VG München: Asylantrag, EMRk

VG München, Beschluss v. 12.06.2015 – 12 S 15.50490
Titel:
VG München: Asylantrag, EMRk, Abschiebungsanordnung, Afghanische
Staatsangehörige, Stattgabe, Inhaftierung, Rechtsquelle, Asylverfahrensgesetz,
Einzelrichterin, Außenstelle, Mazedonien, Fingerabdruck, Treffer, Ehepaar,
Selbsteintrittsrecht, ohne mündliche Verhandlung, Öffentliches Interesse,
Hauptsacheverfahren, Rechtsbehelf
Normenketten:
Dublin III VO
§ 34a AsylVfG
Art. 20 Abs. 3 Dublin III VO
Art. 6 GG
Art. 8 EMRK.
Art. 3 EMRK
§ 80 Abs. 5 VwGO
Art. 6 GG
§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage M 12 K 15.50489 gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 12. 5.
2015 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihnen drohende Überstellung nach Ungarn
im Rahmen des so genannten „Dublin-Verfahrens“.
Die Antragsteller - ein Ehepaar mit einer im Jahr 2008 geborenen Tochter - sind eigenen Angaben zufolge
afghanische Staatsangehörige. Sie reisten am 3. November 2014 ins Bundesgebiet ein und stellten am 29.
Januar 2015 einen Asylantrag. Sie gaben bei der Anhörung des Bundesamtes an, sich auf der Reise in Iran
(Juli 2014), der Türkei (40 bis 45 Tage), in Griechenland (5-6 Tage), in Mazedonien (26/27 Tage), in
Serbien und Ungarn (5-6 Tage) aufgehalten zu haben. In Griechenland und Ungarn seien ihre
Fingerabdrücke abgenommen worden (Bl. 6 der Behördenakte).
Es ergaben sich EURODAC-Treffer für Ungarn (Antragstellerin zu 2: HU1...; Bl. 55 und Antragsteller zu 1:
HU1...; Bl. 57 der Behördenakte) und für Griechenland (Antragsteller zu 1: GR2...; Bl. 56 der
Behördenakte).
Auf ein Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 26. Februar 2014 (Bl. 64 der Behördenakte) hat
Ungarn am 20. April 2015 der Übernahme der Antragsteller zu 1 und 2 zugestimmt. Darin ist ausgeführt,
dass die Familie in Ungarn am 26. September 2014 einen Asylantrag gestellt hat (Bl. 77 und 79 der
Behördenakte).
Mit Bescheid vom 12. Mai 2015 stellte das Bundesamt fest, dass die Asylanträge der Antragsteller als
unzulässig abgelehnt werden (Nr. 1) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nr. 2).
Der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten
Asylantrages für die Bearbeitung gem. Art. 18 Abs. 1 b Dublin III VO zuständig sei. Außergewöhnliche
humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht
gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
Am ... Mai 2015 erhob der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller gegen den Bescheid vom 12. Mai 2015
beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage (M 12 K 15.50489) und stellte gleichzeitig Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage.
Der Eilantrag wurde im Wesentlichen wie folgt begründet: Das Asylsystem in Ungarn weise systemische
Mängel auf. Zahlreiche Gerichte hätten dies festgestellt. Die Antragsteller seien eine besonders
schutzwürdige Personengruppe.
Die Antragsgegnerin stellte
keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug
genommen.
II.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage bezüglich der Abschiebungsanordnung in Nr. 2 des
streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen, ist zulässig (§ 34a Abs. 2 AsylVfG) und begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage
im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht
trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylVfG
ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem
Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind
die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5
VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich
erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse der Antragsteller regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der
angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches
Interesse an dessen sofortiger Vollziehung; nicht erforderlich sind insoweit ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des Bescheids, denn die Regelung des § 36 Abs. 4 AsylVfG ist hier nicht (entsprechend)
anwendbar (vgl. VG Trier, B.v. 18.9.2013 - 5 L 1234/13.TR - juris; VG Göttingen, B.v. 9.12.2013 - 2 B
869/13 - juris, Rn. 16). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es
bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach der hier gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung ist im vorliegenden Fall davon
auszugehen, dass die Erfolgsaussichten der Klage der Antragsteller nach derzeitiger Einschätzung offen
sind und das persönliche Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung der Klage die
öffentlichen Interessen überwiegt.
Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften
der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen
Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald
feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Im vorliegenden Fall ist aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union Ungarn für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend nach der Verordnung (EU)
Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien
und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen
Schutz zuständig ist (Abl. L 180 v. 19. Juni 2013, S.31; Dublin III VO). Die Zuständigkeitskriterien der Dublin
III VO finden nach Art. 49 Abs. 2 dieser Verordnung auf Asylanträge, die - wie hier - nach dem 1. Januar
2014 gestellt worden sind, Anwendung. Die Antragsteller haben am 29. Januar 2015 in der Bundesrepublik
einen Asylantrag gestellt.
Für die Antragsteller haben sich u. a. EURODAC-Treffer für Ungarn ergeben. Die Ziffer „1“ im EURODACTreffer steht für Personen, die in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, Art. 14 Abs. 1, Art. 24 Abs. 4
EURODAC-VO, Art. 2 Abs. 3 Satz 5 der VO (EG) Nr. 407/2002 zur Festlegung der
Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) Nr. 2725/2000 (EURODAC-VO)
Für die Prüfung des Asylantrags der Antragsteller ist gem. Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO Ungarn zuständig.
Die Antragsteller sind nach eigenen Angaben nach Ungarn eingereist (Bl. 6 der Behördenakte) und haben
dort - nach Angaben der ungarischen Behörden im Schreiben vom 20. April 2015 - am 26. September 2014
einen Asylantrag gestellt (Bl. 77 und 79 der Behördenakte).
Die nach Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO zuständige ungarische Behörde hat dem Wiederaufnahmegesuch
ausdrücklich gem. Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO zugestimmt.
Es liegen aber Umstände vor, die die Zuständigkeit Ungarns in Durchbrechung des Systems der
Bestimmungen der Dublin-Verordnungen entfallen lassen.
Dem gemeinsamen Europäischen Asylsystem, zu dem insbesondere die Dublin-Verordnungen gehören,
liegt die Vermutung zugrunde, dass jeder Asylbewerber in jedem Mitgliedsstaat gemäß den Anforderungen
der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Abl. C 83/389 v. 30. März 2010, des Abkommens
über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S.559) sowie der Europäischen
Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4. November 1950 (BGBl. II 1952, S.685 in der
Fassung der Bekanntmachung v. 20. Oktober 2010 (BGBl. II S.1198) behandelt wird. Es gilt daher die
Vermutung, dass Asylbewerbern in jedem Mitgliedsstaat eine Behandlung entsprechend den Erfordernissen
der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - und der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK - zukommt.
Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (EuGH, U. v. 21. Dezember 2011 - C - 411/10 und C 493/10, NVwZ 2012, S.417 und juris; U. v. 14. November 2013 - C - 4/11, NVwZ 2014, S.129 und juris) bzw.
dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (BVerfG, U.v. 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 und 2315/93,
BverfGE 94, Seite 49 = NJW 1996, S,1665 und juris) zugrunde liegende Vermutung ist jedoch dann als
widerlegt zu betrachten, wenn den Mitgliedsstaaten „nicht unbekannt sein kann“, also ernsthaft zu
befürchten ist, dass dem Asylverfahren einschließlich seiner Aufnahmebedingungen in einem Mitgliedsstaat
derart grundlegende, systemische Mängel anhaften, dass für dorthin überstellte Asylbewerber die Gefahr
besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt
zu werden (EuGH, U. v. 21. Dezember 2011, a. a. O.; U. v. 14. November 2013,a. a. O.). In einem solchen
Fall ist die Prüfung anhand der der Dublin-Verordnungen fortzuführen, um festzustellen, ob anhand der
weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedsstaat als für die Prüfung des Asylantrags bestimmt werden kann; ist
zu befürchten, dass durch ein unangemessen langes Verfahren eine Situation, in der Grundrechte des
Asylbewerbers verletzt werden, verschlimmert wird, muss der angegangene Mitgliedsstaat selbst prüfen
(EuGH, U. v. 21: Dezember 2011, a. a. O.; U. v. 14. November 2013, a. a. O.).
