äthiopien. John ist vor elf Monaten hier gelandet. Er hatte drei Jahre lang in Libyen gearbeitet, doch dann wurde es ihm dort zu gefährlich. Kadir ist schon seit zwei Jahren hier. Beiden sagte man bei ihrer Ankunft, sie bekämen binnen 35 Tagen Papiere, mit denen sie sich als Flüchtlinge und Asylbewerber ausweisen könnten. Beide wollten nach Deutschland weiterreisen. Doch aus den Wochen wurden Monate und Jahre, und im Lauf der Zeit haben sie erkannt: „Hier geht es ums Geschäft“, sagt John. „Und das Geschäft sind wir. Wir sind die Ware. Sie behalten uns hier, weil sie an uns verdienen.“ John sagt, er habe nicht mehr in einem Land leben wollen, in dem der Staat mit der organisierten Kriminalität zusammenarbeitet – deshalb sei er nach Europa gekommen. Doch hier bereichern sich die Betreiber des Lagers selbst an den zwei Euro Taschengeld, das die Migrantinnen und Migranten pro Tag erhalten. Anstelle von Bargeld bekommen sie Kredit auf einer Chipkarte, mit der sie nur in einem Geschäft im Lager oder in bestimmten Läden außerhalb bezahlen können. Das hört sich geringfügig an, doch das Monopol bringt rund drei Millionen Euro pro Jahr ein. Riccardo Campochiaro aus Catania, der die Hilfsorganisation Centro Astalli als Anwalt unterstützt, bezeichnet das langfristige Festhalten der Migranten in Mineo als eine Art stationären Menschenhandel. Seine Kollegin Elvira Iovino fügt hinzu, die Bedingungen im Lager seien aufgrund der Überfüllung katastrophal. Und da die Migranten nicht legal arbeiten dürfen, gedeihen zwangsläufig illegale Aktivitäten wie Prostitution und Drogengeschäfte. Im Lager bieten Menschenhändler Ausreisemöglichkeiten nach Nordeuropa an und außerhalb Jobs als Erntehelfer für zehn Euro pro Tag. Und davon geschieht „nichts, aber auch gar nichts ohne das Wissen der Cosa Nostra“, sagt Elvira Iovino. J eder scheint von dem System zu profitieren, nur die Migranten nicht. Sie haben in der Hoffnung auf ein besseres Leben das Risiko, zu sterben, in Kauf genommen und ihren letzten Cent für eine Reise von Tausenden Kilometern ausgegeben, um dann in Mineo zu landen. Daran seien viele Menschen innerlich zerbrochen, meint John. Mindestens einer hat Selbstmord begangen. Es gab gewaltsame Proteste und gemeinsame Ausbruchsversuche. Kadir hat Wüsten und Ozeane überquert, um ein freieres Leben zu führen. Seine Reise nach Norden dauerte über ein Jahr. Mit Lumpen am Leib und Flipflops an den Füßen war er zu Fuß unterwegs. Er nahm jede Strapaze in Kauf, um am Leben zu bleiben und das Geld für den nächsten Teil der Strecke zusammenzubringen. Dabei sah er viele Menschen sterben – in der Wüste, im Krieg in Libyen und auf dem Boot, das ihn übers Mittelmeer brachte. Doch als er schließlich ankam, war alles genauso wie zu Hause: Anständige und wehrlose Menschen werden von Kriminellen ausgebeutet. Jetzt weiß Kadir nicht mehr weiter. „Mein Leben ist genauso wertlos wie eh und je“, sagt er. „Wenn ich hier sterben soll, dann sterbe ich eben.“ Dass die Flüchtlinge Lebensgefahr in Kauf nehmen, erschüttert diejenigen, die direkt damit konfrontiert sind. Kapitän Giuseppe Margiotta fährt seit 35 Jahren von Sizilien an die libysche Küste, um Krabben zu fangen. Neuerdings fischt er immer wieder Migranten aus dem Meer. In der Aprilnacht, in der 800 Menschen ertranken, kamen Margiotta und seine sechs Gehilfen um vier Uhr morgens dazu und zogen den Leichnam eines Jungen ins Boot. Als die Sonne aufging, sahen sie das volle Ausmaß der Katastrophe. „Wir waren von Kleidungsstücken umgeben“, sagt Margiotta. „Kindersachen, Kleidung von Frauen und Männern, Flipflops.“ Darunter trieben die Leichen. Während er erzählt, beginnt er zu weinen. Auch damals hat er geweint. „Als ich diese Schweinerei sah, Kinder zwischen 10 und 15 Jahren, die wir aus dem Meer zogen wie Thunfische…“ Margiotta atmet tief durch. Er will den europäischen Politikern etwas mitteilen. „Ihr sitzt herum und trefft Entscheidungen“, sagt er, „und ihr sagt, ihr seid zivilisiert. Aber wenn so etwas noch einmal geschieht, dann kommt selbst und schaut es euch an. Kommt und seht, wie es ist, wenn man einen Teppich von Menschen im Meer treiben sieht.“ Dann trocknet er sich die Augen und sagt: „Ich weine vor Wut.“ Aus dem Englischen von Anna Latz. 9-2015 | ägypten welt-blicke Gemeinsam gegen die Revolution Die arabischen Diktatoren stellen sich als Bollwerk gegen den islamistischen Terror dar. Doch in Wahrheit fördern sie ihn. Denn ihr Hauptziel ist, die demokratischen Bewegungen auszuschalten. Den neuen Herrschern ein Dorn im Auge: Anhänger des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi stehen im März 2014 in Alexandria vor Gericht. Reuters | 9-2015 Von Jean-Pierre Filiu D er tunesische Diktator Ben Ali wurde im Januar 2011 in einem Volksaufstand gestürzt. Im Monat darauf ereilte den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak nach beinahe 30 Jahren an der Macht das gleiche Schicksal. Ein altgedienter amerikanischer Geheimdienstmitarbeiter vertraute mir damals seine Befürchtung an: Eine Niederlage der demokratischen Bewegung in der arabischen Welt werde den Dschihadisten solchen Auftrieb geben, dass man das Budget für die Terrorismusabwehr nicht nur verdoppeln, sondern gleich verdreifachen sollte, um der Bedrohung begegnen zu können. Genau das ist heute das Problem der arabischen Welt – abgesehen einzig von Tunesien, wo die Demokratisierung erfolgreich verlaufen ist. Und die arabischen Diktaturen sind mitverantwortlich für das Aufkommen und Erstarken ihrer dschihadistischen Erzrivalen – also der Heiligen Krieger von Gruppen wie al-Qaida und dem Islamischen Staat. Eine perverse und destruktive Logik hat die Militärregime veranlasst, auf das Schreckgespenst der extremistischen, gewalttätigen Islamisten zu setzen, um die Proteste der von ihnen unterjochten Völker zu ersticken. Das 39 40 welt-blicke ägypten Ägyptenfeldzug begann. Ein Teil davon ist zweitens das halbe Jahrhundert von 1922 bis 1971, in dem die arabischen Länder nach und nach ihre Unabhängigkeit und formelle Souveränität als Nationalstaaten erhielten – zuerst Ägypten 1922, zuletzt die Vereinigten Arabischen Emirate 1971. Ein weiterer Teil dieses Prozesses waren schließlich die zwei Jahrzehnte von 1949 bis 1969, in denen Militärcliquen die nationalistischen Eliten ausschalteten und den Unabhängigkeitsbestrebungen eine neue Richtung gaben. V Oben: Der Führer der algerischen Islamischen Heilsfront, Abassi Madani (links) 1997 auf dem Weg zur Moschee. Seine Gruppierung verlor ihren Einfluss an Dschihadisten. dpa/Picture Alliance Unten: US-Präsident George W. Bush 2008 mit seinem ägyptischen Amtskollegen Hosni Mubarak, der vom „Krieg gegen den Terror“profitierte. afp/Getty Images erklärt den Widerspruch, dass die Antiterror-Apparate immer weiter aufgebläht wurden, während zugleich die terroristische Bedrohung, die diese Apparate bekämpfen sollten, ständig wuchs. Tatsächlich machen diese beiden in einen blutigen Kampf verstrickten Kräfte bereitwillig gemeinsame Sache, wenn es darum geht, den gemeinsamen Feind zu unterdrücken: die demokratische Protestbewegung. Die derzeitige Krise muss im Rahmen von drei langfristigen historischen Prozessen gesehen werden. Da ist zunächst die mehr als zwei Jahrhunderte dauernde Nahda, die „Renaissance“ und das Erwachen der Völker Arabiens, die 1798 mit Napoleons or diesem Hintergrund zeigt sich: Die Krise, die derzeit die arabische Welt erschüttert, ist von revolutionärer Art. Sie ist darin begründet, dass Regime, die gewaltsam die Früchte des Kampfs gegen die Kolonialherren an sich gerissen haben, reformunwillig sind. Ich sehe darin die tragische Verlängerung dieses Kampfes der Völker um Selbstbestimmung. Diktatoren und Dschihadisten sind wild entschlossen, der Volkssouveränität als Grundlage politischer Legitimation keine Chance zu geben. Diese Weigerung scheint mir viel aufschlussreicher für das Verständnis der derzeitigen Wirren als die Gegenüberstellung von Laizisten und Fundamentalisten oder gar von Sunniten und Schiiten. Um herauszuarbeiten, wo Diktatoren und Dschihadisten gemeinsame Sache machen, schlage ich zwei etwas behelfsmäßige Begriffe vor: Moderne Mamelucken nenne ich die heute herrschenden Militärdiktaturen. Und als Sicherheitsmafia bezeichne ich die Antiterror-Apparate, die sich in einen weltweiten Kampf gegen den schwer fassbaren und damit im Grunde unbesiegbaren „Terror“ eingliedern. Die Mamelucken, die Ägypten und Syrien zwischen 1260 und 1516 regierten, waren ursprünglich eine dem Herrscher ergebene Kriegertruppe aus Sklaven. Wie sie stellen auch die modernen Mamelucken eine Kaste dar. Sie leben abgesondert vom Rest der Bevölkerung, deren Reichtümer sie sich unter den Nagel gerissen haben – angeblich für die Verteidigung nationaler Interessen, in Wahrheit aber für die ihrer herrschenden Clique. Wie früher herrscht eine ständige Spannung: Der oberste Mameluck ist versucht, eine Dynastie zu gründen, und seinen Waffengefährten wollen dies verhindern. Der Sturz Mubaraks durch den Obersten Rat der Streitkräfte im Februar 2011 erklärt sich durch diese Ablehnung einer Erbherrschaft oder jamlaka, für die das Syrien der Assads heute das letzte Beispiel darstellt. Zur Kategorie der modernen Mamelucken zähle ich die Militärregime von Algerien, Ägypten, Syrien und Jemen. In den drei erstgenannten Ländern hat eine Serie von Staatsstreichen und blutigen Intrigen in einem Ausleseprozess ähnlich der darwinistischen Evolution die schlimmsten der Despoten an die Macht gebracht. Im Jemen hat die Einigung des Landes unter der ungeteilten Macht von Ali Abdallah Saleh im Jahr 1990 eine lokale Variante des modernen Mamelucken begründet. Die modernen Mamelucken geben vor, das Volk, das laut den Verfassungen der Souverän ist, regelmä- 9-2015 | ägypten welt-blicke ßig wählen zu lassen, aber die Beteiligung ist meist fragwürdig und die Ergebnisse sind völlig unglaubhaft. Die Parallele zwischen der Präsidentschaftswahl, die Abd al-Fattah as-Sisi im Mai 2014 in Ägypten mit offiziell 97 Prozent der Stimmen gewonnen haben will, und den 89 Prozent Zustimmung zu Baschar al-Assad im darauffolgenden Monat ist hier sehr aufschlussreich. Was die Sicherheitsmafia angeht: Sie führt einen Krieg gegen das eigene Volk, den gegen ausländische Gegner zu führen sie nicht in der Lage ist, und lebt geradezu von der terroristischen Bedrohung, die sie zu bekämpfen vorgibt. Der von George W. Bush ausgerufene „globale Krieg gegen den Terror“ hat das Phänomen noch verstärkt. Für die moder- Pakistan gefasst und dann insgeheim an Damaskus ausgeliefert, weil man ihn nicht nach Guantánamo bringen wollte. Auf die Spitze getrieben hat das skrupellose Doppelspiel der Sicherheitsmafia Ali Abdullah Saleh im Jemen. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 bekannte sich auch sein Regime zum „globalen Krieg gegen den Terror“. In der Folge konnte al-Quaida auf der arabischen Halbinsel erstarken, während zugleich eine von einem Sohn und einem Neffen des Staatschefs geführte Elitetruppe gebildet und von den USA mit Waffen, Ausbildung und Geld versorgt wurde. Diese angeblichen Antiterror-Einheiten waren in erster Linie eine Art Garde zum Schutz des Despoten. Mit einem Militärputsch ist Ägyptens gewählter Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 aus dem Amt gejagt worden. In Kairo stehen sich ein Soldat der Republikanischen Garde und ein Mitglied der Muslimbrüder gegenüber. Asmaa Waguih/ Reuters nen Mamelucken hat sich dieser Krieg als wahrer Glücksfall erwiesen: Den algerischen Militärs verschaffte er die Rehabilitation auf der internationalen Bühne, Mubarak konnte Ägypten zum Teilhaber am Netz der geheimen Folterzentren für „Terroristen“ machen. Und Assad Junior unterstützte in einem bravourösen Doppelspiel die Dschihadisten im Irak und kooperierte zugleich in Sicherheitsfragen mit den USA gegen dieselben Extremisten. Abu Musab al-Suri, ein geistiger Wegbereiter und Propagandist von al-Qaida, wurde 2005 von der CIA in | 9-2015 D er Horror, in dem heute die arabische Welt versinkt, hatte seinen Vorläufer in den 1990er Jahren, dem schwarzen Jahrzehnt, in Algerien. Die „Entscheider“, wie man dort den undurchsichtigen Zirkel der militärischen Machthaber nennt, setzten im Januar 1992 Präsident Chadli Bendjedid ab. Sie warfen ihm vor, dass er bereit war, mit einer islamistischen Parlamentsmehrheit und einer von dieser gebildeten Regierung zusammenzuarbeiten. Dieser Staatsstreich brach den Wahlprozess ab, nachdem die Islamische Heilsfront (FIS) aus dem ers- 41 42 welt-blicke ägypten ten Wahlgang als klare Siegerin hervorgegangen war. Er war der Auftakt eines Bürgerkriegs von unerhörter Grausamkeit, in dem die gesetzestreue FIS bald die Rolle als Führer des islamistischen Lagers an die dschihadistischen Kommandos der Groupe Islamique Armé (GIA) verlor. Laut offiziellen Zahlen verloren 150.000 Menschen ihr Leben, Tausende verschwanden spurlos. Dennoch gelang es den algerischen „Entscheidern“ nie, die dschihadistische Bedrohung auszurotten. Sie machten aber jede Chance auf eine einigermaßen harmonische Integration des Islamismus in das politische Kräftespiel zunichte. Diktatoren und Dschihadisten sind gleichermaßen wild entschlossen, der Volkssouveränität keine Chance zu geben. Genau dieselbe Linie verfolgte General Abd alFattah as-Sisi nach seinem Staatsstreich im Juli 2013 gegen Mohammed Mursi, den ersten demokratisch gewählten Präsidenten in der Geschichte Ägyptens. Mehr als tausend Anhänger der Muslimbruderschaft wurden getötet, als im Monat darauf Kundgebungen für den gestürzten Präsidenten unterdrückt wurden. Doch dieses Blutbad, wie es Kairo seit dem ÄgyptenFeldzug Napoleons nicht mehr in einem solchen Ausmaß erlebt hatte, verbesserte nicht etwa die Sicherheitslage, sondern ließ im Gegenteil den islamistischen Terror eskalieren. W Jean-Pierre Filiu ist Professor für Zeitgeschichte des Nahen Ostens an der Paris School of International Affairs der Universität Sciences Po. Zusammen mit dem Zeichner David B. hat er die Graphic Novel „Die Besten Feinde. Eine Geschichte der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Nahen Osten“ (avant-verlag) verfasst. ie die ägyptischen Mamelucken im Jahr 2013 haben die algerischen 1992 im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus direkt Öl in dessen Feuer gegossen: durch die brutale Unterdrückung der islamistischen Partei mit der größten Anhängerschaft. Der darauf folgende „Restterrorismus“, an den sich Algerien schließlich gewöhnt hat, wirkte weit über die Landesgrenzen hinaus. Er trug zur Instabilität im benachbarten Tunesien bei (vor allem im Dschebel Chambi) und brachte dann den dschihadistischen Schrecken in den Norden Malis. Vergleichbar damit ist jetzt: Die eine halbe Million Soldaten starke ägyptische Armee kann nicht mit tausend Dschihadisten im Norden der Halbinsel Sinai fertig werden. Das hat dazu geführt, dass deren Hauptorganisation Ansar Bait al-Maqdis (ABM) sich zur Provinz Sinai des Islamischen Staats erklärt und dem von Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufenen „Kalifat“ angeschlossen hat. Die Verbindungen, die ABM zu dschihadistischen Zellen im Gazastreifen entwickelt hat, könnten angesichts der Ohnmacht der ägyptischen Armee Israel zum Eingreifen veranlassen. Die Folgen einer solchen Flucht nach vorn wären kaum einzuschätzen. Doch bereits jetzt verlässt sich das ägyptische Militär bei Einsätzen gegen die Dschihadisten auf der Halbinsel Sinai weitgehend auf israelische Aufklärung. Man sieht: Der Kampf der Militärregime gegen den Terrorismus verstärkt die dschihadistische Be- drohung und destabilisiert die ganze Region. Besonders ausgeprägt zeigt sich das in Syrien und im Jemen. Präsident Saleh, der im Februar 2012 die Macht im Jemen an Vizepräsident Hadi abgeben musste, trieb in den darauf folgenden Monaten ein undurchsichtiges Spiel mit seinen Beziehungen zu al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel, um den Demokratisierungsprozess zu torpedieren. Dazu gehörten Angriffe auf Soldaten im Süden und Attentate mitten im Sicherheitsapparat der Hauptstadt. S yriens Präsident Assad erklärte seit März 2011 sein Land immer wieder zum Opfer einer Terrorkampagne, obwohl die Proteste gegen ihn zunächst absolut gewaltfrei verliefen. Er ließ inhaftierte Dschihadisten frei und füllte dafür die Gefängnisse mit friedlichen Oppositionellen. Auf der anderen Seite nahm die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) erst im Mai 2015 mit Palmyra die erste vom AssadRegime gehaltene Stadt ein; bis dahin hatte sie sämtliche Territorien, die sie in Syrien eroberte, der Koalition der Revolutionäre abgenommen. Der syrische Despot wiederum hat im Januar 2014 einen verheerenden Angriff mit so genannten Fassbomben, das sind mit Sprengstoff und Metallschrot gefüllte Behälter, auf Wohnquartiere der Aufständischen in Aleppo befohlen – aber erst, nachdem diese die islamistischen Terroristen aus dieser Zone vertrieben hatten. Generell richteten die Dschihadisten im Jahr 2014 weniger als zehn Prozent ihrer Angriffe gegen das Assad-Regime und umgekehrt. Assad und Baghdadi verstehen sich prächtig, wenn es gilt, ihren gemeinsamen Feind zu bekämpfen: die syrische Revolution. Tunesien scheint trotz allen verständlichen Problemen mit dem Erbe der Diktatur besser gerüstet, um der dschihadistischen Bedrohung entgegenzutreten – nicht militärisch, sondern mit seiner demokratischen Legitimation. Das Attentat im März, dem im tunesischen Museum Bardo 22 Menschen zum Opfer fielen, bewirkte eine spektakuläre Mobilisierung der Bevölkerung, und das ist das sicherste Bollwerk gegen einen dschihadistischen Umsturz. Drei Monate später versetzte das Blutbad in einem Badeort nahe Sousse mit 39 Toten, zum größten Teil Briten, dem Tourismus und damit der tunesischen Wirtschaft einen schweren Schlag. Doch es brachte den Demokratisierungsprozess nicht zum Stillstand. Man stelle sich vor, wie destabilisierend sich solche Attentate in Ägypten auswirken würden. Man sollte aufhören, Terrorismus und Terrorismusbekämpfung als einander entgegengesetzt zu sehen. Das verdeckt nur, in welch furchtbares Dilemma die modernen Mamelucken ihre Gesellschaften gestürzt haben. Eingedenk des „schwarzen Jahrzehnts“ in Algerien ist dies auch gar nichts Neues. Die Brutalität von Regimen, die bedenkenlos ihre Bevölkerung opfern, um das Überleben der herrschenden Kaste zu sichern, findet ihre Entsprechung in der Barbarei des Islamischen Staates. Sein Schrecken wird nicht für immer auf die arabische Welt beschränkt bleiben. Aus dem Französischen von Thomas Wollermann. 