eine dialektische begegnung zwischen feerie und phantasmagorie

Dieter Brusselaers & Kurt Vanhoutte
VON FEEN UND SKELETTEN: EINE DIALEKTISCHE BEGEGNUNG ZWISCHEN FEERIE
1
UND PHANTASMAGORIE IN WALTER BENJAMINS PASSAGEN-WERK
„Die Untersuchung macht sich zur Aufgabe, darzustellen, wie die Bezugnahme auf die
verdinglichte Vorstellung von Kultur die neuen, vor allem durch die Warenproduktion
bedingten Schöpfungen und Lebensformen, welche dem vorigen Jahrhundert zu danken sind,
dem Ensemble einer Phantasmagorie einbeziehen“2 – so schreibt Walter Benjamin in der
deutschen Fassung seines ursprünglich 1939 auf Französisch verfassten Exposés „Paris,
Capitale du XIXème siècle“ („Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“), das als Vorwort
zu seinem Passagen-Werk gedacht war. Gegen Ende des gleichen Exposé erfährt man: „Die
von diesen Phantasmagorien beherrschte Welt ist – mit einem Schlüsselwort, das Baudelaire
für sie gefunden hat – die Moderne.“3 Benjamin geht sogar so weit, die Ähnlichkeit zwischen
den kulturellen Erzeugnissen des 19. Jahrhunderts und der Phantasmagorie dahingehend zu
untersuchen, als diese Erzeugnisse für ihn „nicht erst in theoretischer Verarbeitung
ideologisch[,] sondern in unmittelbarer Präsenz sinnlich ‚verklärt‘ werden“: Sie stellen sich
als Phantasmagorien dar.“4
Offensichtlich ist die Phantasmagorie für Benjamin eine wichtige Denkfigur der
Moderne. Wie Margaret Cohen festgestellt hat, ist sie das bedeutsamste „visuelle Emblem“5
der Moderne im Passagen-Werk – diese Aussage besitzt zumindest für die letzte uns bekannte
Version des Passagen-Werks Gültigkeit. Allerdings hat dieses Werk, das aus Zitaten mit
dazwischengeschobenen fragmentarischen Kommentaren Benjamins besteht und das
bisweilen als eine ausufernde histoire des mentalités6 von Paris im 19. Jahrhundert bezeichnet
wurde, eine Reihe von Veränderungen seit seiner ersten Fassung in Form eines
1
2
3
4
5
6
Der vorliegende Beitrag ist zunächst in englischer Sprache unter dem Titel „Of fairies and
skeletons: A dialectical encounter between the féerie and the phantasmagoria in Benjamin’s
Passagen-Werk“ in einem der Féerie gewidmeten Dossier der Zeitschrift Lendemains 38/152
(2013), 97-108, erschienen.
Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften [im Folgenden: GS] V.1-2. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, hier GS V.2, 1255f. Französische Originalfassung: „Notre enquête se propose de
montrer comment par suite [d’une] représentation chosiste de la civilisation, les formes de vie
nouvelle et les nouvelles créations à base économique et technique que nous devons au siècle
dernier entrent dans l’univers d’une fantasmagorie.“ (GS V.1, 60)
GS V.2., 1258. Frz. Fassung: „Le monde dominé par ses fantasmagories, c’est – pour nous servir de
l’expression de Baudelaire – la modernité.“ (GS V.1, 77).
GS V.2, 1256. Französische Fassung [im Kontext]: „[Ces créations subissent cette ‚illumination‘]
non pas seulement de manière théorique, par une transposition idéologique, mais bien dans
l’immédiateté de la présence sensible. Elles se manifestent en tant que fantasmagories“ (GS V.1,
60).
Margaret Cohen: „Walter Benjamin’s Phantasmagoria“. In: New German Critique 48 (1989), 87107, hier 95.
Richard Sieburth: „Benjamin the Scrivener“. In: Assemblage 6 (1988), 7-23, hier 8.
2
fünfzigseitigen Essays erfahren. Benjamin hatte an den ersten Skizzen seit 1927 gearbeitet,
erweiterte den Umfang des Projekts, als er ihm die Form einer „literarische[n] Montage“ 7 von
Rohmaterial gab, und hinterließ es schließlich unvollendet bei seinem Tod im Jahre 1940. 8 In
diesem Zeitraum nahm nicht durchgängig die Phantasmagorie den Platz des bevorzugten
visuellen Emblems der Moderne ein. Aus einem Brief an Gershom Scholem ist bekannt, dass
der Essay, der sich zum Passagen-Werk entwickeln sollten, ursprünglich den Untertitel Eine
dialektische Feerie tragen sollte.9 Und obwohl Benjamin sich keinen vergleichbaren Untertitel
einfallen ließ, der die übergeordnete Bedeutung der Phantasmagorie andeutete, legt doch die
allein schon die zunehmende Bedeutung des Phantasmagoriebegriffs in seinem Werk die
Vermutung nahe, die vor allem in Cohens Artikel von 1989 geäußert wurde, dass er im
Grunde die Metaphorik einer Form spektakulärer Aufführung durch eine andere ersetzte.10
Es stellt sich natürlich die Frage nach dem Grund für diese Neukonzeption. Benjamin
selbst sagt dazu nichts Genaueres. 1935 schreibt er in einem Brief an Gretel Adorno, dass
Perspektiven, die sich aus den ersten Vorstudien für seinen Essay ergaben, nur zu einer
„unerlaubt ‚dichterische[n]‘“ Gestaltung führten, was ihn dazu gebracht habe, den Untertitel
„Eine dialektische Feerie“ in der zweiten Version seines Projekts wieder fallenzulassen.11 Er
führt diese allgemeine Aussage jedoch nicht näher aus und lässt uns so im Unklaren über die
wahren Gründe dafür, warum er eine Annäherung an seinen Gegenstand über die Feerie
weniger statthaft sei als über die Phantasmagorie. Cohen geht davon aus, der Verzicht auf die
komme von „the term’s lack of sufficient resonance in the theoretical sphere“.12 Anders
ausgedrückt legt sie damit nahe, Benjamin bevorzuge die Phantasmagorie, weil der Ausdruck
in der marxistischen Tradition eingeführt ist – eine Ansicht, die beispielsweise auch Rolf
Tiedemann, der Herausgeber des Passagen-Werks, teilt.13 Andererseits erkennt Cohen auch
an, dass es unmöglich ist, Benjamins Gebrauch des Ausdrucks Phantasmagorie ohne Wissen
um das konkrete visuelle Dispositiv ganz zu erfassen.14
7
8
9
10
11
12
13
14
GS V.1, 574 [N1a,8].
