Jürgen D. Kruse-Jarres Heinrich Kruse – Journalist und Schriftsteller Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf Archiv · Bibliothek · Museum Herausgegeben von Joseph A. Kruse Band 11 Jürgen D. Kruse-Jarres Heinrich Kruse Journalist und Schriftsteller Ein Kämpfer für den Liberalismus im 19. Jahrhundert Grupello Verlag Das Auge liest mit – schöne Bücher für kluge Leser www.grupello.de Jürgen D. Kruse-Jarres, Jahrgang 1937, Urenkel von Heinrich Kruse, wuchs in Duisburg auf. Er studierte Medizin, promovierte, habilitierte auf dem Gebiet der Klinischen Biochemie und war beruflich auf dem Gebiet der Laboratoriumsmedizin in Mannheim, Freiburg und Stuttgart tätig, zuletzt 22 Jahre lang als Ärztlicher Direktor am Katharinenhospital in Stuttgart. 2002 wurde er pensioniert und widmet sich nach mehr als 150 wissenschaftlichen Publikationen und Buchveröffentlichungen während seiner beruflichen Tätigkeit nun vorwiegend der Familiengeschichte und der privaten Schriftstellerei. Verlag und Autor danken dem Landschaftsverband Rheinland für die freundliche Unterstützung. 1. Auflage 2008 © by Grupello Verlag Schwerinstr. 55 · 40476 Düsseldorf Tel.: 0211–498 10 10 · Fax: 0211–498 01 83 Druck: Müller-Satz, Grevenbroich Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89978-089-5 Inhalt Vorwort 1. Historischer Hintergrund (1616 – 1815) Folgen des Dreißigjährigen Kriegs für Pommern Wurzeln in Alt-Strelitz 2. Vorfahren und Vaterstadt (1787 – 1833) Die Eltern in Stralsund Jugend in Stralsund 3. Lehr- und Wanderjahre (1833 – 1847) Studium in Bonn und Berlin Bildungsreise durch Nordosteuropa Promotion und Probelehrer in Stralsund Lehrer und Erzieher in England Oberlehrer in Minden 4. Journalist und Redakteur 4.1 Erste Schritte als Journalist (1847 – 1849) Restauration und Vormärz Das Zeitungswesen im preußischen Rheinland Die Kölnische Zeitung Redakteur in Augsburg und Köln Schriftleitung der Neuen Berliner Zeitung Chefredakteur der Deutschen Zeitung 4.2 Karriere in schwieriger Zeit (1850 – 1855) Preußens Pressezensur Redakteur der Kölnischen Zeitung Der »englische Artikel« Skepsis gegenüber Österreich Verfechter einer westlichen Bündnispolitik Gedankenaustausch mit dem Vater 4.3 Chefredakteur in Köln (1855 – 1872) Übernahme von Verantwortung Die »Neue Ära« Preußens Beginn der Ära Bismarck Bismarcks Preßordonnanz Veränderungen in der Kölner Redaktion 4.4 Umschwung und Wandel (1870 – 1884) Zweifel an der Politik Bismarcks Fortschritt trotz bleibender Skepsis Wechsel von Köln nach Berlin 7 15 17 21 27 31 33 35 35 39 45 47 50 54 56 58 65 67 71 77 80 86 93 98 102 105 108 115 119 122 5. Dichter und Schriftsteller 5.1 Frühe Dichtungen und spätere Bearbeitungen Die frühen lyrischen Werke Herausgabe früherer Werke Seegeschichten I (Kleine Dichtungen, 1879) Fastnachtsspiele (1887) Seegeschichten II (Zweite Sammlung kleiner Dichtungen, 1889) Die kleine Odyssee (Eine Seegeschichte in sieben Kapiteln, 1892) Sieben kleine Dramen 5.2 Wachsende Anerkennung (1868 – 1876) Dramen der mittleren Periode Die Gräfin (1868) Wullenwever (1870) König Erich XIV. von Schweden (1871) Moritz von Sachsen (1872) Brutus (1874) Marino Faliero (1876) 5.3 Epiker oder Dramatiker? (1877 – 1882) Heinrich Kruse, der Buchautor Das Mädchen von Byzanz (1877) Rosamunde (1878) Der Verbannte (1879) Raven Barnekow (1880) Witzlav von Rügen (1881) Alexei (1882) 5.4 Alterswerke (1884 – 1902) Atempause Die späten Werke Arabella Stuart (1888) Hans Waldmann (1890) Nero (1895) König Heinrich der Siebente (1898) 6. Lebensabend (1884 – 1902) Der Umzug von Berlin nach Bückeburg Epilog 131 132 133 134 136 139 141 145 146 146 150 153 155 156 160 167 172 175 178 180 183 185 189 190 191 193 195 196 199 201 Kurzbiographien 205 Bibliographie 212 Vorwort D ie Biographie eines Mannes wie Heinrich Kruse bedarf einer kurzen Beleuchtung des Hintergrundes, um die Charaktereigenschaften dieser außerordentlichen Persönlichkeit richtig einordnen zu können. Die Besonderheiten des aufkeimenden Liberalismus nach Zeiten des Absolutismus in Zentraleuropa und nach den Auswirkungen der Aufklärung kennzeichnen die Zeit der Lehr- und Wanderjahre Heinrich Kruses und seine geradezu schwärmerische Sympathie für die idealistischen Vorstellungen individueller Freiheit und nationaler Einheit nach dem Vorbild Ernst Moritz Arndts. Kruses Meisterjahre fallen dann in die Zeit nach dem Illusionsverlust der Liberalen durch die gescheiterte Revolution von 1848/49. Hernach entwickelten sich divergierende Richtungen des deutschen Liberalismus, die sich in der Person Heinrich Kruses nahezu exemplarisch widerspiegeln. Die Frage stellt sich, ob die Haltung der Liberalen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts auf Bismarcks autoritäre Politik entscheidenden Einfluß gehabt hat. »War in einem liberalen Denken und Fühlen, in der Staatsund Lebensauffassung des deutschen Liberalismus' bereits die innere Bejahung der deutschen Reichsgründung unter Bismarck vorbereitet?« Diese Frage warf Walter Bussmann in einem Vortrag zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert auf.1 Daraus könnte man zwangsläufig die weitergehende Frage ableiten, ob denn Alternativen zur Genese der Reichsgründung ohne Beteiligung der Liberalen denkbar gewesen wären. Dies soll jedoch in der vorliegenden Biographie nicht erörtert werden. Vielmehr stellt sich die entscheidende Frage nach den Gründen für einen offensichtlichen Sinneswandel der Liberalen nach der Revolution von 1848/49, wodurch die Reichsgründung 1871 überhaupt erst möglich wurde. Die Liberalen waren schließlich die stärkste parlamentarische Fraktion und kämpften teilweise ungestüm gegen die autoritäre Monarchie Preußens, deren politische Führung und jede Art territorialer Expansion; und dennoch entstand gerade aus jener, von den Liberalen über lange Zeit so vehement attackierten Führung Bismarcks durch geschickte Diplomatie und zielbewußte Kriegsführung das 2. Deutsche Reich. Es muß somit dem Werdegang der deutschen liberalen Bewegung zwischen 1849 und 1871 7 eine erhebliche, ja entscheidende Bedeutung zukommen. Was geschah mit dem deutschen Liberalismus in dieser Zeit? Zunächst war der schwerwiegende Mißerfolg der Liberalen in der bürgerlichen Revolution von 1848/49 insofern von nachhaltiger Bedeutung, als ihr im Vormärz überschwenglich zur Schau gestelltes Selbstvertrauen nach dem Scheitern der Nationalversammlung (Paulskirchen-Parlament) infolge der Rangeleien zwischen den groß- und kleindeutschen Staaten einen enormen Dämpfer bekam. Zudem schmolzen wegen des Zauderns Friedrich Wilhelms IV. und der anschließenden 27jährigen Regentschaft seines Bruders Wilhelms I. allmählich alle Hoffnungen auf eine baldige Machtübernahme durch dessen liberal gesinnten Sohn Friedrich Wilhelm dahin. Der Zeitpunkt einer von den Liberalen erhofften Wende wäre allerdings mit dem Jahr 1888 auch viel zu spät gekommen, da der Verfassungsund Militärstaat Preußen inzwischen auf der Basis einer konsequent konservativ durchstrukturierten Verwaltung viel zu widerstandsfähig war, als daß der inzwischen todkranke Kronprinz in der extrem kurzen Zeit seiner neunundneunzigtägigen Regentschaft noch hätte entscheidende Weichen stellen können. Als Folge des kläglichen Scheiterns der Revolution und des ernüchternden Zuwartens auf eine politische Wende entwickelten sich beim deutschen Liberalismus in der 22jährigen Periode zwischen der Revolution und der Reichsgründung gravierende Besonderheiten und Tendenzen, wie sie bei späteren Werdegängen der Parteien kaum mehr von vergleichbarer Bedeutung zu beobachten waren. Zwei wesentliche Merkmale kennzeichneten den Liberalismus in jener kritischen Zeit: einerseits die unheilvolle Abspaltung der Nationalliberalen von der bisher im Parlament mehrheitlich vertretenen liberalen Fortschrittspartei; und andererseits die weitgehend widerspruchslose Billigung vieler Liberaler, ideologische Zukunftsträume sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art allmählich durch vorwiegend wirtschaftsorientierte Ziele so zu durchmischen, daß die ideellen Ziele nur noch schwer erkennbar waren.2 Zunächst löste sich – wenn auch nur zögerlich und schrittweise – das vermögende Bürgertum von den tugendhaften liberalen Idealen. Dies war die eigentliche »Tragödie des deutschen Liberalismus«.3 Noch am Vorabend der Revolution hatte sich das geschlossene Bild einer nach außen und innen deutlich gefestigten Einigkeit gezeigt, das sich in einem starken Gefühl eines ehernen Bündnisses gegenüber der autoritären Obrigkeit und in dem gemeinsamen Wunsche nach individueller Freiheit in einem geeinten Vaterland äußerte. Hernach aber entwickelten sich nicht nur im Rheinland divergente, ja sogar konkurrierende Definitionen von Freiheit und Einheit, die zu sehr widersprüchlichen Äußerungen und Programmen über deren Priorität führten.4 8 Heinrich Kruse Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten hielt die Liberalen aber immer noch die Klammer des gemeinsamen Vertrauens in die Reformfähigkeit der preußischen Monarchie zusammen. Den Grund dafür lieferten zwei sehr unterschiedliche Aspekte: einerseits das Bewußtsein einer vorbildlichen Aufgeschlossenheit Preußens gegenüber dem spektakulär wachsenden technischen Fortschritt; und andererseits die überzeugende Maxime eines ihrer prominentesten Vertreter, Georg Gottfried Gervinus: »Freiheit ohne Macht ist nicht möglich! Es muß uns um Erwerb von Macht ebenso zu tun sein, wie um den Besitz der Freiheit.«5 In dieser Hinsicht stritten die Liberalen zwar mit verschiedenen Argumenten engagiert für ihre Ideale freiheitlich orientierter Reformen; doch gleichzeitig sprachen sie sich einheitlich für Preußen und das Leitbild einer konstitutionellen Monarchie aus, die sie trotz aller Kritik am bestehenden absolutistischen System als die beste aller Regierungsformen befürworteten. Gleichzeitig bildete sich unter dieser Konstellation äußerlicher Einigkeit und interner Zerstrittenheit in den eigenen Reihen eine deutliche Polarität zwischen einem liberalen Bildungsbürgertum und einem liberalen Besitzbürgertum heraus. Diese Entwicklung legte einen irreparablen Bruch innerhalb der einst so homogenen und bislang organisch gewachsenen Gemeinschaft der Liberalen offen. Es entwickelte sich allmählich eine eklatante Diskrepanz zwischen den beiden Richtungen: Während die Verfechter des Bildungsbürgertums, die sog. Bewahrer der Bildung und der »idealen Habe unseres Volkes«6 (u. a. Gustav Freytag), ihre Ideale geradezu fanatisch vertraten, standen sie dem profitorientierten, wirtschaftlich denkenden Unternehmertum verständnislos, ja rivalisierend gegenüber. Das Bildungsbürgertum verlor zunehmend den Rückhalt bei den großbürgerlichen Unternehmern. Diese verhielten sich politisch, insbesondere parteipolitisch weitgehend zurückhaltend, da sich die Wirtschaftspolitik Preußens zu ihren Gunsten entwickelte, sich zunehmend unternehmerfreundlich zeigte und damit den Bedürfnissen einer zeitgemäß ungestümen Industrieentwicklung weitgehend entgegenkam. Auch die Spaltung zwischen den politisch gemäßigten, den Staat bejahenden Bürgern und radikal-demokratisch denkenden Personen (z. B. Karl Marx) wurde immer offensichtlicher. Der deutsche Liberalismus jener Tage war somit gekennzeichnet durch die Abwendung vieler Mitglieder, egal welcher Gruppierung, weg von den ursprünglich idealistischen Inhalten liberaler Parolen hin zu einem wirtschaftlich und sozial begründeten Realismus, dem Preußen vergleichsweise durch seine ökonomischen Impulse vielversprechende Perspektiven zu bieten hatte. Bewußt eingefädelt oder unwillkürlich sich entwickelnd profitierte von dieser Entwicklung ganz besonders die Bismarcksche Politik. Die Sicherung materieller Interessen in einer geradezu explodierenden Entwicklung 10 der deutschen Industrie kam seiner Machtpolitik sehr entgegen. Das Vertrauen der Liberalen in die Fortschrittsbereitschaft Preußens und deren Eifer bei der Durchsetzung ihrer ursprünglichen Idealvorstellungen konnte Bismarcks Realpolitik nur sehr willkommen sein. So wundert es nicht, daß spätestens Ende der 60er Jahre das Interesse sehr vieler Liberaler an der preußischen Expansions- und Arrondierungspolitik stärker ausgeprägt war als ihre zuvor noch so leidenschaftlich vertretenen Forderungen nach individueller Freiheit. Dennoch blieb bei allen Liberalen, auch bei den seit 1861 abgespaltenen Nationalliberalen, die unerschütterliche Zuversicht in die Durchsetzbarkeit ihrer liberalen Gedanken in einem fortschrittlichen und reformwilligen Staatswesen ungebrochen. Es bestand ja schließlich damals immer noch die begründete Aussicht auf einen Thronwechsel und damit auf eine politische Neugestaltung unter liberalen Vorzeichen. Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Biographie die Aufmerksamkeit des Lesers auf Heinrich Kruse lenken, einen Journalisten und Schriftsteller, dessen wesentliches Wirken in die ereignisreichen Jahre zwischen dem Vormärz und der Erneuerung des Deutschen Reichs unter Bismarck fiel. Kruse stand über drei Jahrzehnte als verantwortlicher Redakteur einer der bedeutendsten deutschen Tageszeitungen, der Kölnischen Zeitung, bis zu seiner Pensionierung 1884 im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Er ist insofern ein authentischer Zeitzeuge jener Epochen, die von der Restauration und dem Vormärz über die Revolution, die »Neue Ära« und den Verfassungskonflikt bis hin zur Reichsgründung und seine Folgen führt. Daß diese Person der Urgroßvater des Autors war, steigert einerseits das Engagement des Biographen, birgt jedoch unwillkürlich die Gefahr fehlender Objektivität und Kritikfähigkeit in sich. Daher wurde in der vorliegenden Biographie sehr viel Wert auf zeitgenössische Beurteilungen und Zitate im Originaltext gelegt, wobei natürlich nicht verhindert werden kann, daß schon alleine die Auswahl solcher Zitate die Gefahr der Subjektivität in sich birgt. Eine Biographie Heinrich Kruses unterliegt zwangsweise einer gewissen Zweiteilung, die einerseits durch seine journalistische und andererseits durch seine schriftstellerische Tätigkeit bedingt ist. Beide laufen weitgehend nebeneinander her. Dennoch erscheint dem Autor eine getrennte Darstellung der beiden Tätigkeiten der Übersicht und besseren Lesbarkeit wegen sinnvoll. Von eindeutig größerer öffentlicher Wirkung war seine Betätigung als verantwortlicher Schriftleiter der Kölnischen Zeitung. Das Ansehen und die weite Verbreitung verdankte die Zeitung der fortschrittlichen und weitsichtigen Leitung ihres Herausgebers Joseph DuMont, sowie den Hauptschriftleitern Karl Heinrich Brüggemann und Heinrich Kruse. Unter 11 Kruses Redaktion vertrat die Kölnische Zeitung konsequent die spezifischen Ansichten der Liberalen in der katholischen Rheinprovinz gegenüber der autoritären Staatsgewalt des protestantischen Mutterlandes Preußen; allerdings aufgrund des beschriebenen Wandels liberaler Prämissen mit nachlassender Kampfeslust. Dafür gab es zudem, wie gezeigt werden wird, eine Reihe sehr unterschiedlicher Gründe. Trotz aller Gegensätze und aller noch so scharfer Kritik stand Kruse stets fest zu Preußen und folgte, wenn auch nur sehr zögerlich und mit wiederholt geäußerter Skepsis, der grundlegenden Neuorientierungen unter der Politik Bismarcks. Erst mit dem deutsch-französischen Krieg und der anschließenden Reichsgründung 1870/71 kam es in ihm zu einer sich festigenden politischen Standortbestimmung: Es hatte sich in ihm trotz nahezu unveränderten politischen Machtverhältnissen ohne Anzeichen einer Liberalisierung ein eindeutiger Wandel vollzogen. Die ursprünglichen, idealistischen Ziele der Vereinbarkeit von nationaler Selbstbestimmung und individueller Freiheit wichen mehr und mehr den nationalliberalen Interessen des Bildungs- und Besitzbürgertums. In den Äußerungen seiner politischen Meinung hat Kruse ein ungewöhnliches publizistisches Talent an den Tag gelegt, dessen Wortgewalt sich auch in seinem umfangreichen Œuvre als Schriftsteller widerspiegelt. »Er hat das Kunststück fertig gebracht, dem zahmen Liberalismus wilde Gebärden zu geben«, hat einmal ein Kritiker gesagt.7 Sein kerniger, derber Stil gab seinen Leitartikeln stets einen beherzten und forschen Charakter. Abgesehen von den originellen stilistischen Vorzügen wurde Heinrich Kruse in journalistischen Fachkreisen trotz manch überzogener Schärfe und Polemik ein hohes journalistisches Verantwortungsbewußtsein bestätigt. Seine Kommentare waren exemplarisch für den kritischen Geist des rheinischen Liberalismus in einer konservativ eingestellten, zeitweise sehr autoritären Regierungszeit. Sie waren stets gekennzeichnet durch den Willen zum Frieden in unruhigen Zeiten und zur Einigung Deutschlands unter einer Führung Preußens, obwohl er dessen autoritäre Staatsführung immer wieder heftig kritisierte. Das wichtigste persönliche Merkmal Kruses aber war sein sehr selbstbewußtes, furchtloses Auftreten gegenüber jeglicher Art von Einschränkung der individuellen Freiheit. Stets war sein Vorbild der englische, homogen gewachsene und somit selbstverständliche Liberalismus. Beispielhaft war sein geradezu leidenschaftlicher Einsatz für die nationale Einheit unter liberalen Vorzeichen. Statt verhängnisvoller Zergliederung in Kleinstaaten war für ihn die »Nationale Bewegung« ein wichtiges politisches Ziel. Er glaubte fest an die Fortschrittsfähigkeit Preußens und an seine politische Wendung hin zu einem liberal geführten Staat. Heinrich Kruse hat seinerzeit nicht ahnen können, daß sich seine Wünsche nie erfüllen würden. 12 Neben seiner journalistischen Tätigkeit war Kruse seinerzeit ein bekannter Dichter, geschätzt wegen seiner »Buchdramen«. Vor allem in seinen 16 Dramen gewinnt man den Eindruck, als wenn Kruse sich vorwiegend der Besinnung auf die inneren Werte der Geschichte, insbesondere der deutschen, widmet. Aus ihr nährt er in traditioneller Versform kraftvoller Jamben seine Begabung zur plastischen Darstellung von Recht und Unrecht, von Moral und Verwerflichkeit. Der Vorwurf epischer Längen, aufwendiger Szenenwechsel und Shakespearescher Nähe in Form und Inhalt versagte seinen Dramen allerdings den erwünschten Anklang bei den Theaterintendanten. Auch nach seinem Tod trat dieser Erfolg nicht ein, obwohl etliche seiner Werke diese Achtlosigkeit nicht verdienen. Kruses Dramen sind heutzutage weitgehend vergessen. Vielleicht kann die vorliegende Biographie dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf das eine oder andere Krusesche dramatische Bühnenwerk zu lenken. Den Beruf des Journalisten in der uns heute bekannten Form gab es in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht, und hauptamtliche Redakteure waren zunächst noch sehr selten. Zu jener Zeit war die enge Verzahnung von journalistischer und schriftstellerischer Arbeit als Personalunion von Zeitungsredakteur und Schriftsteller die Regel und wurde sogar für alle Seiten als gewinnbringend betrachtet. Inwieweit dies auch auf Heinrich Kruse zutrifft und somit als gelungen bezeichnet werden kann, will die vorliegende Biographie beleuchten. Da über das Leben und Schaffen Heinrich Kruses nur sehr wenig Literatur zu finden ist,8 jedoch ein umfangreicher Nachlaß existiert, war ein eingehendes Studium der Hinterlassenschaften erforderlich. Mein Dank gilt an dieser Stelle vor allem dem Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf, das den Nachlaß von Heinrich Kruse verwaltet. Der Autor hatte uneingeschränkt die Möglichkeit der Einsicht in die zahlreichen Dokumente (allein mehr als 10.000 Briefe an Heinrich Kruse) und fand stets hilfreiche Unterstützung bei der Beschaffung von Unterlagen. Allen Mitarbeiter(inne)n des Heinrich-Heine-Instituts sei an dieser Stelle herzlich Dank gesagt! Ganz besonderer Dank gilt vor allem Herrn Prof. Bernd Kortländer und Frau Dr. Susanne Schwabach-Albrecht, die kritisch die Entstehung des Manuskripts begleitet haben und mit vielen wertvollen Ratschlägen zum Gelingen erheblich beigetragen haben. Zum Schluß noch eine Bemerkung zu Wort und Schrift der vorliegenden Biographie: Wo dies für das Verständnis hilfreich oder sogar notwendig erschien, wurden gelegentlich Originaltexte dem heutigen Sprachgebrauch angepaßt, ohne dabei den Inhalt zu verändern. Jürgen D. Kruse-Jarres, Stuttgart 2007 13 Anmerkungen 1 Walter Bussmann: Vortrag am 14. Januar 1958 auf der Jahresfeier der Deutschen Hochschule für Politik Berlin; erschienen bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1969 2 Werner Stephan: 100 Jahre liberale Partei. Die Kaiserzeit. I. Zwei Richtungen repräsentieren den Liberalismus. In: Geschichte des deutschen Liberalismus (Hrsg. Walter Dorn und Harald Hofmann). Liberal-Verlag, Bonn 1966, S. 68-70 3 Friedrich C. Sell: Die Tragödie des deutschen Liberalismus. DVA, Stuttgart 1953, S. 141 ff. 4 Toni Offermann: Preußischer Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung im regionalen Vergleich. Berliner und Kölner Fortschrittsliberalismus in der Konfliktzeit. In: Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, S. 109-135 5 Georg Gottfried Gervinus: Deutsche Zeitung vom 3.7.1847 6 Gustav Freytag: Karl Mathy. Geschichte seines Lebens. 2. Aufl., Hirzel, Leipzig 1872, S. 61 7 Paul Lindau: Literarische Rücksichtslosigkeiten. s. u., S. 41 8 Paul Lindau: Heinrich Kruse. Der Redacteur der »Kölnischen Zeitung«. In: Literarische Rücksichtslosigkeiten. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1871, S. 39-46; Karl Leimbach (Hrsg): Die deutschen Dichter der Neuzeit und Gegenwart, Biographien, Charakteristiken und Auswahl ihrer Dichtungen. Bd. 5, Kesselring, Leipzig 1893, S. 160-182; Beate-Carola Padtberg: Rheinischer Liberalismus in Köln während der politischen Reaktion in Preußen nach 1848/49. Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 36. Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln 1985, S. 255-256; Walter Gödden und Iris Nölle-Hornkamp (Hrsg.): Lexikon westfälischer Autorinnen und Autoren 1750-1950. Bd. 2, Schöningh Verlag, Paderborn 2001; Susanne Schwabach-Albrecht: Heinrich Kruse – ein Journalist und Schriftsteller im 19. Jahrhundert. Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 57, K.G. Saur, München 2003, S. 287-297 1. Historischer Hintergrund Folgen des Dreißigjährigen Kriegs für Pommern S eit 1616 wütete in Deutschland der religiös motivierte und als Widerstand gegen die Vormachtstellung des Hauses Habsburg zu verstehende »Dreißigjährige Krieg«. In Pommern hielten sich die Herzöge zwar neutral, mußten jedoch zur Abwehr gegen die von der Ostsee eindringenden Schweden die Anwesenheit der kaiserlichen Truppen ertragen. Diese standen unter der Heerführung des vom Protestantismus zum Katholizismus übergetretenen Herzogs von Friedland und Mecklenburg, Albrecht Wallenstein. Das Herzogtum Pommern wurde auf diese Weise ab 1626 zum Kriegsschauplatz zwischen dem kaiserlich-katholischen Heer Wallensteins und den schwedisch-protestantischen Truppen König Gustavs II. Adolf von Schweden. Ganz Pommern hatte entsetzlich unter den Auswirkungen dieses Kriegs zu leiden1 und verlor dabei zwei Drittel seiner Bevölkerung. Weite Landstriche waren für viele Jahrzehnte wüst und leer. Damals entstand das Kinderlied vom abgebrannten Pommerland.2 Schweden gelang es, 178 Jahre lang praktisch Herr über Pommern zu werden: Nach dem Tod des letzten Herzogs Bogislaw XIV. im Jahre 1637 hätte nach geltendem Recht auf der Basis des Erbvertrages von Grimnitz (1529) der Kurfürst von Brandenburg, also ein Hohenzollern, die Herrschaft über Pommern übernehmen sollen. Dies jedoch wußten die Schweden zu verhindern. Der Westfälische Frieden von 1648 zerschlug endgültig das Erbrecht Preußens auf die Herrschaft über ganz Pommern und ordnete Hinterpommern dem Kurfürstentum Brandenburg zu, während Vorpommern von nun an der Krone Schwedens unterstand.3 Der König von Schweden war somit nun auch Herzog von Pommern. Vorpommern war somit Reichsterritorium und in Doppelstellung schwedische Provinz gleichzeitig.4 Die Schwedische Krone wurde von einem Generalgouverneur vertreten. Daneben gab es einen Landtag mit drei Kurien und ein Oberdirektorium, in welchem ausschließlich Pommern vertreten waren. Die Stände behielten ihren politischen Einfluß und eine gewisse Selbständigkeit. Das Leben Vorpommerns war ansonsten im wesentlichen durch eine Gutsherrschaft des Adels und des Großgrundbesitzes be15 stimmt. Einer relativ kleinen Zahl von Besitzern sehr großer Rittergüter stand die Masse armer Bauern und Leibeigener gegenüber. Infolge des Eindringens von Schweden in das europäische Festland war Vorpommern von einem engmaschigen Netz von Festungen überzogen. Brandenburgs »Großer« Kurfürst Friedrich-Wilhelm versuchte später sein im Westfälischen Frieden durch Annullierung des Erbvertrags gedemütigtes Land nach Norden hin auszudehnen und die Schweden aus Pommern zu verdrängen. Im Schwedisch-Brandenburgischen Krieg besiegte er 1675 die Schweden bei Fehrbellin und eroberte Stettin, Rügen, Greifswald und Stralsund, doch unterlag er 1679 der französischen Diplomatie im Frieden von St. Germain bei Paris und mußte die Eroberungen wieder an Schweden zurückgeben. Kaum daß sodann für 25 Jahre ein wenig Ruhe eingekehrt war, brachte der Nordische Krieg um die Vorherrschaft im Ostseeraum, den die Schweden unter Karl XII. seit 1700 gegen Rußland, Sachsen-Polen und Dänemark führten, für das besetzte Pommern wieder schwere Leidenszeiten. Viele Städte wurden geplündert und eingeäschert. Im Frieden von Stockholm 1720 wurden Teile Pommerns wie Stettin, Usedom und das Land bis zur Peene Preußen zugeschlagen. Stettin wurde zur stärksten Festung Preußens ausgebaut. Die Regierung saß in Stralsund. Konfessionell war ganz Pommern lutherisch, doch gab es auch Anhänger des Pietismus, der zwar von Schweden verfolgt, von Brandenburg jedoch sehr gefördert wurde. In seiner Aversion gegen die schwedischen Besatzer näherte sich Pommern immer mehr dem brandenburgisch-preußischen Staatsverband. So wurden Pommerns Bürger allmählich treue und aufrichtige Untertanen Preußens. Wenn auch unter schwedischer Vorherrschaft, so schien nach 1720 für eine gewisse Zeit wieder Frieden einzukehren, denn trotz seiner Anlehnung an Preußen war Pommern von den ersten beiden Schlesischen Kriegen Preußens gegen Österreich verschont geblieben. Doch hatte es unter dem Siebenjährigen Krieg in den Jahren 1756-1763 um so mehr zu leiden. Wesentliche Teile Pommerns mußten vor den Russen kapitulieren. 1763 sank die Bevölkerung infolge der Verluste im Krieg um 20%.5 Der Wille zum Wiederaufbau durch Friedrich den Großen konnte den Verlust nur wenig mildern, indem Umsiedler aus ganz Deutschland in neuen Dörfern Pommerns eine neue Heimat fanden. Am Ende des 18. Jahrhunderts fand auch in Pommern ein erhebliches soziales Umdenken statt. Die Schrift des auf Rügen geborenen und in Greifswald lehrenden Historikers Ernst Moritz Arndt trug wesentlich dazu bei, daß 1807 die Leibeigenschaft auch im schwedisch besetzten Pommern abgeschafft wurde.6 Unglücklicherweise mußte Pommern zur gleichen Zeit nach den vernichtenden Niederlagen Preußens gegen Napo16 leon in den Schlachten von Jena und Auerstedt kampflos kapitulieren. Doch folgten dann allerdings nach dem für Preußen zunächst sehr demütigenden und verlustreichen Frieden von Tilsit auf Initiative des Freiherrn Karl von und zum Stein die großen Reformen, die auch für Pommern von großer Bedeutung waren. Nach den Befreiungskriegen wurde Europa auf dem Wiener Kongreß neu geordnet. 1815 fiel das schwedisch verwaltete Pommern an Preußen. Der Grimnitzer Erbvertrag wurde dadurch – 167 Jahre nach der Annullierung im Westfälischen Frieden – endlich erfüllt. Pommern war sodann über einen relativ langen Zeitraum bis 1918 ein Teil des Königreichs Preußen und somit eine Provinz eines modernen, straff und sparsam verwalteten preußischen Staates.7 Wurzeln in Alt-Strelitz In der beschriebenen Zeit waren die Kruses im vorpommerschen Alt-Strelitz ansässig. Das kleine Städtchen, idyllisch eingebettet in die Mecklenburgischen Seenplatte mit ihren Seen, Flüssen und Teichen, war zunächst brandenburgisch und fiel 1349 an die Grafen Otto und Ullrich von Fürstenberg, die ihm das Stadtrecht verliehen. Von 1701 bis 1712 war AltStrelitz Residenz und bis 1736 Sitz der mecklenburgischen Landesbehörden. Die Residenz und Teile der Stadt brannten 1712 ab, was Herzog Adolf Friedrich III. veranlaßte, vom Wiederaufbau abzusehen und in das nach seinen Plänen umgestaltete GlieWappen der Familie Kruse nicker Jagdschloß am Zierker See um»kräftig und sicher« zuziehen. Dem Herzog fehlte eine repräsentative Umgebung, was der Grund für die Entstehung von NeuStrelitz war, einer planmäßig im Barockstil angelegten Ansiedlung, die noch heute als Musterbeispiel der Städtearchitektur der damaligen Zeit in Europa gilt. Diese Neugründung hatte zur Folge, daß Alt-Strelitz mit seinen ausgedehnten Wäldern, bunten Wiesen und weiten Feldern wieder vorwiegend zu seiner alten Struktur einer Agrarstadt zurückkehrte. Zunächst blieb Alt-Strelitz aber auch noch eine Garnisonsstadt, denn von 17 1701 bis 1732 befanden sich die Garnison der Strelitzer Leibgarde sowie von 1809 bis 1820 die beiden Kompanien des Strelitzer leichten InfanterieBataillons in der Stadt. Besondere Bedeutung hat Alt-Strelitz als jüdische Hauptstadt Mecklenburgs »Oll-Mochum«.8 Teils aus Toleranz, teils aus Eigennutz hatte der Herzog 1733 vielen Neuansiedlern in seinem Land die Möglichkeit einer Existenz geboten und jüdischen Einwanderern gegen eine geringe Gebühr das Niederlassungsrecht eingeräumt. Er hatte ihnen eine zehnjährige Steuerfreiheit gewährt, Bauplätze zur Verfügung gestellt, preiswertes Baumaterial überlassen und freie Religionsausübung zugestanden. Nirgendwo in dieser Region waren die Juden im 18. bis hinein in das 19. Jahrhundert so autonom wie in Alt-Strelitz. Dies führte dazu, daß Alt-Strelitz die höchste jüdische Bevölkerungszahl erreichte, die es je in Mecklenburg gegeben hat. Den Juden war es letztendlich zu verdanken, daß das kleine Herzogtum bald wirtschaftlich florierte. Das Haus Mecklenburg-Strelitz wurde so zeitweilig eines der reichsten deutschen Fürstenhäuser.9 In Alt-Strelitz hatten die Kruses als angesehene Handwerker vorwiegend achtbare Stellungen und Ämter inne und brachten es sogar bis zu dem Titel »Senator«, d. h. Mitglied des Gemeinderates.10 Heinrich Kruses Vorfahren waren Leinenweber (Joachim, 1640 – 1695, Bürgermeister in Strelitz), Brauer (Ertmann, 1680 – 1719), Gastwirt (Christoph Friedrich, 1719-1780) und Handschuhmacher (Christian-Dethloff, 1758 – 1835). Der Stammbaum der Familie Kruse läßt sich vom heutigen Zeitpunkt an über 11 Generationen bis in das Jahr 1640 zurückführen; davor ist eine weitere Rückverfolgung der Familiengeschichte nicht mehr möglich, da die älteren Kirchenbücher im Dreißigjährigen Krieg verbrannten. Stammbaum der Familie Kruse Literatur 1 Martin Wehrmann: Geschichte von Pommern. Erster Band: Bis zur Reformation (1523). 2., umgearbeitete Auflage; Zweiter Band: Bis zur Gegenwart. Reprint der Ausgaben von 1919 und 1921. 2 Teile in 1 Band, Weltbild, Augsburg: 1992 2 Ludwig Biewer: Kurze Geschichte Pommerns. Kulturelle Arbeitshefte, 37, (Hrsg. Heinz Radde), 2. Aufl., Köllen-Druck, Bonn 1999 3 Hans Branig: Geschichte Pommerns. Teil I: Vom Werden des neuzeitlichen Staates bis zum Verlust der staatlichen Selbständigkeit. 1300-1648, Historische Kommission für Pommern V, 22/I, Böhlau, Köln-Weimar-Wien 1997 4 Helmut Backhaus: Reichsterritorium und schwedische Provinz. Vorpommern unter Karls XI. Vormündern (1660 – 1672) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 25), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969 5 Oskar Eggert: Geschichte Pommerns, Bd. 1 (Hrsg. Pommersche Landsmannschaft), Bielefeld-Brackwede 1974 6 Oskar Eggert: Die Maßnahmen der preußischen Regierung zur Bauernbefreiung in Pommern. Forschungen zur Pommerschen Geschichte, Heft 9, Böhlau, Köln 1965 7 Hans Branig: Geschichte Pommerns. Teil II: Von 1648 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Bearb. Werner Buchholz), Historische Kommission für Pommern V, 22/II, Böhlau Köln 2000. 8 Ursula Homann: Juden in Mecklenburg-Vorpommern, Geschichte und Gegenwart. In: »Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums«, 38. Jahrg., Heft 151, 1999 9 Frank Estling: Mecklenburg-Strelitz. Beiträge zur Geschichte einer Region. 2. Auflage. (Herausgegeben vom Landkreis Mecklenburg-Strelitz anläßlich des 300. Jahrestages der Gründung des Herzogtums Mecklenburg-Strelitz), Mecklenburg, Friedland 2001 10 Francis Kruse: Vergangenes und Gebliebenes. Lebenserinnerungen eines preußischen Beamten. Godesberg 1923, Privatdruck Ingeborg Schulz-Schomburgk, Eschwege 1967 2. Vorfahren und Vaterstadt Die Eltern in Stralsund D er 1787 wie seine Vorfahren im mecklenburgischen Alt-Strelitz geborene Vater von Heinrich Kruse, Andreas Abraham Theodor Kruse, war das dritte von fünf Kindern des Christian-Dethloff Kruse; allerdings starben drei seiner Brüder bereits im Kleinkindesalter. Von den vier Geschwistern wurde nur seine um zwei Jahre ältere Schwester Dorothea erwachsen, heiratete den Bäcker Johann Friedrich Behm und bekam zehn Kinder. Andreas Theodor kam schon in jungen Jahren auf das Gymnasium in das 130 km entfernte Stralsund. Diese Stadt sollte in seinem weiteren Leben seine Heimatstadt und die Geburtsstadt seiner Kinder werden. Sie liegt am Strelasund, einer Meerenge der Ostsee und wird auf Grund ihrer Lage als Tor zur Insel Rügen bezeichnet. Die Lage ist wegen des Zugangs zur Ostsee nach zwei Seiten besonders günstig. Die reichen Fischbestände machten schon in frühen Zeiten einen blühenden Handel möglich, weswegen sich schon im frühen Mittelalter viele Kaufleute in diesem Raum ansiedelten. 1234 verlieh der slawische Fürst Witzlaw I. dem Fischerdorf Stralow (stral kommt aus dem Slawischen und bedeutet Speerspitze) am Strelasund das Stadtrecht. Schnell entwickelte sich die junge Stadt zu einem zusehends erstarkenden Handelsstandort.1 Dies löste sehr bald den Neid der Kaufleute anderer Städte aus. So überfiel die Hansestadt Lübeck 1249 den aufstrebenden Konkurrenten an der Ostseeküste und legte die Stadt in Schutt und Asche. Doch die Stralsunder bauten ihre Stadt unverdrossen wieder auf und intensivierten sogar den Handel noch erheblich. 