9-2015 | gesundheit welt-blicke Kräutertrank aus dem Kloster Wirksam und beliebt: Die Mittel von Paxherbals helfen gegen Malaria, Typhus und Bluthochdruck. Text und Fotos: Sam Olukoya Der Mönch Anselm Adodo hat in Nigeria das Unternehmen Paxherbals gegründet. Darin vereint er traditionelle Pflanzenheilkunde mit moderner Wissenschaft. Ein durch schlagender Erfolg – wenn nur die Chinesen nicht wären. | 9-2015 D ie wohl kühnste Initiative in der afrikanischen Heilkunde begann in einer Holzhütte im katholischen Sankt-Benedikt-Kloster in Ewu im nigerianischen Bundesstaat Edo. Dort hatte Bruder Anselm Adodo beobachtet, dass die üblichen Medikamente gegen Malaria den Mönchen und Arbeitern nicht halfen. Also beschloss er, stattdessen pflanzliche Medizin auszugeben. „Ich bereitete ein Gebräu mit Kräutern und es funktionierte besser als die anderen Mittel“, erinnert er sich. Als die Neuigkeit über das pflanzliche Mittel aus dem Kloster in umliegenden Städten und Dörfern die Runde machte, schnellte die Zahl von Bruder Adodos Patienten in die Höhe. Sie nahm noch weiter zu, als Menschen mit anderen Leiden wie Typhus und Bluthochdruck zur Behandlung kamen. „Das hatte ich so nie geplant“, sagt Bruder Adodo. „Später dachte ich: Wenn das Bedürfnis so groß ist, dann muss man es auch richtig machen.“ Das gab ihm den Anstoß, 1996 die Paxherbals-Klinik und das Paxherbals- Forschungslabor zu gründen. Die traditionelle Heilkunde in Afrika basiert laut Bruder Adodo vor allem auf sehr alten Bräuchen in der Verwendung von Kräutern. Paxherbals kombiniert sie mit moderner Wissenschaft. Genau wie frühere Generationen nutzt das Unternehmen das indigene Wissen um die heilende Wirkung natürlicher Materialien wie Wurzeln, Baumrinde, Blütenstiele und Blätter. „Wir ernten die Pflanzen, trocknen sie, verarbeiten sie weiter und verwandeln sie in pflanzliche Medikamente“, sagt Bruder Adodo. Manchmal werden sogar Abfallpro- 43 44 welt-blicke gesundheit Die Medikamente werden unter den gleichen Bedingungen hergestellt wie in Pharmazie-Unterneh- Viele Patienten von Paxherbals haben sich zuvor von traditionellen Heilern behandeln lassen. Sie sind vom neuen Gesicht der Pflanzenheilkunde beeindruckt. „Die Medikamente sind sehr wirksam, sie sind sauber und ordent- men. Labore überprüfen die Inhaltsstoffe und testen, ob die richtigen chemischen Zusätze beigemischt werden, damit die Arzneimittel wirken. Danach werden sie mit Seriennummer, Herstellungs- und Haltbarkeitsdatum versehen. Es gibt Kapseln, Tropfen, Tee, Salbe, Seife, Tabletten, Öl und Puder. „Wir haben Kräuterheilkunde studiert und wir müssen dieses Wissen nutzen“, sagt Professor Joseph Okogun. Er ist der wissenschaftliche Leiter bei Paxherbals und einer der führenden Experten Nigerias für Pflanzenchemie. wird“, sagt Aferuan Odion Francis, der Leiter des klinischen Labors bei Paxherbals. Über die Behandlung von Malaria und Typhus hinaus hat sich Paxherbals auch komplizierteren Erkrankungen zugewandt: Herzproblemen, Diabetes, Bluthochdruck, Unfruchtbarkeit und Krebs. Das wissenschaftliche Team hat bereits zahlreiche Heilpflanzen ausfindig gemacht: „Wir haben Bestandteile in Pflanzen entdeckt, die bei Prostata- und Brustkrebs helfen“, sagt Professor Okogun. Das habe schon das Leben vieler Menschen verlängert. lich verpackt. Die traditionellen Heiler arbeiten oft in einem schmutzigen Umfeld. Das ist hier anders“, sagt Agunu Albert. Er hat seinen traditionellen Arzt gegen eine Behandlung in der Paxherbals-Klinik ausgewechselt. Mehr als 1000 Händler vertreiben inzwischen die Produkte von Paxherbals. Trotzdem ist Bruder Adodo nicht ganz zufrieden. Die afrikanische Medizin müsse weiter wachsen, sagt er, sie sei noch immer zu stark in der Vergangenheit verwurzelt. Das liegt seiner Ansicht nach auch daran, dass die meisten Heiler ihr Wissen Die Mischung wird im Labor überprüft Die richtigen Pflanzen und Kräuter bilden die Grundlage für den Erfolg von Paxherbals. Das Unternehmen nutzt das indigene Wissen über die heilende Wirkung von Wurzeln, Rinde und Blättern. Für Bruder Adodo beweist Paxherbals, dass die traditionelle Medizin in Afrika modernisiert werden kann. Dafür sorgten die wissenschaftlichen Methoden sowie das Aussortieren alter Praktiken. Die afrikanische Heilkunst sei geprägt von Ritualen und Hexerei, sagt er. Neben der Arzneimittel-Produktion betreibt Paxherbals drei Krankenhäuser, dort verschreiben ausgebildete Berater die pflanzlichen Medikamente. In der größten Klinik in Ewu arbeiten acht Mönche unter der Leitung von Bruder Adodo. Traditionelle Heiler in Nigeria und anderen afrikanischen Ländern geben ihren Patienten pflanzliche Medikamente für gewöhnlich ohne vorherige Tests. Die Krankenhäuser von Paxherbals werden hingegen geführt wie schulmedizinische Einrichtungen. „Wir machen hier kein Rätselraten, wir stellen Diagnosen. Man muss den Zustand des Patienten kennen, bevor er behandelt dukte wie kalziumreiche tierische Knochen, Schneckenhäuser und Schalen von Erdnüssen und Eiern verwendet. Auch Orangen-, Ananas- und Yams-Schalen werden genutzt. Sie helfen bei Sichelzellenanämie, einer in Afrika weit verbreiteten Blutkrankheit. Traditionelle afrikanische Heiler sind oft nicht für die Herstellung solcher pflanzlichen Arzneimittel ausgebildet. Paxherbals beschäftigt dafür Wissenschaftler. Traditionelle Heiler verlieren ihre Patienten 9-2015 | gesundheit welt-blicke kunde könnte man viele Probleme des afrikanischen Gesundheitswesens lösen, das vor allem in vielen ländlichen Gegenden schlecht ausgebaut ist. In der Stadt Ewu hätten die Produkte von Paxherbals und die Krankenhäuser bereits geholfen, das lokale Gesundheitssystem zu verbessern, erklärt Bürgermeister Zaiki Rasaz Isesele. „Manche unserer ältesten Einwohner behandeln sie sogar umsonst.“ Bruder Adodos große Sorge: Der Nachwuchs fehlt Bedroht wird die afrikanische Heilpflanzen-Industrie von Produkten aus China. Mit der Handelsliberalisierung haben sie viele afrikanische Länder überflutet. Das hat den Unternehmen vor Ort geschadet, auch in Nigeria. Dort wurden nahezu alle lokalen Hersteller vom Markt verdrängt. Manche von ihnen importieren nun sogar die chinesischen Heilpflanzen. Paxherbals hat es trotzdem geschafft, im Geschäft zu er 156 pt. 20 14 ro 4. – tin Afrika-Bulletin Afrik 1 Dez. 201 Nov. / ro 4.– n d Cha en un hen r 144 okra cen af r /Eu bau Berg 4.– Wirtschaftlicher Aufschwung: Boom oder Trugbild? Süd-Süd-Zusammenarbeit. Landwirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit. Literatur und Zeitgeschehen. Afrikanisches Kino. Länderberichte. Demokratiebewegung. Jährlich vier Ausgaben, Abonnement CHF 30.– – ein ge meins rruption an g Zu | 9-2015 gz a uW r sse ames Ve rmächtni s 4.– Fr. ulletin 158 2015 Nummer aftlich er Au af rika-b Mai/ Juni Fr. 5.–/ Euro h Wir tsc 2 01 i 2 4.– Jun ai/ /Euro Als Kontrapunkt zur täglichen Infoflut vertiefen wir einzelne Aspekte: : Boom er mm Nu ung fschw ika r f a h Verke r: tin e l l -bu 14 6 sford Herau rugb oder T erung ild ? und Dem Fr. 4.– Informationen zu ausgewählten Themen: Ersthandinfos, Recherchen, Interviews, Gespräche, Kurzinformationen. Und eine eigene Meinung mit Kritiken und Kommentaren. tie im süd lic letin ika-bul Numme Fr. 5.– M / Se a 14 Dez. 20 Nov./ 4.– /Euro af rik a-bu lle –/ Eu Sam Olukoya ist freier Journalist in Lagos, Nigeria. Anzeige 5 af r Numm ulletin b a k i Aus dem Englischen von Hanna Pütz. er 15 Aug. Fr. 5. bleiben. Bruder Adodo schiebt das auf die hohen Investitionen: Paxherbals hat in den vergangenen fünf Jahren mehr als 500.000 Dollar für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Viele loben Bruder Adodo dafür, dass er mit Paxherbals den Menschen in ganz Nigeria hilft. Er selbst sieht die Sache anders. Es gebe noch viel zu tun, meint er. Eine seiner größten Sorgen ist die fehlende Infrastruktur. Sie müsse dringend verbessert werden, damit die Pflanzenheilkunde in Afrika eines Tages mit der chinesischen oder westeuropäischen Medizin gleichauf ist. Ein wichtiger Schritt sei es, Ausbildungsstätten einzurichten, in denen Studenten einen Universitätsabschluss in Pflanzenheilkunde machen können. Bisher gibt es solche Schulen nicht. Eines Tages, hofft er, wird er eine eröffnen. Eine, in der Kräuterärzte genauso ausgebildet werden wie Schulmediziner. Numm für sich behalten. Sie teilten es höchstens mit Familienmitgliedern. Doch so werde es sich niemals weiterentwickeln. „Viele der guten Pflanzenheilkundler sterben, und wir verlieren die Informationen“, meint er. Das will Bruder Adodo ändern. Er sammelt und dokumentiert die medizinischen Kenntnisse der traditionellen Ärzte. So sollen sie bewahrt und künftigen Generationen zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise hatte er auch das Rezept für das Malaria-Mittel für die Mönche und Arbeiter im Sankt-Benedikt-Kloster gefunden. Er habe nie die Absicht gehabt, selbst als Pflanzenheiler zu arbeiten, sagt er. „Zufallsdoktor“ nennen ihn deshalb viele. Doch Paxherbals aufzubauen, sei es wert gewesen. Denn damit habe er gezeigt: Geteiltes Wissen führe zur Verbesserung. „Wissen lässt sich am besten in Produkten bewahren, nicht in einer Bibliothek“, erklärt er. Bruder Adodo ist überzeugt: Mit der Pflanzenheil- 45 Afrika-Komitee Basel Postfach 1072 4001 Basel [email protected] www.afrikakomitee.ch 46 welt-blicke schweiz „Der Regierung auf die Finger schauen“ Der Schweizer Entwicklungsfachmann Peter Niggli beklagt das Schwinden der Solidarität mit den Armen Nach 17 Jahren an der Spitze von Alliance Sud, der Arbeitsgemeinschaft der sechs großen Schweizer Hilfswerke, geht Peter Niggli in den Ruhestand. Der Journalist, Lokalpolitiker und Globalisierungskritiker erzählt von politischen Kämpfen und wirft einen kritischen Blick auf Gegenwart und Zukunft der Entwicklungshilfe. Gespräch mit Peter Niggli Herr Niggli, lassen Sie uns einen Blick zurück werfen auf Ihre Anfänge bei Alliance Sud. Im Sommer 1998 war gerade der russische Kapitalmarkt zusammengebrochen, ein großer amerikanischer Hedge Fonds geplatzt. Es war das Ende der asiatischen Finanzkrise. Ein heißer Moment, in dem alle Zentralbanken nochmals viel Geld einschießen mussten, damit es nicht zum Kollaps kam. Aus der angelsächsischen Welt kam die erste breit abgestützte Globalisierungskritik. Ende 1999 war die Ministerkonfe- „Die Schweiz hat den Vorteil, ein politisch und militärisch machtloser Kleinstaat zu sein.“ renz der Welthandelsorganisation WTO in Seattle, bei der der Westen seine zweite Liberalisierungswelle durchsetzen wollte. Meine erste Aufgabe war es, unsere Position und unser Engagement zu definieren. War Alliance Sud dafür gerüstet? Die Verhandlungen in der WTO zwangen uns zu überlegen, wie wir die Globalisierung analysieren und verstehen wollten und wie wir uns politisch einmischen könnten. Wir mussten herausfinden, wer unser politischer Gegner war. Das verlängerte Sprachrohr der Regierung zu sein, kam nicht in Frage. Dieser interne Prozess schärfte das Profil von Alliance Sud. Wir sahen klarer, wofür wir stehen, was die Widersprüche und welches die Konfliktlinien sind, die wir bearbeiten wollen. Welche Erfolge sind Ihnen wichtig? Wir haben Ende der 1990er Jahre dazu beigetragen die Beitrittsinitiative der Schweiz zu den Vereinten Nationen zu retten. Sie wäre beinahe an zu wenigen Unterschriften gescheitert. Dann kamen die Millenniumsentwicklungsziele und in Ziel acht die Erhöhung der Mittel für die Entwicklungshilfe. Die „Weltwoche“ und die „Neue Zürcher Zeitung“ wetterten kampagnenartig dagegen, behaupteten, das Geld verpuffe, fließe in die falschen Taschen und hemme die Entwicklung. Wir konzipierten in diesem Klima die 0,7-Prozent-Kampagne. Sie mündete im Kompromiss, dass die Schweiz 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungshilfe zur Verfügung stellt. Der Bund erhöhte das Budget der realen Entwicklungshilfe nach und nach. Dieses Jahr erreichen wir das Ziel dank der Krise voraussichtlich. Gleichzeitig sind die Mittel für Entwicklungshilfe stark unter Druck. Ja. Wir haben etwas gewonnen. Und wenn man etwas gewinnt, arbeiten die Verlierer unermüdlich daran, ihre Niederlage rückgängig zu machen. Laut den Richtlinien der OECD darf bei der öffentlichen Entwicklungshilfe vieles mitgezählt werden, das damit eigentlich gar nichts zu tun hat. Bei uns sind das Kosten für die Flüchtlinge, was 15 bis 20 Prozent ausmacht. Der Bundesrat bedient sich seit 2015 für die immer höheren Asylkosten aus der Entwicklungshilfe. Das Bundesamt für Umwelt will die internationalen Klimaverpflichtungen aus dem Budget der staatlichen Entwicklungsagenturen finanzieren. Es geht hier – allein für die Schweiz – um 400 Millionen bis 1,4 Milliarden Franken im Jahr, je nach Finanzierungsschlüssel. Da kommen große Streitereien auf uns zu. Die Klimafinanzierung ist richtig, aber man kann nicht Entwicklungshilfe durch Klimaschutz ersetzen. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist auch richtig. Dass dies aber als Entwicklungshilfe gilt, ist ein fauler Beschluss der OECD. Täuscht der Eindruck oder kommt auch die Solidarität mit den Ärmsten unter Druck? Den größten Druck auf die Solidarität machen die westlichen Regierungen selbst. Wenn man beginnt, den Sozialstaat zu beschneiden und abzubauen, dann verschwindet das Verständnis der Menschen dafür, dass man noch 9-2015 | Daniel Rihs/Alliance Sud schweiz welt-blicke Peter Niggli verabschiedet sich in den Ruhestand. Doch einen Fuß behält er in der Schweizer entwicklungspolitischen Szene. | 9-2015 „Ich kann sehr gut leben, ohne zu arbeiten. Zum ersten Mal, seit ich 19 war, ist die Zukunft völlig offen. Das hat man selten im Leben.“ Geld für die Ärmsten im Ausland bereitstellt. Zudem sprechen die westlichen Regierungen Entwicklungsländern ihren Status ab und reden vom afrikanischen Mittelstand. Das sind Menschen, die zwischen zwei bis vier Dollar pro Tag verdienen. Das vermittelt bei uns einen völlig falschen Eindruck davon, was Armut und Ungleichheit bedeuten. Und es senkt die Bereitschaft, als privilegiertes reiches Land den Armen in armen Ländern zu helfen. Wie hat diese Auseinandersetzung mit der Kritik Ihr Bild der Entwicklungshilfe beeinflusst? Ich denke, dass noch immer viel Blödsinn passieren kann. Und es hat mir gezeigt, dass es die wichtigste Aufgabe der Zivilgesellschaft ist, ihrer Regierung auf die Finger zu schauen, was sie mit ihrem Geld macht. Die Schweiz hat den Vorteil, ein politisch und militärisch machtloser Kleinstaat zu sein. Wir hatten nie eine expansive Außenpolitik, wir hatten nie Kolonien. Es konnte sich kein Filz zwischen Kolonialverwaltung und Schweizer Unternehmen entwickeln, der heute wegen der interessanten Ressourcen geschützt werden müsste. Deshalb war und ist die Autonomie relativ groß, die Entwicklungshilfe für das einzusetzen, wofür sie gedacht ist, also die armen Länder zu fördern. Ist Kritik an der Entwicklungshilfe unerwünscht? Ich habe mich während der 0,7-Prozent-Kampagne intensiv mit der Kritik an der Entwicklungshilfe auseinandergesetzt, die Tausende von universitären Studien füllt. Ich glaube, vieles davon stimmt auch irgendwie. Nur: Die meisten Kritiker fassen den Platz der Entwicklungshilfe falsch auf. Sie sehen nicht, dass sie ein Instrument der Außenpolitik ist und die Gelder entsprechend eingesetzt werden. Meist wurde die Entwicklungshilfe zur Förderung der eigenen Interessen benutzt, seien es politische, geopolitische, militärische oder wirtschaftliche. Oft war und ist die Entwicklungshilfe das Schmiergeld für die Willigkeit der unterstützten Staaten. Was braucht es, damit die Welt besser wird? Die geplanten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen geben fast alle Antworten auf die anstehenden Probleme, auch wenn sie oft vage formuliert sind. Es bräuchte ein neues Handelsregime, die WTO-Verträge müssten revidiert werden. Man muss weg kommen vom Geflecht der biund multilateralen Freihandelsverträge und es braucht eine starke Korrektur zugunsten der Entwicklungsländer. Was man machen müsste, wissen und debattieren wir seit Jahren. Wir kommen aber nicht vorwärts, weil diejenigen, die davon profitieren, es nicht wollen. Gleiches gilt bei den Finanzmärkten und beim Klimaschutz. Was war der Antrieb für Ihr En gagement? Seit 1968 wollte ich begreifen, wie die Welt läuft. Je älter ich wurde, desto mehr merkte ich, wie wenig ich weiß. Die 17 Jahre bei Alliance Sud waren ein Schub nach vorne. Ich durfte mich professionell damit beschäftigen. Das ist eine große Freude, denn die Welt ist unerschöpflich. Am befriedigendsten war, wenn ich aufgrund unseres Wissens strategisch und politisch planen konnte. Ich kann nicht sagen, dass wir unglaublichen Erfolg hatten. Aber wir hatten ab und zu ein Erfölgli, ein kleineres oder ein größeres. Hinzu kommt, dass Alliance Sud eine erfreuliche politische Gruppe ist. Wir konnten einen Stil von Zusammenarbeit, von politischer Arbeit entwickeln, der befriedigend ist. Und wenn man so etwas inspirieren, anleiten und vorwärts bringen kann, macht das Freude, und nicht müde. Was wird man künftig von Peter Niggli hören? Seit zwei Jahren werde ich nach meinen Projekten nach der Pensionierung gefragt. Ich suche keine Projekte. Ich kann sehr gut sein, ohne zu arbeiten. Ich will meine Freundschaften pflegen, lesen, wieder in Zürich leben. Ich werde bei den Hilfswerken Fastenopfer und Helvetas im Vorstand sein und so in der Szene einen Fuß drin haben. Aber zum ersten Mal, seit ich 19 war, ist die Zukunft völlig offen. Das hat man selten im Leben. Das Gespräch führten Rebecca Vermot und Theodora Peter. 