Traurige Gewissheit

Elias und Mohamed.
Wie die Ermittlungen verlaufen sind und
welche Erkenntnisse es gibt – Seite 2
Täter, Opfer Tatorte.
Eine Spurensuche in Kaltenborn, am
Schlaatz, am Lageso in Berlin – Seite 3
POTSDAM, SONDERAUSGABE E–PAPER VOM 31. OKTOBER 2015
Schmerz, Entsetzen, Wut.
Wie Potsdam um Elias
trauert – Seite 4
WWW.PNN.DE
Mohamed und Elias
Die Täter –
und wir
Von Caroline Fetscher
A
Mohamed (l.) und Elias. Fotos: Manfred Thomas, Tobias Schwarz / AFP
Traurige Gewissheit
쮿 32-Jähriger gesteht auch
Tötung von Elias aus Potsdam
쮿 Flüchtlingsjunge Mohamed
wurde sexuell missbraucht
쮿 Ermittler prüfen auch Fall
Inga aus Sachsen-Anhalt
쮿 Henkel kritisiert Debatte
um Situation am Lageso
Von Sandra Dassler
und Thorsten Metzner
Berlin/Potsdam/Luckenwalde - Der
32-jährige Silvio S., in dessen Auto am
Donnerstag die Leiche des vierjährigen
Flüchtlingsjungen Mohamed gefunden
wurde, hat auch die Tötung des sechsjährigen Elias aus Potsdam gestanden. Das
gaben Polizei und Staatsanwaltschaft aus
Berlin und Brandenburg am Freitag auf einer Pressekonferenz bekannt. Der Tatverdächtige hatte angegeben, Elias Leichnam
auf seinem Grundstück in Luckenwalde
vergraben zu haben.
Am Freitagnachmittag wurde dort eine
Kinderleiche entdeckt. Sie befand sich in
einem Paket, das in der Erde lag. Das bestätigte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Potsdam am Abend dieser Zeitung. Ob es sich bei dem toten Kind um
Elias handelt, sei noch unklar. Eine
DNA-Analyse solle Klarheit bringen.
Man habe das Paket dafür in die Gerichtsmedizin Berlin gebracht, weil dort auch
schon Mohameds Leiche obduziert worden sei.
Der Tatverdächtige habe sich in einer
mehrstündigen Vernehmung zunächst
„umfänglich“ zu der Entführung des
kleinen Mohamed geäußert, berichtete
Oberstaatsanwalt Michael von Hagen
auf der Pressekonferenz. Danach sei er
dem Jungen am 1. Oktober vor dem
Berliner Landesamt für Gesundheit und
Soziales (Lageso) begegnet, wo er angeblich Spielzeug und Kleidung für Flüchtlinge spenden wollte.
Er habe Mohamed ein Plüschtier in die
Hand gedrückt und den Jungen an die
Hand genommen, als dieser ihm folgte.
Dann sei er mit dem Vierjährigen zunächst durch die Straßen und dann nach
Niedergörsdorf bei Luckenwalde gefahren. Dort lebt S. in Obergeschoss seines
Elternhauses. In seiner Wohnung sei es
zu sexuellen Handlungen an dem Vierjährigen gekommen. Als dieser später anfing zu quengeln, habe er befürchtet,
dass seine im Erdgeschoss lebenden Eltern etwas hören könnten und das Kind
mit einem Gürtel erwürgt.
Diese Schilderung des Tathergangs decke sich mit den Ergebnissen der Obduktion des Jungen, sagte von Hagen. Dabei
habe man Spuren von dumpfer Gewalt
am Hals des Opfers festgestellt und auch
der Todeszeitpunkt stimme mit den Aussagen des Tatverdächtigen überein. Danach musste der kleine Mohamed bereits
am 2. Oktober sterben – zu einem Zeitpunkt, als die Suchaktion nach ihm noch
gar nicht richtig angelaufen war.
