Text zum Referat von Maja Wicki-Vogt

Dr. Maja Wicki-Vogt
ALT WERDEN IM GEGENLICHT.
Text zum Referat vom 1. März 2016
im Museum für Kommunikation
Dr. Maja Wicki-Vogt
Philosophie-Psychoanalyse-Traumatherapie
Bellerivestrasse 221 CH - 8008 Zürich
Tel. 0041 (0)44 383 01 44 / (0)79 257 55 22
e-mail: [email protected]
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Was bedeuten Lebenswert und Eigenentscheid für Menschen in Alters- und
Pflegeheimen?
Ein Untersuchungsbeitrag zu ethischen und psychotherapeutischen Fragen
betreffend Alterssuizid unter Beihilfe von Exit
Als Ende Mai 2014 im Alters- und Pflegezentrum unter den Bewohnern
und Bewohnerinnen durchsickerte, dass ein noch rüstiger Mitbewohner
unter Beizug von Exit von einem Tag auf den anderen nicht mehr unter
ihnen war, äusserten sich Ratlosigkeit, Erschrecken und ein deutliches
Aufbegehren, das in Einzelgesprächen sowie in mehreren
Gruppengesprächen zum Ausdruck kam. Um Einzelgespräche hatte mich in
diesem Zusammenhang zum Beispiel ein ungefähr gleichaltriger Bewohner
gebeten, der unter fortgeschrittenen Parkinson- Belastungen leidet, diese
jedoch tapfer akzeptiert und nicht resigniert, ferner eine um beinah dreissig
Jahre ältere, noch sehr denkfähige und urteilsbewusste, körperlich aber
vielfach geschwächte Bewohnerin, die in der darauf folgenden Woche das
Thema auch der Gruppe von acht Frauen und einem Mann vorlegte, die
sich wie üblich zum „Salongespräch“ zusammenfanden. Weitere Gespräche
zum gleichen Thema wurden von der Gruppe mehrmals aufgegriffen, das
letzte Mal am 10. Juni im Anschluss an eine TV-Sendung, nachdem im
Rahmen der Generalversammlung von „Exit“ am 24. Mai 2014 die
Legitimation der Beihilfe zu Alterssuizid beschlossen worden war.
Eine ähnliche Reaktion des Erschreckens und der Ratlosigkeit erlebte ich
etwa gleichzeitig bei einer halbseitig gelähmten und sprachbehinderten
Frau in einem anderen Alters- und Pflegeheim, als auch dort der von Exit
begleitete Tod einer Mitbewohnerin bekannt wurde, die offenbar nicht zu
den schwer Geschwächten und Kranken gehört hatte.
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Ich werde zuerst die Fragen und Überlegungen wiedergeben, die von
Menschen, die in einem der Alters- und Pflegezentren leben, zum Thema
des von „Exit“ unterstützten Todes geäussert wurden, anschliessend werde
ich auf grundsätzliche Aspekte eingehen, die in den Gesprächen tangiert
wurden.
I.
Wie viel Recht bleibt mir zu leben?
Die Fragen und Überlegungen von Bewohnerinnen und Bewohnern aus
einem der Alters- und Pflegezentren, die sich in den Gruppengesprächen
und in Einzelgesprächen ergaben, habe ich gebündelt und
zusammengefasst. Sie widerspiegeln drei unterschiedliche emotionale und
ethische Bereiche: einerseits die Ängste, die infolge des in den Medien
breit vertretenen, neoliberalen Abbaus sozialethischer Verantwortung für
hilfe- und pflegebedürftige Menschen in diesen geweckt werden und sie
belasten, andererseits das klare Bedürfnis, im Fall nicht mehr tragbarer
Schmerzzustände selber über Sterben und Tod bestimmen zu können,
zusätzlich die Forderung, zwischen dem je persönlichen
Entscheidungsrecht und der Verantwortung gegenüber den Mitbewohnern
und Mitbewohnerinnen zu unterscheiden und letztere ebenso zu achten wie
erstere.
Hier die Zusammenfassung der unterschiedlichen Gesprächselemente, zum
Teil als klare Meinungsäusserungen, zum Teil als Fragen:
- Wie viel Recht bleibt mir zu leben, wenn ich nichts mehr leisten kann und
Tag für Tag Summen von Geld koste? Ist es die finanzielle Schraube der
Gesellschaft, die hinter dem Angebot von Exit steht, den Alterssuizid zu
begleiten?