47 48 journal kinderrechte „Eine Schule der Kriminalität“ Der Verein Kinderrechte Afrika kümmert sich um Kinder im Gefängnis Hälfte der inhaftierten Kinder unschuldig. Viele waren noch nicht einmal strafmündig. In Kamerun sitzt heute dort, wo unsere Partner arbeiten, kein Kind unter 14 Jahren mehr im Gefängnis. In den 20 Jahren seines Bestehens hat der Verein gemeinsam mit seinen Partnern rund 26.000 inhaftierte Mädchen und Jungen in acht afrikanischen Ländern unterstützt. Der Vorsitzende Horst Buchmann erzählt, wo die größten Hürden liegen. Herr Buchmann, welcher Ihrer Gefängnisbesuche hat Sie besonders beeindruckt? Die Mutter-Teresa-Schwestern haben mich 1995 in das Gefängnis von Conakry in Guinea mitgenommen. Viele Häftlinge im hinteren Trakt sahen aus wie uralte Greise – ohne Haare, ohne Zähne, eine faltige schlaffe Haut. Ich fragte einen, wie alt er sei, und er sagte 16. Ich habe dann versucht, seine Familie im Senegal zu kontaktieren, doch als ich am nächsten Tag wieder kam, war er tot. Das hat mich sehr bewegt und war der Anstoß für unser Engagement in Guinea. Warum werden die Kinder inhaftiert? Horst Buchmann ist Vorsitzender des Vereins Kinderrechte Afrika. Privat Das sind oft eher Lappalien. Kleine Diebstähle wie Mangos, Zigaretten, ein Huhn, in jüngster Zeit zunehmend Handys. Dann sind es Veruntreuungen, anvertrautes Geld oder Waren wurden nicht zurückgegeben, sowie Streit mit Körperverletzung. Mädchen werden vor allem in muslimischen Ländern wegen Abtreibung eingesperrt. Zu Beginn unserer Arbeit war schätzungsweise die Ein Junge wird aus einer Haftzelle einer Polizeistation in Abidjan in der Elfenbeinküste entlassen. Jacky Naegelen/ Kinderrechte Afrika e. V. Wie leben die Kinder im Gefängnis? Als wir mit unserer Arbeit im Senegal, in Mali, der Elfenbeinküste und in Zaire begonnen haben, waren Gefängnisse so etwas wie geschlossene Welten, geprägt von Elend, Gewalt, Terror. Sie waren eine Schule der Kriminalität. Die Kinder waren zum Teil mehrere Jahre inhaftiert, ohne je einem Richter vorgeführt zu werden. Akten existierten nicht oder waren nicht auffindbar. Die Gefängnisse waren völlig überfüllt, die hygienischen Bedingungen katastrophal. Nur in einer einzigen Haftanstalt waren Kinder von Erwachsenen getrennt. Inzwischen sind sie in den meisten Gefängnissen, in denen wir uns engagieren, getrennt untergebracht. Wie helfen Sie sonst? Wir versuchen, menschenwürdige Haftbedingungen herzustellen, mit Hilfe von Sanitär- und Hygienemaßnahmen, Schlafmatten, Gesundheitsfürsorge, Beschäftigungstherapie und Alphabetisierungsprogrammen. Die Kinder erhalten einen Rechtsbeistand und oft finden wir Haftalternativen für sie. Was wäre eine Haftalternative? Unsere Partner arbeiten eng mit Polizeistationen zusammen. Manchmal kann eine Haftstrafe durch einen Täter-Opfer-Ausgleich verhindert werden, wenn es gelingt, die Eltern mit ins Boot holen, um den Schaden wiedergutzumachen. Wir haben schnell gelernt, dass wir auch präventiv arbeiten müssen. Wie läuft die Zusammenarbeit mit staatlichen Kräften? Die Grundlage sind Abkommen mit den Justizministerien. Man darf den Staat nicht wegen Kinderrechtsverletzungen auf die Anklagebank setzen, sonst schließen sich die Gefängnistore und wir kommen nicht mehr an die Kinder ran. Mit unseren Partnern haben wir etwa im Kongo, in der Elfenbeinküste, in Mali und Kamerun sämtliche nationalen Gesetze und internationale Rechtsnormen zusammengetragen, die für die Jugendstrafgerichtsbarkeit wichtig sind. Gemeinsam mit einheimischen Juristen haben wir sie analysiert und Empfehlungen für einen besseren Schutz von Kinderrechten ausgesprochen. Sie wurden mit Zustimmung der zuständigen Ministerien veröffentlicht und landesweit an staatliche Institutionen und an Kinderrechtsaktivisten verteilt. Als Ergebnis sind in Mali, Togo und im Kongo auch Gesetzesänderungen für einen wirksameren Kinderschutz verabschiedet worden. Ein Hauptproblem ist aber, dass die Gesetze meist nur unzureichend angewendet werden. An welche Grenzen stoßen Sie? Manchmal geraten wir in ein Dilemma zwischen dem Kindeswohl und dem Prinzip, dass wir den Staat nicht aus seiner Verantwortung gegenüber den minderjährigen Häftlingen entlassen dürfen. Wir haben erlebt, dass Kinder bei einem Gefängnisbesuch am Freitagnachmittag klagten, sie bekämen seit zwei Tagen nichts zu essen. Der Staat hatte die Rechnungen an den Lieferanten der Grundnahrungsmittel nicht bezahlt. Man weiß genau, dass man die Gefängnisverwaltung und vor allem die Entscheider im Justizministerium am Wochenende nicht erreicht und erst am Montag wieder gearbeitet wird. Inzwischen müssten die Kinder weiter hungern. Also organisierten unsere Partner Notrationen. 9-2015 | journal Arbeiten Sie auch mit einzelnen Sicherheitskräften? Wir schulen Richter, Staatsanwälte, Gefängnispersonal und die Polizei. Das läuft sehr gut, aber es gibt auch Vorbehalte. Einige Polizisten haben noch Diktaturen erlebt. Sie wurden während ih- rer Ausbildung schwer geschleift und sind selbst Opfer von Gewalt. Sie kennen nur Repression, die Schutzfunktion der Polizei ist ihnen wenig vertraut. Aber es hilft sehr, sie zur Weiterbildung einzuladen, sie ernst zu nehmen, ihre Probleme anzuhören. Welche Rolle spielen die Eltern? Gerade in muslimischen Ländern ist es für die Eltern eine große Schande, wenn ihr Kind im Gefängnis sitzt. Oft besuchen sie es dann nicht einmal. Außerdem ist es leider vielen Eltern fast egal, was mit ihrem Kind passiert. Sie sagen, dem geschieht es recht, und wir haben einen Esser weniger. Sie übernehmen keine Verantwortung. Das ist eines der größten Probleme, mit dem unsere Partner und die Justiz kämpfen. Das Gespräch führte Gesine Kauffmann. Nothilfe Das Schlimmste verhindern Frühwarnsysteme werden in der humanitären Hilfe immer wichtiger Wirbelstürme, Dürren und Überschwemmungen: Die Folgen des Klimawandels sind oft verheerend. Das Deutsche Rote Kreuz testet nun ein neues System der Katastrophenvorsorge. on zu erhalten. Spenden flössen in der Regel erst nach einer Überschwemmung oder einem Wirbelsturm. Und bei den Behörden sei die Angst vor finanziellen Verlusten im Fall eines Fehlalarms groß. Myanmar wurde Anfang August von den stärksten Überschwemmungen der vergangenen Jahrzehnte heimgesucht – akute Katastrophenhilfe war gefragt. „Bisher findet humanitäre Hilfe leider allzu oft erst nach dem Eintreten einer Katastrophe statt. Dabei wissen wir oft schon voher, in welchen Gebieten ein Unwetter droht“, sagt Thorsten Klose vom Deutschen Roten Kreuz (DRK). Deshalb testet das Hilfswerk mit Fördermitteln aus dem Auswärtigen Amt in den nächsten zwei Jahren ein neues Frühwarnsystem. Das Pilotprojekt zielt darauf ab, die Nothilfe besser mit meteorologischen Vorhersagen zu verzahnen. Die sind mittlerweile ziemlich zuverlässig: Klimaforscher und Wetterexperten können die Wahrscheinlichkeit von Dürren bis zu sechs Monate im Voraus bestimmen, auch Überschwemmungen könnten oft schon Tage vorher erkannt werden. Doch oft können die Menschen in gefährdeten Gebieten die Wetterdaten nicht deuten. Und die Behörden sind nicht darauf vorbereitet, angemessen zu reagieren. Noch tauschen sich Wissenschaftler zu wenig mit Hilfsorganisationen aus. Die Warnungen der Meteorologen laufen ins Leere. Laut DRK-Mann Klose ist es zudem schwierig, Mittel für die Katastrophenpräventi- Bei zu viel Regen wird das Saatgut weggepackt | 9-2015 In Peru, Bangladesch und Mosambik ermitteln die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften gemeinsam mit regionalen Wetterexperten Frühwarnindikatoren. Überschreitet etwa die Menge der Niederschläge im Süden Mosambiks einen bestimmten Wert, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Limpopo-Fluss über die Ufer tritt. Dann werden vorher vereinbarte Abläufe ausgelöst: Flutkanäle werden gereinigt, das Saatgut wird in Plastiksäcken gesichert. Im Ernstfall können einzelne Regionen frühzeitig evakuiert werden. Die nationalen Rotkreuzgesellschaften legen die Abläufe gemeinsam mit den Katastrophenschutzbehörden vor Ort fest und sorgen dafür, dass sie eingehalten werden. So sei garantiert, dass eine bessere Vorbereitung auf Katastrophen nicht an den regionalen Strukturen vorbei organisiert wird, betont Klose. In den drei Ländern des Pilotprojektes bestehen bereits Frühwarnsysteme auf nationaler Ebene. In Bangladesch etwa warnt das staatliche Katastrophenamt die Bevölkerung via SMS vor Überschwemmungen. Ähnliche Maßnahmen haben auch internationale Hilfsorganisationen ins Leben gerufen. Peter Rottach von der Diakonie Katastrophenhilfe weist auf die Schwächen solcher Systeme hin. „Wenn zu oft Alarm ausgelöst wird, ohne dass etwas passiert, reagieren die Menschen nicht mehr“, sagt er. Selbst ein technisch einwandfreies Frühwarnsystem reiche nicht aus. Das wichtigste sei, Menschen in gefährdeten Regionen regelmäßig zu schulen. Das DRK ist nicht die einzige Hilfsorganisation, die sich mit neuen Methoden zur Katastrophenprävention befasst. Aus Myanmar berichtet Johannes Kaltenbach von Malteser International: „Unsere Frühwarnung hat funktioniert.“ Die von der Organisation geschulten Katastrophenvorsorgeteams seien gut vorbereitet gewesen und konnten per Handy mitteilen, welche Hilfe noch fehlt. Moritz Elliesen/Hanna Pütz Anzeige Frischer Wind in der Entwicklungspolitik Hilfswerke im Wandel Almanach Entwicklungspolitik 2015 Perspektiven der Entwicklungszusammenarbeit Luzern, September 2015 / 288 Seiten / 39 Franken Bestellung: [email protected] oder online unter www.caritas.ch/shop Auch als E-Book erhältlich. 49 50 journal studien studien Teuer und riskant Mischfinanzierung ist das Zauberwort für mehr Geld für öffentliche Aufgaben im globalen Süden. Doch öffentlich-private Partnerschaften sind oft zweifelhaft, findet eine neue Studie von Eurodad, dem Netzwerk europäischer Entwicklungsorganisationen mit Schwerpunkt auf Finanzfragen. Die weltweiten Investitionen in solche Partnerschaften (Public Private Partnerships, PPP) im Entwicklungsbereich sind zwischen 2004 und 2012 um das Sechsfache auf rund 122 Milliarden Euro gestiegen. Die Europäische Union und ihre Investitionsbank gehören zu den eifrigsten Befürwortern. Laut Eurodad ist die Bilanz von PPP im Blick auf rein ökonomische Gesichtspunkte bestenfalls gemischt. Vorhaben in der Wasser- und Energieversorgung schneiden besonders schlecht ab, während bei der Telekommunikation auch gute Ergebnisse zu ver- zeichnen sind. Fest steht laut der Studie: PPP sind teurer als rein staatlich finanzierte Vorhaben. Denn wenn private Anleger einbezogen sind, muss eine Rendite herausspringen. Aufgrund der Finanzkonstruktion sind zudem so gut wie immer Beratungsbüros oder Audit-Unternehmen mit horrenden Honoraren beteiligt. Bringt das Projekt nicht genügend ein oder macht es sogar Verlust, dann ist die öffentliche Hand in der Pflicht. Grotesk sind die meist nicht vorab klargelegten und berechneten Folgekosten für öffentliche Haushalte. Sogar in einem EULand wie Portugal übertreffen die Unterhalts- und Finanzkosten für zwei Stücke PPP-finanzierter Autobahn mit 800 Millionen Euro den gesamten Haushalt des Verkehrsministeriums von 700 Millionen Euro, heißt es in der Studie. Wenn sie einen Vertrag für ein PPP-Projekt einmal geschlossen hat, befindet sich die öffentliche Hand in einer Zwangslage: Gibt es Probleme in der Durchführung, sind Nachverhandlungen fällig, in denen sie allemal zahlen muss – wie Peru für die „Inter-OzeanRoute“, die statt den ursprünglich veranschlagten 800 Millionen US-Dollar schließlich mehr als das Doppelte kostete. Schlecht bewertet werden PPP bei der Beteiligung von Bewohnern von Projektgebieten. Mindeststandards werden nicht eingehalten, Informationen vorenthalten. Die Beteiligung privater Anleger an einem PPP-Projekt schafft hier ein systematisches Problem, weil damit bedeutsame Details als Geschäftsgeheimnis behandelt werden können. Dass es anders geht, zeigt ein peruanisches PPP-Vorhaben, für das mit offener Aufklärung breite Anerkennung erreicht wurde. Auch Instanzen wie die Weltbank oder die EU-Kommission darf an Investitionen in öffentliche Dienste schon weniger groß, schreibt sie in einem Diskussionspapier. Darüber hinaus kritisiert sie irreführende Vergleiche: Man könne nicht einfach grobe Schätzungen von Steuerverlusten der tatsächlich gezahlten Entwicklungshilfe oder errechneten Lücken in der Finanzierung von Gesundheitssystemen gegenüberstellen. Es sei unwahrscheinlich, dass oft zitierte Aussagen wie „Entwicklungsländer verlieren drei Mal so viel Geld an Steueroasen wie sie an Entwicklungshilfe bekommen“ der Wirklichkeit standhalten könnten. Regierungen armer Länder sei es nur begrenzt möglich, zusätzliches Geld aus der Besteuerung multinationaler Konzerne zu erhalten. Das hänge zum einen von der Höhe der Profite ab, der durch ausländische Investitionen erzielt wird, erklärt Forstater. Zum anderen könnten Unternehmen als Folge einer effektiveren Besteuerung ihre Investitionspolitik ändern – und so die möglichen Steuereinnahmen verringern. Eine nationale Steuerstrategie dürfe deshalb nicht nur auf die Unternehmenssteuern bauen, warnt Forstater. Die „großen Zahlen“ im Zusammenhang mit Steuervermeidung hätten zwar klar gemacht, wie wichtig einheimische Ressourcen für Entwicklungsfinanzierung sind und dass die internationale Zusammenarbeit in Steuerfragen gestärkt werden müsse, betont die Wissenschaftlerin. Die Berechnungen seien aber oft unvollständig und vernachlässigten unbeabsichtigte Folgen von Steuerreformen. Nötig seien solide Daten und eine objektive Debatte, um daraus passende politische Strategien abzuleiten. (gka) verweisen in ihrer eigenen Expertise auf Nachteile von PPP-Projekten. Warum dringen sie trotzdem darauf, sie zu nutzen? Auch dazu liefert die Studie Denkanstöße und Erklärungsansätze. (hc) María José Romero What lies beneath? A critical assessment of PPPs and their impact on sustainable development Eurodad, Brüssel, Juli 2015, 36 Seiten www.eurodad.org/whatliesbeneath Irreführende Vergleiche Nach der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba war bei vielen armen Ländern und Vertretern der Zivilgesellschaft die Enttäuschung groß, dass das heiße Eisen der Steuervermeidung multinationaler Konzerne nicht in ihrem Sinne aufgegriffen wurde. Denn damit gehen Entwicklungs- und Schwellenländern laut Schätzungen der UNKonferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) jährlich zwischen 100 und 200 Milliarden US-Dollar verloren. Geld, das dringend für Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur benötigt wird. Maya Forstater vom Center for Global Development warnt jedoch vor Missverständnissen und überzogenen Erwartungen. Es gehe zwar um eine bedeutende Summe – wenn man sie jedoch auf die einzelnen Länder umrechne, sei sie im Vergleich zum Be- Maya Forstater Can stopping ‘tax dodging’ by multinational enterprises close the gap in finance for development? What do the big numbers really mean? Center for Global Development, Washington D.C., July 2015, 41 Seiten, www.cgdev.org 9-2015 | studien | berlin journal berlin Aufwind in der Nische Forum Fairer Handel: Unternehmen für Menschenrechtsverstöße