Susan Buck-Morss: The Dialectics of Seeing: Walter Benjamin and the Arcades Project.
Cambridge/London: MIT Press 1989, 5.
Vgl. Cohen: „Phantasmagoria“, 105f.; zum ursprünglich geplanten deutschen Titel vgl. die
Einleitung des Herausgebers Rolf Tiedemann in GS V.1, 11-41, hier 14f., sowie einen in GS V.2,
1083 abgedruckten Brief an Gershom Scholem vom 30.1.1928.
Auch wenn Benjamin die Feerie als visuelles Emblem schließlich aufgibt, bleiben dennoch einige
Einträge zu diesem Thema in der veröffentlichten Fassung des Passagen-Werks bestehen, v.a. im
Konvolut Y. Vgl. GS V.2, 825f. [Y1,3; Y1a,1; Y1a,6 und Y2,1] sowie unter Umständen auch GS
V.2, 834 [Y5a,2].
Brief an Gretel Adorno vom 16.8.1935, GS V.2, 1137-1140, hier 1138.
Margaret Cohen: Profane Illumination: Walter Benjamin and the Paris of Surrealist Revolution.
Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1993, 254. Die Monographie
Profane Illumination enthält eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Cohen ursprünglich
1989 in New German Critique erschienenem Artikel.
Interessanterweise glaubt Rolf Tiedemann in Benjamins Gebrauch des Begriffs Phantasmagorie ein
verfehltes Verständnis marxistischer Theorie zu sehen. Vgl. „Einleitung des Herausgebers“. In: GS
V.1, 26-31.
Cohen: Profane Illumination, 231f. Gyorgy Markus hält Benjamins Verständnis der
Phantasmagorie ebenfalls für unvereinbar mit orthodoxer marxistischer Theoriebildung: „Walter
Benjamin or the Commodity as Phantasmagoria“. In: New German Critique 83 (2001), 3-42, hier
25.
3
Daher soll es im vorliegenden Beitrag nicht nur darum gehen, eine These aufzustellen,
die eine Erklärung für Benjamins letztliche Zurückweisung der Feerie als eine legitime
Denkfigur der Moderne liefert, sondern auch darum, diese Hypothese auf die visuelle
Grundlegung von Benjamins Schriften zu beziehen und dabei seine „disruptive appropriation
of existing visual technologies“15 von der rein theoretischen (bzw. marxistischen) Ebene
abzugrenzen. Die in diesem Beitrag verfolgten methodische Vorgaben stammen dabei von
Benjamin selbst und machen von der für das Passagen-Werk zentralen „literarischen
Montage“ Gebrauch: Wir greifen auf das „dialektische Bild“ zurück, d.h. auf Benjamins
konjekturale Verbindung von scheinbar nicht aufeinander bezogenen Fragmenten visueller
und anderer Information zu einer neuen Konstellation, die eine blitzartige Erkenntnis auslösen
soll.16 Insbesondere soll eine dialektische Spannung zwischen dem Spektakel der
Phantasmagorie und demjenigen der Feerie entwickelt werden, um konkret benennen zu
können, was letztere dafür (un-)geeignet macht, die Zwecke des Passagen-Werks zu erfüllen,
indem wir in den beiden jeweils zu Grunde liegenden visuellen Technologien nach den
Gründen suchen, die Benjamin dazu geführt haben könnte, die eine von ihnen aufzugeben und
die andere dafür zu übernehmen.
Die Feerie und die Phantasmagorie als Spektakel
An dieser Stelle bietet sich eine nähere Beschreibung der Art und Weise an, wie die Feerie
und die Phantasmagorie seinerzeit als Schauspiel dargeboten wurden. Von Bedeutung ist
dabei der Hinweis, dass beiden Gattungen raumzeitlich an das Paris des 19. Jahrhunderts
gebunden waren (was angesichts des Schwerpunkts des Passagen-Werks auch naheliegt).
Neben ihrer historischen Überschneidung wiesen die Feerie und die Phantasmagorie noch
andere Gemeinsamkeiten auf. Sie gehörten beide zu den populären Vergnügungen, die ihre
Grundlagen in einer Spektakularität hatten, die vor allem durch technische Mittel erzeugt
wurde. Diese Zurschaustellung von beeindruckenden visuellen Kunstgriffen diente in beiden
Fällen der Darstellung von übernatürlichen Phänomenen, wenn auch jeweils in einem sehr
unterschiedlichen Rahmen.
Roxane Martin situiert die Blütezeit der Feerie vor allem zwischen 1791 und 1864. Sie
bindet die Entstehung der Gattung historisch an die Existenz von kommerziellen
Privattheatern in Frankreich und fügt hinzu, dass die Gattung nach der Zerstörung des
ursprünglichen Boulevard du Temple mit seinen vielen Theatern im Jahr 1862 allmählich
erstarrte.17 Hélène Laplace-Claverie setzt einen vergleichbaren zeitlichen Rahmen an und
sieht „l’âge d’or de la féerie française“ zwischen 1806 (dem Jahr der Uraufführung des
populären Stücks Le Pied du mouton) und 1870.18 Die Feerie war in diesem Zeitraum eine
15
16
17
18
Cohen: „Phantasmagoria“, 103.