- Kann man so überhaupt noch frei entscheiden? Es heisst doch bei den
Exit-Bedingungen, man dürfe beim Entscheid zum eigenen Tod nicht
beeinflusst werden, doch ist dies überhaupt möglich? Die ganze Presse ist
voll von Klage, dass die Leute zu alt werden und die Versicherungen –
oder die Familien - belasten. Ich frage mich, ob man so noch unbeeinflusst
entscheiden kann.
- Warum lässt die Kirche dies zu? Haben wir nicht die Pflicht, auch
leidvolle Momente des Lebens, überhaupt das Leben zu ertragen? Die
vielen Pflichten! Ist es nun auch unsere Pflicht, rechtzeitig zu sterben?
- Ist tatsächlich unser Leben nicht mehr schützenswert, weil wir alt sind
und nichts mehr leisten können?
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- Bedeutet das Eindringen von Exit ins Pflegezentrum, dass auch von mir –
von uns - erwartet wird, quasi „freiwillig“ zu gehen und Platz zu machen,
weil wir überflüssig sind?
- Hat sich der ehemalige Mitbewohner hier im Haus nicht überlegt, dass
uns sein Entscheid verunsichert, mehr noch, in unseren Gefühlen verletzt?
Sind wir nicht alle auf dem gleichen Boot?
- Ja, das ist es, darf ein Pflegezentrum, in dem wir ohnehin sterben werden,
ein Haus sein, in dem zwar nicht auf „höheren“ Befehl „getötet“ wird, wo
aber der Selbstmord medizinisch unterstützt wird, einfach aus
Altersgründen?
- Ab wann überhaupt ist ein Menschen in der Gesellschaft „überflüssig“?
Als ich noch jünger war, da gab es Zeiten, in denen ich fast nicht mehr
leben mochte und immer wieder einige Zeit in einer Klinik verbringen
musste. Aber mir scheint, dass es damals nicht die Gesellschaft war, die
mich unter Druck setzte, es hatte andere Gründe, ich war selber entmutigt
und einsam, ohne Zweifel depressiv. Erst mit dem Älter- und Altwerden
geht es mir besser, insbesondere seit ich hier im Zentrum lebe.
- Bei mir ist es anders, ich hasse die Zahl 90, ich hasse es, alt zu sein, ich
bin neidisch auf diejenigen, die jünger sind. Ich möchte noch Glück erleben
können.
- Das Recht auf Freiheit stelle ich nicht in Frage, es ist wichtig, selber über
das Sterben entscheiden zu können, wenn das körperliche Leiden nicht
mehr ertragbar ist, zum Beispiel bei schweren Krebserkrankungen. Aber ist
hier der angemessene Ort fürs Verabreichen von Sterbegift? Der natürliche
Tod wartet immer um die Ecke. Braucht es da noch den befohlenen Tod?
- Kann man überhaupt wissen, ob Sterben und Tod nach Einnahme von
Pentobarbital leicht geschieht? Es ist trotz allem ein künstlicher Tod, der
zugefügt wird, nicht ein natürlicher. Mich schaudert‘s beim Gedanken
daran.
- Tatsächlich, wie frei sind wir überhaupt? Wie kann man wissen, ob ein
solcher Entscheid nicht auf Grund einer momentanen Depression getroffen
wird, die nach einiger Zeit wieder vorbei sein kann? Auch ich war früher
manchmal schwer depressiv und hatte ans Sterben gedacht, doch heute bin
ich froh, noch zu leben, obwohl ich unter zahlreichen körperlichen
Beschwerden leide. Irgendwann wird der Tod selber zu mir kommen.
- Mir scheint jetzt oft, mein Leben habe keinen Sinn mehr, ich könne nichts
mehr leisten, doch soll ich deswegen das Gift trinken? Eigentlich lebe ich
trotzdem immer wieder gern.
- Was meinst du, dein Leben habe keinen Sinn mehr? Ich bin froh, dass du
auch hier bist und dass wir uns noch sehen können. Wir sind wirklich auf
dem gleichen Boot, wie eben gesagt wurde.
- Wer religiös ist, hat es ein wenig leichter. Die Religion hilft mir, auf den
Tod warten zu können und die Zeit vorher zu akzeptieren, auch wenn vieles
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schwieriger geworden ist. Dank der Religion macht letztlich alles noch
Sinn.