in die Pflicht nehmen Der Handel mit fair produzierten Waren boomt. Um mehr Bauern und Herstellern im globalen Süden ein gerechtes Auskommen zu sichern, sehen Aktivisten aber die Politik am Zug. Bekommt einen fairen Preis für seine Ware: Zuckerrohrproduzent von der Kooperative Nakalang auf den Philippinen. Mehr als eine Milliarde Euro haben deutsche Verbraucher im vergangenen Jahr für fair gehandelte Produkte ausgegeben, ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Innerhalb von drei Jahren habe sich der Umsatz verdoppelt, gab das Forum Fairer Handel Anfang August auf seiner Jahrespressekonferenz bekannt. Besonders beliebt seien Kaffee, Südfrüchte, Blumen und Textilien. Trotz der befürchteten Preissteigerungen aufgrund der Euro-Schwäche gegenüber dem US-Dollar erwartet das Forum auch 2015 ein ungebrochenes Wachstum. Allerdings gäben die Deutschen durchschnittlich pro Kopf bislang nur 13 Euro im Jahr für faire Waren aus, so das Netzwerk des Fairen Handels in Deutschland. Spitzenreiter ist die Schweiz mit 57 Euro, gefolgt von Großbritannien mit 33 Euro. Es gebe also noch viel Luft nach oben, sagte Armin Massing, politischer Referent des Forums. schreiben, und Großbritannien habe die Berichtspflichten verschärft, erklärte Sarah Lincoln von Brot für die Welt. Vorschläge der EU für striktere Vorgaben würden vor allem von Deutschland verwässert. Solange Unternehmen nicht für Menschenrechtsverstöße oder Umweltschäden im Ausland zur Rechenschaft gezogen werden, würden weiter große Mengen der in Supermärkten angebotenen Waren unter katastrophalen Bedingungen produziert, lautet das Fazit des Forums Fairer Handel. Dazu trügen auch große Supermarkt- und Discountketten bei, die ihren Preiskampf auf dem Rücken kleiner Bauern und Hersteller austragen. Marina Zapf Freiwillige Regelungen reichen nicht aus „Für gerechtere Wirtschafts- und Handelsstrukturen reichen individuelle Konsumentscheidungen und freiwillige Unternehmensinitiativen alleine nicht aus“, betonte Massing. Deshalb fordert das Netzwerk eine Veränderung der politischen Rahmenbedingungen. Konkret solle die Bundesregierung in ihrem für Mai 2016 geplanten Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ Unternehmen für Menschenrechtsverstöße entlang ihrer Lieferketten in die Pflicht nehmen. Obwohl sich zeige, dass Freiwilligkeit nicht funktioniere, sei | 9-2015 Nusch/GEPA/The Fair Trade company dies der von der Wirtschaft bevorzugte Weg, so Massing. Daran hätten auch Lippenbekenntnisse bei den jüngsten Beschlüssen der sieben führenden Industrienationen (G7) nichts geändert. Dabei wüssten Firmen im Allgemeinen Bescheid über die Abläufe in ihren Lieferketten und wären in der Lage, entsprechende Verträge durchzusetzen. Ausgehend von den Prinzipien der Vereinten Nationen für Menschenrechte und Unternehmensverantwortung in Entwicklungsländern erwartet die Europäische Union (EU) von ihren Mitgliedstaaten derzeit, diese Grundsätze in nationale Pläne umzusetzen. Frankreich sei dabei, gesetzliche Sorgfaltspflichten für größere Unternehmen festzu- BERLIN Trostpflaster für arme Länder Steuerinitiative soll Staatseinnahmen steigern Die Bundesregierung hat bei der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba mit den USA und europäischen Partnern eine Steuerinitiative gestartet. Sie soll Entwicklungsländern helfen, ihre Einnahmen zu erhöhen. Das reiche nicht aus, mahnen Kritiker. Mit der Initiative sollen die Steuer- und Zollsysteme so modernisiert werden, dass die niedrige Steuerquote in armen Ländern gesteigert wird. Entwicklungsminister Gerd Müller hatte in Addis deren Eigenverantwortung in den Vordergrund gerückt. Zwar seien auch internationale Transparenzstandards erforderlich, um Steuertricks großer Konzerne und damit verursachte Milliardenverluste zu unterbinden, sagte er. Zunächst müssten aber die Steuersysteme im Süden verbessert werden. Dafür wollen die beteiligten Länder bis 2020 ihre Beratungsleistungen für eine effizientere Haushaltspla- nung und die Eintreibung von Steuern verdoppeln. Die Strukturen sind oft undurchsichtig und für Bürger nicht nachvollziehbar – etwa beim Umgang mit Erlösen aus Rohstoffvorkommen. Regeln für öffentliche Rechenschaftslegung fehlen, eine Kontrolle wird somit erschwert. „Wer Steuersysteme fördert, stärkt zugleich die Demokratie“, sagte Staatssekretär Friedrich Kitschelt. Nach Ansicht von Hilfsorganisationen darf die Initiative aber nicht überdecken, dass die Industriestaaten sich der eigenen Verantwortung entziehen: Nämlich 51 52 journal berlin | brüssel globale Finanzflüsse zwischen Teilen großer Unternehmen transparent zu machen, damit Entwicklungsländer den Steuerhebel überhaupt erst ansetzen können. Denn eine zwischenstaatliche UNKommission für die globale Kooperation in Steuerfragen haben die Mitglieder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Addis geschlossen verhindert. Die Entwicklungsländer säßen weiter am Katzentisch politischer Entscheidungen in der OECD und verlören jährlich Milliarden USDollar durch Steuerflucht und -vermeidung, kritisiert das katholische Hilfswerk Misereor. Oxfam unterstreicht, dass die Einnahmen in armen Ländern steigen müssten. Aber: „Solche Initiativen können nur Ergänzung, nie Ersatz für eine gleichberechtigte Mitsprache bei der internationalen Steuerregelsetzung sein.“ Im Trüben fischen mit besseren Netzen Die Lobbyorganisation One bemängelt, selbst mit gestärkten Steuerbehörden könnten afrikanische Regierungen Mittel nur eintreiben, „wenn effektiver ge- gen Scheinfirmen und Steuerhinterziehung vorgegangen wird“. Eine Zusage für die Aufnahme in den Kreis der Länder, die Steuerinformationen automatisch austauschen, bleibe viel zu vage. Um Kriminellen das Handwerk zu legen müssten Konzerne in einem Register offenlegen, welche Eigentümer sich hinter bestimmten Firmenkonstruktionen verbergen und länderbezogene Berichte erstellen. „Bis das nicht geschieht, werden Steuerbehörden im Trüben fischen – wenn auch mit besseren Netzen“, betonte Tobias Kahler, der Direktor von One. Die Bundesregierung berät bereits seit der vorangegangenen UN-Finanzierungskonferenz in Doha rund 30 Entwicklungsländer in Finanz- und Steuerfragen, darunter das westafrikanische Ghana. Dort wurden zwar – wie auch in Kenia oder Kolumbien – im öffentlichen Finanzwesen Abläufe verbessert und mehr Steuern eingetrieben. Zugleich gaben die Regierungen vor allem in Wahljahren stets mehr aus als sie einnahmen. Die Infrastruktur bleibt unterfinanziert und der Staat trotz der erschlossenen Ölvorkommen hoch verschuldet. Marina Zapf brüssel Verschmutzen wird nicht wirklich teuer Die nächste Reform des EU-Emissionshandels kommt in Sicht Gerade hat sich die Europäische Union auf eine Notreparatur am EU-Emissionshandel geeinigt, da legt die EU-Kommission Vorschläge vor, die den Effekt wieder abschwächen. Ob der Emissionshandel je genug Geld für die Klimafinanzierung im Süden einbringen kann, ist fraglich. Das europäische Handelssystem für Emissionserlaubnisse (Emissions Trading System, ETS) soll für Stromerzeuger und große Industriebetriebe Anreize schaffen, Treibhausgase einzusparen: Wer viel emittiert, muss Zertifikate zukaufen. Doch bisher geben die EUStaaten Zertifikate im Übermaß aus; bis 2020 wird sich ein Überschuss von zwei Millionen Tonnen angehäuft haben. Wegen dieses Überangebotes ist der Preis im vergangenen Jahr unter fünf Euro für eine Tonne Kohlendioxid-Äquivalent gesunken – zu wenig, um saubere Technik rentabler zu machen. Die EUGremien haben deshalb drei Jahre darum gerungen, wie viele Zertifikate man wann vom Markt nehmen soll. Am 8. Juli hat das EU-Parlament den mit den Ministern und der Kommission ausgehandelten Kompromiss gebilligt. Danach werden 900 Millionen Zertifikate ab 2019 sowie weitere ÜberschussZertifikate ab 2021 in eine „Marktreserve“ weggeschlossen. Das Parlament wollte den Beginn 2017, die Kommission auf Druck der Kohlelobby, gerade auch der deutschen, erst 2021. Nur wenn der Handelspreis auf mindestens 25 Euro je Tonne steigt, sollen Zertifikate aus der Reserve freigegeben werden. Der Ministerrat will den Beschluss am 18. September absegnen. Die Kommission will großzügig zuteilen Doch nun hat die Kommission am 15. Juli eine „Überprüfung“ des ETS vorgelegt und dabei Änderungen für die Zeit ab 2020 vorgeschlagen, mit denen die Begrenzung wieder untergraben wird. So sollen von vornherein gut 40 Prozent der Gesamtmenge von Emissionserlaubnissen nicht (wie für Stromkonzerne) versteigert, sondern gratis zugeteilt werden: an energieintensive Unternehmen, die drohen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern, wo Emissionen kostenlos sind. Hersteller von Stahl, Aluminium, Chemie, Papier, Dünger, Kalk und Glas würden dann auch nach 2020 bis zur „nach bester Technik nötigen“ Menge Zertifikate umsonst bekommen. Was sie davon nicht verbrauchen, können sie verkaufen. So konnte der Stahlkonzern Mittal für seine EU-Tochter ARCELOR im Geschäftsjahr 2013/14 über eine Milliarde Euro aus dem Verkauf ungenutzter Zertifikate kassieren. Weiter sollen laut der Kommission zwischen 2020 und 2030 aus der Marktreserve 250 Millionen Zertifikate in einen „Fonds für Innovationen“ verschoben werden, mit dessen Hilfe beispielsweise polnische Kohlekraftwerke Wenig Anreize, CO2 einzusparen: Stahlwerk von Thyssen Krupp in Duisburg. Ina Fassbender/Reuters modernisiert werden könnten. Auch diese Zertifikate sind dann handelbar. Zudem sieht die Kommission 300 Millionen Zertifikate für Unternehmen vor, die möglicherweise künftig neu vom ETS erfasst werden. Das alles wird das Angebot erhöhen und den Preis drücken. Die Kommission geht davon aus, dass im Zeitraum von 2021 bis 2030 insgesamt 15,5 Milliar- 9-2015 | brüssel | schweiz journal den Zertifikate zu einem Gesamtwert von 387,5 Milliarden Euro ausgegeben werden. Sie hofft somit auf ein durchschnittliches Preisniveau um 25 Euro pro Tonne aus den Versteigerungen. Ein Drittel der Einnahmen sollen laut der Kommission für Klimafinanzierung auswärts verwendet werden, zum Beispiel für den Beitrag zum UN-Klimafonds. Dafür haben die Industrieländer 100 Milliarden US-Dollar jährlich ab 2020 zugesagt, die EU müsste davon etwa ein Fünftel aufbringen. Die Einnahmen aus dem ETS werden das jedoch nicht abdecken können. Zum einen finden Experten die veranschlagten 25 Euro pro Tonne zu optimistisch; ein Anstieg des Handelspreises von derzeit 7,5 Euro auf 14 bis 16 Euro ab 2020 sei eher realistisch. Zum anderen werden dank der Gratisvergabe an die Industrie, auf der gerade die deutsche Regierung besteht, höchsten 57 Prozent der Zertifikate tatsächlich versteigert. Selbst wenn sie bei der Ausgabe pro Tonne 25 Euro einbringen, kämen damit 2020 bis 2030 vielleicht 22 Milliarden Euro pro Jahr zusammen. Dieses Geld fließt in die Finanzkassen der EU-Mitgliedsländer. Auch wenn die sich an die Empfehlung der EU-Kommission halten, ein Drittel dieser Einnahmen aus ETS-Auktionen für die Klimafinanzierung der übrigen Welt abzugeben, wären die Verpflichtungen gegenüber dem UN-Klimafonds daraus bei weitem nicht zu erfüllen. Heimo Claasen brüssel Nachwirkung der Skandale In Europa bilden sich neue Bündnisse für Transparenz bei Steuern und Finanzanlagen Seit langem fordern Entwicklungsorganisationen, mehr Licht in die Steuerzahlungen von Konzernen und die Verschiebung großer Vermögen zu bringen. Das EU-Parlament drängt nun ebenfalls darauf – aus Sorge um die Steuereinnahmen in Europa. Die Aufregung über Luxemburger Steuerprivilegien für Großunternehmen, die nach den „LuxLeak“Enthüllungen im vorigen Herbst entstanden ist, zeitigt auch Folgen für entwicklungspolitische Anliegen. Im Juli hat das EU-Parlament den Entwurf der Kommission für die Neufassung der Richtlinie zu Rechten von Anteilseignern (Shareholders’ Rights Directive) entscheidend verschärft: Das Parlament beschloss am 8. Juli, dass börsennotierte Kapitalgesellschaften für jedes Land, in dem sie direkt oder mit von ihnen beherrschten Firmen tätig sind, über alle Zahlungen von Steuern und Abgaben berichten müssen. Das hat giftige Kommentare von Verbänden der Finanzwirtschaft und heftige Bemühungen von Lobbyisten ausgelöst. Absehbar ist ein langwieriges Tauziehen in und zwischen den EU-Instanzen, ehe diese Vorschrift wirksam werden könnte. Schon im vergangenen Dezember hatte sich das EU-Parlament mit dem EU-Ministerrat geeinigt, die Richtlinie zu Geldwäsche deutlich zu verschärfen. Sie | 9-2015 sieht nun vor, dass die wahren Eigentümer von Kapital- und Finanzgesellschaften in einem zentralen Register erfasst werden, das neben den Finanzämtern auch „berechtigten Interessenten“ zugänglich sein soll. Die ursprüngliche Vorlage der EU-Kommission enthielt nur eine Meldepflicht der Eigentümer bei den Finanzbehörden und überließ es den Finanzministerien der EU-Länder, untereinander und vertraulich Informationen auszutauschen. Das zielte vornehmlich auf die Erfassung mafiöser Geldströme in der EU. Die verschärfte Fassung bietet nun die Möglichkeit, im Geflecht von Briefkastenfirmen, Treuhandgesellschaften und Fonds die tatsächlichen Eigner zu ermitteln – auch korrupte Politiker aus Drittsaaten. Die EU-Staaten haben zwei Jahre Zeit, die Direktive in nationales Recht umzusetzen. In beiden Fällen ist erkennbar, wie auch bei konservativen EURegierungen und Parlamentariern die Besorgnis über den Ausfall von Steuereinnahmen die Oberhand gewinnt. Damit ergibt sich eine seltene Koalition mit Vertretern entwicklungspolitischer Anliegen. Deren Forderung nach steuerlicher Transparenz von Großfirmen und Finanzinstituten hatte bisher kaum Chancen, sich durchzusetzen. Weniger erfolgreich sind sie bei der Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT), die seit anderthalb Jahren im EU-Minis- terrat feststeckt. Bisher sind nur elf der 28 EU-Regierungen beteiligt, und die sind sich über die Einzelheiten nicht einig. Die FTT und auch die Pflicht der Unternehmen, länderbezogene Berichte vorzulegen, wären zudem gefährdet, wenn das Abkommen über eine Handelspartnerschaft zwischen den USA und der EU (TTIP) noch in der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama zustande kommt. Denn nach den bisher festgeklopften TTIP-Regeln wären dies neue staatliche Vorschriften, die vorab von der gemeinsamen Regulierungskommission der USA und der EU behandelt werden müssten. Ob sie damit infrage stehen würden, ist offen. Heimo Claasen schweiz Mit Essen spekuliert man nicht Schweizer Sozialwerk ändert seine Anlagestrategie Der Schweizer Altersvorsorge-Fonds stoppt Investitionen in Nahrungsmittel. Der Grund: Die politische Sensibilität für diese Anlageform sei gestiegen. Druck kommt von einer Volksinitiative, über die noch gar nicht abgestimmt worden ist. Investitionen in Nahrungsmittel sind umstritten. Sie können zu spekulativen Preisanstiegen und somit zu Versorgungsproblemen führen. In der Schweiz reichten die Jungsozialisten (JUSO), die Sozialdemokraten (SP), die Grünen und mehrere Hilfswerke deshalb im Frühling 2014 eine Volksinitiative ein, die Spekulationen mit Nahrungsmitteln verbieten will. Darüber abgestimmt wird frühestens 2016. Doch die Forderung zeigt bereits Wirkung: Die Führung des Schweizer Sozialwerks hat laut Jahresbericht 2014 beschlossen, 53 54 journal schweiz ab diesem Jahr nur noch in Energie und Edelmetalle zu investieren, nicht mehr hingegen in Agrarrohstoffe und Viehwirtschaft. Begründet wird der Strategiewechsel mit der erhöhten „politischen Sensibilität“ für das Thema. JUSO und SP begrüßen die Entscheidung. Der Fonds verwalte öffentliche Mittel und habe somit eine spezielle Sorgfaltspflicht, schreibt die SP. JUSO-Präsident Fa- bian Molina deutet den Beschluss als Zeichen dafür, dass „der Druck der Spekulationsstopp-Initiative wirkt“. Er zeige, „dass sich die Fonds-Verantwortlichen der verheerenden Auswirkungen der Spekulation mit Agrarrohstoffen bewusst sind“. Der Fonds von Alters- und Invalidenversicherung sowie Erwerbsersatzordnung ist mit einem Vermögen von mehr als 30 Milliarden Franken (gut 28 Milliarden Euro) einer der größten öffentlichen Investoren. Mit großen finanziellen Einschnitten ist seine Strategieänderung nicht verbunden: Im Jahr 2014 investierte der Fonds nur 1,6 Prozent oder knapp 500 Millionen Franken (gut 471 Millionen Euro) seines gesamten Anlagevermögens in Rohstoffe. 