22 Jahre später wurden große Teile der Stadt durch ein Feuer erneut zerstört. Auch jetzt war der Wille der Einwohner ungebrochen: die Stadt wurde wiederaufgebaut, doch diesmal vornehmlich mit Backsteinhäusern, wofür Stralsund viel gerühmt wurde und bis in die heutigen Tage weltbekannt ist. Mit der Christianisierung strömten auch viele Kaufleute aus den westelbischen Gebieten Holsteins, Niedersachsens, Hollands und Flanderns nach Pommern und in den Stralsunder Raum an der Ostsee. Die zugkräftige Wirtschaft der Stadt brachte den Vorteil, daß sie von den rügenschen 21 und pommerschen Fürsten weitreichende Sonderrechte zugestanden bekamen, die ihnen einen hohen Grad an Selbständigkeit verschafften. Der große Aufschwung kam für Stralsund, als die Kaufleute der Städte Bremen, Demmin, Greifswald, Hamburg, Lübeck, Rostock, Stralsund und Wismar zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert ihre wirtschaftlichen Interessen im Handel mit anderen Nationen bündelten und den äußerst erfolgreichen Städtebund der »Hanse« bildeten.2 Allerdings hat Stralsund nie das Recht einer »Freien« Hansestadt zugestanden bekommen, sondern war stets der Lehnsherrschaft der Herzöge von Pommern-Wolgast zugeordnet. Diesen war Stralsund immer wieder ein Stein des Anstoßes, denn stets, wenn sie ihre Macht gegenüber der stolzen Stadt zu demonstrieren versuchten, blieb ihnen dies durch die starke Stellung und die Unbeugsamkeit ihrer sehr selbstbewußten Bürgermeister verwehrt. Viele und zum Teil auch lange kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den häufig wechselnden regionalen Landesherren oder unter der Fremdherrschaft benachbarter Nationen wie Dänemark und Schweden haben Stralsund periodisch zwar in Mitleidenschaft gezogen und die wirtschaftliche Entwicklung vorübergehend gehemmt, doch blühten Handel und Wirtschaft Stralsunds stets durch das außerordentliche Engagement ihrer Bürger schnell wieder auf. Der Handel Stralsunds mit den Städten entlang der Ostseeküste und mit Skandinavien entfaltete sich überaus gut. Vor allem landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Stralsunds Umgebung waren sehr begehrt, sodaß auch das Umland von Stralsunds Konjunktur profitierte. Im Auf und Ab der Ereignisse verschaffte sich Stralsund so innerhalb des hanseatischen Bündnisses ein stetig zunehmendes wirtschaftliches Ansehen, aber auch eine wachsende politische Bedeutung. Allerdings traten mit der Zeit vermehrt private Handelsgesellschaften mit vorwiegend eigenen Interessen an die Stelle der gemeinsam von der Hanse getragenen Zweigstellen. So wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts z. B. der ausländische Handel immer mehr von einigen Mitgliedern der Hanse unter Verstoß gegen die gemeinsamen Statuten vorbei an den Hansa-Filialen betrieben. Schleichend aber spürbar machte sich dadurch eine unvermeidbare Agonie der Hanse bemerkbar.3 Diese unheilvolle Entwicklung hatte auch gravierende Auswirkungen auf Stralsund. Die vielfältigen Ansprüche und Machtbestrebungen der Landesherren, die das Umland der Hansestädte beherrschten, bewirkten, daß die Stadt aufgrund ihrer Lage im Dänemark-freundlichen Pommern kaum noch gemeinsame Interessen mit anderen Hansestädten in Mecklenburg oder Holstein teilte. Aufgrund der vielen Streitigkeiten untereinander und mit den Anrainerstaaten verlegten die Stralsunder Händler ihre Tätigkeiten mehr und mehr auf den Handel mit den baltischen Staaten. Bedingt durch die politischen Verhältnisse konzentrierte die Stadt ihre Handels22 beziehungen verstärkt auch auf Schweden, nachdem die Verhandlungen über die Aufhebung der von Dänemark verhängten Beschränkungen nach dem siebenjährigen Nordischen Krieg (»Dreikronenkrieg«) 1570 gescheitert waren. Es wurden mit Schweden Handels- und Zollfreiheiten ausgehandelt, durch die sich Stralsund immer mehr zum Brückenkopf Schwedens auf dem Kontinent entwickelte. Die Stadt vertrat denn auch die Interessen Schwedens in den Kriegen des beginnenden 17. Jahrhunderts und löste sich damit nun auch förmlich aus dem gemeinsamen Verbund der Hansestädte. Ohnehin profitierte Stralsund in den kriegerischen Konflikten Schwedens mit Rußland, Dänemark und Polen von den durch Schweden zugesicherten Handelsprivilegien im Baltikum. Um 1520 hatte die Reformation Einzug in den Ostseeraum gehalten. Ausgehend vor allem von dem Prämonstratenserkloster Belbuck bei Greifswald und hier durch einen Freund Martin Luthers, den pommerschen Reformator Johannes Bugenhagen, verbreitete sich die Lehre auch in Stralsund, was vor allem in den unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung zunehmenden Anklang fand.4 Der Rat der Stadt allerdings bezog zunächst klar Stellung gegen die reformatorischen Bestrebungen, und auch die Hanse sah anfangs in der Reformation ein Hemmnis für die Expansion ihrer Handelsbeziehungen. Doch selbst die pommerschen Herzöge, mehrheitlich gegen die Reformation eingestellt, konnten die Verbreitung in Stralsund nicht aufhalten.5 Somit gehörte Stralsund schon relativ früh zu den reformierten Städten, was nicht gleichbedeutend war mit einer Konfrontation zum katholischen Kaiser. Doch der Dreißigjährige Krieg verschonte die Stadt nicht, da 1628 die kaiserlichen Truppen unter der militärischen Führungen des Herzogs von Friedland, Albrecht von Wallenstein, nach der Vertreibung der Dänen aus Mecklenburg nun Pommern unter der Herrschaft des durchaus kaiserfreundlichen Herzog Bogislaw XIV. besetzten. In Stralsund wurden die Stadtbefestigungen intensiviert und Kriegsmaterial sowie Lebensmittel größeren Umfangs eingelagert, denn man stellte sich auf eine Belagerung durch das kaiserliche Heer ein. Da die Stadt offiziell die Hilfe der Protestanten Dänemark und Schweden annahm und einen Allianzvertrag mit Schweden abschloß, galt sie nun als kaiser- und somit reichsfeindlich. Der Belagerung durch die Truppen Wallensteins hielt Stralsund dank der fremden Hilfe und der Standhaftigkeit ihrer Verhandlungsführer stand. Die kaiserlichen Truppen mußten unverrichteter Dinge wieder abziehen. Doch mußte Stralsund einen bitteren Preis für seine vermeintliche Freiheit zahlen: die Einwohner litten sehr unter den Folgen der Belagerung und der Versorgung der fremden Hilfstruppen. Der schwedische König Gustav II. Adolf bestand auf Gegenleistungen und einer bedingungslosen Bindung an Schweden. Die 187 Jahre bis 1815 währende Schwedenzeit 23 hatte in Stralsund begonnen. Die schwedische Herrschaft über die Stadt brachte auch nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und dem Westfälischen Frieden von 1648 wegen der von König Karl X. Gustav und seinen Nachfolgern geführten Kriege weitere finanzielle Belastungen. Im Gegenzug allerdings bestätigte Schweden den Stralsundern viele ihrer Privilegien, was der Handelstätigkeit zugute kam. Ab 1720 wurde Stralsund Landeshauptstadt von Schwedisch-Vorpommern und blieb es bis zum Ende der Schwedenzeit. Die vielfältigen Konflikte, in die sich Stralsund in seiner bewegten Geschichte verwickelt sah, beeindruckten später A.T. Kruses Sohn Heinrich nachhaltig und waren wiederholt Gegenstand seiner späteren Dramen wie »Witzlav von Rügen« (14. Jh.), »Raven Barnekow« (15. Jh.), »Die Gräfin« (15. Jh.), »Wullenwever« und »König Erich« (16. Jh.) sowie »Der Verbannte« (17. Jh.). Unter den dargestellten wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten kam Vater Andreas Theodor 1797 als Zehnjähriger nach Stralsund, um das Gymnasium im ehemaligen Kloster St. Katharinen zu besuchen. Das Gymnasium mit einer siebenjährigen Schulzeit war primär eine Lateinschule, an der inzwischen aber auch viele andere Fächer unterrichtet wurden. Es war die eigentliche zentrale Bildungsstätte der Stralsunder Bürger und weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Das alte Kloster war im 13. Jahrhundert von Mönchen des Dominikaner-Ordens gegründet worden, ging mit der Reformation 1525 in den Besitz der Stadt über und hörte damit auf, als Kloster zu existieren. Das bis heute erhaltene Gebäude (heute Museum) zählt zu den bedeutenden Bauwerken der norddeutschen Backsteingotik und ist eines der ältesten Klöster im Ostseeraum. Außerdem ist es eines der wenigen Klöster im norddeutschen Raum, deren gotische Bausubstanz fast vollständig erhalten blieb. Ab 1560 wurden die Gebäude von drei kirchlichen Schulen als neu gegründetes städtisches Gymnasium und als Waisenhaus genutzt. Einer der prominentesten Schüler dieses Gymnasiums war Ernst Moritz Arndt, mit dem Andreas Theodor eine lebenslange Freundschaft verband, obwohl er 18 Jahre älter war. Nach seiner Schulzeit trat Vater Kruse 1801 als Lehrling in das Handelshaus des recht wohlhabenden Kaufmanns Johann Wilhelm Glaser ein, dessen jüngste Tochter Friederike er 1814 heiratete. Der 28jährige hatte sich bereits als tüchtiger Kaufmann einen Namen gemacht, vor allem durch seine Erfolge auf Reisen nach England, Dänemark und Schweden in den Jahren 1811 bis 1813 während der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre. So war er in dieser Zeit eineinhalb Jahre geschäftlich in London. Nach Stralsund zurückgekehrt brachte er seine englischen Erfahrungen in vielfältiger Weise ein, indem er mit der Gründung einer Bibliothek für Handel und Gewerbe sowie einer städtischen Gewerbeschule das daniederliegende Gewerbe zu beleben versuchte. 24 Außerdem widmete er sich neben der Erweiterung des Glaserschen Handelshauses mit großem Eifer zwei Projekten der Stadt: Zum einen den historischen Forschungen zur Geschichte Stralsunds6 und zum andern der Armenpflege, wo er als »Inspector« und als rechnungsführender Administrator des Johannis-Armenhauses mit ungeheurer Energie tätig war.7 So beschaffte er u. a. mit unermüdlicher Sorgfalt die Geldmittel für die Winterspeisung der Kinder. Bei aller Andreas Theodor Kruse Mildtätigkeit war er aber auch ein (* 1787 in Alt-Strelitz, † 1873 in Stralsund), streitbarer Mann: Als die »Inspection Vorsitzender der Tuchhändlergilde und Altermann in Stralsund, pommerscher der Armenpflege« in Stralsund ihm Landtagsabgeordneter 1856 sein Recht der Mitsprache aberkennen wollte »legte er gegen den Beschluß unter Verzichtleistung auf den Schutz von ›Anstand und Schicklichkeit‹ und die beigefügten Lobpreisungen seiner 32jährigen Verwaltung bei der Direction des Armen-Collegiums, gleichzeitig auch bei dem Rathe hieselbst, seine protestierende Rechtsverwahrung ein und seine unbedingte Restitution in die Mitverwaltung des Johannis Armenhauses als sein gutes Recht und beantragt unbesoldetes Ehrenamt.«8 Diesem wortgewaltigen Protest wurde stattgegeben. 1839 wurde Andreas Theodor Kruse in die Körperschaft der Deputierten der Kaufmannschaft berufen und wurde 1848 als Abgeordneter des Handelskongresses in Frankfurt Zeuge des Ringens in der Paulskirche um die Gestaltung Deutschlands. Durch dieses Erlebnis besonders politisch motiviert wurde er 1849 von den Altliberalen zum Abgeordneten der zweiten Kammer des preußischen Landtags gewählt, ein Mandat, durch welches er die Interessen Neuvorpommerns und Rügens auf den Gebieten des Handels, des Gewerbes, der Schiffahrt und der Landwirtschaft vertrat und das er 15 Jahre lang bei mehrfacher Wiederwahl mit großem Engagement ausfüllte. In Berlin hat er sich häufig mit urwüchsiger Kraft zu Worte gemeldet: Als ein konservativer Redner seine Partei angriff, erwiderte er ihm mit den Worten: »Meine Herren, Sie wollen konservativ sein? Wir Pommern sind konservativ, wir waren noch jahrhundertelang feste Heiden, als Sie längst dem Christentum verfallen waren.