- Mir liegt viel an der Freiheit, ich meine an der Möglichkeit, selber über
Leben und Tod entscheiden zu können.
- Die Freiheit wird aber eingeschränkt. Andere bestimmen mit,
insbesondere die Familienmitglieder. Ich kenne ein Beispiel, das mich
beschäftigt. Eine Verwandte von mir, die in einem Alters- und Pflegeheim
lebte, wollte nicht mehr leben und wollte mit Hilfe von Exit sterben. Sie
hatte alles unterschrieben. Die Bedingung der dortigen Heimleitung war,
dass sie in der Wohnung ihres Sohnes das Barbiturat zu sich nehme. Dieser
aber wollte auf keinen Fall zum Tod seiner Mutter Hand bieten und lehnte
Exit ab. So lebte sie noch über zwei Jahre im Altersheim, nun eher leichter
als vorher, bis sie eines natürlichen Todes starb.
- Mir scheint, die palliative medizinische Methode sei vorzuziehen. Ich
habe diese Lösung mit meinem Hausarzt vereinbart. Auch meine Söhne
sind damit einverstanden. Das heisst, obwohl ich eigentlich mit meinem
Leben abschliessen kann, trage ich mir weiter Sorge und tue nichts, was
mein Leben verkürzt, aber ich lehne alle Massnahmen ab, die das Leben
verlängern würden. Das gilt auch für den Fall, dass ich in einem Zustand
wäre, in welchem ich nicht mehr selber entscheiden könnte. Gewiss, es
werden auch hier Fehler gemacht, trotzdem, es ist eine feste Abmachung,
mit der ich mich wohl fühle. Das heisst, die vielen Beschwerden kann ich
besser akzeptieren, sie gehören zum Alltag. Operationen, die nicht
dringlich sind, lasse ich bleiben, aber wenn ich mir wegen eines Sturzes
einen Knochen breche, lasse ich ihn flicken. Sorgfältige Pflege, liebe
Besuche, gute Gespräche, Momente der tiefen Ruhe in mir, den Blick in die
Natur oder in glückliche Momente der Vergangenheit, all dies kann ich
geniessen. So hat das Leben noch Sinn. Ob ich meine Pflichten erfülle oder
nicht, das überlasse ich Gott.
II. Was bedeutet unter den Bedingungen des späten Zusammenlebens
im Alters- und Pflegezentrum die von Exit angebotene Begleitung von
Suizid?
Die offene Auseinandersetzung und Meinungsäusserung dieser Gruppe
von Bewohnern und Bewohnerinnen eines der Alters- und Pflegezentren
ermöglicht, zu wichtigen Aspekten um Leben und Tod im hohen Alter
Stellung zu nehmen, aus Zeitgründen so knapp wie möglich.
II 1. Für den begleiteten Suizid setzt Exit fünf Bedingungen:
- Urteils- und Entscheidungsfähigkeit,
- frei sein von Affekten,
- frei sein vom Einfluss Dritter,
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- dauerhafter Sterbewunsch und
- die Bereitschaft, die nicht mehr korrigierbare Handlung selber
vorzunehmen, das
heisst, sich selber die tödliche Menge Pentobarbital zuzuführen, die von
Exit zur Verfügung gestellt wird.
Ob die Bedingungen erfüllt werden oder nicht, wird von Ärzten oder
Ärztinnen abgeklärt. Von Seiten von Exit wird betont, das
Abklärungsverfahren brauche grösste Sorgfalt. Das Rezept für das
Sterbemittel könne im Sinn medizinischer Verantwortung nur ausgestellt
werden, wenn bezüglich der Erfüllung dieser Bedingungen bei einem
Patienten oder einer Patientin keinerlei Ambivalenz bestehe.
II 2. Die drei ersten Bedingungen beruhen auf der Voraussetzung innerer
Freiheit.
Gedankenfreiheit sowie Freiheit im Sinn eigener Wahlmöglichkeit im
Entscheiden und Handeln ist ein menschliches Grundrecht, das einem
Grundbedürfnis entspricht.