Möglicherweise ist es bei Elias, der am
8. Juli beim Spielen vor der elterlichen
Wohnung in Potsdam verschwunden
war, ähnlich gelaufen. Am Ende der Vernehmung habe man Silvio S. ein Bild von
Elias gezeigt und er habe gestanden, einen Jungen aus Potsdam entführt und getötet zu haben, sagte der Potsdamer Oberstaatsanwalt Heinrich Junker. Der Tatverdächtige habe den Ermittlern eine Skizze
von dem Ort angefertigt, wo er den Jungen
begraben hat. Weitere Details habe er zunächst nicht genannt, sagte Junker.
Da Elias ebenso wie der Tatverdächtige Silvio S. aus Brandenburg kommt
Grauen im Grünen. Polizeibeamte durchsuchten am Freitag eine Kleingartenanlage in Luckenwalde nach der Leiche von Elias.
und auch Mohamed in Brandenburg getötet wurde, wird die Staatsanwaltschaft
Potsdam nun die Ermittlungen in beiden
Fällen übernehmen. Sie geht davon aus,
dass Silvio S., der zuletzt bei einem Wachschutzunternehmen in Teltow beschäftigt war, keine Komplizen hatte. Man
prüfe auch einen möglichen Zusammenhang mit dem Fall der seit Anfang Mai
vermissten Inga aus Sachsen-Anhalt.
Noch am Freitagnachmittag wurde
Haftbefehl gegen Silvio S. erlassen. Der
entscheidende Hinweis zu seiner Ergreifung sei der Anruf seiner Mutter gewesen, betonten die Ermittler. Sie hatte ihren Sohn auf den veröffentlichten Fotos
erkannt, ihn zur Rede gestellt und ihn gebeten, sich zu stellen. Als er dies nicht
tat, habe sie die Polizei informiert (PNN
berichteten).
Innensenator Frank Henkel (CDU) verwahrte sich gegen Vorwürfe der Berliner
Grünen, das Chaos am Lageso habe die
Entführung des kleinen Mohamed erleichtert. Es sei abstoßend, wenn nicht
einmal ein paar Stunden abgewartet
werde, „um aus einem eiskalten Verbrechen politisches Kapital schlagen zu wol-
len“, sagte Henkel auf einer Pressekonferenz mit Brandenburgs Innenminister
Karl-Heinz Schröter (SPD) zur Polizeikooperation beider Länder in Potsdam, die
von den aktuellen Fällen überschattet
wurde. Der Mord an den Kindern sei eine
„doppelte Horrornachricht, hier blicken
wir in tiefschwarze Abgründe der
menschlichen Seele“, sagte Henkel.
Schröter sagte, es sei gut, „dass ein Serientäter gestoppt wurde“. Dies sei an diesem Tag bei aller Trauer „auch eine gute
Botschaft, dass Menschen nicht mehr in
Angst und Schrecken versetzt werden.
Manchmal ist traurige Gewissheit besser
als unendliches Leben im Ungewissen.“
Die Eltern von Mohamed und Elias werden nach Aussagen der Polizei seelsorgerisch betreut.
Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) erklärte, ihn habe die Nachricht vom Geständnis des mutmaßlichen
Mörders „fassungslos und bestürzt“ gemacht. Solche Taten seien brutal und
menschenverachtend. „Wir müssen jetzt
zusammenstehen und zusammenhalten
und unser Mitgefühl ausdrücken, wenn
es dann tatsächlich so kommen sollte,“ so
Jakobs mit Verweis auf den Umstand,
dass die Identität der in Luckenwaldegefundenen Kinderleiche noch nicht bestätigt ist.
Auch Brandenburgs Ministerpräsident
Dietmar Woidke (SPD) zeigte sich erschüttert. „Mein Mitgefühl gilt jetzt den
Familien der Jungen. Ich wünsche den Angehörigen für die schwere Zeit sehr viel
Kraft“, sagte Woidke am Freitag in Potsdam. Er dankte zugleich nachdrücklich
den Polizeibeamten und den vielen Freiwilligen, die sich in Potsdam wochenlang
an der Suche nach Elias beteiligt hatten.
Unterdessen nahmen am Freitagnachmittag dieersten undPotsdamer undBesucher der Stadt die Möglichkeit wahr, im
Gedenken an die beiden Jungen in der Nikolaikirche am Alten MarktKerzen zu entzünden. Nur kurz nach Bekanntwerden
der Nachricht vom Geständnis hatte die
Kirche im Seitenschiff einen der großen
gusseisernen Kerzenständer dem gedenken an Mohamed und Elias gewidmet. Am
Abend kamen am Bürgerhaus am Schlaatz
rund 150 Menschen zusammen, um an
Elias zu erinnern. Sie entzündeten Kerzen
und umarmten sich.
