Gerade in guten Zeiten sollte in die Zukunft investiert werden

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MARCEL FRATZSCHER
„Gerade in guten ­Zeiten
sollte in die Zukunft
­investiert werden“
Professor Marcel Fratzscher leitet das renommierte Deutsche Institut
für ­Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und hat an vielen Orten
der Welt gelebt und gearbeitet. BONUS sprach mit ihm über seine
­Arbeit als Wissenschaftler und Berater der Bundesregierung
S
ie gehören zu den besten Wirtschaftsexperten der
Welt. Warum haben Sie Wirtschaft studiert und
sind Ökonom geworden? War das auch als Jugendlicher schon Ihr Berufswunsch?
Ohne es zu wissen, habe ich mich schon sehr früh für Ökonomie
interessiert. In der Schule fand ich das Fach Geografie sehr spannend. Dahinter stand mein starkes Interesse für andere Länder
und Kontinente. Dabei ging mein Interesse über die Geografie
dieser Länder hinaus. Mich interessierten auch die Geschichte,
die Kultur, die anderen Sichtweisen und Lebensbedingungen der
und arbeitete, kam es 1997 zur Asienkrise, von der Indonesien
sehr stark betroffen war. Indonesien war in den Jahren zuvor
stark gewachsen. Nun sah ich vor Ort, welche katastrophalen
Auswirkungen eine verfehlte Politik haben kann. Die Auswirkungen der Krise für die Menschen waren viel härter, als wir es
aus Deutschland kennen. Menschen verloren ihre Arbeit, und
Obdachlosigkeit und Verelendung griffen um sich. Beängstigend war die Geschwindigkeit, mit der das passierte. Innerhalb
weniger Wochen wurde zerstört, was vorher über lange Zeiträume aufgebaut worden war. Schließlich kam es zu Unruhen und
zu einem Bürgerkrieg, meine Nachbarn
wurden wegen ihres ethnischen Ursprungs
ermordet. Ich musste deswegen zeitweise das Land verlassen. Diese Erfahrung
motivierte mich, meine Arbeit auch darauf
zu konzentrieren, wie solche Verwerfungen vermieden werden
können.
„Schon in der Schule hatte ich ein starkes Interesse
für andere Länder und Kontinente“
Menschen. Besonders fasziniert haben mich dabei die Entwicklungsländer und deren wirtschaftliche Entwicklung. Was führt
zu Wohlstand, Sicherheit und Entwicklung? Welche unterschiedlichen Wege haben diese Länder eingeschlagen, um diese Ziele
zu erreichen? Um all das zu verstehen, ist die Ökonomie sehr
wichtig. Über diesen Umweg kam ich zur Ökonomie.
Mit 44 Jahren blickt Marcel Fratzscher
bereits auf langjährige und vielseitige
internationale Erfahrungen zurück
Ihr Lebenslauf ist sehr international. Sie haben an ganz
­ nterschiedlichen Orten der Welt gelebt – zum Beispiel in
u
Oxford, auf den Philippinen, in Cambridge, Kenia, Indonesien, Florenz, Washington und an anderen spannenden
Orten. Wo hat es Ihnen am besten gefallen?
Interessante Erfahrungen habe ich überall gesammelt. In den
USA und in Großbritannien hat mich das Bildungssystem sehr
beeindruckt. In beiden Ländern sind die Universitäten deutlich
internationaler ausgerichtet als in Deutschland. Wir können
davon viel lernen. Besonders tiefgreifende Erfahrungen habe ich
während meiner Zeit in Indonesien gemacht. Als ich dort lebte
Trotz der Krise in Europa geht es uns in Deutschland vergleichsweise gut – auch der Binnenkonjunktur. Das ist ein
Indikator für gute Stimmung und Zuversicht bei den Verbrauchern. In Ihrem Buch „Die Deutschland-Illusion“ weisen Sie
aber darauf hin, dass es uns gar nicht so gut geht, wie wir
denken. Wie meinen Sie das?