«9 Als Vorsitzender der Tuchhändlergilde war er Altermann (Zunftvorsteher) des Gewandhauses in Stralsund und trat somit durch seine Tätigkeit im »bürgerschaftlichen Repräsentationscollegium«10 auch an die Spitze der Stralsunder Bürgerschaft. Wie weitsichtig Andreas Theodor damals war, 25 Johann Wilhelm Glaser (* 1749 in Wismar, † 1802 in Stralsund) und seine Ehefrau Christine Dorothea geb. Spalding (* 1771 in Güstrow, † 1827 in Stralsund), Eltern von Friederike Kruse wird aus seinem intensiven Einsatz für eine Eisenbahnlinie von Berlin nach Stralsund ersichtlich,11 was allerdings an der fehlenden Unterstützung durch die Behörden scheiterte. Bei derart vielen politischen Aktivitäten mußte es zwangsläufig zu spürbaren und folgenschweren Einschränkungen seiner geschäftlichen Tätigkeit als Kaufmann, aber auch seines Privatlebens kommen. So mußte Andreas Theodor den Anteil seiner Frau Friederike an dem von ihrem Vater Johann Wilhelm Glaser seinen drei Töchtern vererbten, unweit von Stralsund am Sund gelegenen wunderschönen Rittergut Andershof aufgeben, als die Geschäfte infolge der rückläufigen wirtschaftlichen Situation durch den Niedergang der Hansestädte immer unbefriedigender liefen, und es ihm zudem wegen gewisser eigener Nachlässigkeit finanziell sehr schlecht ging. Ein zusätzlicher Grund für seine geschäftlichen Versäumnisse waren neben seinen umfangreichen politischen Aufgaben als pommerscher Landtagsabgeordneter, als Altermann des Gewandhauses der Stadt Stralsund, als Vorsitzender der Tuchhändlergilde und als Verwalter von städtischen Stiftungen seine zeitraubenden historischen und literarischen Studien über seine Heimatstadt. Mit Sicherheit hat er dabei die Grundlagen für die Interessen seines Sohnes Heinrich geschaffen, den die Politik ebenso begeistern sollte wie die Geschichte Pommerns und insbesondere seiner Heimatstadt Stralsund. Trotz der beschriebenen geschäftlichen Verschlechterungen erfreute sich Andreas Theodor bis zu seinem Tode am 29. November 1873 eines enormen Temperaments, großer mentaler Frische und guter Gesundheit, 26 wodurch er 86 Jahre alt wurde, was für die damalige Zeit ein sehr hohes Alter war. Aus dem Blickwinkel seiner 13 Jahre vorher verstorbenen Frau Friederike war er vielfach ein Unruhegeist, dem sie mit Ruhe und Gelassenheit entgegenzuwirken versuchte. Während sie klein und rundlich war, zeichnete Andreas Theodor sich durch seine kräftige Erscheinung mit einem charaktervollen Kopf aus. Allerdings war er so kurzsichtig, daß er bei der Lektüre der Zeitung nahezu in ihr verschwand. Friederike und Andreas Theodor hatten zwölf Kinder, von denen allerdings nur acht das Erwachsenenalter erreichten, vier Töchter und vier Söhne; Heinrich war der älteste von ihnen. Nur die jüngste der vier Töchter war verheiratet, hatte jedoch keinen Nachwuchs. Zu dem nächstfolgenden seiner drei Brüder, Friedrich Wilhelm, der 11 Jahre jünger war, bestand kein sonderlich gutes Verhältnis. Dieser betrieb eine Stärkefabrik in der Katharinenberg genannten Straße Stralsunds. Er war mit der von Heinrich sehr geschätzten Marie Bade verheiratet und hatte drei Kinder. Heinrichs 13 Jahre jüngerer Bruder Karl Alfred war begeisterter Altphilologe, erfüllt von der Schönheit des klassischen Altertums. Doch war er auch ein durchaus dionysischer Typ, der das Alltagsleben zu gestalten wußte und daher sehr beliebt war. Sein pommerischer Magen ließ ihn alle denkbaren Tafelfreuden genießen. Sein nie versagender Humor machte ihn zu einem begehrten Gastgeber und geistreichen Unterhalter. Als Gymnasialdirektor in Mülheim an der Ruhr und in Greifswald, sowie als Provinzialschulrat in Königsberg und Danzig schuf er sich Generationen von begeisterten Schülern und Freunden. Ein ebenso gutes Verhältnis bestand zwischen Heinrich und seinem 15 Jahre jüngeren Bruder Eduard. Dieser blieb Junggeselle und betrieb eine Tabakfabrik in Stralsund. Verwandte und Freunde pflegten sich gerne zu einer Zigarre und einem schwedischen Punsch bei ihm in der Mönchstraße einzufinden. Er versuchte sich gelegentlich als Poet, doch seine Gedichte fanden selbst bei seinen illustren Gästen selten den erwünschten Beifall. Weitere Verwandtschaften mit anderen Trägern des Namens Kruse sind nicht nachweisbar. Jugend in Stralsund Als Heinrich Kruse am 15. Dezember 1815 in Stralsund auf die Welt kam, handelte es sich um eine politisch äußerst bewegte Zeit. Soeben war Europa als Ergebnis des Wiener Kongresses neu geordnet worden. Die ehemals schwedischen Gebiete wurden wieder mit Preußisch-Pommern zur Provinz Pommern vereinigt und es wurde eine umfassende Verwaltungsreform durchgeführt. Die alte Hansestadt Stralsund war end27 lich von fast 200jähriger Schwedenherrschaft befreit und nun zusammen mit Vorpommern Preußen zugeordnet worden. Das Stadtbild mit seinen vielen architektonischen Besonderheiten ließ trotz vieler Zerstörungen im Laufe der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen zurückliegender Jahrhunderte noch zu Heinrich Kruses Jugendzeit auf das Wohlergehen der Stadt während der Blütezeit der Hanse zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert schließen. Viele Bauten wie z. B. die Schiffercompagnie, die Marienkirche, das Rathaus oder das Dielenhaus zeugen noch heute von der wirtschaftlichen Bedeutung Stralsunds und von seinem ehemaligen enormen Reichtum. Für den jungen Heinrich war die charakteristische Entwicklung Stralsunds mit seiner mittelalterlichen Gliederungsstruktur und den reichen Fassaden der Giebel- und Traufenhäuser aus ganz unterschiedlichen Epochen noch deutlich erkennbar und vermittelte ihm eine, den nördlichen Hansestädten sehr charakteristische und eindringliche Atmosphäre einer wertvollen Tradition und einer bedeutsamen Historie. Heinrich wurde im bürgerlichen Niveau solcher Hansestädte erzogen, zumal sein Vater in der Stadt als Vorstand der Tuchhändlergilde wichtige öffentliche Ämter bekleidete. Er verlebte sowohl in seiner Vaterstadt als auch auf dem nahe gelegenen Familiengut Andershof an der Ostsee eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Selbstverständlich ging er auf das Gymnasium im ehemaligen Dominikanerkloster St. Katharinen, das auch schon sein Vater besucht hatte. Seine besten Schulfreunde waren seine Vettern Richard und August Spalding, die Söhne des Stralsunder Geheimen Kommerzienrats Spalding, des Schwagers seiner Mutter. Besonders zu dem gleichaltrigen August Spalding bestand eine intensive Jugendfreundschaft. Dieser arbeitete nach der Schulzeit als Pächter eines der großen Güter der Stadt Stralsund auf der Insel Rügen. Zwar war die Pacht auf Hiddensee sehr gering; doch war er so tüchtig und fleißig, daß er sich später drei Rittergüter kaufen konnte. Er war ein Urenkel des bekannten Theologen Johann Joachim Spalding. Dessen Biographie (1714-1804) hatte zweifellos auf Heinrichs Lebenslauf einen prägenden Einfluß: dieser prominente Vertreter der Aufklärung in Pommern beschäftigte sich als junger Mann eingehend mit den Schriften des englischen Aufklärers und Philosophen Anthony Ashley Cooper, des 3. Earl of Shaftesbury, der ihn stark beeindruckte und dessen Werke er ins Deutsche übersetzte.12 Heinrich Kruse sollte einhundert Jahre später bei einem Nachkommen jenes Lords Ashley, dem 7. Earl of Shaftesbury, für einige Jahre Dienste als Hauslehrer tun. Schon während seiner Schulzeit lernte Heinrich in seinem Elternhaus viele herausragende Persönlichkeiten kennen, so z. B. Ernst Moritz Arndt, einen engen Freund seines Vaters. In diesem politischen Denker erkannte 28 der junge Heinrich bereits sehr früh einen Vorkämpfer der Demokratie, einen unermüdlichen Anwalt der einfachen Bürger für ihre Befreiung aus den Fesseln feudaler Abhängigkeit und einen Protagonisten für die Sicherung der sozialen Existenzrechte eines jeden Menschen gegenüber der herrschenden Adelswillkür. Arndts Patriotismus und sein Ruf nach Freiheit beinhaltete vorwiegend die Interessen und Wünsche einfacher Menschen nach einem Vaterland, in welchem das Ernst Moritz Arndt (1769-1860), Historiker Volk an der politischen und sozialen und Schriftsteller Gestaltung seines Vaterlandes mitwirken wollte. Arndt war einer der Väter der Idee vom bürgerlichen Nationalstaat der Deutschen. Darin liegt der Grund der enormen Wirkung, die er auf nachfolgende Generationen ausübte. Kein anderer Ideologe der nationalen Bewegung von 1806 bis 1815 hat einen so nachhaltigen Einfluß auf die Gedankenwelt späterer politischer Bewegungen, Parteien und Strömungen gehabt. Politiker aller Lager haben Ernst Moritz Arndt immer wieder für die Begründung ihrer jeweiligen Thesen, Forderungen und Standpunkte in Anspruch genommen. Das hat allerdings in späteren Jahrzehnten dann auch zu einem falsch verstandenen nationalistischen Mißbrauch seines Gedankenguts geführt. Über die Schulzeit des jungen Heinrich ist nichts Aufschlußreiches überliefert. Er scheint ein strebsamer, sehr ordentlicher und gründlicher Schüler gewesen zu sein, folgt man seinen vielen erhaltenen Schulheften.13 Erstaunlich ist zu sehen, wie ausgeschrieben und akkurat die Schrift des Pennälers bereits zur damaligen Zeit war. Auch über die Güte seines Schulabschlusses sind keine Einzelheiten bekannt, da trotz eines sehr umfangreichen Nachlasses Zeugnisse aus Kruses Schulzeit nicht mehr vorhanden sind. Anmerkungen 1 Herbert Ewe (Hrsg.): Geschichte der Stadt Stralsund. Böhlau, Weimar 1984 2 Theodor Lindner: Die deutsche Hanse. 3. Aufl., Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1902; Klaus-Peter Zöllner: Vom Strelasund zum Oslofjord. Untersuchungen zur Geschichte der Hanse und der Stadt Stralsund in der 2. Hälfte des 16. Jahrhundert, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1974 3 Kurd von Schlözer: Die Hanse. II: Verfall und Untergang der Hanse und des deutschen Ritter-Ordens in den Ostseeländern. Nachdruck der Ausgabe von 1851-1853. VMA, Wiesbaden um 1980 4 Hans-Günter Leder und Norbert Buske: Reform und Ordnung aus dem Wort. Johannes Bugenhagen und die Reformation im Herzogtum Pommern. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1985 5 Robert Stupperich: Weg und Charakter der Reformation im Deutschen Osten. Gerhard Rautenberg, Leer 1967 6 Andreas Theodor Kruse: Sundische Studien: 1. Urkundliche Nachrichten zur Geschichte des Gewandhauses, 2. die Geschichte des Johannisklosters, 3. die Stralsunder Stadtverfassung, 4. die Machtentwicklung Stralsunds im Hansabund. Stralsund 1851-1855 (erwähnt in der Allgemeine Deutsche Biographie, s. u.) 7 Andreas Theodor Kruse: Umriß einer Geschichte der Unterstützungsquellen und des Armenwesens in Stralsund, insbesondere des Johannis-Armenhauses. Stralsund 1824 (erwähnt in der Allgemeine Deutsche Biographie, s. u.) 8 Die Inspection der Armenpflege: Verhandlungen über Kassen- und Rechnungsprüfung der allgemeinen Armenpflege und des Johannis Armenhauses, Stralsund 9.11.1856. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf 9 Francis Kruse: Vergangenes und Gebliebenes. Lebenserinnerungen eines preußischen Beamten. Godesberg 1923, Privatdruck Ingeborg Schulz-Schomburgk, Eschwege 1967 10 Allgemeine Deutsche Biographie. (Hrsg.: Die historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften), Band 17, Duncker & Humblot, Berlin 1883, S. 254-57 11 Andreas Theodor Kruse: Vorläufige Ansichten über eine Berlin-Neustrelitz-Stralsunder Eisenbahn. Denkschrift, Stralsund 1853 (erwähnt in 5) 12 Thomas, K Kuhn: Johann Joachim Spalding. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band X, Traugott Bautz, Herzberg 1995, S. 868-870 13 Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf 3. Lehr- und Wanderjahre Studium in Bonn und Berlin N ach erfolgreichem Abschluß des Stralsunder Gymnasiums ging Heinrich Kruse als 18jähriger zunächst zum Hochschulstudium nach Bonn. In Bonn studierte er klassische Altertumswissenschaften bei dem bekannten Altphilologen und Archäologen Friedrich Gottlieb Welcker, der durch seine Übersetzungen der Werke von Aischylos und Aristophanes einen hohen Bekanntheitsgrad besaß. Außerdem studierte er Philosophie bei Christian August Brandis, dessen Handbuch der Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie seinerzeit ein Standardwerk war. Brandis hatte zuvor als Preußischer Gesandtschaftssekretär in Rom auf sich aufmerksam gemacht und war auch hernach politisch als Kabinettsrat für König Otto in Athen tätig. Beide Professoren haben die altphilologische Gedankenwelt Heinrichs nachhaltig geprägt, selbst wenn er selbst in seinem verhältnismäßig langen Leben nie die Gelegenheit wahrnahm, Griechenland oder Italien zu besuchen, geschweige denn die antike Welt der Hellenen in seinen Dramen zu verarbeiten. In seiner Bonner Zeit entwickelten sich u. a. zwei wichtige Freundschaften mit Studienkollegen, die seinen weiteren Lebensweg begleiten sollten: Der eine war der Historiker und Archäologe Ernst Curtius, der andere der Schriftsteller Emanuel Geibel. Ernst Curtius, Sohn des Syndikus der Stadt Lübeck und ein Jahr älter als Heinrich, hatte bereits während seiner Lübecker Schulzeit eine enge Freundschaft mit dem ebenfalls ein Jahr jüngeren Emanuel Geibel geschlossen. Gemeinsam gingen sie zum Studium nach Bonn, wo Heinrich Kruse sie kennenlernte. Alle drei gingen gemeinsam 1835 nach Berlin. 