(mit sen, mat)
Foto: Tobias Schwarz/AFP
C
IN EIGENER SACHE
D
Liebe Leserin, lieber Leser,
angesichts der furchtbaren Ereignisse
haben wir uns entschieden, erstmals
eine Sonderausgabe der Potsdamer
Neueste Nachrichten als E-Paper zu
produzieren. Am Montag erscheint die
nächste reguläre Ausgabe der Potsdamer Neueste Nachrichten.
Über das aktuelle Geschehen informieren wir Sie auf www.pnn.de
쮿 Ende der Suche: Die wichtigsten
Fragen und Antworten zu den Fällen
Mohamed und Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
쮿 Der mutmaßliche Täter,
die Tatorte und was dort am Freitag
geschah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
쮿 Wie Potsdam trauert
...............
4
ABONNENTENSERVICE (0331) 2376 - 100
ANZEIGENSERVICE . . . . . . (0331) 2376 - 111
REDAKTION . . . . . . . . . . . . . . . . . (0331) 2376 - 132
uf Schock und Zorn folgen die Fragen. Ein junger Mann raubt kleine
Jungen, benutzt sie als lebendige
Sexspielzeuge und ermordet die Objekte
seiner Lust. Wie konnte es dazu kommen? War doch etwas auffällig an dem
„unauffälligen“ Mann? Ist er klinisch
krank? Manifestiert sich in seiner gestörten Persönlichkeit „das Böse“?
Anfang Oktober verschleppte Silvio S.
aus Brandenburg den unbeaufsichtigten,
vier Jahre alten Mohamed vom Gelände
einer Berliner Behörde – die zuständig
ist für Gesundheit und Soziales. Im Juli
hatte derselbe Mann in Potsdam den
sechsjährigen Elias beim Spielen abgefangen. An beiden
Kindern beging er
Sexualmorde.
Jedes
Jedes Verbrechen
dieser Art erzählt Verbrechen
eine lange, traumati- dieser Art
sche Geschichte. Sie
mit der Kategorie erzählt eine
des „Bösen“ zu mys- lange,
tifizieren führt statt
zur Klärung in die traumatische
Irre. Auch im Fall Sil- Geschichte
vio S. wird wohl
teils ans Licht kommen, wie die massive Störung entstand,
und wie der Kriminelle sein Vorgehen
vor sich selber rechtfertigte. „Ich wusste
nicht, was ich tat“, „das Kind hat gar
nichts gespürt“, „es ist einfach passiert.“
So sprechen die Täter. Noch im Maßregelvollzug und in Therapiesitzungen werden derlei typische Legitimationsstrategien sichtbar, wie die Studie „Tat-Sachen:
Narrative von Sexualstraftätern“ belegt,
mitverfasst von Michael Buchholz, Professor an der International Psychoanalytic University in Berlin.
Der Fremde aus dem Nirgendwo greift
sich ein unschuldiges Kind: Das bietet
Gruselfaktor und Empörungsgenuss. Es
führt ebenfalls in die Irre, dass Fälle wie
die von Silvio S. ablenken von den weitaus gravierenderen gesellschaftlichen
Fakten. Im Durchschnitt werden 500 Kinder pro Tag in Deutschland schwer misshandelt, im Durchschnitt stirbt jeden Tag
ein Kind an Misshandlung, meist durch
Erwachsene aus dem engsten, familiären
Umfeld. Diese alarmierenden Fakten präsentierten zwei Rechtsmediziner der Charité, Michael Tsokos und Saskia Guddat
2014 in ihrer Streitschrift „Deutschland
misshandelt seine Kinder“. Präzise forderten sie von der Politik Programme zur
Prävention. Wenig
ist seither geschehen.