41 Prozent davon entfielen auf landwirtschaftliche Produkte. JUSO-Chef Molina betont dennoch, der Beschluss sei „ein klarer Wink mit dem Zaunpfahl an den Nationalrat“, etwas gegen die Nahrungsmittelspekulation zu unternehmen. Im Herbst wird die große Kammer des Parlamentes über die Initiative beraten. In der kleinen Kammer hatte die Idee keine Chance. Und auch der Bundesrat empfiehlt, die Initiative abzulehnen. Kathrin Ammann schweiz Die Flüchtlinge kommen trotzdem Migrationspartnerschaften helfen vor allem bei der Rückführung Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren vermehrt auf Migrationspartnerschaften gesetzt, um die Migration zu bremsen und abgewiesene Asylsuchende einfacher abzuschieben. Das Instrument sei nützlich, aber wenig wirksam, meint die Flüchtlingshilfe. Bislang hat die Schweiz mit fünf Ländern Migrationspartnerschaften geschlossen: Nigeria, Tunesien, Kosovo, Serbien und Bosnien. In den Abkommen verpflichten sich die Länder zur Kooperation bei der Rückführung ihrer Landsleute. Im Gegenzug erhalten sie Hilfe, etwa bei der Ausbildung von Polizisten oder durch Praktikumsplätze für Berufsanfänger in Schweizer Unternehmen. Weil das Parlament den Nutzen der Partnerschaften anzweifelte, ließ die Regierung das außenpolitische Instrument von der Maastrichter Graduate School of Governance überprüfen und bewerten. Der Anfang Juli veröffentlichte Bericht belegt: Eine Migrationspartnerschaft trägt nicht unmittelbar dazu bei, dass die Zahl der Asylgesuche aus dem Partnerland sinkt. Trotzdem erhielt das Instrument von den Prüfern befriedigende Noten. Zum einen, weil es für eine reibungslosere Rückführung abgewiesener Asylbewerber sorgt – etwa bei Serben und Kosovaren, die innerhalb von 48 Stunden abgeschoben werden, wenn ihr Gesuch abgelehnt worden ist. Zum anderen tragen die Partnerschaften laut den Prüfern dazu bei, den gemeinsamen Kampf gegen den Menschenhandel zu verstärken. Der Schweizer Bundesrat sieht sie deshalb nicht grundsätzlich infrage gestellt, da sie „über die Migrationsthematik hinaus zu einer deutlichen Verbesserung der bilateralen Beziehungen“ führen, wie das Staatssekretariat für Migration schreibt. Langfristige Hilfen bei der Berufsbildung wären besser Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) findet die Migrationspartnerschaften zwar „nützlich“, aber „in der Wirkung bescheiden“. Wichtiger seien langfristige Hilfen in den Herkunftsländern, Ängste schüren vor dem „Asylchaos“ In der Schweiz ist die Zahl der Asylgesuche im ersten Halbjahr 2015 im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres um 16 Prozent gestiegen. Im Vergleich zu den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die eine Zunahme von 68 Prozent verkraften müssen, ist der Anstieg aber moderat. Trotzdem schürt die rechtskonservative Volkspartei (SVP) wenige Monate vor den Wahlen Mitte Oktober Ängste vor einem vermeintlichen „Asylchaos“ in der Schweiz. Auch wird angezweifelt, ob Eritreer – sie stellen die größte Flüchtlingsgruppe – in ihrer Heimat überhaupt bedroht sind. Dabei beruft sich die SVP auf einen von der dänischen Einwanderungsbehörde in Auftrag gegebenen Bericht, laut dem die Lage in Eritrea weit weniger problematisch ist als bisher dargestellt. Dieser Befund wird von Menschenrechtsorganisationen und UN-Experten bestritten. Das dänische Justizministerium musste den als lückenhaft kritisierten Bericht nachträglich korrigieren. Europaweit liegt die Anerkennungsquote von Flüchtlingen aus Eritrea bei weit über 80 Prozent. (tp) etwa bei der Berufsbildung, sagt Sprecher Stefan Frey. Die Partnerschaften umfassen zwar sogenannte Stagiaires-Abkommen, in denen den Partnerländern Praktikumsplätze bei Firmen in der Schweiz angeboten werden. Im Fall von Tunesien konnte die Schweiz ihr Versprechen von bis zu 150 solchen Aufenthaltsbewilligungen pro Jahr aber bei weitem nicht einlösen. Bislang fanden sich laut Behörden lediglich für drei Tunesier Praktikumsplätze bei Schweizer Unternehmen. So bietet der Lebensmittelkonzern Nestlé fünf jungen Nigerianern befristete Ausbildungsplätze in der Schweiz an. Die Plätze sind Lehrlingen vorbehalten, die bei Nestlé in Nigeria zu Polymechanikern ausgebildet werden. Die Behörden hoffen, dass andere Schweizer Unternehmen dem Beispiel folgen. Das Beispiel Nestlé zeige, „dass Schweizer Investoren tatsächlich positive Effekte bei der Berufsbildung erzielen können“, meint SFH-Sprecher Frey. Zur besseren Einbindung von Schweizer Firmen bei Migrationspartnerschaften ist ein parlamentarischer Vorstoß anhängig. Die sozialdemokratische Nationalrätin Bea Heim fordert den Bundesrat auf, zu prüfen, wie die Bemühungen bei der Berufsbildung als Strategie zur Armutsbekämpfung „gezielt und messbar“ verstärkt werden können. Theodora Peter 9-2015 | schweiz | österreich journal 55 schweiz — kurz informiert In Mexiko sollen mit Maschinengewehren ausgerüstete Schweizer Flugzeuge gegen Demonstranten eingesetzt worden sein. Laut Medienberichten überflogen die Maschinen Anfang Juni protestierende Lehrer im Bundestaat Oaxaca. Es soll sich um Pilatus-Flugzeuge des Typs PC-7 handeln, die in den 1980er Jahren nach Mexi- ko exportiert worden waren. Sie gelten als Trainings- oder Schulungsmaschinen, können aber leicht aufgerüstet werden: Sie verfügen über Aufhängepunkte, an denen Waffen befestigt werden können. Der Flugzeughersteller Pilatus hat nach eigenen Aussagen „keine Kenntnis“ von den Vorfällen. Es wäre nicht das erste Mal, dass bewaffnete Pilatus-Flugzeuge gegen Zivilisten eingesetzt werden. Nebst Mexiko gehören auch Tschad, Myanmar, Irak und Iran zu den Abnehmern der Schweizer Flugzeuge. 2008 bombardierten solche Maschinen ein Flüchtlingslager im Tschad. In Mexiko kamen 1994 mehrere Hundert Indigene durch Bom- benabwürfe ums Leben. Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) fordert, dass die Flugzeuge künftig als Kriegsmaterial eingestuft werden. Das ist für die Typen PC-7, PC-9 und PC-21 bislang nicht der Fall. Sie unterliegen somit dem Güterkontrollgesetz und nicht der strengeren Kriegsmaterialverordnung. (kam) österreich Wer nimmt die Flüchtlinge? Österreich streitet über seine Asylpolitik Die einen wettern gegen Flüchtlinge, die anderen engagieren sich. Das gilt für Politik und Zivilgesellschaft. Derweil bekommt die Regierung in Wien von Amnesty International eine Ohrfeige. Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation hatten Anfang August das größte österreichische Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Traiskirchen besucht. Das Lager sei völlig überbelegt, die medizinische und soziale Versorgung seien katastrophal, erklärten sie. Während des Besuchs von Amnesty waren rund 2400 Flüchtlinge in dem Lager untergebracht. Anzeige Die Organisation schätzt, dass etwa 1500 von ihnen im Freien schlafen mussten. „Ein unhaltbarer Zustand“, kritisierte Teamleiterin Daniela Pichler. Viele Asylbewerber, darunter auch Schwangere, müssten sich stundenlang bei sengender Hitze für ihre Identitätskarten anstellen. Ein einfaches System mit Wartenummern würde diese Situation deutlich verbessern, so Pichler. Das zuständige Innenministerium reagierte mit einem Aufnahmestopp für Traiskirchen. Mehrere Hundert Asylsuchende wurden in andere Bundesländer gebracht. Viele Landeshauptleute (das entspricht den deutschen Minister- Friedensarbeit – Ihr AnlIegen? Sie haben Sozialpädagogik, Politik- oder Sozialwissenschaften studiert und sind berufserfahren. Sie suchen eine Aufgabe, bei der Sie unsere Partner professionell dabei unterstützen, gewaltfreie Konfliktlösungen zu finden. Christliche Werte sind Teil Ihrer Motivation und Sie verstehen Ihr Tun als solidarischen Dienst. Dann sollten wir uns kennenlernen! Die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) ist der Personaldienst der deutschen Katholiken für Entwicklungszusammenarbeit. Wir bieten Ihnen die Chance, in Projekten des Zivilen Friedensdienstes in Afrika, Asien und Lateinamerika aktiv zu werden, auf der Grundlage des Entwicklungshelfer-Gesetzes. Informieren Sie sich auf www.ageh.de über unsere Stellenangebote im Zivilen Friedensdienst. Das Aufnahmelager Traiskirchen bei Wien ist hoffnungslos überfüllt. Laut Amnesty International müssen 1500 Flüchtlinge im Freien schlafen. Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) e.V. Ripuarenstraße 8 | 50679 Köln Tel. 0221 8896-270 www.ageh.de [email protected] joe klamar/getty images AGEH_Anzeigen_WELTSICHTEN_96x158mm_mit Rand Dez2013.indd 1 | 9-2015 04.12.2013 15:46:12 56 journal österreich | KIRCHE und ökumene präsidenten) und Bürgermeister versuchen nun, die Unterbringung von Flüchtlingen mit einfallsreichen Ausreden abzuwehren. Sie berufen sich auf die Ängste in der Bevölkerung. Gleichzeitig bieten Tausende Freiwillige in Traiskirchen ihre Hilfe an, werden aber von der gewinnorientierten Betreiberfirma ORS zurückgewiesen. Die Firma arbeitet im Auftrag des Innenministeriums. Ärzte, die das überforderte Team in Traiskirchen verstärken wollten, wurden erst nach einer Amnesty-Rüge vom Innenministerium autorisiert. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) zeigt sich überfordert. Sie ließ mehrere Zeltlager errichten, um Flüchtlinge unterzubringen, und schloss ein Abkommen mit der Slowakei, die sich bereit erklärte, vorübergehend 500 Asylwerber zu versorgen. Österreich übernimmt den Großteil der Kosten und bleibt für das Asylverfahren zuständig. Zudem hat die Ministerin 80 Polizisten an die ungarisch-serbische und die serbisch-mazedonische Grenze geschickt, um Flüchtlinge schon dort zu stoppen. Der ehemalige sozialdemokratische Innenminister Franz Löschnak wirft der Regierung Dilettantismus vor: „Experten wissen seit vielen Monaten, dass dieser Zustrom an Kriegsflüchtlingen nicht nachlassen wird.“ Bis Ende Juli wurden in diesem Jahr mehr als 40.000 Asylsuchende registriert. Bis Jahresende wird mit mindestens 35.000 weiteren gerechnet. Da die meisten aus Bürgerkriegsländern kommen, liegt die Anerkennungsquote bei rund 50 Prozent. Die rechte Partei FPÖ plädiert dafür, Auffanglager in Nordafrika zu errichten – dort könne auch über Anträge auf Asyl entschieden werden. Ex-Minister Löschnak erklärt dazu, in Bürgerkriegsländern mit chaotischen Verhältnissen komme das nicht infrage. In afrikanischen Ländern hingegen könne Aufklärung betrieben werden. In Westafrika gebe es etwa als Reisebüros getarnte Menschenhändler-Büros: „Da müsste längst schon die EU mit ihren Botschaften eingreifen.“ Im Kosovo hat eine Aufklärungskampagne des Innenministeriums im Frühjahr bereits ge- wirkt: Anfang des Jahres waren Tausende Menschen nach Österreich gekommen, um zunächst Asyl und dann einen Arbeitsplatz zu bekommen. Inzwischen ist die Zahl der Asylbewerber aus dem Kosovo stark gesunken. Doch während sich in einigen Orten Bürger gegen Flüchtlinge organisieren, verzeichnen Hilfsorganisationen gleichzeitig mehr Zulauf von Freiwilligen, die etwas spenden, Sprachunterricht geben oder eine Patenschaft übernehmen wollen. Der Verein „Afghanische Jugendliche – Neuer Start in Österreich“ hat Anfang August bereits zum vierten Mal ein Fußballturnier organisiert, um den interkulturellen Austausch zwischen Österreichern und Afghanen zu fördern. Ralf Leonhard KIRCHE und ökumene Kein Kuschelkurs mit den Konzernen Die katholische Kirche fordert einschneidende Veränderungen beim Bergbau Die Bergbauindustrie kämpft um ein besseres Image und will künftig als Entwicklungspartner auftreten. Die Kirche dürfe sich von dieser Charme-Offensive nicht blenden lassen, warnten Basisgruppen bei einem Treffen Mitte Juli in Rom. Von der angekündigten Dialogbereitschaft sei in den betroffenen Gemeinden bisher nichts zu spüren. Zum ersten Mal kamen Menschen aus allen Erdteilen zusammen, die unter den Folgen des kommerziellen Bergbaus leiden. Egal ob die Rohstoffe in Asien, Afrika oder Lateinamerika abgebaut werden – die Schäden für die lokale Bevölkerung sind überall die gleichen: Wälder und Felder werden zerstört, das Grundwasser wird vergiftet, Menschen müssen ihre Dörfer verlassen. Sie können dem oft wenig entgegensetzen, weil die Konzerne mit Hilfe von Sonderregelungen der Regierungen ihr Vorgehen legalisiert haben. Zu den hartnäckigsten Mitstreitern der Betroffenen zählen einheimische Priester und Or- Bergwerke schaffen Probleme – aber auch Jobs: Im Juli protestieren Minenarbeiter aus Potosi in Bolivien für mehr Investitionen in die Infrastruktur der Region. david mercado/reuters bauindustrie getroffen. Die versuchten, die katholische Kirche davon zu überzeugen, dass sie künftig den Dialog mit den Anwohnern führen und die Schäden so gering wie möglich halten wollten. Der Päpstliche Rat sah sich bereits in der Rolle des Brückenbauers. densleute. Über den Lateinamerikanischen Bischofsrat CELAM haben sie Zugang zum Vatikan bekommen und dort Gehör gefunden. „Das Ziel dieses Treffens ist es, Eure Würde anzuerkennen“, sagte Kardinal Peter Turkson, der Präsident des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden. „Es ist uns bewusst, dass eure Menschenrechte verletzt werden, dass ihr verfolgt werdet, dass es ein Ungleichgewicht der Kräfte gibt.“ Die Kontroverse um Bergbauaktivitäten ist für den Vatikan nicht neu. Doch die Deutlichkeit, mit der sich Rom jetzt hinter die Basisgruppen stellt, lässt aufhorchen. Vor anderthalb Jahren hatte sich der Päpstliche Rat mit Vertretern der internationalen Berg- Auch Verweigerung muss akzeptiert werden Doch Vertreter der Basis warfen Rom vor, die wichtigsten Gesprächspartner, nämlich die lokalen Gemeinschaften, vergessen zu haben. „Es ist nicht Aufgabe der katholischen Kirche, sich für die Bergbauindustrie einzusetzen“, schrieb der internationale Verband katholischer Hilfswerke CIDSE vor gut einem Jahr an Kar- 9-2015 | KIRCHE und ökumene journal E100_Anz_04_WS-1_110x141.qxd:L100 dinal Turkson. Ein Dialog müsse offen geführt werden. „Wir müssen auch akzeptieren, wenn Gemeinden gar nicht wollen, dass Rohstoffe auf ihrem Gebiet abgebaut werden.“ Wie viele von der Basis glaubt auch Dario Bossi vom lateinamerikanischen Netzwerk Kirchen und Bergbau nicht an die Dialogbereitschaft der Konzerne. „Bei den Menschen an der Basis ist davon noch nichts angekommen. Ihre Situation hat sich nicht verbessert“, sagt der Comboni-Missionar. In Rom hätten sich die Konzernchefs zwar offen und dialogbereit gezeigt, auf lokaler Ebene gehe aber alles weiter wie bisher. Die Menschen mit ihren Anliegen würden nicht ernst genommen. Viele lehnten deshalb das Gespräch mit den Bergbauunternehmen ab. Papst Franziskus findet deutliche Worte Bossi sieht das Treffen zwischen Vatikan und Industrie als Teil einer groß angelegten Imagekampagne, mit der sich die Konzerne reinwaschen wollten. In der Tat liegt eine vom Kellogg Innovation Network in den USA erstellte und von internationalen Bergbauunternehmen finanzierte Studie vor, wie das Image der Branche grundlegend verbessert werden könne. Darin wird den Konzernen die Rolle von Entwicklungspartnern zugeschrieben, die mit allen Beteiligten zum Wohle aller zusammenarbeiten. Nach Wunsch der PR-Strategen soll das neue Image ausge- rechnet über die transportiert werden, die bisher den Widerstand organisiert haben: die Glaubensgemeinschaften. Das Treffen mit dem Päpstlichen Rat wird in der Studie explizit als Teil dieser Strategie genannt, ebenso wie ein ähnliches Treffen mit der anglikanischen Kirche im Oktober 2014. „Die Konzerne wollen die Kirche kooptieren“, sagt Bossi. Er warnt vor einer weiteren Initiative, bei der die Bergbau-Industrie theologische Seminare bei der Ausbildung von Pfarrern und Kirchenführern unterstützen will, die in vom Bergbau betroffenen Gemeinden Dienst tun werden. Die Charme-Offensive geht jedoch mit Papst Franziskus nicht auf. In der Umweltenzyklika „Laudato si“ hat er festgehalten, dass er die Kirche an der Seite der Ärmsten und Unterdrückten sieht. Bei seinem Besuch in Bolivien Anfang Juli hat er den Basisgruppen seine Wertschätzung ausgesprochen. In einem Brief an die Teilnehmer des Treffens im Vatikan schreibt er, es gehe nicht um kleine Änderungen im Verhalten der Bergbauindustrie oder eine Anhebung der ökologischen und sozialen Standards. Der Bergbausektor sei vielmehr „dazu aufgerufen, einen radikalen Paradigmenwechsel zu vollziehen, um die Situation in vielen Ländern zu verbessern“. Die Basisgruppen hoffen nun, dass Kardinal Turkson und der Päpstliche Rat eine Stellungnahme veröffentlichen, in der alle Bischöfe und Diözesen aufgefordert werden, den vom Bergbau betrof- 21.07.2015 10:58 Uhr Anzeige 2015 erinnern wir an Albert Schweitzers Vermächtnis mit einem Programm aus Konzerten, Vorträgen und Publikationen. albert-schweitzer-100.de fenen Gemeinden noch enger beizustehen und sich vor einer zu schnellen und unreflektierten Annäherung an die Konzerne zu hüten. Wie das geht, wird der Päpstli- che Rat bald schon selbst demonstrieren können. Im September ist das nächste Treffen mit den Konzernchefs geplant. Katja Dorothea Buck Hilferuf aus Utrecht Die niederländische Regierung kürzt Zuschüsse für Hilfsorganisationen | 9-2015 ICCO befindet sich in einer äußerst schwierigen Lage: Die Regierung in Den Haag wird dem Zusammenschluss kirchlicher Hilfswerke und Entwicklungsorganisationen vom kommenden Jahr an nicht mehr wie bisher Seite 1 1915 begründete Albert Schweitzer eine universelle Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Für unsere gefährdete Welt heute, in der das Lebensrecht unzähliger Tiere, Pflanzen und Menschen missachtet wird, ist diese Ethik zukunftsweisend. kirche und ökumene Das niederländische Hilfswerk ICCO hat Brot für die Welt angefragt, die Förderung für eine Reihe seiner Partner zu übernehmen. Denn die staatlichen Zuschüsse für seine Arbeit werden im kommenden Jahr drastisch sinken. 