1837 wurde Curtius von seinem Lehrer Brandis nach Athen engagiert. Von hier aus unternahm Curtius mehrere Reisen durch Griechenland und Italien. 1838 traf er wieder mit Emanuel Geibel zusammen, der zu dieser Zeit ebenfalls Griechenland bereiste. Zusammen mit Geibel versuchte er sich an Nachdichtungen verschiedener klassischer griechischer Schriftsteller. 1844 wurde Curtius zum Hauslehrer des späteren Kaisers Friedrich III. und als Professor an die Universität Berlin berufen. 1852 hielt Curtius seinen 31 Franz Emanuel August Geibel (1815 – 1884) deutscher Lyriker Ernst Curtius (1814 – 1896) Archäologe und Historiker berühmt gewordenen Vortrag in der Singakademie von Berlin über Olympia und initiierte damit eigentlich die ersten archäologischen Grabungen an diesem Ort.1 Emanuel Geibel, Sohn eines reformierten Pfarrers und gleichaltrig wie Heinrich Kruse, studierte in Bonn Theologie und klassische Philologie. Sehr bald entdeckten beide untereinander eine große Seelenverwandtschaft. Als Curtius, Geibel und Kruse gemeinsam 1835 nach Berlin gingen, baute Heinrich Kruse über Emanuel Geibel auch freundschaftliche Beziehungen zu Adalbert von Chamisso, Bettina von Arnim und Joseph von Eichendorff auf. Geibel erhielt 1838 eine Anstellung als Hauslehrer beim russischen Gesandten in Athen, die bestimmend für seine klassische Dichtung war. Geibel bezeichnete Heinrich Kruse schon in Studentenzeiten als den »besten Kritiker« seiner literarischen Arbeiten,2 ohne zu ahnen, daß dieser selbst dichterisch tätig war, wenn auch zunächst nur im Geheimen und nicht mit der Absicht einer Publikation. 1842 erhielt Geibel nach Veröffentlichung seiner ersten Gedichte vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. eine lebenslange Pension und 1852 von Bayerns Maximilian II. eine Professur für deutsche Literatur und Poetik in München, wo er bis 1868 unterrichtet. Aus politischen Gründen kehrte Geibel wieder nach Lübeck zurück, da er nach dem Tod von Maximilian II. wegen seiner preußischen Gesinnung stark angefeindet wurde und sogar seine lebenslange Pension verlor.3 Die drei Freunde wechselten 1835 von Bonn an die Berliner Universität, die sie gemeinsam fünf Semester lang bis 1837 besuchten. Hier trafen sie eine durch die kürzlich verstorbenen Philosophen Friedrich Hegel und Friedrich Schleiermacher geprägte reizvolle Atmosphäre geistiger 32 Anstöße und Auseinandersetzungen an. Sie hörten Vorlesungen des Philosophen Henrik Steffens, der nach langen Bemühungen des preußischen Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. an die Berliner Universität berufen worden war, um in Preußen unerwünschte Einflüsse der lutherischen Freikirche durch den Altlutheraner Johann Gottfried Scheibels zu vereiteln.4 Zwar herrschte im geistigen Berlin jener Jahre die liberale Bewegung des »Jungen Deutschland«, doch der Naturphilosoph Steffens verstand es, mit seinen Grundgedanken einer großen Einheit von Natur und Geschichte stets ein überfülltes Auditorium vorzufinden. Seine wenige Jahre später herausgegebene »Christliche Religionsphilosophie« war ein viel beachtetes Werk deutscher Philosophiegeschichte. Nach dem Studium in Bonn und Berlin trennten sich 1837 die Wege der drei Studienfreunde Curtius, Geibel und Kruse, ohne jedoch den engen Gedankenaustausch auf schriftlichem Wege ihr Leben lang aufzugeben. Bildungsreise durch Nordosteuropa Nach seinem Studium begab sich Heinrich Kruse in den Jahren 1837 bis 1840 auf eine ausgedehnte Bildungsreise, die den Hanseaten in alle Länder rund um die Ostsee brachte. Zunächst führte ihn der Weg in die Städte Danzig, Riga, Moskau und St. Petersburg, hernach dann über Stockholm und Kopenhagen wieder zurück nach Hause. Heinrich Kruse hatte sich bereits auf der Grundlage eingehender Literatur gut vorbereitet. Doch war ihm besonders daran gelegen, durch direkten Kontakt mit der Bevölkerung vielfältige Erfahrungen zu sammeln und seine ethnologischen und soziologischen Kenntnisse über reine Reisebeschreibungen hinaus zu erweitern. »Ich versäume nicht, mich durch Schriften über den vergangenen und gegenwärtigen Zustand der Länder, durch welche ich reise, zu unterrichten. Doch sind vor allem jetzt die Zungen der Menschen meine Bibliothek.«5 Besonders bedrückten ihn seine Beobachtungen über die Unterdrückung der einfachen Bevölkerung durch die baltische und vor allem aber durch die russische Aristokratie.6 Unter Nikolaus I. wurde in der 30jährigen Regierungszeit von 1825 bis 1855 die Bevölkerung gegenüber dem westlichen Bildungsniveau gezielt abgeschirmt. Jede Diskussion über dringend erforderliche Agrarreformen wurde im Keime erstickt. Drakonische Polizeiverfolgungen gegen jedes freiheitliche Gedankengut waren die Regel. Und doch gelang es Zar Nikolaus während seiner autokratischen, ja geradezu despotischen Herrschaft nicht, die begreiflichen Unruhen zu unterdrücken, die mit dem Dekabristenaufstand (benannt nach dem Monat Dezember, russisch: dekabr), d. h. dem Protest Adliger und hochgebildeter Offiziere gegen das 33 absolutistische Zarenregime in St. Petersburg am 14. Dezember 1825 ihren Ausgang nahmen.7 Das Land befand sich wirtschaftlich in einem ruinösen Zustand, die Verwaltung war rückständig und korrupt und in geradezu panischer Furcht vor einem Aufstand der Leibeigenen. Diese innere Schwäche Rußlands führte u. a. zu der schweren Niederlage im Krimkrieg der Jahre 1853 bis 1856, in den Nikolaus sein Land in Konfrontationen mit der Türkei, sowie mit Österreich, Frankreich und England verwickelte. Zwar war der Zar nicht grundsätzlich gegen eine Anhebung des Bildungsniveaus beim einfachen Volk, was sich äußerlich durch einen Zuwachs an Gymnasien und einen Aufschwung des wissenschaftlichen Niveaus bemerkbar machte; doch wurde bei näherer Betrachtung dieses verstärkte Bildungsangebot vorwiegend den Söhnen von Adeligen und Beamten vorbehalten. Deren Erziehung baute kategorisch auf den drei Pfeilern Autokratie, Orthodoxie und Patriotismus auf. Geheimagenten sorgten überall für die uneingeschränkte Durchführung derartiger zaristischer Anordnungen. Neben diesen gravierenden Mißständen Rußlands beklagte Heinrich Kruse vor allem die Benachteiligung der Juden in allen Bereichen des alltäglichen Lebens bis hin zu der Tatsache, daß ihre Kinder nicht zur Schule gehen durften.8 Das Land stand seinerzeit unter dem beharrlichen Einfluß der russisch-orthodoxen Kirche, welche die Juden nicht akzeptierte. Diese hatten bereits unter früheren Zaren einiges zu erdulden: Unter Katharina II. und Alexander I. wurden sie schrittweise »zum Schutz der Bevölkerung gegen das Unrecht der jüdischen Konkurrenz« in ein Sperrgebiet im früheren Polen verbannt. Sie hatten dort keinen Kontakt mehr zur Außenwelt, was den Beginn einer stets bedrohten Existenz in Unfreiheit, d. h. in einem Ghetto darstellte. Die Wehrpflicht für die Juden erstreckte sich auf eine Dienstzeit von 25 Jahren. Nikolaus I. erzwang darüber hinaus die Christianisierung und Taufe der Juden, die sich allerdings dagegen vehement wehrten, worauf der Zar mit der Einschränkung ihrer Siedlungsgebiete reagierte. Er schloß jüdische Verlage und belegte importierte jüdische Bücher mit einer strengen Zensur. War die Situation für die Bevölkerung nicht schon dramatisch genug, so war sie für die Juden geradezu fatal.9 Heinrich Kruses vielfältige Beobachtungen in jenen Tagen seiner Reise kamen immer wieder zu dem Ergebnis, daß die Menschen im Osten trotz aller Widerwärtigkeiten und Erniedrigungen vergleichsweise erheblich gleichgültiger, duldsamer und weniger dünnhäutig waren als in Deutschland, kaum zu reden von einem Verständnis für Barmherzigkeit und Einfühlungsvermögen, wie es Menschen in Mitteleuropa kennen.10 Diese vielfältigen und insgesamt relativ negativen Eindrücke seiner Reise,11 sollten ihn im Hinblick auf Rußland und die russische Politik in seiner späteren journalistischen Tätigkeit lebenslang in seinen Stellungnahmen nachhaltig, wenn auch sehr subjektiv beeinflussen.12 34 Promotion und Probelehrer in Stralsund Von der Reise 1840 zurückgekehrt, erfolgte eine kurze Interimsphase, in welcher Heinrich Kruse zunächst in Berlin zum Doktor der Philosophie promovierte mit einer Arbeit über das Leben des griechischen Staatsmanns und Gelehrten Aratos von Sikyon, der im 2. Jahrhundert v. Chr. am Golf von Korinth den Achaiischen Bund im Nordwesten des Peloponnes anführte und zunächst gegen die Expansion Mazedoniens und hernach mit deren Hilfe gegen die Vorherrschaft Spartas kämpfte. Nach Abschluß der Dissertation und des Promotionsverfahrens in Berlin begann Heinrich Kruse seine berufliche Laufbahn zunächst als Lehrer auf Probe in Stralsund. Damals wurden für den Lehrerberuf an den Universitäten noch keine Spezialisten für bestimmte Fächer ausgebildet, sondern es wurden nach einem preußischen Edikt von 1810 für Gymnasien Lehrer entsprechend der Humboldtschen Bildungsidee eines kosmopolitischen Denkens ausgebildet, die nach einem Examen »pro facultate docendi« für jedes Unterrichtsfach an den höheren Schulen eingesetzt werden konnten. Das System gab dem Kandidaten die Möglichkeit, sich nach bestandener Probezeit gleich um eine besser dotierte Oberlehrerstelle zu bewerben.13 Heinrich Kruse begann seinen Dienst im Mai 1841 am Stralsunder Gymnasium, das er selbst und sein Vater einst besucht hatten. Doch das Berufsleben als Gymnasiallehrer war für ihn ernüchternd, eintönig und äußerst verdrießlich.14 Ein solcher Alltag brachte ihm wenig Befriedigung, so daß er sich bereits wenige Monate später nach einer beruflichen Veränderung umschaute. Lehrer und Erzieher in England Zu jener Zeit bot sich Heinrich Kruse eine außergewöhnliche Gelegenheit, die sich durch die Vermittlung von Freunden seines Vaters ergaben, den preußischen Gesandten Karl Josias von Bunsen und den Regierungspräsidenten von Arnsberg, den Geheimrat Georg Wilhelm Kessler, zu dessen Familie enge freundschaftliche Kontakte bestanden: Im Oktober 1841 wurde Kruse als Erzieher der beiden 10 und 8 Jahre alten Söhne von Lord Anthony Ashley, dem 7. Earl of Shaftesbury, nach England berufen.15 Dieser war ein Nachkomme des bekannten englischen Politikers, Philosophen und Schriftstellers Anthony Ashley Cooper.16 Lord Anthony Ashley machte sich als Mitglied des Unterhauses und später des Oberhauses besonders um die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse sehr verdient. Er saß seit 1826 im britischen Parlament und trat als Mitglied der 35 Konservativen Partei für die politische Emanzipation der Katholiken und für die Verbesserung der Lebensbedingungen der untersten sozialen Schichten ein.17 Mehrere große soziale Gesetzeswerke gingen maßgeblich auf seine Initiativen zurück, so der »Mines Act« von 1842, welcher die Beschäftigung von Frauen und Kindern unter 13 Jahren in Bergwerken verbot. Er hatte zahlreiche Ämter in sozial-karitativen Organisationen inne. So gründete er mehrere Arbeiterinstitute und war Mitbegründer des Christlichen Vereins junger Männer (YMCA). Eine interessante und beeindruckende Zeit sollte auf Heinrich Kruse zukommen. An seinen Freund Max Kessler, den Sohn des Regierungspräsidenten von Arnsberg, schrieb er in Erwartung des bevorstehenden Wechsels voller Freude: »In der nächsten Woche habe ich noch Examen abzuhalten, dann aber stehe ich jeden Augenblick zum Aufbruch bereit. Ich bin guten Mutes, daß ich der Empfehlung Deines Vaters keine Unehre machen werde. […] Meine Stellung hoffe ich richtig aufzufassen. Ich bin seit meiner Universitätszeit durch so manche Schleifmühle gekommen, daß Lebendigkeit und Befangenheit ziemlich verschwunden sind. Die Sitten des Englischen high life sind mir wenigstens aus Schriften nicht ganz unbekannt, und so viel als ich daran beteiligt werden könnte, hoffe ich mich in nicht langer Zeit darein zu finden. Ein vernünftiges Reservement und die Mitte zwischen dem zu viel und zu wenig in der Persönlichkeit wird meine Aufgabe sein. Für meinen Vater ist es ein großes Vergnügen, daß ich nach seinem geliebten England gehen soll, wo, wie er glaubt, mehr zu lernen ist, als in Italien.