Als systemische Mängel sind solche Störungen anzusehen, die entweder im System eines nationalen
Asylverfahrens angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von ihnen nicht
vereinzelt oder zufällig, sondern in einer Vielzahl von Fällen objektiv vorhersehbar treffen oder die dieses
System aufgrund einer empirisch feststellbaren Umsetzung in der Praxis in Teilen funktionslos werden
lassen (vgl. Bank/Hruschka, Die EuGH-Entscheidung zu Überstellungen nach Griechenland und ihre Folgen
für Dublin-Verfahren (nicht nur) in Deutschland, ZAR 2012, S. 182; OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 21. Februar
2014 - 10 A 10656 - juris).
Die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 4 GR- Charta ist gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GR-Charta
einschließlich der Erläuterungen hierzu (ABl. C 303/17 v. 14. Dezember 2007) i. V. m. Art. 6 Abs. 1 Satz 3
EUV v. 7. Februar 1992 (ABl. C 191, S.1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Vertrages von Lissabon vom
13. Dezember 2007 (Abl. C 306, S.1, ber. Abl. 2008 C 111, S. 56 und Abl.2009 C 290, S.1) an Art. 3 EMRK
auszurichten. Nach der Rechtsprechung des EGMR (Urteil v. 21. Januar 2011 - 30696/09, EuGRZ 2011,
243) ist eine Behandlung dann unmenschlich, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder
tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder seelische Leiden verursacht. Als
erniedrigend ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt oder
fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der
Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen
Widerstand der Person zu treffen.
Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen, einen
Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von den
Umständen des Falles ab, insb. von der Dauer der Behandlung und ihrer physischen und psychischen
Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Art. 3
EMRK kann allerdings nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er die Vertragsparteien verpflichtete,
jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine
allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten
Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, U. v. 21. Januar 2011, a. a. O.; B. v. 2. April 2013 - 27725/10 Mohammed Hussein u. a. gegen die Niederlande und Italien, ZAR 2013, S.336 und juris).
Gleichwohl sind die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni
2014 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen Aufnahmerichtlinie - (Abl. L 180 S. 96) genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden
in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Asylsuchende werden in einem Mitgliedsstaat unmenschlich
oder erniedrigend behandelt, wenn ihnen nicht die Leistungen der Daseinsvorsorge gewährt werden, die
ihnen nach der Aufnahmerichtlinie zustehen. Ihnen müssen während der Dauer des Asylverfahrens die
notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie die elementaren Bedürfnisse (wie z. B. Unterkunft,
Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) in zumutbarer Weise befriedigen können. Als Maßstab sind
die Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie mit den dort geregelten zeitlich beschränkten
Einschränkungsmöglichkeiten bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen und der Verpflichtung, auch
in diesen Fällen die Grundbedürfnisse zu decken, heranzuziehen (OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 7. März
2014 - 1 a 21/12.A, juris; VGH Baden-Württemberg, U. v. 16. April 2014 - A 11 S 1721/13, InfAuslR 2014,
293 und juris).