57 70 Millionen Euro, sondern nur noch sieben Millionen Euro überweisen. Der Betrag darf zudem nur noch für die Lobby- und Advocacy-Arbeit verwendet werden. Bisher hatten die Fördermittel der niederländischen Regierung etwa zwei Drittel des Gesamtbudgets von ICCO ausgemacht. Wie die Arbeit des Hilfswerks und seiner 900 lokalen Partner in 44 Ländern nach diesem Einschnitt weitergehen soll, weiß derzeit niemand genau zu sagen. 58 journal KIRCHE und ökumene | global lokal Klar ist nur, dass es Kürzungen bei den 95 Beschäftigten in der Geschäftsstelle in Utrecht und den 256 Mitarbeitenden in den Regionalbüros geben wird. Zudem wird man sich von einigen Projektpartnern trennen müssen; von welchen, mag derzeit aber niemand sagen. „Entweder wir finden andere Sponsoren für die einzelnen Projekte, oder aber wir können die Zusammenarbeit nicht weiterführen“, sagt Ben Nijkamp, der bei ICCO Investments, dem Investmentzweig des Hilfswerks, die Garantiefonds managt. Der Einschnitt sei nicht über Nacht gekommen, sagt Nijkamp. Schon länger denke man bei ICCO über neue Strategien nach, Mittel einzuwerben, und habe in den vergangenen Jahren stark in den Fundraising-Bereich investiert. Ob das reichen wird, könne aber nicht gesagt werden. Brot für die Welt prüft Übernahme von Projekten Auf seiner Suche nach neuen Wegen hat sich ICCO an Brot für die Welt gewandt, das als kirchliches Hilfswerk einen ähnlichen Hin- tergrund hat. Man werde prüfen, welche Projekte man übernehmen könne, heißt es dort. Bei gemeinsamen Partnern sei dies relativ einfach. Da würde Brot für die Welt dann den ICCO-Anteil in der Finanzierung übernehmen. Auch wolle man Projekte von Partnern, mit denen ICCO schon seit vielen Jahren gut zusammenarbeite, prüfen, ob sie in das eigene Portfolio passten. Noch stünden die inhaltlichen Kriterien aber nicht fest. Bereits vor fünf Jahren musste ICCO einen empfindlichen Rück- gang der staatlichen Fördermittel verkraften. Damals waren die Zuschüsse von 130 Millionen Euro auf 70 Millionen Euro zurückgefahren worden. Hintergrund der Kürzungen ist ein radikaler Politikwechsel der niederländischen Regierung, die in der Entwicklungszusammenarbeit künftig stärker bilateral mit Partnern zusammenarbeiten und nicht länger die Arbeit von nichtstaatlichen Organisationen (NGO) kofinanzieren möchte. Neben ICCO sind auch andere NGOs betroffen. Katja Dorothea Buck kirche und ökumene Hilfswerke fordern andere Flüchtlingspolitik Brot für die Welt und Misereor legen Jahresbilanzen vor Das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt wirft der Bundesregierung eine verfehlte Flüchtlingspolitik vor. Berlin solle sich für sichere Fluchtwege nach Europa einsetzen, forderte die Präsidentin des Hilfswerkes, Cornelia Füllkrug-Weitzel. Die Entwicklungspolitik dürfe nicht den Ausputzer spielen und an die Bedingung gebunden werden, dass die Empfängerländer Flüchtlinge und Migranten aufhalten. „Verantwortlich für Armut und Gewalt und damit letztlich auch für Flucht sind Ungleichheit und Ungerechtigkeit, politische Instabilität und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen“, betonte Füllkrug-Weitzel bei der Bilanzpressekonferenz in Berlin. Wenn Deutschland langfristig Fluchtursachen bekämpfen wolle, müsse es sich stärker für gerechtere Bedingungen im globalen Handel einsetzen. „Wenn Menschenrechte, Zugang zu Land und Wasser, Umweltund Sozialstandards nicht entlang der gesamten Wertschöpfungskette eines Produkts gelten – ob Fisch, Textilien oder Smartphones –, nehmen wir Menschenrechtsverletzungen und Konflikte in Kauf“, sagte Füllkrug-Weitzel. Zudem müsse die Bundesregierung der Vorbeugung, Bearbeitung und Nachsorge von Gewaltkonflikten größere Bedeutung beimessen als bislang, unterstrich die Theologin. Füllkrug-Weitzel zufolge stellt der Strom hilfesuchender Menschen aus fragilen Staaten oder Konfliktregionen auch Brot für die Welt und seine Partner vor große Aufgaben. Drei von vier Flüchtlingen fänden Aufnahme in anderen Entwicklungsländern. Im vergangenen Jahr hat die Hilfsorganisation nach eigenen Angaben 636 Projekte neu bewilligt, darunter auch friedenspädagogische Projekte etwa in der Demokrati- schen Republik Kongo, am Horn von Afrika und in Nigeria. Der Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerkes Misereor, Pirmin Spiegel, betonte ebenfalls, die Ursachen von Armut und Flucht müssten auf europäischer und globaler Ebene bekämpft werden. Das Elend vieler Menschen werde mitverursacht von politischen Entscheidungen der Industrie- und Schwellenländer, sagte Spiegel bei der Jahrespressekonferenz von Misereor in Bonn. Insgesamt standen Brot für die Welt im vergangenen Jahr knapp 255 Millionen Euro für sei- ne Arbeit zur Verfügung, darunter 55,7 Millionen Euro Spenden und Kollekten, 51,4 Millionen aus Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes sowie 123,5 Millionen Euro Beiträge Dritter, vor allem aus dem Entwicklungsministerium (BMZ). Misereor nahm im selben Zeitraum 185,8 Millionen Euro ein, darunter 55,5 Millionen Euro Spenden und Kollekten sowie Zuwendungen aus Mitteln des Entwicklungsministeriums in Höhe von 118,9 Millionen Euro. Beide Hilfswerke verbuchten eine Steigerung bei den öffentlichen Mitteln. Marina Zapf global lokal Partner eines Krisenlandes Baden-Württemberger wollen weiter mit Burundi zusammenarbeiten Baden-Württemberg ist seit einem Jahr offiziell in einer Partnerschaft mit Burundi verbunden. Wegen der politischen Krise in dem zentralafrikanischen Land ruhen die staatlichen Kontakte, doch das Engagement aus der Gesellschaft geht weiter. Seit der Ankündigung von Burundis Präsident Pierre Nkurunziza im April, für eine dritte Amtszeit zu kandidieren, dreht sich in Burundi die Spirale der Gewalt. Es gab politische Proteste und Unruhen, Gegner des Präsidenten werden verfolgt und mehr als 100.000 Menschen sind in Nachbarländer geflohen. Seit seiner Wiederwahl am 21. Juli ist die Krise weiter eskaliert. In Deutschland engagiert sich neben der Bundesregierung vor 9-2015 | global lokal | personalia journal allem Baden-Württemberg in Burundi. Seit den 1980er Jahren bestehen zahlreiche Kontakte, mehr als hundert Vereine, Schulen, Kommunen, Krankenhäuser und Hochschulen im Bundesland haben Partner in Burundi. Auch von kirchlicher Seite ist das Engagement groß. Allein in der Diözese Rottenburg-Stuttgart pflegen 14 Kirchengemeinden Beziehungen zu Partnergemeinden in Burundi. Projektpartner haben Angst, sich politisch zu äußern Die Initiativen unterstützen Kinder, Behinderte, Frauen und alte Menschen, fördern Alphabetisierung sowie die Ausbildung von jungen Menschen in einem der ärmsten Länder der Welt. Seit 2011 kooperieren die Hochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg und die Universität Tübingen mit der Hochschule in Burundis Hauptstadt Bujumbura. Der badenwürttembergische Städtetag und der Sparkassenverband sind mit eigenen Programmen aktiv. Im Mai 2014 wurde die bereits seit Jahrzehnten bestehende Zusammenarbeit formal als Landespartnerschaft besiegelt. In Stuttgart bündelt und koordiniert das Kompetenzzentrum Burundi bei der Stiftung Ent- wicklungszusammenarbeit (SEZ) das Engagement. Für Oktober hat die Stiftung zu einem Informationstag zur aktuellen Situation eingeladen. Die Krise wirke sich zurzeit nicht direkt auf die Projektarbeit aus, sagt Geschäftsführer Klaus Weingärtner. Hilfsgüter würden allerdings verzögert ausgeliefert. Es sei schwierig, sich ein genaues Bild der Lage im Land zu machen, da Projektpartner sich aus Angst vor Repressionen nicht dazu äußern wollten. Doch in Baden-Württemberg herrscht große Einigkeit, Burundi weiter zu unterstützen. „Es gibt keine Stimmen im Bundesland, die die Zusammenarbeit beenden wollen“, sagt Weingärtner. „Im Gegenteil, wir wollen unsere Partner jetzt nicht im Stich lassen.“ Eine Kooperation sei weiter möglich. Da viele Kontakte bereits seit langem bestehen, habe man Erfahrungen mit Krisen. Für die Landesregierung in Stuttgart ist die Frage heikler. Die Bundesregierung hat ihre staatliche Entwicklungshilfe für Burundi bereits im Juni eingefroren. Das Entwicklungsministerium (BMZ) hat erklärt, man wolle alle „regierungsnahen Aktivitäten“ der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit Gottesdienst in Burundis Hauptstadt Bujumbura. Deutsche und burundische Gemeinden arbeiten auch in der gegenwärtigen politischen Krise weiter zusammen. marco longari/getty images mit Burundi aussetzen, weil die Regierung demokratische Prinzipien missachte. Die rot-grüne Landesregierung Baden-Württembergs betonte, nach der Wiederwahl von Pierre Nkurunziza zum Staatspräsidenten gebe es „keine vertrauenswürdigen Vertreter für eine staatliche Zusammenarbeit“. Die offiziellen Kontakte zwischen beiden Ländern ruhen derzeit. Sie sollen erst wieder aufgenommen werden, wenn sich die Lage im Land normalisiert hat. Allerdings will die Landesregierung das Engagement der Zivilgesellschaft in Burundi weiter im Rahmen der Projektförderung unterstützen. Claudia Mende Matthias Schmidt-Rosen das KfW-Büro in Sarajevo/BosnienHerzogowina übernommen. In Daressalam/Tansania ist Helmut Schön jetzt Vertreter der KfW und in Windhuk/Namibia Uwe Stoll. Elsner, ist seit Anfang August verantwortlich für das regionale „Rechtsstaatsprogramm Asien“ mit Sitz in Singapur. personalia Christoffel-Blindenmission (CBM) Esther Dopheide ist die neue Pressesprecherin der Christoffel-Blindenmission in Bensheim. Die 40-Jährige folgt auf Peter Liebe, der das Hilfswerk Anfang des Jahres verlassen hatte. Dopheide war zuletzt Pressesprecherin der Stiftung Lesen. Davor hat sie als PR-Beraterin gearbeitet. KfW-Entwicklungsbank Zum 1. August hat die KfWEntwicklungsbank die | 9-2015 Leitung zahlreicher Auslandsbüros neu besetzt: Für das Büro in Tegucigalpa/ Honduras ist jetzt Lydia Andler zuständig; das Büro in Kigali/ Ruanda leitet Markus Bär. Neuer Leiter der KfW-Vertretung für die Palästinensischen Gebiete mit Sitz in Ramallah ist Jonas Blume, für die Mongolei in Ulan Bator Petar Gjorgjiev, für die Ukraine in Kiew Lutz Horn-Haake. Das Büro in Lilongwe/Malawi leitet jetzt Torsten Jellestad, das in Amman/Jordanien Florian-Helge Rabe. Vertreter der KfW in Cotonou/Benin ist ab August Robert Roth. Ebenfalls zum 1. August hat Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Das Büro der Konrad-AdenauerStiftung in Schanghai/VR China, wird seit Juli von Tim Wenniges geleitet. Er war zuvor Leiter des Referats Hochschulpolitik und Leiter der Stabsstelle Politischer Dialog bei Südwestmetall. Die bisherige Leiterin der Lateinamerikaabteilung in der Berliner KAS-Zentrale, Gisela Deutsche Welle (DW) Schanna Nemzowa, die Tochter des im Februar in Moskau ermordeten russischen Politikers Boris Nemzow, verstärkt die Russisch-Redaktion der Deutschen Welle. Sie hat im August ihre Arbeit als Reporterin bei der Deutschen Welle in Bonn aufgenommen. 59 60 service filmkritik filmkritik Aufräumen mit der Scheinwelt In seinem Dokumentarfilm „The Look of Silence“ thematisiert der US-amerikanische Regisseur Joshua Oppenheimer die brutale Verfolgung der indonesischen Linken vor 50 Jahren und die Straflosigkeit der Täter. In Indonesien darf der Film offiziell nicht gezeigt werden. The Look of Silence Dänemark, Norwegen, Finnland, Indonesien, Großbritannien 2014 99 Minuten Regie: Joshua Oppenheimer Filmstart: 1. Oktober 2015 In einem Garten im Norden der indonesischen Insel Sumatra: Der Optiker Adi Rukun packt seine Instrumententasche aus. Der Kunde, dem er die Brillengläser anpasst, ist heute ein Greis mit zahnlosem Mund. Vor 50 Jahren war er bei allen in der Gegend gefürchtet. Denn er gehörte zu jenen, die vermeintliche Kommunisten abschlachteten. Zu dem Blutbad, das Hunderttausende Menschenleben kostete, hatte das Militär unzählige Zivilisten angestachelt. Eigentlich dürfe man Menschen nicht zerstückeln, sinniert der gläubige Muslim. Doch bei schlechten Menschen sei es erlaubt. Was ihn davor bewahrt habe, bei seiner blutigen „Aufgabe“ verrückt zu werden: Das Blut der Ermordeten zu trinken. Adi Rukun, der dem Massenmörder gegenüber sitzt, ist nicht irgendein Optiker. Sein älterer Bruder Ramli wurde 1965 ermordet – auf die gleiche Weise, wie der Alte sie schildert. Rukun macht sich auf eine Reise, von der es keine Wiederkehr in die „Normalität“ gibt. Er trägt Einzelheiten zum Mord an seinem Bruder zusammen, um schließlich die Mörder damit zu konfrontieren. Erbarmungslos hält die Kamera auf jene, denen sich das Grauen eingeschrieben hat: Rukuns kranker Vater, der sich nicht an seinen Erstgeborenen erinnert; die Mutter, die nach dem Verlust ihres Erstgeborenen mit beinahe 50 noch einmal ein Kind gebar – Adi. Da ist der Bruder der Mutter, der als Gefängniswärter dafür sorgte, dass die Verhafteten nicht entkamen. Da sind die Mörder in der Nachbarschaft, die sich nie für ihr Tun verantworten mussten und deren Kommandeure heute hohe politische Ämter bekleiden. Und da ist immer wieder der Satz: „Was gewesen ist, ist gewesen.“ Aus dem Mund der Opfer spricht Resignation, aus dem der Täter die Drohung, dass jene, die zu sehr an der Geschichte rühren, riskieren, dass sich diese wiederholt. Adi Rukuns beharrliche Suche macht allen Beteiligten klar, dass ihre „Normalität“ eine Scheinwelt ist. Er verstößt damit gegen alle Konventionen, gegen die „Kultur“ des harmonischen Miteinanders, die vor allem der Stabilisierung der Macht gilt. „The Look of Silence“ ist nach „The Act of Killing“ der zweite Film von Joshua Oppenheimer über die Ereignisse von 1965 in Indonesien, die die Basis für die 32-jährige Diktatur des prowestlichen Generals Suharto bildeten. Zuvor hatte Indonesiens erster Präsident Sukarno in einer riskanten Schaukelpolitik zwischen zivilen linken, nationalistischen und religiösen Kräften und dem Militär zu vereinen versucht, was angesichts des Kalten Krieges nicht zu vereinen war. Schließlich entführte und ermordete eine Gruppe links gerichteter Offiziere sieben prowestliche Militärführer, von denen sie annahmen, dass sie mit einem Putsch Präsident Sukarno entmachten wollten. General Suharto setzte sich an Sukarnos Stelle, schob die Schuld am „Putsch“ den Linken zu und ließ alle politischen Gegner ausschalten. Mit der Zerschlagung der damals drittgrößten kommunistischen Partei der Welt (sie ist bis heute in Indonesien verboten) wurde die „rote Gefahr“ gebannt und – anders als in Vietnam – mussten die USA im größten und ressourcenreichsten Land Südostasiens keinen einzigen GI „opfern“. Nachdem kritische Intellektuelle, Gewerkschaftsführer und Frauenrechtsaktivistinnen entweder ermordet oder im Gefängnis waren, wurden die Wirtschaftsgesetze des Landes neu geschrieben. Westliche Investoren gaben sich in Jakarta die Klinke in die Hand und Großunternehmer freuten sich über die Re-Privatisierung der zuvor verstaatlichten Firmen. Der Rest ist Geschichte. Und Gegenwart. In einer Szene des Films sitzt Adi Rukuns Sohn im Geschichtsunterricht, wo der Lehrer viele Worte für die vermeintliche Brutalität der Kommunisten findet, vor denen die Armee die Nation bewahrt habe. Kein Wort über die Grausamkeit mit der Hunderttausende Menschen von Milizen und Militärs ermordet wurden; kein Wort über Folter und systematische sexuelle Gewalt in Gefängnissen. Bis heute sind die Täter straflos geblieben und an Indonesiens Schulen ist Suhartos Geschichtsversion weitgehend unangetastet. In den Diktaturjahren errichtete Monumente, die Suharto als „Retter der Nation“ und „Vater des Wirtschaftsaufschwungs“ preisen, dominieren noch immer das öffentliche Geschichtsbild. Immerhin ist es dank der Beharrlichkeit zivilgesellschaftlicher Gruppen seit Suhartos Rücktritt 1998 gelungen, die Stimmen der Überlebenden zumindest einem Teil der Öffentlichkeit vernehmbar zu machen. Opferverbände formierten sich, Bücher und Filme entstanden und progressive Historiker arbeiten mit jungen Lehrern und Dozenten daran, eine alternative Sicht auf die Geschichte zu verbreiten. Doch dieses Bemühen wird immer wieder behindert: Treffen von Überlebenden werden mit Gewalt aufgelöst. Diskussionen und Filmvorführungen von der Polizei mit Hinweis auf die „Gefährdung der Sicherheit“ verboten. So geschah es auch einige Male bei Vorführungen von „Look of Silence“. Offiziell darf der Film nicht im Kino laufen. Trotzdem haben ihn Tausende Menschen in von Aktivisten und Studenten organisierten Vorführungen gesehen, Er hat die Diskussionen über die überfällige Aufarbeitung der Geschichte weiter vorangetrieben. Anett Keller 9-2015 | rezensionen service rezensionen Gefährlich lebendig: Besuch in Lagos Der frühe Roman von Teju Cole, der jetzt auf Deutsch vorliegt, zeichnet das Portrait der seit Jahren explodierenden Megastadt Lagos und das Bild eines urbanen Grenzgängers zwischen verschiedenen Kulturen. Das liest sich unterhaltsam, leicht und dennoch anspruchsvoll. Teju Cole Jeder Tag gehört dem Dieb Hanser-Verlag, Berlin, München 2015, 176 Seiten, 18,90 Euro Eine namenlose Erzählerfigur durchstreift die nigerianische Metropole auf der Suche nach einer inneren Ordnung der städtischen Gesellschaft. Lagos zeigt sich als ein Ort der Kindheit, an den der Ich-Erzähler nach langem Aufenthalt in den USA zurückkehrt; unentschieden, ob er für immer bleiben will. Denn diese Stadt – darüber herrscht nie ein Zweifel – ist so faszinierend wie verstörend, Moloch und Kreativitätsmotor zugleich. Der Erzähler wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Empörung und Faszination gegenüber der eigenen Herkunft und Cole inszeniert diese Gratwanderung auf literarisch spannendem Niveau. 