«18 Auf dem ländlichen Familiensitz der Earls von Shaftesbury, dem St. Gile's House in der Grafschaft Dorsetshire in Südwest-England in der Nähe des Seebades Bournemouth, war es die Aufgabe von Heinrich Kruse, sich um die Ausbildung der Brüder Anthony und Francis zu kümmern. Beide erwiesen sich als sehr wißbegierige und gelehrige Schüler. Vor allem der achtjährige, sprachbegabte Francis entwickelte zu seinem neuen Lehrer ein besonderes Vertrauensverhältnis. Hauslehrer Heinrich Kruse wurde von Anfang an voll in das Familienleben im St. Gile's House integriert und nahm mit dem gehörigen Abstand am alltäglichen Familienleben teil. An die Mutter seines Freundes schrieb er: »Mit der Familie bin ich durch gegenseitige Achtung und Wohlwollen verbunden. Sie erweist mir mehr, als ich verlangen kann. […] Das Haupt der Häupter, dem alle streben zu gefallen und streben müssen zu Gefallen zu sein, ist der alte Earl. Seine vergnügteste Stunde ist die beim Nachtisch, und der vergnügteste Augenblick darin, wenn der Kammerdiener die neue Flasche bringt, welche immer erst geleert sein muß, ehe die Sitzung aufgehoben wird. […] Der alte Herr hat offenbar große natürliche Fähigkeiten, und ich höre ihn gern reden, wenn er sich über seine großen Zeitgenossen ausläßt.«19 Bei solchen 36 Lord Anthony Ashley Cooper, 7. Earl of Shaftesbury (1801 – 1885), Politiker und einer der erfolgreichsten Sozialreformer im England des 19. Jahrhunderts Henry John Temple, 3. Viscount Palmerston (1784 – 1865), britischer Staatsmann und Premierminister (1855 – 1858 und 1859 – 1865) Gelegenheiten bekam Heinrich Kruse viel über die weltanschauliche Anschauung des Lords, über die politische Lage, über die sozialkritischen Auseinandersetzungen im Parlament und über die maßgebenden Persönlichkeiten der damaligen Zeit mit. Auch lernte er im St. Gile's House, in welchem bereits Georg Friedrich Händel 100 Jahre vorher den 4. Earl of Shaftesbury besucht hatte,20 viele englische Politiker kennen. Besonders beeindruckt war er von dem damals 57jährigen Stiefvater von Lady Ashley, dem Lord Henry John Temple Palmerston, der von 1830 bis 1851, mit einer fünfjährigen Unterbrechung als Oppositionsführer, Außenminister war und später als Premierminister von 1855 bis 1865 die Geschicke Englands bestimmen sollte. Der agile, nicht selten streitsüchtige und sich überall einmischende Lord entfaltete in den großen innenpolitischen Fragen Großbritanniens und in Sachen des politischen Gleichgewichts im gesamten Europa eine rastlose Tätigkeit, was ihm den Namen Lord Firebrand einbrachte. Er war eine beeindruckende und charismatische Persönlichkeit. Als ihm sein Doktor mitteilte, daß er unheilbar krank sei, antwortete er: »Die, my dear doctor! That's the last thing I shall do!« Seine gewichtigste Leistung war die Allianz zwischen England, Frankreich, Portugal und Spanien zum Schutz der konstitutionellen Interessen. Palmerston hatte wesentlichen Anteil an der Lösung der holländisch-belgischen Krise, wodurch es 1830/31 zur Gründung eines unabhängigen Staates Belgien kam. Was seine Beziehung zu Deutschland betraf, so erwarb er sich durch seine Parteinahme für Dänemark in der schleswig37 holsteinischen Frage in Preußen einen rigorosen Widersacher.21 Auch sonst schuf er sich und Großbritannien vor allem in seiner späteren Zeit durch seine teilweise undiplomatische Art viele Feinde, weswegen sich Großbritannien zeitweise in einer gewissen Isolation gegenüber den kontinentalen Staaten Europas befand. Während seiner zweijährigen Tätigkeit anfangs der 40er Jahre prägte die beeindruckende Persönlichkeit Palmerstons Heinrich Kruses politisches Weltbild entscheidend und nachhaltig. Noch viel später zeigte er immer wieder eine besondere Sympathie für die englische Monarchie und die britische Politik. Der englische Liberalismus war aus Kruses Sicht so etwas wie ein ideales Vorbild für Preußen. Noch lange pflegte er seine Kontakte zu Politikern und Journalisten in England und gründete seine spätere journalistische Einstellung wesentlich auf die in England gewonnen Erkenntnisse. Nachdem der inzwischen zwölfjährige Sohn Anthony des Earls von Shaftesbury eingeschult worden war, endete die Tätigkeit von Heinrich Kruse in England. Besonders schwer fiel ihm die Trennung vom jüngeren Bruder Francis, der ihm inzwischen sehr ans Herzen gewachsen war. Diese emotionale Bindung sollte sich später bei der Namensnennung seines Sohnes widerspiegeln. Die Heimreise trat Heinrich Kruse Ende 1843 an. Auf der Rückreise besuchte er in Hamburg seinen Onkel Kommerzienrat Georg Heinrich Kaemmerer, ein mit der Schwester seiner Mutter verheirateter Kaufmann und Inhaber der sehr erfolgreichen Firma G. H. Kaemmerer Soehne. Dieser machte ihn erstmals auf die ihm bisher nicht bewußte wirtschaftliche Krise seines Vaters aufmerksam. Dieser hatte, wie schon gezeigt wurde, bei seinen vielseitigen geistigen Interessen und den mit Hingabe übernommenen politischen Verpflichtungen die eigenen Geschäfte so sehr vernachlässigt, daß er in finanzielle Schwierigkeiten geriet und nahezu vor dem Bankrott stand. Heinrichs Vater hatte nicht rechtzeitig erkannt, daß die wirtschaftliche Blütezeit Stralsunds mit dem Niedergang der Hanse einem unwiderruflichen Ende entgegenging und die Stadt die einstmals führende Stellung im Tuchhandel längst an England verloren hatte.22 Schwager Georg Heinrich Kaemmerer erwies sich wiederholt als Retter in der Not und half mit großzügigen Darlehen zu niedrigen Zinsen. So konnte der drohende Bankrott noch einmal abgewendet werden. Zu jener Zeit hatte Heinrich Kruse noch enthusiastische Pläne über weitere Reisen nach Frankreich und Italien. Die Situation im elterlichen Haus bewogen ihn jedoch, diese Pläne über weitere Reisen aufzugeben und sich trotz innerlichen Widerstrebens umgehend um eine Anstellung als Lehrer zu kümmern.: »Es ist immer schmerzlich, wenn man die Handlungsweise eines Vaters nicht ganz billigen kann«, so schrieb er seinem Freund Max Kessler.23 »Es fällt mir nicht ein, über ihn zu klagen, kann es 38 auch meinerseits am allerwenigsten. Vater hat meiner Erziehung jedes Opfer bereitwillig entgegengebracht, und alles, woran ich zu denken habe, ist, wie ich mich dafür jetzt endlich dankbar bezeugen kann. Ich strebe jetzt eifrig, mir eine Anstellung zu verschaffen. Ich habe bereits eine Eingabe beim Minister gemacht und sie Deinem Vater geschickt.« Oberlehrer in Minden Im Herbst 1844 übernahm Heinrich Kruse eine Oberlehrerstelle in Minden. Dies sollte jedoch nur eine kurzfristige Durchgangsstation auf seinem weiteren beruflichen Weg sein. Das Gehalt war sehr dürftig und entsprach keineswegs dem Aufwand, der zur Ausfüllung dieser Position aufgebracht werden mußte.24 Außerdem machte sich bei ihm sehr bald die bereits bekannte Lustlosigkeit am Lehramt bemerkbar. Er war in dieser, nicht freiwilligen, sondern nur unter wirtschaftlichem Zwang gewählten Situation von Anbeginn sehr unglücklich und fühlte sich vorwiegend als leblose »Corrigiermaschine«. Die eigentlichen Aufgaben eines Ausbilders und die pädagogische Arbeit mit seinen Schülern blieben weit hinter seinen Vorstellungen und Erfahrungen zurück. In seinem Frust über seine Tätigkeit beschäftigte er sich in dieser Lebensperiode intensiv mit den literarischen Werken Jean-Jacques Rousseaus, George Sands und Victor Hugos oder las historische Werke des Göttinger Historikers Friedrich Christoph Dahlmann25, der in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 einer der Führer der kleindeutschen Partei war, oder des Berliner Staatswissenschaftlers Friedrich von Raumer26, der in seinem Hauptwerk, der Geschichte der Hohenstaufer, eingehend auf die dramatische Literatur einging, oder des Heidelberger Historikers Friedrich Christoph Schlosser27, einem seinerzeit bedeutenden Geschichtsschreiber im Sinne der Aufklärung zur Zeit eines aufkommenden Historismus. Hier wurde offensichtlich bereits ein besonderes Interesse für historische Dramen geweckt und entscheidende Weichen gestellt für Kruses spätere schriftstellerische Tätigkeit. Während seiner Mindener Zeit lernte Heinrich Kruse die sieben Jahre jüngere Louise Menckhoff kennen, die er 1852 in Minden heiratete, als er bereits einige weitere Stationen seines Lebensweges hinter sich hatte und bereits Ressortleiter bei der Kölnischen Zeitung war. Die Familie Menckhoff war seit Generationen im westfälischen Bielefeld ansässig. Louises Großvater war Steinsetzmeister und hatte ein Baugeschäft; ihr Vater, Generalleutnant Friedrich Wilhelm Menckhoff, war von 1839 bis 1846 Kommandeur des 15. Infanterie-Regiments Prinz Friedrich der Niederlande in Minden. Er wollte ursprünglich »Bauconducteur« werden, doch wurde er trotz des bereits bestandenen Staatsexamens zum Militärdienst herangezo39 gen und trat später in das preußische Heer ein. Er fiel durch seine stramme militärische Haltung auf, seine gütigen braunen Augen und sein volles weißes Haar, das in krausen Locken sein Haupt bedeckte. Er war sehr angesehen und die Bürger seiner Garnison sprachen noch 40 Jahre nach seinem Tode 1866 mit Verehrung von ihm, als sein Enkel Francis als Regierungspräsident nach Minden kam. Auch seine Frau Friederike, Tochter des Großkaufmanns Johann Peter Schmits, stammte aus dem altpreußischen Teil Westfalens, aus Hamm. Sie war eine kleine zierliche Frau mit großer Nase und großen Augen, sehr beweglich und angeregt, »dabei aber zu Hypochondrie und Pietismus hinneigend«.28 Sie überlebte ihren Mann um 16 Jahre und starb 1882 in Bückeburg, wo Heinrich Kruse nach seiner Pensionierung 1884 auch bis zu seinem Lebensende lebte. Doch zurück zu jener Mindener Zeit, als Heinrich Kruse drei Jahre lang Gymnasiallehrer bis 1847 war. Damals wurden in dem 30jährigen Heinrich eine gewisse journalistische Leidenschaft und ein steigendes Interesse für politische Vorgänge in Europa und insbesondere in Deutschland geweckt. Seit Anfang 1845 gehörte die Kölnische Zeitung, eine der bedeutendsten deutschen Tageszeitungen, zu seiner täglichen Lektüre. In der tiefsten Provinz in Minden, fern allen politischen Geschehens beneidete er seinen Freund Max Kessler, der eine Stelle als Gerichtsreferendar in Köln bekommen hatte: »Was Du von Deinen gesellschaftlichen Unterhaltungen mitteilst, interessiert mich sehr. Es ist doch besser in Köln zu sein, als in irgendeinem Nest an der russischen Grenze oder bei den Wasserpolacken. Bleib Du nur dem Rhein getreu und sehne Dich nicht nach den nüchternen Bierländern. […] Ich wollte nur, ich wäre auch erst am Rhein. Das überall erwachende Leben in Deutschland hat für mich viel Anziehendes. Der Deutsche Michel reibt sich die Augen und redet allerdings zuweilen noch wie im Traum.