Leo
Indes geht das
Misshandeln
und wurde nur
Morden weiter. An 19 Tage alt.
dem Tag, an dem Silvio S. den Jungen Sein Vater
Mohamed getötet hat ihn
hat, am 2. Oktober,
kam in Mönchen- zu Tode
gladbach Leo zur gefoltert
Welt. Leo wurde 19
Tage alt. Sein Vater
hat ihn zu Tode gefoltert. Der Säugling
wurde gequetscht, geschüttelt, geschlagen, missbraucht und mit heißer Milch
verbrüht. Die Mutter sah zu, ohne einzugreifen, und sitzt wie der Vater wegen
Totschlags durch Unterlassung in Haft.
Und in Münster steht seit gestern eine
Mutter vor Gericht, die ihre drei Kinder
im Alter von elf, vier und drei mit Abgasen vergiftet und getötet hat. Fälle wie
diese, die gar nicht alle an die Öffentlichkeit gelangen, wühlen die Gemüter weit
weniger auf als die des „bösen Mannes“,
der von außen kommt.
Jahrzehntelang wurde im Bundestag
über das elterliche Recht gestritten, Kindern Schmerzen zufügen zu dürfen,
vulgo, das „Züchtigungsrecht“. Erst Ende
des Jahres 2000 trat das Recht des Kindes
auf gewaltfreie Erziehung in Kraft. Das
gesellschaftliche Verleugnen, Bagatellisieren und Tabuisieren der Gewalt gegen
Kinder aber hält an, belegt von verschleiernder Wortwahl wie „tragisches Familiendrama“, „schwierige Lebenssituation“,
„überforderte Eltern“ – „da ist das einfach
passiert.“ Da ist das einfach passiert? Das
hört sich an wie die Sprache der Täter.
2
FRAGEN DES TAGES
POTSDAMER NEUESTE NACHRICHTEN
DIE FÄLLE MOHAMED UND ELIAS Die
SONNABEND, 31. OKTOBER 2015
Trauer um die Jungen
10 km
Mohamed
verschwindet
am 1. Oktober
HAVELLAND
BERLIN
Lageso
Elias wird
seit dem
8. Juli vermisst
113
Potsdam
10
Schlaatz
2
9
Zossen
POTSDAMMITTELMARK
TELTOWFLÄMING
Belzig
Luckenwalde
13
Polizei sucht in
Kleingartenkolonie
nach der Leiche
von Elias
Jüterbog
Wohnort
des Täters
Niedergörsdorf
SACHSEN-ANHALT
Tsp/Schilli
Tatorte.
Sämtliche Orte der Verbrechen von
Silvio S. liegen in Brandenburg und Berlin. Am Lageso in Berlin-Moabit trauerten am Freitag die Menschen
um Mohamed (oben) und Elias.
Fotos: Gregor Fischer/dpa,
Polizei Berlin/dpa (2)
„Offen reden,
sich umarmen
und trauern“
Foto: Mike Wolff
Wie soll man damit umgehen, wenn Kinder von solchen Verbrechen erfahren und
nachfragen?
Wenn ein Kind alt genug ist, um zu fragen, ist es auch alt genug für eine offene
Antwort. Wenn es fragt „Warum ist das
Kind gestorben?“, muss man darüber reden, dass es solche großen Unglücke gibt,
dass sich Menschen manchmal morden.
Soll man Kinder dann davor warnen, mit
fremden Menschen mitzugehen?
Unbedingt! Unbedingt!
Dr. Peter Hauber ist
Kinderarzt in BerlinLichterfelde. Er engagiert sich bei der Initiative „Ärzte gegen den
Atomkrieg“ und richtet
Benefizkonzerte aus.
Die Fragen stellte
Gerd Appenzeller.
Was tut man, wenn ein kleines Kind nach
solchen Ereignissen Angst hat? Nimmt
man es mit sich ins Bett?
Ja, ja, wenn das Kind Angst hat, muss
man sich um das Kind kümmern. Mit ihm
sprechen, muss es drücken, muss ihm
Nähe vermitteln.
Empfiehlt es sich, in Kindergarten oder
Schule auf das Thema einzugehen?