Prognosemaßstab für das Vorliegen derart relevanter Mängel ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die
Annahme systemischer Mängel setzt somit voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen
im zuständigen Mitgliedsstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass
anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylsuchenden im konkret zu entscheidenden Fall mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B. v. 19. März 2014
- 10 B 6.14 - juris). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten - nicht rein quantitativen - Würdigung aller
Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss ihnen ein größeres Gewicht als den
dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d. h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu
vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH Bad.-Württ.,
U. v. 16. April 2014, a. a. O.; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 7. März 2014, a. a. O., OVG Sachsen-Anhalt,
B. v.14. November 2013 - 4 L 44/13 - juris; BVerwG, U v. 20. Februar 2013 - 10 C 23/12 - juris).
Der Mitgliedsstaat, der die Überstellung des Asylsuchenden vornehmen muss, ist im Fall der Widerlegung
der Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedsstaat im Einklang mit den
Erfordernissen der GFK und der EMRK steht, verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein
anderer Mitgliedsstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bei der im
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung kann nicht mit
hinreichender Sicherheit festgestellt werden, ob die Anordnung der Abschiebung wegen systemischer
Schwachstellen im ungarischen Asylsystem im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs.2 der sog. Dublin III VO
rechtswidrig ist. Denn es handelt sich dabei um eine in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht schwierige
Frage, deren abschließende Beantwortung dem Verfahren der Hauptsache vorbehalten bleiben muss.
Allerdings gibt es nach derzeitigem Kenntnisstand zumindest Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung
von (kleinen) Kindern nach Ungarn wegen systemischer Mängel rechtswidrig ist. Heranzuziehen sind dabei
diejenigen Umstände, die auf die Situation der Antragsteller zutreffen, vorliegend also die Situation einer
dreiköpfigen Familie mit einem sechsjährigen Kind, die vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen
ersten Asylantrag gestellt hat und nunmehr im Rahmen des sog. Dublin-Systems überstellt werden soll
(OVG NRW, U. v. 7. 3. 2014 - 1 A 21/(12 - juris, Rn.130). Maßgeblich ist insoweit das in Ungarn seit dem 1.
Juli 2013 gültige Asylrechtssystem, das umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylbewerbern
vorsieht (siehe UNHCR, Auskunft an das VG Düsseldorf v. 30. 9. 2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A, zu
Frage 3, Satz 2, abrufbar unter http://www.frnrw.de/index.php/inhaltliche-themen/eufluechtlingspolitik/dublin-iii/item/3952-unhcr-stellungnahme-zur-inhaftierung-von-dublin-rueckkehrern-inungarn sowie in der Datenbank MILO des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge).
Grundsätzlich sieht das Gericht in der Tatsache, dass Asylbewerber in Ungarn inhaftiert werden können,
keinen systemischen Mangel. Das Gericht teilt insoweit die Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR, U. v. 3. 7. 2014 - 71932/12 - UA Rn.68 ff.; U. v. 6. 6. 2013 - 2283/12 Asylmagazin 2013, 342 ff.) sowie anderer deutscher Verwaltungsgerichte, die systemische Mängel des
Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn verneinen (VGH BW, B. v. 6. 8. 2013 - 12 S
675/13 - juris Rn.4; OVG LSA, B. v. 31. 5. 2013 - 4 L 169/12 - juris Rn. 23; VG Würzburg, B. v. 2. 1. 2015 W 1 S 14.50120 - juris, Rn.28 ff., VG Düsseldorf, B. v. 2. 9. 2014 - 6 L 1235/14.A - juris, Rn. 8 ff.; VG
München, B. v. 26. 6. 2014 - M 24 S 14. 50325 - juris Rn.31 ff., VG Düsseldorf, B. v. 27. 8. 2014 - 14 L
1786/14.A - juris, Rn. 24 ff; VG Augsburg, B. v. 21. 1. 2015, Au 2 S 14.50360 - juris, Rn. 19 ff.; VG
Regensburg, U. v. 5. 12. 2014, RN 6 K 14.50089 - juris, Rn. 24 ff.; VG Bayreuth, B. v. 13.1.2015 - B 3 S
14.50129 - juris, Rn. 14 ff.; VG Augsburg, B. v. 26. 1. 2015 - Au 7 S 15.50015 - juris, Rn. 21 ff.; VG
Regensburg, B. v. 4. 2. 2015 - RO 1 S 15.50021 - juris, Rn. 24 ff.; u. viele andere).