Vgl. Susan Buck-Morss: „The Flâneur, the Sandwichman and the Whore: The Politics of
Loitering“. In: Beatrice Hanssen (Hg.): Walter Benjamin and The Arcades Project. London/New
York: Continuum 2006, 34.
Roxane Martin: La Féerie romantique sur les scènes parisiennes, 1791-1864. Paris: Honoré
Champion 2007, 19.
Hélène Laplace-Claverie: Modernes féeries: Le Théâtre français entre réenchantement et
désenchantement. Paris: Honoré Champion 2007, 35-45.
4
beliebte Theatergattung,19 eng verwandt mit dem Melodrama.20 Man kann die Charakteristika
dieser Art von Theateraufführung grob als die Darstellung von ziemlich manichäisch
strukturierten Geschichten definieren, die übernatürliche Elemente enthalten und ausgiebigen
Gebrauch von Bühnenmaschinerie machen, um spektakuläre Effekte zu erzeugen. 21 Sehr
beliebte und verbreitete Bestandteile einer Feerie waren insbesondere die so genannten
changements à vue, bei denen sich ein Bühnendekor vor den Augen der Zuschauer in ein
anderes verwandelte, und die transformations à vue, d.h. die Tricks, die die Ersetzung von
Personen oder Gegenständen betrafen – was Kristian Moen zu der Behauptung veranlasste,
dass die Verwandlung für die Feerie konstitutiv ist.22 Seit den Vierzigerjahren des
19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung sowohl des Humors als auch der spektakulären
technischen Attraktionen in der Feerie zu und führte dazu, dass sich das Genre an diesen
Elementen ausrichtete und einen immer episodischeren Charakter gewann.23
Im Gegensatz dazu hatte die Phantasmagorie als populäre Unterhaltungsform deutlich
andere Eigenheiten. Sie lässt sich am besten als eine gothic horror show beschreiben und
dreht sich vor allem um die optische Illusion der Anrufung von Gespenstern.24 Eine typische
19
20
21
22
23
24
Beträchtliche Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Zeitraums im 19. Jahrhundert, in der die
Gattung Feerie die französischen Bühnen dominierte, ergeben sich aus dem uneinheitlichen
Gebrauch des Ausdrucks „Feerie“ als Gattungsbezeichnung vor allem in ihrer Anfangsphase. Vgl.
Martin: Féerie romantique, 42ff. Hélène Laplace-Claveries monographische Studie Modernes
féeries zeigt ihrerseits das durchaus lebhafte Fortbestehen der Feerie im 20. Jahrhundert auf. Was
Benjamin betrifft, verschafft eine im Passagen-Werk zitierte Liste „erfolgreiche[r] Theaterstücke
aus der Jahrhundertmitte“ ausreichend Klarheit darüber, dass Benjamin an die Feerie auf dem
Höhepunkt ihrer Popularität denkt, wenn er diesen Ausdruck gebraucht. Vgl. GS V.2, 826 [Y1a,6].
Vgl. Katherine Singer Kovács: „Georges Méliès and the Féerie“. In: Cinema Journal 16/1 (1976),
1-13, hier 1f.; sowie Laplace-Claverie: Modernes féeries, 37. Manche Autoren, wie John
McCormick, sehen die Feerie sogar als „a form of the spectacular melodrama“. Vgl. John
McCormick: Popular Theatres of Nineteenth-Century France. New York: Routledge 1993, 148.
Diese Zuordnung kommt wohl von einem weiten Verstndnis des Ausdrucks ‚Melodrama‘, um
damit entweder auszudrücken, dass ein Theaterstück von Musik Gebrauch macht oder dass es sich
um „une forme de création échappant aux critères classiques, et dont la féerie fait partie“ handelt.
Zu diesen beiden Definitionen vgl. einerseits Emilio Sala: „Mélodrama: Définitions et
métamorphoses d’un genre quasi-opératique“. In: Revue de musicologie 84/2 (1988), 235-246, hier
236; und andererseits Martin, Féerie romantique, 46.
Hierbei handelt es sich um eine (stark vereinfachte) Zusammenfassung der üblichen Merkmale der
Feerie nach Martin: Féerie romantique; Laplace-Claverie: Moderne féeries; McCormick: Popular
Theatres; Kristian Moen: „,Never Has One Seen Reality Enveloped in Such a Phantasmagoriaʻ:
Watching Spectacular Transformations, 1860-1889“. In: Comporative Critical Studies 6/3 (2009),
361-372; Singer Kovács: „Méliès and the Feerie“; sowie Frank Kessler: „A Trip to the Moon as
féerie“. In: Matthew Solomon (Hg.): Fantastic Voyages of the Imagination: Georges Méliès’ „A
Trip to the Moon“. Albany: State University of New York Press 2011, 115-128. Diese
Untersuchungen enthalten jeweils ausführlichere Definitionen der Feerie. Die erste Monographie,
die einen solchen Definitionsversuch unternimmt, ist vermutlich Paul Ginisty: La Féerie. Paris:
Louis Michaud 1910.
Moen: „Watching Spectacular Transformations“, 362f.
Singer Kovács: „Méliès and the Feerie“, 4ff.; Laplace-Claverie: Modernes féeries, 37f. Zu einer
allgemeinen Tendenz zu episodischen Handlungssequenzen auf der französischen Bühne seit den
Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts vgl. Martin: Féerie romantique, 233.
Die hier vorgestellte Beschreibung der Phantasmagorie beruht auf der hervorragenden Darstellung
bei Terry Castle: „Phantasmagoria: Spectral Technology and the Metaphorics of Modern Reverie“.