Nein. Keine Ängste schüren. Man sollte
Kindern auch generell verbieten, im Fernsehen Kriegsfilme und Krimis anzuschauen. Und noch eins: Nehmen Sie die
eigene Familie in den Arm, Eltern und
Kinder zusammen, weinen Sie, wenn
ihnen danach ist. Und aktivieren Sie
möglichst viele Menschen, dass alle zu
einem öffentlich verabredeten Termin
abends Kerzen in die Fenster stellen, als
eine Lichterkette des Mitfühlens und
Gedenkens.
Ende einer Suche
Lange wurde das Verschwinden der beiden vermissten Kinder nicht miteinander
in Verbindung gebracht. Doch als die Polizei den Entführer des kleinen Mohamed
am Donnerstag festgenommen hatte, gab
er entscheidende Hinweise auf den Verbleib des sechsjährigen Elias. Am Freitagnachmittag wurde eine zweite Kinderleiche gefunden.
Wie verlief die Suche nach Elias?
Das Grundstück, auf dem der Tatverdächtige angeblich den Leichnam von Elias
vergraben hat, wird von Polizisten und
Kriminaltechnikern komplett abgegraben, sagte ein Ermittler: „Wir gehen äußerst vorsichtig vor, wir wissen ja nicht,
ob dort noch mehr zu finden ist.“ Die Arbeiten würden in jedem Fall auch nach
Einbruch der Dunkelheit und auch am
Sonnabend fortgesetzt. Am Freitagnachmittag wurde an der von Silvio S. beschriebenen Stelle auf seinem Grundstück in Luckenwalde ein verschnürtes
Paket gefunden. Nach Tagesspiegel-Information befand sich darin eine Kinderleiche, die jedoch noch nicht identifiziert
ist. Die Polizei gehe aber davon aus, dass
es sich dabei um Elias handele. Die Ergebnisse der DNA-Analyse werden am Samstag erwartet.
Wie wurde nach dem Verschwinden von
Elias im Juli ermittelt?
Am 8. Juli ist der sechsjährige Elias
beim Spielen vor dem Fenster der Elternwohnung im Potsdamer Ortsteil Schlaatz
verschwunden. Die Polizei hatte sofort
mit einer groß angelegten Suchaktion mit
Hubschraubern,
Wärmebildkameras,
Booten und Tauchern nach dem Jungen
gesucht. Mehr als 150 Beamte hatten das
Wohnumfeld durchstreift und das sumpfige Gelände am nahegelegenen Fluss
Nuthe überprüft. Zahlreiche Freiwillige
beteiligten sich an der Suche. Mitte August hatte die Polizei schließlich mitgeteilt, dass sie nicht mehr damit rechne,
dass der Junge noch lebe. Erst bei der Vernehmung des Silvio S. am Donnerstag,
Wie wurde nach dem Verschwinden von Mohamed im Oktober ermittelt?
Am 1. Oktober ist Mohamed Januzi vom
Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) in der Turmstraße in Moabit verschwunden. Bereits
am Abend durchsuchten dort Bereitschaftspolizisten das Gelände. Am nächsten Tag wurde mit Plakaten auf dem Lageso-Gelände gesucht. Erst am 4. Oktober hat die Polizei eine Öffentlichkeitsfahndung nach Mohamed eingeleitet und
am Tag darauf ein Bild von dem Jungen
veröffentlicht, um Hinweise aus der Bevölkerung entgegenzunehmen.
Warum wurde das qualitativ bessere Video,
das schließlich zum Täter führte, erst so
spät gefunden?
Waren/Müritz
12/7
Prenzlau
13/7
Schwedt
13/7
Berlin
Rathenow
14/5
Berlin
14/1
Frankfurt/Oder
14/7
Brandenburg
14/6
Luckenwalde
15/7
Lübben
15/8
Finsterwalde
15/8
Cottbus
15/7
HEUTE IN BERLIN
Am Sonnabend in der Früh gibt
es in Berlin und Umgebung noch
ein paar Hochnebelschwaden,
tagsüber setzt sich dann aber
sehr rasch weitgehend ungestörter Sonnenschein durch. Über
Mittag zeigt sich der Himmel oft
sogar wolkenlos. Die Temperaturen erreichen Höchstwerte um
14 Grad.
Wind: Der Wind weht mäßig mit
Stärke 3 aus Südost, gegen
Mo
Di
Mi
Kiel
12/4
Abend lässt er etwas nach.
