Guatemala im Aufbruch

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Guatelama
Guatemala im Aufbruch
Guatemala befindet sich im Aufruhr. Seit April dieses Jahres hat sich eine Protestbewegung gebildet, die zum
Ersten Mal in der Geschichte des Landes neben indigenen und Bauernorganisationen auch die städtische
Mittelschicht und Studenten vereint. Vergleiche mit der spanischen Protestbewegung der indignados drängen
sich auf, und einige Beobachter sprechen in Anlehnung an die Revolutionen in der arabischen Welt bereits von
einem „zentralamerikanischen Frühling“.
auch den persönlichen Sekretär der
Vize-Präsidentin - eingeleitet. Am 21.
August schliesslich musste Baldetti in
Untersuchungshaft.
Nach den La Linea-Enthüllungen
deckte die CICIG am 20. Mai einen
weiteren Korruptionsskandal auf, in
welchen die nationale Kranken- und
Sozialkasse (IGSS) sowie das Gesundheitsministerium verwickelt sind. Mittlerweile wurden sowohl der Direktor
der Kranken- und Sozialkasse, als auch
sein Vorgänger verhaftet. Bereits im Juli
erschütterte dann der nächste Skandal
das Land, nachdem CICIG-Recherchen
ergeben hatten, dass der Wahlkampf
zur Hälfte aus illegal abgezweigten
Steuergeldern und zu je einem Viertel
aus Drogengeldern und Spenden von
Firmen, welche im Gegenzug Regie-
Seit die UN-Kommission gegen
Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) am
16. April mit den Enthüllungen eines
Korruptionsskandals innerhalb der
nationalen Zollbehörde an die Öffentlichkeit trat, in welchen neben Armee
und hohen Beamten des Staatsapparats
auch Regierungsmitglieder - bis hin
zum Expräsidenten selbst - verwickelt
zu sein scheinen, gehen die Menschen
wöchentlich zu Zehntausenden auf die
Strassen um gegen Korruption und
Machtmissbrauch zu protestieren. Dabei
beschränken sich die Proteste nicht
nur auf die Hauptstadt, sondern haben
längst auch andere Städte und Regionen
des Landes erreicht. Sogar der CACIF,
Guatemalas traditionell den konservativen Machteliten des Landes nahestehender Unternehmerverband, schloss
sich im August den Forderungen nach
einem Rücktritt des Präsidenten Pérez
Molina an.
rungsaufträge erhalten, finanziert wird.
Ihren
vorläufigen
Höhepunkt
erreichten die historischen Umwälzungen Anfang September: Nachdem
das Parlament am 1. September
einstimmig und zum ersten Mal in seiner
Geschichte die Immunität eines amtierenden Staatspräsidenten aufhob um so
den Weg für förmliche Ermittlungen der
CICIG und der Staatsanwaltschaft gegen
Präsident Pérez Molina freizumachen,
erklärte dieser am 2. September seinen
Rücktritt. Nur Stunden später wurde
er mit einem Ausreiseverbot belegt,
verhaftet und kam in Untersuchungshaft. Die Erhebung der Anklage gegen
den 64-jährigen früheren General und
Geheimdienstchef wegen der Bildung
einer kriminellen Vereinigung, Betrugs
und Bestechlichkeit ist ein bisher einma-
Die breite Protestbewegung und
der mittlerweile als La Línea (die Telefonhotline, in Anlehnung an die durch
abgehörte Gespräche offengelegte Telefonleitung vom Zoll ins Präsidialamt)
weit über die Landesgrenzen hinaus
bekannt gewordene Korruptionsskandal,
haben zu bisher nicht für möglich gehaltenen politischen Umwälzungen in dem
zentralamerikanischen Land geführt.