In: Critical Inquiry 15/1 (1988), 26-61; weiterhin auf Laurent Mannoni: „The Phantasmagoria“. In:
Film History 8 (1996), 390-415; Françoise Levie: „Etienne-Gaspard Robertson et le spectale [sic]
5
Phantasmagorie nahm die Gestalt einer wissenschaftlichen Vorführung an und lud das
Publikum dazu ein, zu Zeugen des Auftretens übernatürlicher Wesen durch technische Mittel
zu werden. Die Zuschauer wurden in einen dunklen Raum geführt, wo sie einer
Voraufführung beiwohnten, die sie mit allen möglichen wissenschaftlichen
Ausstellungsgegenständen oder optischen Tricks beeindruckt werden sollten. Danach stand
der Hauptteil der Vorführung an, d.h. die Beschwörung von Erscheinungen mittels einer
laterna magica. Dabei handelte es sich um eine Vorrichtung zur Projektion durch eine
bemalte Glasscheibe, oft mit besonderen Effekten, z.B. in Bezug auf die Bewegung,
Veränderung oder Tiefenillusion der projizierten Erscheinungen: Auch die Phantasmagorie
beruhte darauf, ihr Publikum mit spektakulären Übergängen zu verblüffen. Die Zeit, in der
diese Aufführungen besonders beliebt waren, deckt sich bis zu einem gewissen Punkt mit
denjenigen der Feerie.25 Auch wenn der belgische Schausteller Etienne-Gaspard Robertson
den Anspruch erhob, 1798 die erste Phantasmagorie in Paris aufgeführt zu haben (und auch
den Ausdruck ‚Phantasmagorie‘ einführte), ist mindestens seit den Siebzigerjahren des 18.
Jahrhunderts ein neues Interesse am Einsatz der laterna magica feststellbar.26 Die Aufführung
von Phantasmagorien unterhielt stets eine enge Verbindung mit der Pariser Schaustellerszene,
auch wenn manche dieser Schausteller, wie z.B. Robertson oder Philidor, mit
bemerkenswertem Erfolg auf Europatournee gingen. In den letzten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts verschwanden schließlich die Phantasmagorien weitgehend aus den
öffentlichen Aufführungen, als die laterna magica zu einem Mode-Spielzeug für das
Bürgertum wurde.27
Dieser kurze Überblick über die Faktengeschichte trägt aber nicht direkt zu unserem
Verständnis von Benjamins Behandlung der Feerie als visuelles Emblem bei. Wenn das
Passagen-Werk tatsächlich als eine ausufernde histoire des mentalités von Paris in 19.
Jahrhundert geplant war, dann scheint der Verweis auf die Feerie als gemeinsamer Nenner
dafür zunächst einmal viel eher angebracht als derjenige auf die Phantasmagorie. Katherine
Singer Kovàcs bemerkt: „[T]o a remarkable extent, the pomp and splendor of féeries
coincided with the tastes of the Second Empire. This was an extravagant epoch, when the
emperor and empress gave lavish dances and masked balls, when ceremonies and parades
were very much in style.“28 Die Phantasmagorien spielten dagegen in erster Linie mit der
Faszination des Publikums für das Makabre und das Morbide. Man könnte natürlich anführen,
dass die Epoche gierig nach allen möglichen grausigen Eindrücken war, was zum Beispiel
25
26
27
28
de projection lumineuse“. In: Plateau 19 (1998), 27-31; sowie Thomas Weynants: „The
Fantasmagoria: Virtual Reality Techniques during the French Revolution and the Early 19th
Century“. In: Plateau 19 (1998), 33-41. Diese Untersuchungen enthalten jeweils ausführlichere
Definitionen der Phantasmagorie. Zu zeitgenössischen Äußerungen vgl. insbes. Etienne-Gaspard
Robertson: Mémoires Scientifiques et Anecdotiques du Physicien-Aéronaute E.G. Robertson. 2
Bde., Paris: Selbstverlag/Wurtz 1831/1833.
Dieser kurze historische Überblick beruht auf Castle: „Phantasmagoria“, 31ff.
Laurent Mannoni: „Phantasmagoria“, 39f., bemerkt dazu: „As early as the 1780s, the
phantasmagoria is in evidence in many publications“, strictly distinguishing between the
phantasmagoria and other magic lantern shows on the basis of the movement of the image.“
Herman Bollaert und Marc van Praet verorten diesen Gebrauch vor allem in einem häuslichen
Kontext zwischen 1810 und 1890, sehen jedoch den magischen Reiz erst gegen 1890 schwinden:
„De Laterna Magica Galantee Show“. In: Plateau 19 (1998), 43-49, hier 45ff.
Singer Kovács: „Méliès and the Feerie“, 7.
6
gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu dem außergewöhnlichen Andrang führte, der bei
öffentlichen Terminen in der Morgue, dem Pariser Leichenschauhaus, und im Musée Grévin,
dem Wachsfigurenkabinett, herrschten.29 Allerdings ist das Passagen-Werk als „most
persistent in [its] attack against the myth of automatic historical progress“, 30 bezeichnet
worden, was eigentlich erwarten ließe, dass es in erster Linie auf die optimistischen und
rationalistischen Weltbilder dieser Epoche Bezug nehmen würde. Warum sollte Benjamin
dann aber ein visuelles Emblem bevorzugen, das wohl weniger nahe am Zeitgeist war, wenn
er doch eine histoire des mentalités schreiben wollte? Der entscheidende Punkt ist aber, dass
das Passagen-Werk überhaupt keine histoire des mentalités sein will – es ist nicht einfach ein
Werk mit deskriptivem Anspruch. Das, worum es im Passagen-Werk tatsächlich geht, ist, wie
Benjamin von Anfang an deutlich macht, das Verständnis von Geschichte als solcher.
Benjamin will zeigen, wie das verdinglichte, teleologische Verständnis von Geschichte, die
vom 19. Jahrhundert ebenso propagiert wurde wie von seinen Zeitgenossen, zu einer Kultur
geführt hat, die er als klar phantasmagorisch geprägt sieht. Um diese Sichtweise richtig
verstehen zu können, gilt es zunächst auf Benjamins dialektisches Denken und insbesondere
auf seine Sicht historisierter Zeitlichkeiten einzugehen.