27 Kapitel berichten vom Alltag in der Großstadt: Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, Marktund Museumsbesuche, Treffen mit Freunden. Aus dem urbanen Alltagskolorit entwickelt sich stets das Charakteristische der nigerianischen Lebensart. Ausnahmslos durchzieht ein Grundtenor von Unsicherheit und Bedrohung die Geschichten. Alles Erlebte ist durchsetzt von den Konflikten um Eigentum; das Ungleichgewicht von Reichtum und Armut birgt jederzeit das Risiko, abgezockt, überfallen oder irgendwie zur Kasse gebeten zu werden. Diese Wirklichkeit lässt sich niemals ausblenden – genausowenig, wie die Nigerianer das können. Zahlreiche, locker erzählte Erlebnisse zeichnen ein lebendiges Bild der Stadt und ihrer Einwohner. Bei einem Auffahrunfall etwa regelt eine ausgiebige Prügelei der Beteiligten den Streit (weniger wütend als rituell) und zeigt, dass es auch in einer schwer kalkulierbaren Gesellschaft vitale Formen der Selbstregulation gibt. Bei der Installation einer Antenne, nach der statt der versprochenen 30 nur ein einziger Sender schneereich zu empfangen ist, lernt man ein weiteres Prinzip nigerianischer Lebensart kennen: Allein die Idee zählt, ungeachtet ihrer praktischen Umsetzung. Das kann lebensgefährlich werden, etwa, wenn es im Verkehr zur Anwendung kommt. Trotz seines lockeren Tons folgt der Roman einem deutlich soziologischen Kurs. Die Kapitel fügen sich zu wohlkalkulierten Stationen sozialer Existenz: Familie, Freundschaft, Besitz, Gesetz, Sprache, Geschichte und Kultur bis hin zum abschließenden Blick auf den Tod in der Straße der Sargmacher. Stück für Stück erfährt man Wesentliches über die Gemengelage der Weltstadt und noch mehr über die dort herrschende Vernunft und deren (manchmal vermeintlichen) Mangel. Lagos ist auf der einen Seite dem kritischen Blick des rationalen Erzählers ausgesetzt, westliche Vorstellungen von Chaos und Korruption werden bestätigt. Fehlende Standards von Recht und Sicherheit begründen in weiten Teilen der Gesellschaft soziale und kulturelle Schieflagen. Umgekehrt aber werden die rationalen Maßstäbe des Erzählers durch die Realität in Lagos und den nigerianischen Kontext selbst auf die Probe gestellt. Gerade der Erfindungsreichtum und die Lebendigkeit der Stadt scheinen den nicht-rationalen Traditionen des Landes verbundener zu sein, als dies dem Erzähler lieb ist. Seine Reise bleibt schließlich nur ein Besuch, und er gegenüber seiner Herkunft unentschieden. Mehr als alles andere lässt sich das Buch als gelungener Versuch lesen, zwei unterschiedliche Denktraditionen verständlich zu machen. Dorothée Appel Wo Kritik an Israel antisemitisch wird Israel hat in Deutschland einen schlechten Ruf – da kann es tun und lassen, was es will. Die beiden Journalisten Georg M. Hafner und Esther Schapira erklären, warum das so ist. Georg M. Hafner, Esther Schapira Israel ist an allem schuld Warum der Judenstaat so gehasst wird Eichborn Verlag, Köln 2015, 317 Seiten, 19,99 Euro | 9-2015 Gaza ist das „am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt“. So stand es in einer Pressemitteilung der Fraktion der Grünen im Europaparlament zum GazaKrieg im Sommer 2014. Und so steht es seit vielen Jahren in unzähligen anderen Stellungnahmen zum Israel-Palästina-Konflikt. Die Wirkung beim Leser ist immer dieselbe: Jeder Krieg ist schlimm, aber Bomben auf das „am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt“ zu werfen, ist besonders barbarisch. Das Problem ist nur: Das Bild ist falsch, denn praktisch jede Millionenstadt ist dichter besiedelt als Gaza, sei es nun Paris, Tokio oder Mumbai. Wenn Gaza das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt sein soll, muss es sich diesen ersten Platz mit Berlin-Marzahn teilen: Dort wohnen genauso viele Einwohner pro Quadratkilometer. Für Georg M. Hafner und Esther Schapira ist es kein Versehen, dass sich solche Falschinformationen so lange halten, denn sie haben einen Zweck: den Staat Israel zu dämonisieren. Der frühere ARDRedakteur und die leitende Redakteurin beim Hessischen Rundfunk haben sich für ihr Buch genau angesehen, wer in Deutschland Israel auf welche Art kritisiert. Ihr Fazit: „Vielen ,Israelkritikern‘ ist in Wahrheit nicht die Politik des Staates, sondern seine Existenz 61 62 service rezensionen ein Dorn im Auge.“ Und für Hafner und Schapira ist auch klar, warum das so ist: Weil Israel der Staat der Juden ist. Die „säuberliche Auftrennung“ in den Hass auf Israel einerseits und die Juden andererseits ist für sie „politische Kosmetik“. Als ein Beleg dafür dient Hafner und Schapira die Verurteilung Israels als „Kindermörder“, wie sie nicht nur auf Demonstrationen hitzköpfiger muslimischer Jugendlicher üblich ist, sondern auch zu jeder Pro-Palästina-Mahnwache auf evangelischen Kirchentagen gehört. Der Vorwurf des Kindsmordes ist nicht nur eine vernichtende Kritik, sondern bedient zugleich ein uraltes antisemitisches Vorurteil. Warum nicht „Kindermörder Syrien“ oder „Kindermörder Nordkorea“, fragen Hafner und Schapira. Weil diese beiden Staaten – wenn überhaupt – lediglich für ihre Taten angeprangert werden und nicht wie Israel dafür, dass es sie gibt. Hafner und Schapira verdeutlichen an einer Fülle von Beispielen, dass hinter der „Israelkritik“ vieler Friedensbewegter in Deutschland nicht die Sorge um die Palästinenser steht, sondern eine tief sitzende Abneigung gegen den Zionismus und einen starken Judenstaat. Viele selbst ernannte Freunde der Palästinenser interessierten sich nur soweit für das Unrecht, das diesem Volk widerfährt, wie Israel dafür verantwortlich gemacht werden könne. Das Los der Palästinenser etwa in Syrien oder im Libanon sei den meisten völlig egal. Das ist ein wichtiges und lesenswertes Buch. Einziger Wermutstropfen: Für eine Streitschrift, die es sein will, ist es zu lang geraten; viele Argument wiederholen sich. Und auch der Ton ist manchmal zu weinerlich und anklagend. In dieser Hinsicht sind Hafner und Schapira der Gegenseite in dieser Debatte ähnlicher, als ihnen lieb sein dürfte. Tillmann Elliesen Revolution der Frauen Die syrischen Kurden haben sich größtenteils von der Herrschaft Baschar al-Assads befreit. Der Sammelband beschreibt, wie sie ihr Leben in Westkurdistan organisieren – und welche prominente Rolle Frauen dabei spielen. Anja Flach, Ercan Ayboga, Michael Knapp Revolution in Rojava Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo VSA Verlag, Hamburg 2015, 352 Seiten, 19,80 Euro Die nordsyrische Stadt Kobane gerät immer wieder in die internationalen Schlagzeilen. Denn dort tobt eine Schlacht: Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat wiederholt versucht, sie zu erobern. Bislang sind die Islamisten jedoch stets von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zurückgedrängt worden. In Kobane begann jedoch auch die Revolution in Rojava – und darauf richten die Herausgeber dieses Buches, Anja Flach, Ercan Ayboga und Michael Knapp, ihren Blick. Als Rojava oder Westkurdistan werden die überwiegend von Kurden bewohnten Gebiete in Syrien bezeichnet. Im Machtvakuum des syrischen Bürgerkriegs gelang es den Kurden 2012, sich größtenteils von der Herrschaft der regierenden BaathPartei unter Präsident Baschar al-Assad zu befreien. Flach, Ayboga und Knapp, waren im Mai 2014 für vier Wochen in Rojava und haben dort zahlreiche Gespräche geführt. Das Buch basiert auf ihren Eindrücken und Recherchen. Dazu vermitteln sie die theoretischen Konzepte, die der kurdischen Revolution zugrunde liegen. Ein zentraler Begriff ist „demokratische Autonomie“, die inzwischen auch die PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans, für sich in Anspruch nimmt. Ihre neuen Paradigmen lauten: Geschlechterbefreiung, Radikaldemokratie, Ökologie, alternative Ökonomie. Die PKK, so erläutert Knapp, begreife die kurdische Frage heute als eine Frage der Befreiung der Gesellschaft, der Geschlechter und aller Menschen. Daneben spielt das Modell des „demokratischen Konföderalismus“ eine wesentliche Rolle. Es meint die Organisation in Räten, was die politische Partizipation der Bevölkerung erlaubt. Eine der zentralen Säulen ist der Feminismus. Denn PKK-Führer Abdullah Öcalan, einst klassischer Marxist, sieht schon seit geraumer Zeit das Patriarchat als Basis für Hierarchien und staatliche Unterdrückung. Diese Erkenntnis scheint weitreichende praktische Folgen zu haben. Eine Episode aus dem Buch: Im Mai 2014 – die erste Angriffswelle des IS war gerade zurückgeschlagen worden – wurden in der Akademie für Verteidigungskräfte in Rojava Frauen zu Kommandantinnen ausgebildet. In der Küche standen derweil männliche Kämpfer, kochten und wuschen ab. Die selbstbewussten Frauen in Uniform, die gegen den Islamischen Staat kämpfen, sind hierzulande wahrgenommen worden. Die dahinter stehenden Gesellschaftsmodelle und praktischen Erfahrungen – etwa die Frauenräte in allen Städten Westkurdistans, die direktdemokratische Selbstverwaltung, das neue Rechtssystem, die Gesundheitsräte – jedoch nicht. Auch über die alternative Ökonomie in Rojava erfährt man in den hiesigen Medien nichts. An ihrem Aufbau scheinen Frauen maßgeblich beteiligt zu sein – Anja Flach spricht sogar von einer „FrauenÖkonomie“ und listet Frauenprojekte auf wie eine Näherei, eine Käsekooperative, eine Linsen-Kooperative, eine Frauen-Bäckerei. Wer mehr wissen will, dem sei das Buch empfohlen. Es ist teilweise etwas holprig und sperrig. Man merkt, dass es aus einer parteilichen Aktivisten-Perspektive verfasst ist. Und man fragt sich, ob die geschilderten Sachverhalte sich nicht inzwischen schon wieder stark verändert haben. Dennoch, die Mühe des Lesens lohnt sich, wenn man besser verstehen will, welche Grundsätze und Ansätze in Kobane und an anderen Orten Rojavas entwickelt worden sind. Anja Ruf 9-2015 | rezensionen service Landraub ist oft hausgemacht Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes schauen sich die Enteignungen von Land in Ostafrika näher an. Sie erklären, wer daran beteiligt ist und warum transparente Vergabeverfahren nötig sind. An Ansoms, Thea Hilhorst (Hg.) Losing your Land Dispossession in the Great Lakes James Currey, Suffolk 2014, 218 Seiten, ca. 28 Euro Großflächige Landenteignungen in Afrika sorgen für Furore. Während manche Befürworter sie als Neuordnung der Besitzverhältnisse und Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung preisen, skandalisieren ihre Gegner die Existenzverluste von Kleinbauern. Vor allem in Nachkriegsländern wird Land privatisiert. Hier haben staatliche Institutionen wenig Durchsetzungskraft oder sie sind parteiisch. Auch lokale Autoritäten tragen aktiv dazu bei. Viele haben in langjährigen Kriegen ihre Glaubwürdigkeit verloren und gewinnen sie nicht zurück, weil sie mit Investoren gute Geschäfte machen – häufig auf Kosten derjenigen, deren Interesse sie eigentlich vertreten sollten. Von diesen Strukturproblemen handelt das vorliegende Buch. Es konzentriert sich auf die Demokratische Republik Kongo, hinzukommen Fallbeispiele aus Uganda, Ruanda und Burundi. Angesichts der anstehenden Wahlen 2016 im Kongo und der gegenwärtigen Unruhen in Burundi haben die Auseinandersetzungen über die kostbare Ressource Land auch eine tagespolitische Bedeutung. Alle Autorinnen und Autoren kommen aus ostafrikanischen Ländern, den Niederlanden und Belgien. Sie ziehen zeitliche Längsschnitte und illustrieren, wie Patronage, Klientelismus und Nepotismus bereits in der Kolonialzeit und unter den nachkolonialen Diktatoren verbreitet waren. Darauf bauen heutige Eliten auf. So wurden unter der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo zwischen 1920 und 1945 zwölf Millionen Hektar Land für die Plantagenwirtschaft enteignet. Die Agrarpolitik der belgischen Kolonialverwaltung schuf beziehungsweise verstärkte ethnische Differenzen, etwa zwischen Hema und Lendu. Letztere galten als kolonialkritische Unruhestifter. Nach der politischen Unabhängigkeit 1960 setzte Präsident Mobutu Sese Seko ethnische Patronage und die Agro-Industrie fort. Er bevorzugte vor allem Hema-Geschäftsleute, die großflächige Landwirtschaft betreiben ließen. Diese jahrzehntelangen Ungleichheiten wirken sich auf die heutigen Konflikte aus, wie verschiedene Autoren an Fallstudien zu Nord- und Süd-Kivu sowie zu Ituri zeigen. So rauben keineswegs nur ausländische Investoren die Identität stiftende Ernährungsbasis der kleinbäuerlichen Bevölkerung, wobei sie korrupte lokale Autoritäten als Partner gewinnen. Konkurrenten auf dem Landmarkt setzen zudem gezielt Milizen ein, um die jeweiligen Gegenspieler zu besiegen. Die kongolesische Regierung und die Provinzverwaltungen gebieten Thilo Thielke Melanie Gärtner TANSANIA – Grenzen am Horizont Reportagen und Reiseberichte aus dem Herzen Ostafrikas Drei Menschen. Drei Geschichten. Drei Wege nach Europa. 184 S., Pb. Großoktav mit vierfarb. Fototeil, € 19,90 ISBN 978-3-95558-110-7 168 S., Pb. mit Fototeil, € 19,90, ISBN 978-3-95558-148-0 Spannende Reportagen und historische Exkursionen in ein Land mit bewegter Vergangenheit. Denn in Tansania trieben sowohl deutsche Kolonialisten als auch brutale Sklavenhändler ihr Unwesen. Doch mit seinen Rohstoffen und einer beeindruckenden Natur birgt Tansania viele Schätze. Heute ist es das beliebteste Reiseziel Ostafrikas. Drei junge Männer aus Afrika und Indien machen sich auf den gefährlichen Weg nach Europa. Doch sie stecken in Ceuta fest, der spanischen Exklave im Norden Marokkos. Die Autorin begleitet sie in ihrem Alltag in Ceuta, begibt sich zu ihren Familien in den Heimatländern und beschreibt die Ungewissheit, als die drei es auf das europäische Festland erreicht haben. Martina Hahn / Frank Herrmann Brigitte Hargasser Fair einkaufen – aber wie? Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Der Ratgeber für Fairen Handel, für Mode, Geld, Reisen, Elektronik und Genuss 5. akt. u. erw. Aufl., 388 S., Pb. Großoktav € 29,90, ISBN 978-3-86099-610-2 »Der exzellente Ratgeber ist eine nützliche Handreichung für den fairnessbewussten, ökosozial orientierten Verbraucher – und die, die es werden wollen.« (Publik Forum) Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe 2. Aufl., 268 S., Pb., € 24,90, ISBN 978-3-95558-072-8 »Es kommen junge Flüchtlinge zu Wort. Die meisten wurden Schleppern anvertraut, weil ihre Eltern Sicherheit für sie wollten. Vorsichtig formulieren sie die Gründe ihrer Flucht: Krieg, Gewalt, Armut und Hunger. Aber auch ihre Wünsche und Hoffnungen benennen sie.« (Publik Forum) Scheidswaldstr. 