Neben mehreren Ministern, darunter
auch Innenminister Mauricio López
Bonilla, erklärte am 8. Mai auch VizePräsidentin Roxana Baldetti ihren Rücktritt. Zuvor hatte die CICIG Untersuchungen gegen 24 Personen - darunter
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Photo: H. Vargas
Korruption und Untersuchungshaft
Regelmässige Massenproteste gegen Korruption und Amtsmissbrauch
BP 290 - octobre 2015
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liger Vorgang in der Geschichte des
Landes. Zwischen Mai 2014 und April
2015 soll Pérez Molina umgerechnet 3,3
Millionen Euro an Bestechungsgeldern
eingestrichen haben. Zudem dürften
nun auch Klagen wegen während des
Bürgerkrieges (1960-1996) begangener
Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf
ihn zukommen. Alejandro Maldonado
Aguirre, Nachfolger der zurückgetreten
Roxana Baldetti, übernahm daraufhin
verfassungsgemäss die Amtsgeschäfte
bis Januar, wenn der neugewählte Präsident sein Amt antreten wird.
Gegenteiligen Befürchtungen zum
Trotz verliefen die Präsidentschafts-,
Parlaments- und Kommunalwahlen vom
6. September ohne grössere Zwischenfälle. Jimmy Morales, ein 46-jähriger
Fernsehkomiker, Schauspieler und absoluter Politikneuling, der mit dem Versprechen der Korruptionsbekämpfung für die
Front der nationalen Annäherung (FCN)
angetreten war, ging als Überraschungssieger aus den Wahlen hervor. Die Partei
von Pérez Molina, der Partido Patriotica
(PP), fiel auf den siebten Platz zurück.
Auf den zweiten Platz kam Sandra Torres,
Präsidentschaftskandidatin der sozialdemokratischen UNE-Partei (Einheit
der Hoffnung) und ehemalige First
Lady während der Regierungszeit des
bisher einzigen sozialdemokratischen
Präsidenten Guatemalas (Álvaro Colom;
2008-2012). Manuel Antonio Baldizón
Méndez von der Partei für Freiheit und
demokratische Erneuerung (Líder), ein
im Norden des Landes reich gewordener
Anwalt und Geschäftsmann, dem Verbindungen zu den lokalen Drogenkartellen
nachgesagt werden und der lange Zeit die
Umfragen anführte, kam knapp dahinter
auf den dritten Platz. Nachdem Dieser am
14. September seinen Verzicht erklärte,
wird sich die am 25. Oktober stattfindende Stichwahl zur Präsidentschaft
zwischen Jimmy Morales und Sandra
Torres entscheiden. Während des ersten
Wahlgangs war die Wahlbeteiligung mit
rund 78% der mehr als 7,5 Millionen
Wahlberechtigten unerwartet hoch,
wenngleich knapp 4% der Stimmberech-
BP 290 - octobre 2015
Zoom
Vorwürfe des Völkermordes und der Folter
Der 36-jährige guatemaltekische Bürgerkrieg endete im Dezember 1996 mit der
Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen rechtsgerichteter Regierung und den
Rebellen der URNG. Schätzungen zufolge forderte der Bürgerkrieg in Guatemala mindestens 200.000 Menschenleben, von denen 83 Prozent dem Volk der Maya angehörten.
Zudem flohen rund 1,7 Millionen Menschen vor Gewalt und Unterdrückung.
Basierend auf Ergebnissen des US-amerikanischen National Security Archive wurde
Pérez Molina bereits 2011 vorgeworfen in den 1980er Jahren unter dem Diktator Efraín
Ríos Montt für eine Politik der verbrannten Erde verantwortlich gewesen zu sein. Pérez
kommandierte Aufstandsbekämpfungskräfte, die 1982 und 1983 in den Gebieten der
indigenen Ixil wüteten und 80 bis 90 % ihrer Dörfer vernichtet haben sollen. Mindestens
184 Zivilisten wurden dabei getötet oder verschwanden.
Im Juli 2011 richtete die indigene Interessenvertretung Waqib Kej einen Brief an die UNO,
in dem sie Pérez Molina des Völkermordes und der Folter während des guatemaltekischen Bürgerkrieges beschuldigte. Unter den vorgelegten Beweisstücken ist u.a. auch ein
Video, auf dem ein Offizier neben vier Leichen zu sehen ist. Die Organisation behauptet,
dass es sich dabei um Pérez Molina handele. Dieser widersprach den Anschuldigungen
und sagte, er sei stolz auf seine Rolle im Bürgerkrieg.
tigten ungültig wählten (voto nulo) und
etwa 4,5% einen weissen Stimmzettel
(voto blanco) abgaben. Gleichzeitig geht
die politische Krise jedoch weiter, gegen
mehrere Kandidaten wird derzeit ermittelt.