Zurichtungen von Zeit: Allegorien der Geschichte
Die Analyse der Bedeutung der Dialektik zwischen Mythos und Geschichte trägt ganz
erheblich dazu bei aufzuzeigen, wie die Feerie und die Phantasmagorie miteinander verknüpft
sind, indem sie von den ihnen jeweils eigenen Zurichtungen moderner Zeitlichkeit ausgeht
und obendrein Aufschluss darüber gibt, warum sich Benjamin für letztere entschieden hat, um
seine Gedanken über die Moderne zu exemplifizieren. Grundsätzlich geht es Benjamin in
seiner Auffassung von Zeit darum, das kapitalistische Verständnis von Geschichte als eine auf
uns zukommende kontinuierliche lineare Reihe von vergangenen und gegenwärtigen
Ereignissen zurückzuweisen. Wie bereits erwähnt, zielte der Verfasser des Passagen-Werks
deshalb auch darauf ab, den legitimierenden, ideologischen Mythos von Geschichte als
Maschine zu entlarven, die sich im Fortschritt unaufhaltsam auf ihren Höhepunkt zubewegte.
In diesem Sinn sieht auch Susan Buck-Morss im Vorwort zu ihrem Buch The Dialectics of
Seeing Benjamins Ziel darin, „to destroy the mythic immediacy of the present [...], by
discovering that constellation of historical origins which has the power to explode history’s
,continuumʻ“.31 Diese Kraft lag vor allem in den modernen Ordnungen des Sichtbaren, d.h. in
dem, was Benjamin als die Ökonomie des Blicks betrachtete, die zu bestimmten
Augenblicken in der Geschichte spezifische Konfigurationen ausprägte. Ebenso besaßen
Bilder der Vergangenheit einen strategischen Wert, indem sie die Möglichkeit zu
imaginativen Sprüngen boten und dialektischen Dynamiken wieder Eintritt in die Zeit
verschafften. Im Übrigen stammt von Adorno die Aussage, dass Benjamins Werk generell
eine Bildersammlung darstelle, die die Naturgeschichte kultureller Konstrukte porträtiere.
29
30
31
Eine ausführliche Darstellung dieser Praktiken findet sich bei Vanessa R. Schwartz: Spectacular
Realities: Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris. Berkeley/Los Angeles/London: University of
California Press 1998.
Buck-Morss: The Dialectics of Seeing, 79.
Ebd., x.
7
Unter Bezugnahme auf die visuelle Allegorie Bezug bemerkte er einmal zu Benjamin: „Das
französische Wort für Stilleben, nature morte, könnte über der Pforte zu seinen
philosophischen Verliesen geschrieben stehen“, und er fügte die hinzu, dass seinen Freund
besonders „die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur […]
an[sprachen]“.32 Genau dieser Drang zur Suche nach mythischen Bildern der Naturgeschichte
und zur daran anschließenden Verwandlung dieser Bilder zu Fossilien prägt eindeutig
Benjamins Abkehr von der Feerie und seine Hinwendung zur Phantasmagorie.
Als visuelles Spektakel beinhaltet die Feerie offensichtlich einen ähnlich mythologisierenden
Zugriff auf die Geschichte. In ihrer Beschreibung der manichäischen Plots früher
Theaterfeerien stellt Martin heraus, wie diese sich auf ein wiederkehrendes Schema berufen,
das sich um den erfolgreichen Kampf des Protagonisten (der dazu bestimmt ist, seine Geliebte
mit Hilfe übernatürlicher Kräfte zu befreien) gegen einen Tyrannen dreht.33 Und als ob es ihr
intuitiv darum ginge, die Affinitäten zwischen dieser Art von Erzählstruktur und der Idee
einer mythischen Geschichte herauszustellen, fügt sie einen aufschlussreichen Kommentar
darüber hinzu, wie sich in der zunehmend populär werdenden Feerie eine historische
Zeitlichkeit ausdrückt:
La Révolution a amené la conscience du rôle que l’homme seul pouvait jouer sur le destin d’une
nation; de cyclique et immuable, le temps se conçoit désormais dans une linéarité, et le siècle
naissant se place sous la découverte de l’Histoire. La féerie, par l’intermédiaire de la quête,
illustre cette temporalité; elle donne le spectacle d’un combat mené par un héros solitaire contre
un tyran, et la structure qui en découle propose une succession de ,scène-tableauxʻ par
l’intermédiaire desquelles s’effectue l’intégration sociale des valeurs prônées par le genre. 34
Die Struktur der ersten Theaterfeerien sollte somit das allgemeine Geschichtsverständnis
dieser Zeit zum Ausdruck bringen, d.h. die Art von Geschichtlichkeit, gegen die sich
Benjamin zur Wehr setzte und die er für unfähig hielt, die versteinerte, zyklische und
unveränderliche Seite der Geschichte zu berücksichtigen. Auch wenn die Feerie in späteren
Phasen ihrer Entwicklung einen fragmentarischeren Charakter annahm und vergleichsweise
noch mehr Wert auf spektakuläre Bühneneffekte legt, hat sie dabei doch nie ganz ihren
narrativen Charakter35 verloren und ist so ihrer anfänglichen Linearität immer verhaftet
geblieben.
Umgekehrt hat sich Benjamin mit der Wahl der Phantasmagorie als Leitbild bewusst
nah an seine Ausführungen in einer frühen Schrift gehalten, die sich später als eine seiner
wichtigsten erweisen würde: Der Ursprung des Deutschen Trauerspiels. Mit dieser Schrift ist
ihm der Hinweis auf eine wichtige Krise in der Theatergeschichte gelungen, auf eine Krise,
die die Moderne ankündigte. Näherhin entfernte sich Benjamin von vorherrschenden
Auffassungen des Tragischen, die seit Nietzsches Geburt der Tragödie weit verbreitet waren.
Bekanntlich sah Nietzsche im mythischen, zeitlosen Wesen der griechischen Tragödie eine
dauerhafte Versöhnung zwischen einem stets schuldigen Protagonisten und der kosmischen
Ordnung. So schloss die Tragödie das Thema der Schuld auf einer mythischen Ebene ein. Das
32
33
34
35
Theodor W. Adorno: „Charakteristik Walter Benjamins“. In: T.W.A: Prismen, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 1955, 289.