Es ist richtig, dass unser Lebensstandard im Vergleich zu vielen
anderen Ländern vergleichsweise hoch ist. Aber bei genauerer Betrachtung fällt Folgendes auf: Gemessen an der realen Kaufkraft
sind die Einkommen vieler Berufsgruppen in den letzten Jahren
zurückgegangen. Außerdem investiert der Staat seit Jahren viel zu
wenig in die Zukunft. Es wird zu kurzfristig gedacht. Besonders
nötig sind öffentliche Investitionen in den Bereichen Bildung,
Infrastruktur und digitale Infrastruktur. In diesen Bereichen sind
viele andere Länder weiter als wir. Das hat zur Folge, dass viele »
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wir eine zunehmende Rückkehr nationaler Egoismen in Europa.
Die Flüchtlingskrise ist ein aktuelles Beispiel dafür. Der wirkliche
Wille, die Probleme gemeinsam zu lösen und sinnvolle Kompromisse zu finden, ist kaum vorhanden. Nach meiner Überzeugung
wird Europa ökonomisch langfristig nur mithalten können,
wenn die Europäer ihre Probleme gemeinsam lösen. Wenn wir in
nationale Egoismen zurückfallen, werden wir auf die Dauer nicht
gegen die aufstrebenden Regionen der Welt bestehen können.
international tätige Firmen neue Arbeitsplätze lieber im Ausland
schaffen. Das sollte uns alarmieren, auch wenn es uns im Moment
auf den ersten Blick noch gut geht. Gerade in guten Zeiten sollte
in die Zukunft investiert werden.
Diese Investitionen müssen auch bezahlt werden. Woher
soll der Staat das Geld nehmen? Müssen dafür die Steuern
erhöht werden?
Nein, dafür müssen die Steuern nicht erhöht werden. Ich glaube
sogar, dass die Bürger steuerlich entlastet werden können. Momentan sind sehr hohe Steuereinnahmen vorhanden. Es wird nur
viel zu zaghaft investiert. Es fehlt an Mut und an Weitblick. Es
wird zu kurzfristig gedacht.
Die Krise in den südeuropäischen Staaten ist noch nicht
überwunden. Wie schätzen Sie die Lage dort ein? Sind diese
Länder auf einem guten Weg?
In Spanien, Portugal und Irland sind bereits Anzeichen einer Besserung zu sehen. Griechenland ist ein Sonderfall. Auch das ist zu
schaffen. Aber die Probleme dort sind nur mit einem sehr langen
Atem zu lösen. Das wird uns noch einige Jahre beschäftigen.
„Auf den ersten Blick geht es uns noch gut. Aber
­gerade dann sollte in die Zukunft investiert werden“
„Der Wille, Probleme gemeinsam zu
lösen, ist in Europa kaum vorhanden“
Momentan arbeiten Sie an einem Buch über Folgen der
Ungleichheit in der Gesellschaft. Welche Konsequenzen hat
es für unser Land, wenn ein großer Teil der Menschen ökonomisch nicht in der Lage ist, aktiv am Leben teilzunehmen
und eigene Potenziale zu entfalten?
Die zunehmende Ungleichheit hat zunächst negative Folgen für
die zunehmende Zahl der Menschen mit geringem Einkommen.
Sie können nicht nur weniger konsumieren, sondern sind auch
nicht in der Lage, in Bildung und Weiterbildung zu investieren.
Daraus folgend können sie ihre Potenziale nicht entfalten. D
­ as
steht im Gegensatz zum oberen Teil der Gesellschaft, der sehr
stark in eigene Bildung investiert. Dadurch verfestigen sich die
Gegensätze. Darüber hinaus wird durch diese Entwicklungen
auch das gesamte Einkommen der Volkswirtschaft geringer.
Man könnte sagen, dass der Kuchen, der zu verteilen ist, deutlich
größer sein könnte.