Obwohl viele Beobachter den Rücktritt und die Inhaftierung von Pérez
Molina begrüssten und als einen wichtigen Schritt Richtung Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit feierten, bleibt
Guatemalas Zukunft weiterhin ungewiss. Der 79-jährige Übergangspräsident
Maldonado, der noch bis vergangenen
Mai Verfassungsrichter war bevor er die
Nachfolge der zurückgetretenen Vizepräsidentin Baldetti antrat, gehörte während
des Bürgerkriegs dem ultrarechten
Spektrum an und diente mehreren Militärregierungen als Botschafter. In seine
Zeit am Verfassungsgericht fällt nicht
nur die umstrittene Entscheidung, die
Auslieferung des ehemaligen Diktators
Efraín Ríos Montt nach Spanien zu
verhindern, sondern er war auch einer
der drei Verfassungsrichter, die 2013
das historische Urteil gegen Ríos Montt
wegen Formfehlern annullierten.
Jimmy Morales oder Sandra
Torres?
Jimmy Morales, dem Wahlgewinner
vom 6. September, wird vorgeworfen
die Interessen ultrakonservativer Kreise
innerhalb des Militärs sowie der reaktionären, rassistischen und homophoben
Geschäftselite des Landes zu vertreten.
Seine Partei, die 2008 gegründete Front
der nationalen Annäherung (FCNNación), wurde von ehemaligen Militärs
gegründet, denen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit während des Bürgerkrieges vorgeworfen werden und die
sich seit dem Völkermordprozess gegen
den Ex-General Ríoss Montt vorwiegend mit Äusserungen gegen die indigene Bevölkerung hervorgetan haben
und
Menschenrechtsorganisationen
pauschal des Terrorismus beschuldigen.
Ein Sozialprogramm um die Armut zu
bekämpfen, die Bildung zu fördern, das
Gesundheitswesen auszubauen und so
die in Guatemala herrschende eklatante
Ungleichheit zu überwinden, konnte
Morales bislang nicht vorlegen. Da seine
Partei auf dem Land wenig verankert
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und im Kongress nur mit 8 der 158
Abgeordneten vertreten ist, müsste
er bei einem Sieg im zweiten Wahlgang wohl eine Koalition mit PP und
Líder eingehen; den beiden Parteien
also, gegen die sich des Volkes Zorn
vorrangig richtet.
Zumindest politische Erfahrung
vorweisen kann Sandra Torres, war
sie es doch, die die Sozialprogramme
unter der Regierung Álvaro Colom
aufgelegt hat. Allerdings hat sie neben
dem Unternehmerverband auch weite
Teile der hauptstädtischen Eliten
gegen sich und manche Beobachter
vermuten, dass die CICIG auch bereits
gegen Torres ermittelt. Ihrer Schwester wurde bereits 2011 Veruntreuung
kommunaler Gelder vorgeworfen und
ihre Nichte wurde am vergangenen 1.
September verhaftet.
Weitreichende Forderungen vom
CUC
Es darf daher nicht verwundern,
dass weite Teile der guatemaltekischen
Gesellschaft sich keineswegs mit dem
bisher Erreichten zufrieden geben
wollen, sondern tiefgreifende Staatsund Strukturreformen verlangen. Die
Liste der Forderungen der Zivilgesellschaft - u.a. dem Comité de Unidad
Campesina (CUC), eine langjährige
Partnerorganisation der ASTM und
einer der Protagonisten der friedlichen
Proteste der vergangenen Monate - ist
lang und reicht von der Entkriminalisierung der sozialen Proteste, einer
„Entmilitarisierung“ des Kabinetts
und einer „Reinigung“ der Exekutive, Legislative und Judikative von
korrupten Beamten und Militärs, über
eine Reform des Wahl- und Parteiengesetzes, des Justizsystems, partizipativen Entscheidungs- und Kontrollmechanismen, bis hin zum Rücktritt
von Übergangspräsident Maldonado
und seinem Kabinett, um so den Weg
für die Einberufung einer nationalen
verfassungsgebenden
Versammlung
freizumachen. Zudem fordern die
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Menschen weitere Untersuchungen
innerhalb der Staatsanwaltschaft, den
Ministerien und öffentlichen Behörden
sowie die Offenlegung der in den La
Línea-Skandal verwickelten Firmen.