Die Grundrechte finden sich verankert in der Allgemeinen
Menschenrechtserklärung von 1948, die in der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK von 1950 /53, von der Schweiz
ratifiziert 1974) verankert wurden und die sich zum Teil auch in der
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV von 1999)
bestätigt finden. Sie betreffen die menschliche Würde jedes Individuums
und das Recht auf Schutz dieser Würde (BV Art. 7), das Recht auf Leben
und persönliche Freiheit (BV Art. 10), das Recht auf Gedankenfreiheit
(EMRK Art. 9) sowie das Recht auf Schutz der Privatsphäre (BV Art. 13).
Diese Grundrechte, auch das Recht auf freies Entscheiden und Handeln
bezüglich des eigenen Lebens und Sterbens, gilt für die meisten der im
alters- und Pflegeheim lebenden Frauen und Männer, die sich dazu
geäussert haben, als hoher Wert, der dem Recht auf menschliche Würde
gerecht wird, somit als ein zentrales Grundrecht, vor allem wenn es infolge
schwerer, unheilbarer Schmerzbelastungen nicht mehr ertragbar erscheint,
weiter zu leben. Die meisten möchten dieses Grundrecht auf keinen Fall in
Frage stellen. Es beruht auf der Gedanken- und Entscheidungsfreiheit, die
unter allen Grundrechten als von höchstem Wert erachtet wird.
Doch was vom Begriff her einleuchtend und einfach erscheint, erweist sich
als komplex.
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Als von hohem Wert empfinden Menschen das, was sie als richtig und als
gut beurteilen, mithin was in moralischer Hinsicht ihrem „guten Gewissen“
entspricht. Was dem „guten Gewissen“ entspricht, bewirkt ein Gefühl
innerer Sicherheit, dadurch ein Wohlbefinden. Was dem „guten Gewissen“
nicht entspricht, wird als unrichtig oder als falsch beurteilt und empfunden,
es verunsichert und weckt Gefühle der Unruhe, eventuell der Bedrohung
und der Angst. Wenn es somit um ein Beurteilen des eigenen Lebenswertes
und um wichtige Entscheide geht, sind stets Gefühle die massgeblichen
Kräfte. Dies war schon Immanuel Kant bewusst, als er mit 66 Jahren, für
damalige Verhältnisse im hohen Alter, noch die „Kritik der Urteilskraft“
schrieb.
Doch ist der gefühlsmässig gesteuerte Impuls, der das Entscheiden
beeinflusst, nicht gerade ein „Affekt“, der gemäss der Bedingungen von
Exit beim Entscheid eines begleiteten Suizids ausgeschlossen sein müsste?
Und werden die Gefühle, die in starkem Mass das Entscheiden
beeinflussen, nicht zutiefst durch die Macht der Beziehungen und
Abhängigkeiten geschaffen, die das Umfeld derjenigen darstellen, die über
das eigene Leben und Sterben entscheiden? Ist nicht der Einfluss der
Medien ein massgeblicher Faktor bei der Meinungsbildung? Kann somit
die Bedingung, frei von Affekt und frei vom Einfluss Dritter zu
entscheiden, überhaupt erfüllt werden?
II.2. Ein weiterer Aspekt, der die am Gesprächsaustausch Beteiligten
beschäftigte, betrifft die Forderung von Exit, dass der Todeswunsch von
Dauer sein müsse. Dauer ist ein Aspekt der Zeit, der ganz unterschiedlich
verstanden wird. Ab welchem Zeitrahmen kann von Dauer gesprochen
werden? Können Denken und Entscheiden überhaupt von Dauer sein? Wird
nicht beides vorweg beeinflusst von aktuellen Einflüssen, von Bedürfnissen
und Wünschen, die sich infolge neuer Erfahrungen möglicherweise ändern,
sich möglicherweise aber auch wiederholen und vertiefen. Es kann
tatsächlich ein gedankliches oder emotionales Anhalten des Zeitablaufs
geschehen, manchmal durch wirkliche oder durch träumerische
Erfahrungen des Glücks, häufiger aber infolge sich zusammenballender
Angst und Verzweiflung. Insbesondere im Zustand schwerer Depression
wird der gestalterische, offene Blick auf die Zukunft blockiert, es ist kein
Planen und kein Vorwärtsschauen mehr möglich, keine neuen Impulse
werden zugelassen, mit welchen Änderungen zum Guten ins Auge gefasst
werden könnten. Es ist ein Dauerzustand dunkler Trostlosigkeit. Wir diese
„Dauer“ von Exit gemeint? Allerdings kann von Entscheidungsfreiheit in
diesem Zustand nicht die Rede sein.