Martin: Féerie romantique, 58.
Ebd., 64 [Hervorhebung D.B. u. K.V.].
Kessler: „A Trip to the Moon as féerie“, 119.
8
barocke Trauerspiel dagegen schien zunächst einmal ohne diese Transzendenz auszukommen
(bzw. es begann zumindest, an ihr zu zweifeln). Während die Tragödie mit der Katharsis und
der Aufhebung irdischer Geschichte endete, „vergräbt sich das deutsche Trauerspiel ganz in
die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung“.36 Irdisches Leid war seitdem vom
Heilsgeschehen getrennt. Von dieser Sicht ausgehend, erscheint die Einstellung des deutschen
Barocktheaters weniger vom Mythos getragen, d.h. von der engen Verbindung zwischen dem
Irdischen und dem Übernatürlichen, als von der Geschichte, wie sie tatsächlich erfahrbar war:
als ein Zeitalter politischer Spannungen zwischen der Oberschicht und der restlichen
Bevölkerung, in dem Naturkatastrophen den Riss zwischen der trostlosen irdischen Existenz
und der Heilserwartung immer weiter vertieften. Auf den Punkt gebracht sah Benjamin im
Barocktheater die Ursprünge einer Ästhetik, die seiner Meinung nach die Empfindung einer
Epoche zum Ausdruck brachte, in der die Weltgeschichte als Verfallsprozess empfunden
wurde. Wenn man Benjamins Ausführungen zum Barock nun mit dem Passagen-Werk in
Verbindung setzt, könnte man argumentieren, dass das Trauerspiel sich zur Tragödie ebenso
verhält wie die Phantasmagorie zur Feerie. Im barocken Trauerspiel wurde die Vergangenheit
par excellence als ein gespenstischer Totenkopf dargestellt. Im verbleibenden Teil dieses
Beitrags wird zu zeigen sein, wie Benjamins Schwäche für schaurige barocke Bilder in
seinem Passagen-Werk wieder zutage trat und schließlich in seiner Bevorzugung der
Phantasmagorie als zentraler Trope gipfelte. Die Bereitschaft, die Vergangenheit ohne
Ansehen des Fortschrittsmythos zu behandeln, schien für ihn näherhin die Chance auf eine
kritische Erlösung zu beinhalten.
Die Ikonographie des Immerwiedergleichen: Der phantasmagorische Geist als
Wiedergänger
Bei der Dialektik, die man zwischen dem mythologischen Verhältnis der Feerie zur
historischen Erfahrung und der Aufmerksamkeit der Phantasmagorie auf die vergängliche
Gestalt der Geschichte ausmachen kann, geht es um mehr als nur um die Frage nach
narrativer bzw. nichtnarrativer Strukturierung; man begegnet dieser Dialektik auch auf der
grundlegenden Ebene visueller Darstellung und sie umfasst von dort aus die Gesamtheit
beider Formen von Unterhaltung. Bei der Phantasmagorie litt das Publikum unter einem
gespaltenen Bewusstsein: Es wurde darauf hingewiesen, dass es keine wirklichen Geister sah,
aber gleichzeitig nahm es die künstlichen Geister mit seinen Sinnen so wahr, als ob sie
wirklich existierten.37 Die Feerie funktionierte ganz ähnlich, insofern das vorrangige
Vergnügen an ihr nach Frank Kessler, der dafür einen von Christian Metz entliehenen
Ausdruck aus der Filmanalyse verwendet, in „unsichtbaren Trickeffekten“ (invisible trucage)
besteht, d.h. in einer Bühnenkunst, die ihre menschliche Gemachtheit gerne verschleiert und
aus diesem Grund die Bewunderung des Publikums auf zwei verschiedenen, aber doch
miteinander verwobenen Ebenen hervorruft: als echte Magie und als einen Einsatz von
Bühnentricks, der raffiniert genug ist, um als echte Magie erscheinen zu können.38 In diesem
36
37
38
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. GS I.1, 260.
Castle: „Phantasmagoria“, 49f.
Kessler, „A Trip to the Moon as féerie“, 119sq. Ähnliche Eindrücke eines Feerie-Besuchers finden
sich dokumentiert bei Laplace-Claverie: Modernes féeries, 47.
9
Sinn könnten sowohl die Feerie als auch die Phantasmagorie im Hinblick auf ihre Darstellung
des Übernatürlichen als dialektisch bezeichnet werden – beide ließen es als zugleich an- und
abwesend erscheinen, als illusorisch und real. Dennoch zeigte sich in den beiden beliebten
Aufführungsformen jeweils ein sehr unterschiedliches Übernatürliches.
Anders als es der Name möglicherweise vermuten lassen würde, traten in der Feerie
nicht nur Feen auf, sondern eine große Bandbreite übernatürliche Wesen versammelte sich in
dieser Gattung auf der Bühne. Das wird deutlich, wenn man einen Blick auf einige einzelne
Texte wirft: Als prototypisch39 für die Gattung sieht das Stück Le Pied de mouton bei den
dramatis personae „einen Geist, einen Zauberer, Amor, Zyklopen, Dämonen und dienende
Geister“ [„un genie, un magicien, l’amour, cyclopes, Démons and génies subalternes“] vor,
aber keine Feen im eigentlichen Sinn.40 In dem Stück Le Nain jaune, où La Fée du desert
(1804) kamen neben den beiden titelgebenden Figuren, d.h. einem gelben Zwerg und der
Wüstenfee, eine Reihe von putti und drei sprechende Elstern vor, außerdem noch weitere,
weniger bedeutende übernatürliche Wesen die in den Bühnenanweisungen Erwähnung
finden;41 schließlich traten auch Gnome, Hexen und sogar der Teufel selbst häufig in Feerien
auf.42
Doch ungeachtet ihrer beträchtlichen Bühnenpräsenz wurden diese verzauberten Wesen
zumeist als Kräfte dargestellt, die auf das Leben menschlicher Protagonisten Einfluss nahmen.