Weitere Forderungen betreffen die
Ausarbeitung einer neuen Verfassung,
welche die Rechte der indigenen Völker
anerkennt und respektiert, sowie die
Freilassung politischer Häftlinge.
Die Ereignisse seit April in Guatemala sind in der Tat als historisch zu
bezeichnen und das aus ihnen hervorgegangene, breite zivilgesellschaftliche
Bündnis, kann man nur begrüssen.
Nichtsdestotrotz handelt es sich
hierbei um eine um ein primäres Ziel
– den Rücktritt von Otto Pérez Molina
– vereinte heterogene Bewegung
ohne einheitliche Forderungen und
charismatische Führungsfigur. Durch
die kürzlich beschlossene zweijährige
Verlängerung des CICIG-Mandats
bis September 2017 kann sie jedoch
zumindest vorübergehend auf einen
starken Verbündeten zählen: Mit „Ivan,
Freund, das Volk ist mit dir“-Sprüchen
feierte die Bevölkerung Ivan Velásquez,
den kolumbianischen Vorsitzenden
der CICIG. Die von seiner Kommission gesammelten Beweise sind so
zahlreich, dass das gesamte guatemaltekische Establishment sich vor
weiteren Enthüllungen fürchtet und
Einige, wie z.B. Präsidentschaftskandidat Baldizón, bereits seinen Rücktritt
und die Auflösung der CICIG forderten.
„Ivan den Schrecklichen“ nennt ihn
das Establishment.
Gleichwohl die Verlängerung des
CICIG-Mandats ein positives Signal
darstellt, so ist doch die Aufdeckung
einzelner Skandale an sich ungenügend. Die im Friedensvertrag von 1996
enthaltenen Vorschläge zur Reform
des Wahlrechts und der Justiz müssen
endlich umgesetzt werden. Guatemala
braucht tiefgreifende Strukturreformen
um der weitverbreiteten Gewalt, grassierenden Korruption, Straffreiheit
sowie den Seilschaften zwischen
Armee, Politik, Unternehmertum und
Justiz Herr zu werden. Zudem bedarf
es einer längst überfälligen Agrarund Landreform, um der extremen
Ungleichheit in Guatemala entgegenzuwirken - mehr als die Hälfte der rund
16 Millionen Guatemalteken leiden
unter Armut.
Beginn eines zentralamerikanischen Frühlings?
Man kann die politischen Erschütterungen in Guatemala auch als Teil
einer breiteren Bewegung in Lateinamerika sehen; dem Aufkommen
einer neuen, gut ausgebildeten und
selbstbewussten Mittelschicht, welche
mit Vehemenz Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Miss- und
Vetternwirtschaft anprangert und ihr
legitimes Mitspracherecht, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einfordert. Die Unzufriedenheit mit weiten
Teilen der politischen Entscheidungsträger führte so nach den massiven
Protesten in Venezuela, Brasilien,
Chile, Bolivien, Peru und Ecuador
auch zu dem Erwachen einer neuen
Protestbewegung in Zentralamerika.
Nach den Ereignissen des vergangenen
Jahres in Mexiko und Guatemala
schwappt die Welle der Empörung
nunmehr auch auf die Nachbarländer
El Salvador und Honduras über. Vor
allem im von Gewalt, Drogenhandel
und
Korruption
heimgesuchten
Honduras werden die Forderungen
nach einer CICIH – einer honduranischen Version des CICIG – immer
lauter. Sollten die Umwälzungen
in Guatemala also tatsächlich den
Beginn eines zentralamerikanischen
Frühlings eingeläutet haben?
Name des Autors ist der Redaktion
bekannt.
BP 290 - octobre 2015