Biowetter: Der Hochdruckeinfluss sorgt für allgemeines Wohlbefinden und eine ausgewogene
Stimmungslage. Der Schlaf
bringt meist die gewünschte Erholung und die meisten Menschen können sich tagsüber gut
konzentrieren und sind voller Tatendrang. Bewegung im Freien
hilft diesen positiven Wettereinfluss noch weiter zu verstärken.
12/-1
Hamburg
13/3
Bremen
13/3
Hannover
14/5
Magdeburg
14/5
Dortmund
17/5
11/0
5/2
Köln
16/6
GESTERN IN BERLIN
Ozon
um 13 Uhr
13 bis 15
µg/m3
(Grenzwert 180)
Tegel
Tempelhof
Dahlem
Schönefeld
Potsdam
4.6
4.4
4.1
4.3
4.3
10.5
9.4
10.6
8.2
8.5
0
0
0
0
0
6.8
6
7.1
6.4
2.9
Berlin
14/7
Leipzig
15/4
Frankfurt
15/7
Erfurt
13/4
Dresden
15/9
Nürnberg
16/6
Stuttgart
15/4
Saarbrücken
14/5
München
14/3
Freiburg
15/9
11˚C
11˚C
11˚C
11˚C
11˚C
SONNE & MOND
25.11.
20:10
11.11.
11:13
Namenstage: Wolfgang, Quentin
03.11.
19.11.
HEUTE IN DEUTSCHLAND
Verbreitet setzt sich strahlender
Sonnenschein durch. In der Früh
gibt es noch ein paar Nebel- oder
Hochnebelfelder, die sich aber
recht bald auflösen. Am zähsten
sind die Nebelfelder im Süden,
hier bleibt es stellenweise bis
Mittag trüb. Im Bergland scheint
Hochdruckeinfluss bestimmt im
Großteil Europas das Wettergeschehen. Dafür verantwortlich
ist das Hoch Tomoka über Russland und hoher Luftdruck in höheren Schichten über Mitteleuropa.
Die Luftmassen sind sehr trocken und damit bleibt sogar die
Nebelwahrscheinlichkeit eher gering, so dass überwiegend die
Sonne scheint. Über dem Atlantik dreht sich das Tief Yorsch und
bringt vor allem in Portugal und
Westspanien
unbeständiges
Wetter. Auch über Sizilien dreht
sich ein Tiefdruckwirbel und
sorgt von Süditalien bis zur libyschen Küste für teils kräftigen
Regen und stürmischen Wind.
Nach Osten zu erstreckt sich das
Regengebiet bis Griechenland.
Warum hat sich der Tatverdächtige nicht
ausführlicher zur Entführung und zum Tod
von Elias geäußert?
Nach Aussagen der Ermittler hatte er erst
am Ende einer stundenlangen Vernehmung gestanden, auch einen Jungen in
Potsdam entführt zu haben. Der habe
ihm auch erzählt, dass er Elias heiße. Er
habe auch diesen Jungen getötet. Zu weiteren Aussagen sei Silvio S. nach Absprache mit seinen Anwälten nicht bereit gewesen, hieß es.
Alle schauen auf den Täter. Wer kümmert
sich um die Eltern der Opfer?
Die Polizei hat die Angehörigen der Opfer wie immer in solchen Fällen informiert, bevor die schlimmen Nachrichten
über ihre Kinder an die Öffentlichkeit gegeben wurden. Dabei wurde, so die zuständigen Polizisten und Staatsanwälte,
auch sofort Hilfe angeboten. So sei im
Fall des vierjährigen Mohamed ein Imam
gebeten worden, der aus Bosnien stammenden Mutter und ihrem Lebensgefährten seelsorgerischen Beistand zu leisten.
Auch um die Angehörigen von Elias kümmern sich Notfallseelsorger und Polizisten. „Das unsägliche Leid, das sie in diesen Stunden ertragen müssen, kann ihnen aber letztlich niemand abnehmen“,
sagte ein Ermittler.