«29 Heinrich Kruse wurde in Minden zunehmend unzufriedener mit seinem Beruf als Lehrer und überlegte, wie er das frustrierende Dasein als Lehrer gegen eine Tätigkeit in der Politik oder im Pressewesen eintauschen konnte. So verfaßte er Denkschriften zur Verbesserung des Unterrichts,30 die er an das Kultusministerium schickte, in der Hoffnung, bei einer seiner nächsten Bewerbungen um eine bessere Stelle berücksichtigt zu werden. Doch das preußische Ministerium unter der Leitung von Johann Albrecht Eichhorn, einem orthodoxen Protestanten und Pietisten, war derartigen Reformvorschlägen völlig verschlossen. Somit hatte Heinrich Kruse keine Chance, gehört oder gar befördert zu werden. Auch alle Versuche, an ein Gymnasium einer größeren Stadt wie Elberfeld, Bremen oder Düsseldorf zu wechseln, schlugen fehl, da sich das gymnasiale Schulwesen seit 1840 in einer Krise befand. Der Grund war damals vordergründig ein erheblicher 40 Überschuß an Lehrern.31 Maßgeblicher war jedoch die gesellschaftspolitische Situation: Das Kultusministerium unter Eichhorn war in der sog Vormärzzeit der Jahre vor 1848 äußerst restriktiv und folgte mit vorauseilendem Gehorsam den Vorgaben König Friedrich Wilhelms IV., der Reformen, wenn überhaupt, sehr autokratisch nur dann zuließ, wenn sie sich an der konsistorialen Kirchenverfassung der evangelischen Kirche ausrichteten. Der eigentliche Architekt der neuen europäischen Staatenordnung von 1815, Klemens Fürst von Metternich, sah in der Entwicklung der einzelnen Staaten bereits bald nach der Umsetzung der neuen Struktur hier wie auch andernorts seine Befürchtungen bestätigt: Die sog Periode der Restauration (1815 – 1848) erwies sich durch mannigfaltige Restriktionen der einzelnen Staaten stark belastet. Bereits im August 1819 kamen die Minister der deutschen Staaten in Karlsbad überein, revolutionäre und freiheitliche Regungen rigoros zu unterbinden. Damit stagnierte jegliche Verfassungsentwicklung; Preußen u. a. kehrte zum Absolutismus zurück. National- und Freiheitsbewegungen wurden die Flügel gestutzt. Erst die Pariser Julirevolution von 1830 gab den nationalen und liberalen Leidenschaften wieder neuen Aufwind. Eine revolutionäre Welle erfaßte einen großen Teil Europas. Dies beflügelte allen voran die Schriftsteller des Jungen Deutschlands wie Heinrich Heine, Georg Herwegh, Georg Büchner, Christian Dietrich Grabbe oder August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Auch Heinrich Kruse fühlte sich damals begeistert von dem allgemeinen Freiheitsgedanken. Er hielt am 15. Oktober 1846 anläßlich des Geburtstags des Königs eine viel beachtete Rede in seiner Mindener Schule. »Eine Staatsverfassung ist unerläßlich! Das Gefühl geht durch das ganze Volk und spricht sich darin aus, daß immerzu von neuem das Gerücht entspringt, Seine Majestät der König sei im Begriff, in seiner Weisheit dem Staate aus eigener Bewegung eine Verfassung zu verleihen.« In seiner Rede wies er darauf hin, daß Deutschland sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik gegenüber anderen Ländern enorm rückständig sei. Er appellierte an die Mündigkeit der Bürger und vertrat mit Nachdruck die Meinung, daß König und Volk gemeinsam über staatliche Angelegenheiten entscheiden sollten. Die Rede endete mit seiner Forderung nach einer dringend notwendigen Verfassung.32 Tags darauf berichtete Heinrich Kruse an seinen Freund Max Kessler: »Hier ist die Begebenheit des Tages meine gestrige Rede. Ich sprach mit anständigem Freimut. Aber so sehr die Menschen erwarten, an diesen Tagen nur eine Menge nichtssagender widerlicher Schmeicheleien zu hören, so überraschend ist es für sie, daß wirklich jemand offen spricht wie er denkt. […] Der Präsident ist in tausend Ängsten, daß die Zeitungen davon melden möchten, daß in seinem Minden eine freisinnige Rede gehalten wäre. 41 Schon hat er darüber nachgedacht, wie dergleichen events künftig verhindert werden könnten.«33 Die vielfältigen und positiven Reaktionen auf diese Rede bekräftigten Heinrich Kruse in seinem bereits gefaßten Entschluß, baldmöglichst den Wechsel vom Lehrer zum Journalisten zu vollziehen. Trotz ausbleibender Kritik seitens des Oberschulamtes,34 sah Heinrich Kruse für sich in seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer keine weitere Zukunftsperspektive: »Als Lehrer am Gymnasium zu Minden widmete ich mich der Jugend mit Eifer und darf sagen, daß meine Schüler an mir hingen. Aber wie Sie richtig vermuteten, glaubte ich durch meinen Lebensgang, meine Studien und meine Macht über die Sprache befähigt zu sein, mir einen größeren Wirkungskreis zu suchen. Ich beschloß mich der Presse zu widmen.«35 Anmerkungen 1 Friedrich Curtius (Hrsg.): Ernst Curtius. Ein Lebensbild in Briefen. Julius Springer Berlin, 1903 2 Karl Theodor Gaedertz: Emanuel Geibel. Sänger der Liebe, Herold des Reiches. Wigand, Leipzig 1897, S. 114 3 Christine Göhler: Emanuel Geibel. Ein Lebensbild in Selbstzeugnissen und Berichten seiner Freunde. Sventana, Schellhorn 1992 4 Peter Hauptmann (Hrsg.): Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel (1783 – 1843). Monographienreihe Kirche im Osten, Bd. 20, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987 5 Heinrich Kruse: Brief aus Riga an seine Eltern vom 17.2.1840. Nachlaß Kruse, HeinrichHeine-Institut, Düsseldorf 6 Heinrich Kruse: Briefe an seine Eltern aus St. Petersburg vom 18.3., aus Moskau vom 1.5. und aus Eisenberg (elazna Gora, Ostpreußen) am 16.7.1840. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf 7 Nikolaus Katzer: Der gescheiterte Staatsstreich des aufgeklärten Adels. Der Dekabristenaufstand von 1825 in Rußland. In: Große Verschwörungen. Hrsg. Uwe Schultz, C.H. Beck, München 1998, S. 175-192 8 Heinrich Kruse an Georg Heinrich Kaemmerer (Onkel von Heinrich Kruse). 15.5.1838. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf 9 Julius Elk: Die jüdischen Kolonien in Rußland; Kulturhistorische Studie und Beitrag zur Geschichte der Juden in Rußland. Georg Olms, Hildesheim 1970 10 Heinrich Kruse an Georg Heinrich Kaemmerer am 24.12.1838. »Selbst die Kinder sind hier nur auf ihren Vorteil bedacht, wenn sie freundlich zu mir sind, wissen sie genau warum. Ich, der Mensch, bin ihnen gleichgültig.« Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 11 Heinrich Kruse an Max Keßler am 25.9.1845: »Meine alten tief in der Überzeugung wurzelnden Grundsätze, die sich bei mir im Lande der Knechtschaft, in Rußland mit feurigen Zügen eingebrannt haben.« Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Dieses Bild von Rußland mit einer barbarischen, von Despoten geknechteten Bevölkerung war in den westlichen europäischen Ländern weit verbreitet. Es hatte seinen historischen Ursprung in der Tatsache, daß Rußland seit der Kirchenspaltung 1054 nicht mehr als Teil des christlichen Abendlandes anerkannt wurde und durch die Mongolenherrschaft von der Entwicklung im übrigen Europa abgeschnitten worden war. Den Westeuropäern, geprägt von der Form des Ständestaates oder später einer liberalen Konstitution, erschien der russische Absolutismus als Tyrannei. Vgl. Th. J. G. Locher: Das abendländische Rußlandbild seit dem 16. Jahrhundert. Wiesbaden 1965. – Heinrich Kruse: Leitartikel »Rußland« in der Kölnischen Zeitung vom 6.1.1850, in dem Kruse allein Rußland die Schuld an den außenpolitischen Spannungen gab, aus denen sich später der Krimkrieg entwickelte. Vgl. Karl Buchheim: Die Geschichte der Kölnischen Zeitung Bd. 111 1850 – 1858. Köln 1976, S. 123-124; Bd. IV. Köln 1979, S. 113. 12 Susanne Schwabach-Albrecht: Heinrich Kruse – ein Journalist und Schriftsteller im 19. Jahrhundert, Archiv der Geschichte des Buchwesens, Bd. 57, K.G. Saur, München 2003, S. 288 Anm. 8 und 9 13 Karl-Ernst Jeismann: Geschichte und Bildung. Zur Professionalisierung der Gymnasiallehrer im 19. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn 2000, S. 332 14 Heinrich Kruse an Georg Heinrich Kaemmerer am 21.9.1841: »Ich habe hart am Gymnasium zu unterrichten, nicht ohne Erfolg, wie ich glaube, aber ohne jene Freudigkeit, mit welcher man einen Beruf anzufangen pflegt, in welchem man die ganze Aufgabe seines Lebens zu erkennen glaubt.« Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 15 Geoffrey Francis Andrew Best: Shaftesbury. Batsford Publ., London 1964 16 Antony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury, 3. Earl of Shaftesbury: Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. (Hrsg. Gerd Hemmerich & Wolfram Benda,) Frommann-Holzboog, Stuttgart 1981 – 1998 17 Johann Georg Lehmann: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Graf Shaftesbury. Lebensbild eines edlen Menschenfreundes. Oncken Nachf., Hamburg 1886; Antony Ashley 43 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 44 Cooper, Earl of Shaftesbury, 7th Earl of Shaftesbury et al: Report of the Metropolitan Commissioners in Lunacy, to the Lord Chancellor. Presented to Both Houses of Parliament by Command of Her Majesty, Bradbury & Evans Publ., London 1844 Heinrich Kruse an Max Keßler am 24.9.1841. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Siehe auch: Susanne Schwabach-Albrecht: Heinrich Kruse – ein Journalist und Schriftsteller im 19. Jahrhundert, Archiv der Geschichte des Buchwesens, Bd. 57, K.G. Saur, München 2003, S. 288 Heinrich Kruse an Friederike Kessler (Ehefrau von Georg Wilhelm Kessler) am 17.11.1841. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Siehe auch: Susanne Schwabach-Albrecht: Heinrich Kruse – ein Journalist und Schriftsteller im 19. Jahrhundert, Archiv der Geschichte des Buchwesens, Bd. 57, K.G. Saur, München 2003, S. 289 Siegfried Flesch: Händel, Lebens- und Schaffensdaten. In: Händel-Handbuch, Bd. 1. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, S. 11-35 Windham Dalling and Henry Lytton Bulwer: The life of Henry John Temple, Viscount Palmerston: with selections from his diaries and correspondence. Completed by Anthony Ashley Cooper 1876, 2 Vol., Richard Bentley Publ., London 1870 Susanne Schwabach-Albrecht: Heinrich Kruse – ein Journalist und Schriftsteller im 19. Jahrhundert. Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 57, Buchhändler-Vereinigung, Frankfurt am Main 2003, S. 289 Heinrich Kruse an Max Kessler am 6.2.1845. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf Heinrich Kruse an Friederike Kessler am 8.7.1844. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Siehe auch: Zur Besoldung von Gymnasiallehrern: Karl-Ernst Jeismann. s. o., S. 341 Anton Springer: Friedrich Christoph Dahlmann. Hirzel-Verlag, Leipzig 1870 Friedrich von Raumer: Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit. Sechs Bände, F.A. Brockhaus, Leipzig 1823 – 1925 Ellen-Charlotte Sellier-Bauer: Friedrich Christoph Schlosser. Ein deutsches Gelehrtenleben im neunzehnten Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004 Francis Kruse: Vergangenes und Gebliebenes. Lebenserinnerungen eines preußischen Beamten. Godesberg 1923, Privatdruck Ingeborg Schulz-Schomburgk, Eschwege 1967, S. 13 Susanne Schwabach-Albrecht: Heinrich Kruse – ein Journalist und Schriftsteller im 19. Jahrhundert. Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 57, Buchhändler-Vereinigung, Frankfurt am Main 2003, S. 289 Heinrich Kruse: Die Verbesserung der schriftlichen Arbeiten. Minden 1844. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf; Heinrich Kruse: Der Unterricht in den alten Sprachen. Ein Vorschlag zu dessen Wiederbelebung. Minden 1847. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Jörg Requate: Journalismus als Beruf, In: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 109. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995 Heinrich Kruse: Rede zum Geburtstag des Königs am 15.10.1846. »Eine Staatsverfassung sei unerläßlich! Das Gefühl geht durch das ganze Volk und spricht sich darin aus, daß immerzu von neuem das Gerücht entspringt, Sr. Majestät der König sei im Begriff, in seiner Weisheit dem Staate aus eigener Bewegung eine Verfassung zu verleihen.« Nachlaß Kruse, HeinrichHeine-Institut, Düsseldorf. – Susanne Schwabach-Albrecht: Heinrich Kruse – ein Journalist und Schriftsteller im 19. Jahrhundert, Archiv der Geschichte des Buchwesens, Bd. 57, K.G. Saur, München 2003, S. 290, Anm. 24. Heinrich Kruse an Max Kessler am 16.10.1846. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Provinzial-Schul-Kollegium an Heinrich Kruse am 29.10.1846. Nachlaß Kruse, HeinrichHeine-Institut, Düsseldorf Heinrich Kruse an einen Freund am 7.2.1891. Nachlaß Kruse, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf
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