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Für die meisten Menschen aus der Gesprächsgruppe gab es im Lauf des
Lebens Passagen, in denen das Leben schwer erträglich erschien und der
Tod gewünscht wurde. Nun, in der letzten Passage des Älter- und
Altwerdens, die sie aus eigener Wahl im Alters- und Pflegezentrum
erleben, wird für diejenigen, für welche die Möglichkeit der Erinnerung,
des Denkens und Erlebens erhalten bleiben konnte, die Zeit in ihrer
vielschichtigen Bedeutung bewusster erlebt: einerseits die geregelte,
gezählte und berechnete Zeit, die aus Zahlen und Namen besteht, die von
der Gesellschaft, von Ämtern und Versicherungen kontrolliert wird und die
zumeist belastet, da sie in erster Linie mit Forderungen nach Genauigkeit
und Ordnung erlebt wird. Jener Ausruf, den eine Frau wagte, dass sie die
Zahl „90“ hasse, die ihr seit ihrem letzten Geburtstag anhafte, dass sie noch
glücklich sein wolle, widerspiegelt einen Teil des Widerstands gegen diese
Bedeutung der Zeit, gleichzeitig den Wunsch, die innere Zeit anhalten zu
können, die dem kindlichen Träumen von Glück entspricht, oder sie
bewusster zu erleben und mit grösserer Ruhe zu nutzen, da in ihr das
Geschenk des Lebens, auch des späten Lebens liegt.
III. Stehen Freiheit und Pflichterfüllung im Widerspruch zueinander?
In den meisten Fällen gelten für Frauen und für Männer, die im Alters- und
Pflegezentrum leben, die religiösen und gesellschaftlichen Wertekriterien,
nach welchen sie erzogen wurden und gelebt haben. Selten weichen sie
davon ab und wagen es, ganz andere Entscheide als die gewohnten zu
treffen. Wie es in den Aussagen, die ich zitiert habe, deutlich wird, steht für
die meisten die Pflichterfüllung im Vordergrund.
Trifft dies auch für diejenigen aus der Gesprächsrunde zu, die dem
individuellen Recht zur Selbstbestimmung von Sterben und Tod
zustimmen? Es ist interessant, dass für diese Menschen die
Entscheidungsfreiheit nicht der Pflicht widerspricht, sich um das eigene
Leben zu sorgen, mithin auch der Pflicht, fürs Sterben die volle
Verantwortung zu tragen, wenn wegen nicht mehr ertragbarer Schmerzen
der Tod nach eigenen Erwägungen als sinnvoll bewertet wird. Das „gute
Gewissen“ wird dabei von ihnen nicht in Frage gestellt, d.h. Exit ist für sie
ein akzeptierbares Angebot auf der Basis der persönlichen Verantwortung.
Ein anderer Teil kann aus religiösen Gründen die Selbstbestimmung über
Sterben und Tod nicht mit dem „guten Gewissen“ in Übereinstimmung
bringen, wohl aber ist die Verringerung von Leiden und der Verzicht auf
lebensverlängernde Massnahmen von hohem Wert, wenn das Lebensende
ohnehin bevorsteht. Für diesen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner ist
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nicht Exit ein akzeptierbares Angebot, sondern die palliative Medizin und
Pflege.
Beim einen wie beim anderen Teil findet jedoch ein klares Unbehagen
Ausdruck, wenn das Alters- und Pflegezentrum als Ort für den Vollzug des
von Exit begleiteten Suizids in Betracht gezogen wird. Die Tatsache des
plötzlichen Fehlens eines Mitbewohners bleibt mahnend in der Erinnerung
aller Beteiligten wach.
Spürbar geht es dabei um ein sozialethisches Empfinden, das ebenfalls
einen hohen Wert tangiert: Das Alters- und Pflegezentrum gilt gesamthaft
als Ort oder Raum kollektiver Verantwortung.