22 · 60385 Frankfurt am Main · [email protected] · www.brandes-apsel-verlag.de | 9-2015 63 64 service rezensionen diesen Machenschaften kaum Einhalt, obwohl einige Gesetze und Abkommen das verlangen. Auch in Uganda, Ruanda und Burundi entscheiden lokale und nationale Machtkonstellationen über den Landbesitz. Nach dem dortigen Ende der gewaltsamen Konflikte beziehungsweise des Genozids wurden teilweise neue Landrechte erlassen, deren Umsetzung jedoch um- stritten ist. Mancherorts legen in- und ausländische Interessenten die Besitzregeln sehr eigenwillig aus. Die einheimische Bevölkerung wird häufig ausgebeutet oder vertrieben, Konflikte eskalieren. Umso wichtiger sind transparente Vergabeprozesse und Konfliktmediationen. Dazu fordern die Herausgeberinnen in ihrem lesenswerten Buch auf. Rita Schäfer Welt ohne Sinn Der ägyptische Autor Ahmed Khaled Towfik hat einen düsteren und verstörenden, gleichzeitig aber ungemein spannenden Roman vorgelegt: Bleibt nur die Hoffnung, dass seine Vision sich nicht erfüllen wird. Ahmed Khaled Towfik Utopia Roman aus Ägypten Lenos-Verlag, Basel 2015, 188 Seiten, 19,90 Euro Towfik bedient keines der gängigen Klischees über die arabische Literatur. Nichts erinnert an das erzählerische Schwelgen des Literaturnobelpreisträgers Nagib Mahfus und nirgends wird ein Orient beschworen, an dem sich westliche Leser ergötzen könnten. „Utopia“ ist ein erschreckendes Gesellschaftsbild, das die aktuellen Verhältnisse in Ägypten in eine nicht allzu ferne Zukunft verlegt. Die Schere zwischen Arm und Reich ist so weit aufgegangen, dass sich zwei getrennte, extrem polarisierte Völker herausgebildet haben, die keine Mittelschicht mehr verbindet: eine hochexplosive Situation. Der Romantitel ist der Name, den Towfik einer Luxuskolonie irgendwo an der ägyptischen Mittelmeerküste gegeben hat. In „Utopia“ haben sich die Superreichen eingerichtet. Scharfe Kontrollsysteme und ein Heer von Marines halten sie abgeschottet von den Armen, die in dem verelendeten, anarchischen Moloch Kairo leben. In drastischer Manier, teilweise sogar ekelerregend, beschreibt Towfik das sinnentleerte Leben hier wie dort. Die einen sind durch Armut und Hunger zu gefühllosen Tieren geworden. Die anderen ersticken förmlich an den unbegrenzten Möglichkeiten und ertragen die große Langeweile nur noch mit Sex, Drogen und Horrorvideos. Die Jeunesse d’Orée in Utopia hat nur noch einen großen Traum: Einmal einen Menschen aus der Armenkolonie zu jagen, brutal zu töten und dann mit einer Trophäe – etwa einem abgetrennten Arm – nach Utopia zurückzukehren. Dann werden ein junger Mann und seine Freundin auf einer solchen Jagd enttarnt – und es beginnt ein spannungsgeladener Thriller, bei dem nie klar ist, wer hinter wem her ist. Beide „Völker“ sind sich erschreckend ähnlich. Die Reichen „nehmen Drogen, um der Langeweile zu entfliehen. Sie praktizieren die Religion, weil sie fürchten, alles zu verlieren, denn sie wissen nicht, warum und wie sie es verdienen. Wir nehmen Drogen, um die quälende Gegenwart zu vergessen. Wir praktizieren die Religion, weil wir es nicht aushalten, uns für nichts und wieder nichts so zu schinden“, lässt Towfik einen jungen Mann aus der Armenkolonie sagen. Das mag zynisch klingen, angesichts der realen Kluft zwischen Arm und Reich in Ägypten und der gesamten arabischen Welt, lässt sich diese Aussage aber kaum von der Hand weisen. Erstaunlich ist, dass Towfik seinen Roman schon 2009 geschrieben hat, also vor den Umwälzungen, die als Arabischer Frühling bezeichnet werden. Die Hoffnungen der jüngsten Revolutionen sind mittlerweile wieder zerstört und mehr denn je steht die Frage im Raum: Wohin treibt die arabische Welt? Es fällt schwer, der Utopie Towfiks etwas entgegenzusetzen, der eingangs klarstellt, dass die Luxuskolonie und alle beschriebenen Personen rein fiktiv seien, „wenn sich der Autor auch der baldigen Existenz dieses Ortes gewiss ist“. Bleibt zu hoffen, dass „Utopia“ eine Utopie bleibt und nicht irgendwann zur Realität wird. Katja Dorothea Buck kurzrezensionen Ausgewogene Offenheit 42 Prozent der Deutschen schenken laut Studien großen zivilgesellschaftlichen Organisationen kein Vertrauen mehr. Immer mehr Menschen seien „beunruhigt von Vorgängen, die sie ahnen, von denen sie aber nichts oder wenig wissen“, schreibt der Politikwissenschaftler Ruppert Graf Strachwitz zur Einleitung seines Buches. Das gelte sogar für renommierte Hilfsorganisationen wie Unicef. Und es ist besonders fatal, weil die Zivilgesellschaft vom freiwilligen Engagement der Bürger lebt – Vertrauen ist eine Grundvoraussetzung. Die Politik begegne diesem Manko oft mit der einfachen Forderung nach mehr Transparenz, erklärt Strachwitz. Der schließt er sich grundsätzlich an, plädiert aber zugleich für eine differenzierte Auseinandersetzung damit. So müssten die Handlungsfelder der Organisationen berücksichtigt werden. Ein Beispiel: Wenn eine Organisation Proteste gegen den Staat organisiere, sei es zum Schutz vor Repression wichtig, ihre Struktur nicht komplett offenzulegen. Auch hätten in manchen Fällen bestimmte Interessensgruppen wie Mitglieder einen anderen Anspruch auf Transparenz als die breite Öffentlichkeit. Das Buch ist in Teilen etwas sperrig geschrieben – manchmal erschließt sich erst am Ende eines Abschnittes, worauf der Autor hinauswill. Dafür veranschaulicht es die vielfältigen Anforderungen an zivilgesellschaftliche Organisationen und liefert einen Beitrag zur Diskussion, wie weit Transparenz gehen sollte. (me) Ruppert Graf Strachwitz Transparente Zivilgesellschaft? Accountability und Compliance in NonProfit-Organisationen Wochenschau Verlag, Schwalbach 2015, 174 Seiten, 14,80 Euro 9-2015 | termine service termine – veranstaltungen 25. bis 27. September 2015 Das kann ja heiter werden! Entwicklungspolitische Bildung im Geiste des Humors Bildungsstelle Nord von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst Kontakt: Tel. 040-6052559 www.brot-fuer-die-welt.de Berlin 21. bis 22. September 2015 Inklusiv politisch bilden – zusammen politisch gestalten Bundeszentrale für politische Bildung Kontakt: Tel. 0228-99515-200 www.bpb.de Koblenz 15. bis 17. Oktober 2015 Frieden lernen? Perspektiven einer Friedensbildung im 21. Jahrhundert Friedensakademie Rheinland-Pfalz Kontakt: Tel. 0228-2499927 www.uni-koblenz-landau.de Kochel am See 5. bis 9. Oktober 2015 Internationale Konflikte um Wasser Georg-von-Vollmar-Akademie Kontakt: Tel. 08851-780 www.vollmar-akademie.de Königswinter 25. bis 27. September 2015 Frauen im Islam 9. bis 11. Oktober 2015 Tourismus in der Dritten Welt und seine Folgen Beispiel Jamaika und Karibik Stiftung ChristlichSoziale Politik e.V. Kontakt: Tel. 0 22 23 / 730 www.azk-csp.de Münster 18. bis 19. September 2015 Hoffen auf Paris? Chancen und Grenzen internationaler Klimapolitik und die Rolle von Religionsgemeinschaften Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen Kontakt: Tel. 02304-755-332 www.kircheundgesellschaft.de Weingarten 4. bis 9. Oktober 2015 Einwanderung – Flüchtlingsschutz – soziale Rechte Weingartener Herbstwoche zum Migrationsrecht Impressum Redaktion: Bernd Ludermann (bl, verantw.), Tillmann Elliesen (ell), Gesine Kauffmann (gka), Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online) Emil-von-Behring-Straße 3, 60439 Frankfurt/Main; Postfach/POB 50 05 50, 60394 Frankfurt/Main Telefon: 069-580 98 138; Telefax: 069-580 98 162 E-Mail: [email protected] Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart Kontakt: Tel. 0751-5686-0 www.akademie-rs.de Würzburg 5. bis 9. Oktober 2015 Brennpunkt Orient – Krisen mit globalen Auswirkungen? Akademie Frankenwarte Kontakt: Tel. 0931-80-464-0 www.frankenwarte.de Österreich Linz 18. bis 20. September 2015 Messe WearFair & mehr 2015 Verein zur Förderung eines fairen und ökologischen Lebensstils Kontakt: Tel. 0732-772-652-29 www.wearfair.at Bern 11. September 2015 Hunger, Wut & Wandel Empörung als treibende Kraft für gesellschaftliche Veränderung Brot für alle Kontakt: Tel. +41-31-38065-65 www.brotfueralle.ch www.welt-sichten.org Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt/Engagement Global gGmbH. Anzeigenleitung: Yvonne Christoph, m-public Medien Services GmbH, Zimmerstraße 90, 10117 Berlin, Telefon: 030-325321-433, www.m-public.de Grafische Gestaltung: Angelika Fritsch, Silke Jarick Druck: Strube Druck&Medien OHG, Stimmerswiesen 3, 34587 Felsberg Ansprechpartner in Österreich: Gottfried Mernyi, Kindernothilfe Österreich, 1010 Wien, Dorotheergasse 18 Verlegerischer Dienstleister: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH, Frankfurt am Main Herausgeber: Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (VFEP), Hans Spitzeck (Vorsitzender), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, CarolineMichaelis-Straße 1, 10115 Berlin Preis der Einzel-Nr.: 5,50 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten Preis im Jahresabonnement: 49,20 Euro, ermäßigt 36,90 Euro. Preisänderungen vorbehalten. | 9-2015 Freitag, 11. September 16:15-17:00, ARTE Afghanistans verkleidete Mädchen. Die Bacha Posh. „Der Mensch denkt mit den Augen“, so lautet ein afghanisches Sprichwort. Und so werden aus Toheba und ihrer Schwester Rosmana zwei Mädchen „als Junge verkleidet“. Mit dieser Tradition können afghanische Mütter dem Stigma entgehen, keine Söhne geboren zu haben. Schweiz Ständig Mitarbeitende: Kathrin Ammann (kam), Bern; Katja Dorothea Buck (kb), Tübingen; Heimo Claasen (hc), Brüssel; Ralf Leonhard (rld), Wien; Claudia Mende (cm), München; Theodora Peter (tp), Bern; Rebecca Vermot (ver), Bern; Marina Zapf (maz), Berlin Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), Christoffel-Blindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern), Kindernothilfe (Duisburg), Misereor (Aachen) tv-tipps © Katrin Eigendorf Ammersbek ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“ und „eins Entwicklungspolitik“. ISSN 1865-7966 „welt-sichten“ Montag, 28. September 22:50-00:20, ARTE Hannas Garten. Spielfilm von Hadar Friedlich. Die 80-jährige Hanna hat ihr Leben lang im Kibbuz gelebt. Seit sie in Rente und nicht mehr versichert ist, darf sie offiziell nicht mehr für das Kollektiv arbeiten – und fühlt sich nutzlos. Sie beginnt, heimlich nachts zu arbeiten Radio-tipps Montag, 14. September 19:20-20:00, SWR2 Ohne Netz und doppelten Boden: Die mexikanische Journalistin Yohali Reséndiz berichtet über Korruption, Polizeigewalt und Drogenkartelle. Sonntag, 27. September 09:30-10:00, DLF Essay und Diskurs: Warum gehen Amerikas Kriege so häufig schief? Weitere TV- und Hörfunk-Tipps unter www.welt-sichten.org 65 66 service termine termine – kulturtipps Gestalten aus Licht und Schatten Schattenspielfigur aus Java vom Ende des 19. Jahrhunderts. a.dreyer/lindenmuseum Stuttgart Berlin Das Lindenmuseum in Stuttgart widmet der Welt des Schattentheaters eine Ausstellung und legt Düsseldorf dabei besonderes Augenmerk auf regionale Besonderheiten. In Indien, auf Java und in Thailand ist das Schattentheater im Rahmen von Tempelfesten eine zeremonielle Handlung. Es erzählt aber auch große Epen und ist bis heute Teil der kulturellen Identität. In China nimmt es Elemente der chinesischen Oper wie Musik, Kostüme und Masken auf und wird zu einem künstlerischen Gesamterlebnis. Im Orient hingegen diente es vor allem als Spiegel der Gesellschaft und zur Unterhaltung des Publikums. Zu sehen sind Stücke aus der Sammlung des Museums, die bislang nicht öffentlich zugänglich gewesen sind. Dazu zählen Figuren aus China, Südostasien und Friedrichshafen Ägypten, darunter die ältesten bekannten Schattenspielfiguren der islamischen Welt. Mit Musik, Gesang, Bild und Film sollen die alten Erzähltraditionen nachgestellt werden. Darüber hinaus will die Ausstellung die engen Verbindungen der asiatischen und orientalischen Schattentheater-Tradition nach Europa beleuchten. Dafür hat das Internationale Schattentheater Zentrum Schwäbisch Gmünd Leihgaben zur Verfügung gestellt. Stuttgart 3. Oktober 2015 bis 10. April 2016 Linden-Museum Die Welt des Schattentheaters Kontakt: Tel. 0711-2022-3 www.lindenmuseum.de Paderborn 10. bis 20. September 2015 Nuevo Cine Argentino Seite Mitte der 1990er Jahre feiern argentinische Filme Erfolge bei internationalen Festivals und finden ihren Weg in europäische Programmkinos. Das Haus der Kulturen geht der Entwicklung der argentinischen Filmszene nach. Impulsgeber für das erfolgreiche „nuevo cine argentino“ waren IndependentFilmemacher. Sie reflektierten in ihren Low-Budget-Filmen die gesellschaftlichen Umbrüche, die das neoliberale Wirtschaftsprogramm des damaligen Präsidenten Carlos Menem (1989-1999) mit sich brachte. Die Finanzkrise von 2001 und die Auswirkungen der Militärdiktatur sowie persönliche Themen bestimmen die Werke von Filmemachern wie Lucrecia Martel, Pablo Trapero und Albertina Carri. Gemeinsam ist ihnen der experimentelle, dokumentarische Stil. Kurator des Festivals ist der argentinische Filmkritiker und Schriftsteller Alan Pauls. 26. September 2015 bis 24. Januar 2016 The Problem of God Die Kunstsammlung NordrheinWestfalen beleuchtet den Einfluss der christlichen Bildsprache auf Gesellschaft und Kunst. Die Ausstellung zeigt Arbeiten internationaler Künstler, die christliche Themen in neue Zusammenhänge stellen oder kritisch reflektieren: in Installationen, Videos, Fotografien und Bildern. Titelgebend ist eine Installation von Pavel Büchler. Der in Tschechien geborene Künstler verweist mit einem theologischen Buch und einem Vergrößerungsglas, auf dem „invisible“ steht, auf die Unsichtbarkeit Gottes. Die Ausstellung stellt Arbeiten zu Spiritualität und Transzendenz den Werken zu Leid, Schmerz und Fleischlichkeit gegenüber. Mit Kunstschätzen aus den vergangenen Jahrhunderten sollen die Symbole und Themen ergänzt werden, die von den Künstlerinnen und Künstlern aufgegriffen wurden. bis 4. Oktober 2015 Fließende Grenzen Im Bodensee vor Friedrichshafen schwimmt ein kleines Hausboot. Es ist Teil der Kunstaktion „fließende Grenzen“ des deutsch-marokkanischen Künstlerduos Katrin Ströbel und Mohammed Laouli. Sie arbeiten seit zwei Jahren an einem Videoprojekt zum Thema Flucht und Migration, und zeigen ihre bisherigen Ergebnisse derzeit im Zeppelin-Museum Friedrichshafen. Zu sehen und zu hören sind Videoinstallationen, die sich aus Film- und Tonaufnahmen von verschiedenen Begegnungen und Gesprächen mit Menschen vorangegangener Stationen zusammensetzen. Die beiden Künstler laden dazu ein, über Flucht, Vertreibung und Migration zu diskutieren. Sie wählen Museen an Grenzen aus, die per Schiff passiert werden können. Bislang waren sie in Rabat, auf Lanzarote, in Marseille und in Amsterdam zu Gast. Die nächste Station ist Bregenz. bis 13. Dezember 2015 Caritas – Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart Warum setzen sich Menschen für andere ein? Die Ausstellung will zeigen, wie sich Nächstenliebe in Kunst und Kultur in verschiedenen Epochen äußerte. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der christlichen Haltung, der Caritas, die mit Exponaten aus Europa und den USA beleuchtet werden soll. Antike Sarkophage, Wandmalereien aus römischen Katakomben und mittelalterliche Schatzkunst bieten eine kulturhistorische Rückschau. Der Bogen spannt sich dann über Gemälde bedeutender Künstler wie Raffael, Peter Paul Rubens, Eugène Delacroix, Ernst Ludwig Kirchner und Pablo Picasso bis zu Foto- und Videoarbeiten von Vanessa Beecroft und Bill Viola, die mit den Werken der alten Kunst in einen spannungsreichen Dialog treten. Zudem werden Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme in Zeiten wirtschaftlicher Globalisierung beleuchtet. Haus der Kulturen der Welt Kontakt: Tel. 030-397-87-0 www.hkw.de Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Kontakt: Tel. 0211-8381-204 www.kunstsammlung.de Zeppelin Museum Kontakt: Tel. 07541-38010 www.zeppelin-museum.de Diözesanmuseum Paderborn Kontakt: Tel. 05251-125-1400 www.dioezesanmuseum-paderborn.de 9-2015 | Verschenken Sie Es lohnt sich! 8-2015 5,50 € | 7,80 sFr ichten www.welt-s MaGa Unser Dankeschön: AUG UST .org en Glo Ba ziN fÜr selbst Kinder für die Sonne Maulkorb nd und rB eIt: von Wi swahn kIn dera Ie: Siegeszug Wachstum en erG ßelt den gei st : Der Pap ZY klIka iCK lE EN tW 5,50 € | 7,80 sFr UM UN D ÖK lUN G EN iSCHE zU SaM www.welt-sichten MENa rBE .org it 9-2015 septe Ägy pten Mag azin mber Weltba nk: Ohne Rück sicht auf Men sch und Umw Flüchtl elt und Dschihad inge: In den Fängen der Mafia isten machen gemeinsame Sache : Diktatoren für glo bale ent wicklun g und öku Men isch e zus aMM ena rbei t T IE KR A hl ere Wa die bess DEMO sachlich kritisch gründlich 1509_umsc . Sie machen mit einem -Abonnement jemandem eine Freude – wir bedanken uns dafür mit einem Buch. Sie haben die Wahl: Lesen Sie den preisgekrönten Roman „Hinter dem Paradies“ aus Ägypten oder den Geschichtenzyklus „Das schlafwandelnde Land“ aus Mosambik, in dem sich ein Junge und ein alter Mann in einem ausgebrannten Autobus aus ihrem Leben erzählen. entwicklun g – wohin ? hlag.indd 1 21.08.2015 11:35:07 Sie schenken Denkanstöße: analysiert, hinterfragt, erklärt und macht neugierig. Die Zeitschrift bietet Reportagen, Interviews und Berichte über die Länder des Südens und globale Fragen. Jeden Monat direkt ins Haus. Im nächsten Heft Gesundheitspersonal Deutschland braucht Fachkräfte und wirbt gezielt Krankenschwestern und Ärzte aus ärmeren Ländern an. Welche Ansätze werden verfolgt und welche Folgen hat das für die Herkunftsländer? In El Salvador fehlt Personal vor allem in der Psychiatrie. Was wird dagegen getan? Und welche Rolle spielen lokale Gesundheitshelfer bei der Versorgung in Bangladesch? Burkina Faso Mia Couto Das schlafwandelnde Land Unionsverlag, 2014 239 Seiten Mansura Eseddin Hinter dem Paradies Unionsverlag, 2014 185 Seiten Mit vielfältigen Methoden versuchen Regierung und Hilfsorganisationen in dem Sahelstaat, den Hunger zu bekämpfen. Warum lässt er sich nicht besiegen? Ihre Bestellmöglichkeiten: Ich bezahle das Geschenkabonnement. Telefon: 069/58098-138 Fax: 069/58098-162 E-Mail: [email protected] Post: Einfach den Coupon ausfüllen und abschicken an: Redaktion „welt-sichten“ Postfach 50 05 50 60394 Frankfurt/Main Ausgabe 11-2015 Bitte schicken Sie die Zeitschrift an: Name, Vorname StraSSe, Hausnummer Postleitzahl, Ort „Das schlafwandelnde Land“ von Mia Couto „Hinter dem Paradies“ von Mansura Eseddin An diese Adresse erhalte ich meine Buchprämie und die Rechnung: Name, Vorname Ja, ich verschenke ein Jahresabonnement von (12 Ausgaben). Es beginnt mit Ausgabe 10-2015 Es kostet 49,20 Euro inklusive Porto in Deutschland, 62,40 Euro in Europa. Das Geschenkabonnement läuft ein Jahr und verlängert sich nicht automatisch. Als Dankeschön erhalte ich, sobald das Abonnement bezahlt ist: StraSSe, Hausnummer Ausgabe ___-2015 Postleitzahl, Ort Datum, Unterschrift Sie möchten lieber online bestellen oder per Bankeinzug zahlen? Auf unserer Website www.welt-sichten.org können Sie unter „Abonnement“ ein Abo verschenken. Dort finden Sie ein Formular für ein SepaMandat, mit dem Sie bequem per Bankeinzug bezahlen können. Anzeige Damit allen Schweizer Konzernen ein Licht aufgeht. Globale Geschäfte, globale Verantwortung. Jetzt Konzernverantwortungs-Initiative unterschreiben. www.sehen-und-handeln.ch/konzernverantworung
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