In der westlichen Welt haben wir uns jahrzehntelang auf
Wirtschaftswachstum als wichtiges politisches Ziel konzentriert. Wissenschaftlich erwiesen ist aber, dass die Lebensqualität der Menschen nicht nur vom Wirtschaftswachstum
abhängig ist. Kann eine Gesellschaft aus Ihrer Sicht auch
mit weniger Wirtschaftswachstum lebenswert sein? Ist
Wohlstand auch ohne Wachstum möglich?
Eine einseitige Konzentration nur auf Wachstum ist sicher nicht
ausreichend. Für die Lebensqualität der Menschen sind auch andere Faktoren wichtig. Trotzdem möchte ich Wirtschaftswachstum und Lebensqualität nicht eindeutig voneinander trennen. Als
Wirtschaftswissenschaftler würde ich sagen, diese Faktoren sind
komplementär. Sie bedingen sich gegenseitig.
Interview: Michael Anton
Wie kann die Politik gegensteuern?
Momentan passiert eher das Gegenteil. Viele gut gemeinte Wohltaten des Staates kommen nicht bei denen an, die tatsächlich mehr
Einkommen bräuchten. Beispielhaft hierfür sind die Rente mit
63 und die Mütterrente. Gefragt sind Maßnahmen, die langfristig
wirken. Zum Beispiel könnte man die Erlangung von finanzieller
Kompetenz und den sinnvollen Umgang mit Geld in den Schulen
auf den Lehrplan setzen. Dadurch würden junge Leute sehr früh
die Möglichkeit bekommen, in diesem wichtigen Bereich Kompetenz aufzubauen und beispielsweise sinnvolle Maßnahmen für die
Altersversorgung zu ergreifen.
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Finanzielle Kompetenz und der Umgang
mit Geld sollten nach Meinung von Marcel
Fratzscher auf den Lehrplan von Schulen
gesetzt werden
Marcel Fratzscher (Jahrgang 1971) leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Als unabhängiges Institut mit rund 250
Mitarbeitern zählt das DIW zu den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten in Europa. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Themen zur europäischen
Schuldenkrise, Finanzstabilität und zu Kapitalverkehrskontrollen. Außerdem
konzentriert seine Forschung sich auf die globalen Übertragungsmechanismen von Finanzkrisen und die Reformen des internationalen Währungssystems. Marcel Fratzschers Lebenslauf ist sehr international. Er wuchs in der
Nähe von Bonn auf und studierte und forschte in Kiel, Oxford, Cambridge
und in Florenz. Im Jahr 1996 arbeitete er bei der Weltbank und für kürzere
Perioden in Asien und Afrika. Während der Asienkrise 1997 bis 1998 war er
beim Harvard Institute for International Development in Jakarta tätig, von
2001 bis 2012 für die Europäische Zentralbank in Frankfurt. Zudem arbeitete er in den Jahren 2000 und 2001 beim Peterson Institute for International
Economics in Washington. Marcel Fratzscher wirbt für mehr öffentliche
Investitionen. Trotzdem möchte er sich als unabhängiger Wissenschaftler
nicht politisch vereinnahmen lassen.
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Fotos: DIW Berlin, Fotofinder
Sie haben einmal das Buch „Erinnerungen eines Europäers“
von Stefan Zweig als eines Ihrer Lieblingsbücher angegeben. Der Autor beschreibt darin ausführlich die Zeit vor
dem Ersten Weltkrieg und die Zeit zwischen den Weltkriegen. Bei der Lektüre dieses Buches denkt man mit Blick auf
aktuelle wirtschaftliche Krisen: „Alles schon mal dagewesen.“ Gibt es aus Ihrer Sicht Parallelen der heutigen Krisen
zu damals oder hinkt der Vergleich?
Es gibt durchaus Parallelen zu damals. Stefan Zweig beschreibt
in seinem Buch zunächst das Europa vor dem Ersten Weltkrieg.
Dann greift zunehmender Nationalismus und Egoismus in Europa um sich. Es kommt schließlich zum Krieg. Auch heute erleben
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