Vorliegend ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Antragsteller als Familie mit einem kleinen Kind eine
besonders schutzwürdige Personengruppe sind. Von der Praxis der Inhaftierung sind nach neuesten
Erkenntnissen, anders als offenbar früher, auch Familien betroffen. Die Inhaftierung von Familien mit
Kindern ist nach ungarischem Recht für bis zu 30 Tage möglich und von dieser Möglichkeit wird seit
September 2014 verstärkt - bzw. nach Angaben des UNHCR - routinemäßig und ohne Einzelfallprüfung
Gebrauch gemacht (vgl. die Stellungnahme des UNHCR gegenüber dem ungarischen Innenministerium
vom 7. Januar 2015 „UNHCR comments and recommandations on the draft modification of certain
migration, asylum related and other legal acts for the purpose of legal harmonization”, S. 16, abrufbar unter
http://www.unhcr-centraleurope.org/pdf/recources/lega-documents/unhcr-views-on-central-europes-nationalasylum-laws/unhcr-comments-and-recommendations-to-draft-legal-amendmenst.html).
Auch Angaben des Auswärtigen Amts lässt sich entnehmen, dass Familien mit Kindern bis zu 30 Tagen in
Haft genommen werden (Auskunft an das VG Düsseldorf v. 19. 11. 2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A,
abrufbar in MILO).
Nach den Feststellungen im AIDA-Bericht vom 17.2.1015, Seite 61 werden inhaftierte Familien vor allem
Unterkünften in Bekescsaba und Debrecen zugewiesen. Diese Einrichtungen seien aber nicht zur
Inhaftierung von Familien geeignet, insb. nicht zur Unterbringung und dem Aufenthalt von Kindern. In
Bekescsaba werden inhaftierte Asylbewerber auf dem Weg von der Haftanstalt zum Gericht zu
Anhörungszwecken oder auf anderen Wegen (z. B. Besuch im Krankenhaus) mit Handschellen gefesselt
und an einer Leine geführt (Asylum Information Database v. 30. April 2014, aida, C.). Den in Asylhaft
untergebrachten Kindern würden keine sozialen oder erzieherischen Aktivitäten angeboten. Mit
Schlagstöcken und Handschellen ausgerüstete Sicherheitskräfte würden auf die Kinder einschüchternd
wirken (M 16 K 14.50044).
Angesichts dieser das ungarische Asylsystem prägenden Umstände liegt unter Berücksichtigung der
Rechtsprechung des EGMR der Schluss nahe, dass die Inhaftierung von Kindern zu einem Verstoß gegen
Art. 3 EMRK führen würde und folglich insoweit systemische Schwachstellen bestehen. Denn die
Betroffenen haben insb. aufgrund ihres Alters, ihrer Abhängigkeit und ihres Status als Asylsuchende
spezielle Bedürfnisse, denen Rechnung getragen werden muss (Urteil des EGMR v. 19. 1. 2012 Nrn.39472/07und 39474/07 - in der Sache Popov/Frankreich, in dem eine 15-tägige Inhaftierung von
Kleinkindern in Frankreich angesichts der Haftbedingungen (Polizeipräsens, Angst vor Abschiebung,
Spannungen unter den Insassen, kein kindgerechtes Mobiliar)) als Verstoß gegen Art. 3 EMRK gewertet
wurde.
Schon deswegen überwiegt im vorliegenden Verfahren im Hinblick auf die minderjährige Antragstellerin zu 3
das Aussetzungsinteresse. Diese Bewertung erstreckt sich zugleich auf die Eltern, die Antragsteller zu 1
und 2. Denn eine Trennung der Familieneinheit wäre gem. Art. 20 Abs. 3 Dublin III VO und gemessen an
dem in Art. 6 GG und 8 EMRK verbürgten Schutz der Familie unzulässig. Ein solches inlandsbezogenes
Abschiebungshindernis ist bei der Prüfung einer auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG beruhenden
Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (OVG Niedersachsen, B. v. 2. 5. 2012 -13 MC 22/12 - juris,
Rn.27).
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.