Wie bereits erwähnt, war die Feerie primär manichäisch strukturiert und die vielfältigen
übernatürlichen Erscheinungen auf der Bühne sollten die Macht des Guten bzw. des Bösen
ausdrücken.43 Mit anderen Worten erlaubte die Funktion des Übernatürlichen, wie es in der
Feerie auftrat, von vornherein seine Integration in eine mythologisierende Auffassung von
Geschichte. Die potenzielle dialektische Instabilität des gleichzeitig illusorischen und realen
Charakters des Magischen hat dagegen nur geringe Bedeutung, wenn man davon ausgeht,
dass das Magische letztlich ohnehin eine metaphorische Rolle spielt. Diese metaphorische
Qualität könnte eine Erklärung dafür liefern, warum Benjamin den Hinweis auf die Feerie in
seinem Untertitel mit einer „unerlaubt ‚poetischen‘“ Gestaltung in Verbindung brachte – in
Form der Metapher würden Allgemeinplätze über eine Mythologie des Fortschritts eher
(poetisch) zum Ausdruck kommen als (dialektisch) in Frage gestellt.
Das dialektische Potenzial des Übernatürlichen in der Phantasmagorie besteht
demgegenüber darin, direkt auf die Wesensmerkmale der Geschichte zu verweisen, und zwar
auch auf der Darstellungsebene. In phantasmagorischen Darstellungen traten nicht die
immergleichen Gespenster und Erscheinungen auf: Während die Feerie eine große Bandbreite
von phantastischen Gestalten aufwies, verfügte die Phantasmagorie über ein differenzierteres
39
40
41
42
43
Moen: „Watching Spectacular Transformations“, 362; Singer Kovács, „Méliès and the Feerie“, 2.
Louis-François Ribié/Alphonse-Louis-Dieudonné Martainville: Le Pied de mouton: Mélodrame,
Féerie-comique, en trois actes, à grand spectacle. Paris: Masson 1807, 2.
Der vollständige Text von Le Nain jaune findet sich als Wiederabdruck bei Martin: Féerie
romantique, 73-99.
Vgl. z.B. Martin: Féerie romantique., 27ff. u. 30ff.; sowie Singer Kovács: „Méliès and the Feerie“,
6.
Laplace-Claverie: Modernes féeries, 37; Singer Kovács, „Méliès and the Feerie“, 1ff.; und Martin,
Féerie romantique, 36ff.
10
Repertoire scheußlicher Wesen.44 Allerdings tendierte die Phantasmagorie aufgrund ihrer von
der gothic novel inspirierten Sujets45 dazu, sich auf die Geister der Verstorbenen zu
konzentrieren und die Geister der Vergangenheit im wahrsten Sinn des Wortes
heraufzubeschwören. Wie aus dem wohl bis zum heutigen Tag bekanntesten Bericht von der
Aufführung eines Phantasmagorie hervorgeht – es handelt sich um einen Artikel in der
französischen Zeitung L’Ami des Lois, der in den Mémoires des Schaustellers Robertson
wiedergegeben wird –, beinhaltete die Aufführung von Phantasmagorien bisweilen sogar die
Anrufung einer historischen Person (entweder mehr oder weniger legendäre Helden wie
Wilhelm Tell oder auch in jüngerer Zeit verstorbene Personen wie Marat).46 Margaret Cohen
hat diesen Aspekt der Phantasmagorie bereits insofern mit den Zielen von Benjamins Projekt
in Verbindung gebracht, als die spezifische Mitwirkung der Phantasmagorie an seiner
„Phantasmagorie der Kulturgeschichte“ hier hervortritt.47 Wir würden diesen Gedanken gerne
noch etwas weiter entwickeln und vorschlagen, in dieser Art der Erscheinungen nicht nur eine
Mythologisierung von Geschichte in Form des Phantasmagorischen zu sehen, sondern
zugleich auch ein Bewusstsein von der wiederkehrenden Struktur dieser mythischen
Schemata: Die Phantasmagorie zeigte im wahrsten Sinn des Wortes eine Gegenwart, die von
den Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht wurde. Währen die Feerie mythische
narrative Schemata wiederholte, ging die Phantasmagorie darüber hinaus: Sie wiederholte die
Vergangenheit selbst in einer wiedererkennbaren physischen Gestalt. In diesem Sinn versah
sie die Moderne mit der denkbar treffendsten Ikonographie des „the syndrome of history, the
Immerwiedergleiche as repetitive urge“.48
Die Darstellungsform der Phantasmagorie führt also nicht nur Geister vor, sondern sie
konfrontiert uns mit dem, was man als den Wiedergänger (revenant) bezeichnen könnte, mit
einer besonderen Form von Geist, „a corporeal creature, a substantial person acting like a
human being because he or she is to all appearances a human being, though one returned from
the Otherworld.“49 In ihrer Wiederkehr aus dem Jenseits (en revenant de l’au-delà), machen
die phantasmagorischen Erscheinungen den repetitiven Aspekt mythologisierter Geschichte in
ihrer eigenen physischen Erscheinung sichtbar 50 deren Präsenz von der dialektischen
Instabilität nicht verleugnet, sondern im Gegenteil hervorgehoben wird – sie werfen dabei auf
44
45
46
47
48
49
50
Als Beleg für diese Behauptung kann bspw. Robertsons „petit repertoire fantasmagorique“ dienen.
Vgl. Mémoires, Bd. 1, 294ff. Für eine systematischere Annäherung an die in der Phantasmagorie
dargestellten Figuren vgl. Weynants: „The Fantasmagoria“, 34.
Vgl. Levie: „Etienne-Gaspard Robertson“, 29; sowie Weynants: „The Fantasmagoria“, 34.