Kollektive Verantwortung betrifft das Wohlergehen derjenigen, die
Entscheide treffen wie das Wohlergehen derjenigen, die nicht selber
entscheiden, die aber ebenfalls zu diesem Ort oder in diesen Raum gehören
und deren Gefühl von Lebenswert davon abhängig ist. So sind diejenigen,
die nicht entscheiden, als Kollektiv ebenso schutzbedürftig wie derjenige
oder diejenige, der/die für sich privat entscheidet, den eigenen Tod mit
Unterstützung von Exit zu veranlassen. Das Unbehagen, das in den
Gesprächen deutlich Ausdruck findet, lässt den Schluss zu, dass es für den
privaten Entscheid des privaten Ortes bedarf. Wie das von einer der
Gesprächsteilnehmerinnen geschilderte Beispiel verdeutlicht, das ihre
Tante, jedoch auch die Heimleiterin und den Sohn betraf, hängt auch der
private Ort wieder von einem privaten Entscheid ab, der in jenem Fall
infolge der Mitverantwortung der Heimleiterin wie des Sohnes mit der
Verweigerung der einen wie des anderen einherging.
Gewiss lässt sich privatrechtlich das eine Zimmer, das in der Regel zum
letzten Wohnort der Menschen in Alters- und Pflegeheimen wird, auch als
deren Sterbeort verstehen. Das wird von den Mitbewohnerinnen und
Mitbewohnern in keiner Weise in Frage gestellt, wenn es um ein
natürliches „Ableben“ geht, im Gegenteil, da ist Sterben Teil des Lebens,
das von ihnen mit Wissen und Verstehen begleitet wird, oft mit Bangen
und Trauer. Wenn aber der Tod medizinisch organisiert wird und „mit
Hilfe zur Selbsttötung“ geschieht (entsprechend Art. 115 STGB),
wenngleich diese, wie es bei Exit der Fall ist, als „freier Entscheid“
legitimiert wird, so ist die Reaktion des Kollektivs sehr viel komplexer und
geht mit Erschrecken und Furcht einher, wie die geschilderten Reaktionen
in den Gesprächen deutlich werden lassen.
Es erscheint mir wichtig, zum Abschluss daran zu erinnern, dass im
Vordergrund der Auseinandersetzung die Befürchtung ausgesprochen
wurde, dass sich aus Kostengründen eine kalt berechnete Legitimation des
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Alterssuizids ausbreite, die in den Medien einen zunehmend breiten Platz
als ökonomisch und medizinisch begründeter „vernünftiger Entscheid“
einnehme. Möglicherweise verbindet sich das Erschrecken, das in
Zusammenhang dieser Erwägung in den Gesprächen mitschwingt, mit dem
Vergleich der aktuellen Legitimation medizinischer Empfehlung zur
pränatalen Tötung von Kindern mit genetisch bedingten Schäden, deren
Leben ebenfalls als kostenbelastend und als nutzlos qualifiziert wird,
möglicherweise auch in befürchteter Fortsetzung der vom
Nationalsozialismus hunderttausendfach umgesetzten Euthanasie, der
Tötung „lebensunwerten Lebens“, die als gesellschaftlich entlastender,
sinnvoller „Gnadentod“ von Ärzten und medizinischem Personal
vollzogen wurde. Diese Befürchtungen bleiben offen, sie sind berechtigt.
Der primäre Zweck des Alters- und Pflegezentrums, sowohl dem Respekt
vor der je individuellen Persönlichkeit mit den besonderen Wünschen und
Ängsten wie dem kollektiven Wohlbefinden der dort lebenden Menschen
gerecht zu werden, bedarf der sorgfältigen Beachtung der thematisierten
Fragen. Zusammenfassend ist meines Erachtens der von Exit unterstützte
Alterssuizid als Angebot freier individueller Wahlmöglichkeit nicht
abzulehnen. In den Gesprächen mit den Mitbewohnerinnen und
Mitbewohnern erweist er sich jedoch als unzumutbar innerhalb des
Zentrums. Dagegen wird die Palliativmedizin und die palliative Pflege
begrüsst, die dem Leben einen unaustauschbaren Wert zugesteht, ohne dass
es unnötig verlängert wird, wenn infolge nicht mehr heilbarer Krankheit
oder altersbedingter körperlicher Beschwerden, Behinderungen und
Mängel eine besondere Achtsamkeit Dritter nötig ist.
Es erscheint mir dringlich, dass diese klare Stellungnahme Betroffener
beachtet wird. Dass der beängstigend wachsenden Entwicklung einer kalten
ökonomischen Entmenschlichung innerhalb der sozialen Strukturen die
Stirn geboten wird.
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