Dieser Artikel findet sich in Robertons Mémoires, Bd. 1, 215ff. Sowohl Castles also auch Cohens
Darstellung der Phantasmagorie beziehen sich stark auf diesen Text. Levie verweist auf einen Teil
von Robertsons Show mit dem Titel Évocations du nécromancien, der in der in einer „resurrection
à la carte“ besteht: Das Publikum konnte sich dort die Erscheinung verstorbener geliebter Personen
ebenso wie die Anrufung von Figuren aus der Geschichte oder der Gegenwart wünschen. Vgl.
„Etienne-Gaspard Robertson“, 28f.
Cohen: Profane Illumination, 234.
Lieven De Cauter: De dwerg in de schaakautomaat: Benjamin’s verborgen leer. Nijmegen:
Uitgeverij SUN 1999, 372.
David Buchan: „Tale Roles and Revenants: A Morphology of Ghosts“. In: Western Folklore 45/2
(1986), 143-158, 145.
Bemerkenswerterweise gebraucht Benjamin bei seiner Beschreibung von Blanquis Text über die
Unmöglichkeit des Fortschritts den Ausdruck „fantasmagorie“. GS V.1, 76f.
11
ihre Gegenstände, die sich gegen die Errettung durch ein rein diskursives Vorgehen (wie etwa
die Gut-und-Böse-Metapher in der Feerie) sperren, ein Licht unaufhaltsamer Vergänglichkeit.
Schluss: Die (ausbleibende) Apotheose und die Schließung
Möglicherweise hat genau diese Weigerung der morbiden Wesen der Phantasmagorie, ihre
dialektische Instabilität preiszugeben und sich auf diskursive Elemente reduzieren zu lassen,
zu Benjamins Entscheidung beigetragen, seine Kritik der Geschichtsschreibung im Zeichen
der Phantasmagorie zu äußern. Die Phantasmagorie kennt keine Schließung: Sie unternimmt
nicht den Versuch, die gerufenen Geister wieder zu bannen. In manchen Fällen gibt es jedoch
eine Art finaler Wendung. Robertson hat in seinen Mémoires festgehalten, wie er seine
Phantasmagorien manchmal mit einem memento mori zu beschließen pflegte. Dabei zeigte er
das Skelett einer jungen Frau auf einem Sockel und hob hervor, dass dies der einzige
Schrecken sei, vor dem die Zuschauer wirklich Angst haben sollten.51 An dieser Stelle wird
der phantasmagorische Wiedergänger, der zugleich als Bild ewiger Wiederkehr und ewiger
Vergänglichkeit fungiert, auf das Publikum und in metonymischer Ausweitung auf die
gesamte Pariser Kultur übertragen. Hier kommen Benjamins Absichten an ihr Ziel und die
eingangs bereits zitierten „neuen, vor allem durch die Warenproduktion bedingten
Schöpfungen und Lebensformen, welche dem vorigen Jahrhundert zu danken sind“, werden in
der Tat von der mortifizierten Natur aus dem Ursprung des Trauerspiels absorbiert und so „in
unmittelbarer Präsenz sinnlich ‚verklärt‘“.
Wie sehr diese Beobachtungen zutreffen, wird erst deutlich, wird erst dann deutlich,
wenn sie dem festgelegten strukturellen Element, mit dem eine Feerie zu Ende ging,
gegenübergestellt werden: der Apotheose. Die Apotheose war das Schlusstableau, mit dem
das glückliche Ende des Stücks zum Ausdruck kam52 und das die Opulenz der Feerie aufs
Deutlichste ausstellte und dabei zugleich die Funktion einer mise-en-abyme genau dieser
Opulenz hatte53 In der Apotheose stand die Bühnentechnik so sehr im Vordergrund, dass sie
ein metatheatrales Element in die Feerie hineinbrachte54 Die metaphorischen Drähte der
unsichtbaren Trickeffekte kamen hier zur Sichtbarkeit und die theatrale Magie verlor hier ihre
dialektische Instabilität, die sie zur echten Magie befähigte. Kristian Moen hat in Bezug auf
die Feerie und auf das weite Feld der visuellen Kultur dieser Zeit die Ansicht vertreten, dass
„transformations were seen as a spectacular display of ongoing processes, an effect which
tended to take away a sense of teleological aims or even of discrete events“.55 Dies scheint zu
implizieren, dass auch die Feerie ein mögliches Instrument für Benjamins hätte sein können.
Allerdings nahm die Apotheose auf der visuellen Ebene – so wie die Metaphorik von Gut und
Böse dies auf der linguistischen Ebene getan hatte – die Verwandlung in den Dienst der
Teleologie und stellte somit sicher, dass die letzte Verwandlung mit teleologischer
Endgültigkeit übereinkam. Während das Wiedergängertum der Phantasmagorie somit in die
51
52
53
54
55
Robertson: Mémoires, Bd. 1, 284. Vgl. dazu den Hinweis bei Cohen: Profane Illumination, 237,
auf die Bedeutung dieser Passage.
Laplace-Claverie: Modernes féeries, 37.
Kessler: „A Trip to the Moon as féerie“, 121.
Zum metatheatralen Potenzial der Feerie vgl. Laplace-Claverie: Modernes féeries, 38f.
Moen: „Watching Spectacular Transformations“, 370.
12
Zuschauer eindrang und ständig im Begriff war, auf das ganze Spektrum der als gespenstisch
empfundenen Geschichte überzugreifen, hatte die Apotheose einen stabilisierenden Effekt auf
die Feerie – aller überwältigender Kunstgriffe zum Trotz war die Feerie letztlich doch eine
Bühnenphänomen, das an eine festgelegte mythische Erzählung gebunden blieb. So erklärt
sich nicht nur Benjamin Bevorzugung der Phantasmagorie, sondern es wird auch seine Wahl
eines visuellen Emblems als ein performativer Akt deutlich, der seine selbst gesteckten
historiographischen Ziele erfüllt, nämlich die Mythologisierung von Geschichte hinter sich zu
lassen.