Reisewetter
die Sonne von der Früh an weitgehend ungestört. Der Wind weht
schwach, tagsüber teils auch
mäßig aus Ost bis Südost. Die
Temperaturen erreichen 12 bis
18 Grad mit den höchsten Werten am Alpennordrand, am kühlsten bleibt es im Norden.
DEUTSCHLAND
Reykjavik
4
T
XANDRE
Oslo
9
Kopenhagen
11
Dublin
16
London
16
Paris
18
T
YORSCH
Stockholm Helsinki St. Petersburg
8
9
3
Bordeaux
22
Lissabon Madrid
20
16
Malaga
21
Las Palmas
20
Palma
21
Algier
21
Riga
4
TOMOKA
Wilna
6
H
Moskau
0
Berlin
Warschau
14
11
Brüssel
Kiew
16
5
Zürich Wien
13
13
Budapest
Venedig
13 Bukarest
17
Cannes
10
Dubrovnik
21 Rom
Sofia Istanbul
19
21
8
14
Tunis
20
T
Athen
17
In den nächsten Tagen zieht das
Hoch Tomoka weiter Richtung Süden, in der Höhe wirkt aber weiterhin Hochdruckeinfluss in ganz
Mitteleuropa. Tief Yorsch zieht
von der Biskaya Richtung Süden
und die Regenfälle breiten sich
erst auf die gesamte Iberische
Halbinsel aus, später Richtung
Osten. Ab Montag regnet es
auch in Frankreich. Das Tief über
Süditalien zieht Richtung Süden.
H Hochdruckzentrum
Warmfront
Kaltfront
Mischfront
Antalya
24
Schauerlinie
WASSERTEMPERATUREN
Nordsee
Ostsee
Biskaya
Adria
Ägäis
Schwarzes Meer
12˚
11˚
16˚
20˚
24˚
17˚
Westliches Mittelmeer
Östliches Mittelmeer
Algarve
Kanarische Inseln
Karibik
Thailand
Auf unserer Internetseite: Das Potsdam-Wetter – mit
der Wetterlage und den Aussichten für Brandenburg
und ganz Deutschland.
Zu finden unter: www.pnn.de
Aachen
Bonn
Brocken
Düsseldorf
Feldberg/Schw.
Fichtelberg
Garmisch-P.
Hof
Karlsruhe
Konstanz
Passau
Schwerin
Sylt
Trier
Weimar
Würzburg
Zugspitze
sonnig
sonnig
sonnig
sonnig
heiter
sonnig
sonnig
sonnig
sonnig
wolkig
sonnig
sonnig
sonnig
sonnig
heiter
sonnig
sonnig
17˚
15˚
12˚
16˚
10˚
13˚
19˚
13˚
15˚
13˚
17˚
13˚
12˚
13˚
14˚
13˚
9˚
EUROPA UND DIE WELT
T Tiefdruckzentrum
AUSSICHTEN
WASSERTEMPERATUREN
Wannsee
Müggelsee
Ruppiner See
Müritz
Halensee
07:01
16:38
Ist der Tatverdächtige schon einmal bei der
Polizei in Erscheinung getreten?
Ja, aber nach Angaben der Staatsanwaltschaft nicht einschlägig. Das heißt, nicht
im Zusammenhang mit pädophilen Handlungen oder gar Tötungsdelikten.
Europa
Rostock
12/5
Eberswalde
13/7
Potsdam
14/7
14/7
So
Sonnenstunden
vorgestern
Wittenberge
13/6
Am Sonntag scheint die Sonne
von der Früh an ungestört. Die
Temperaturen erreichen rund 15
Grad. Ab Montag gibt es wieder
etwas mehr Wolken, es bleibt
aber auch an den Folgetagen trocken. Die Temperaturen gehen
etwas zurück, bis Mittwoch nur
noch 10 Grad.
Niederschlag
bis 12 Uhr (mm)
Neuruppin
14/6
Welche anderen Fälle verschwundener Kinder gibt es, mit denen ein Zusammenhang
denkbar ist?
Die Ermittler prüfen einen Zusammenhang zum Fall der Vermissten Inga aus
Stendal in Sachsen-Anhalt. Die Fünfjährige verschwand am 2. Mai in einem nahegelegenen Wald. Bisher sehen die Ermittler aber keine Hinweise auf einen Zusammenhang, sagte ein Polizeisprecher.
WETTERLAGE
Temperatur
um 14 Uhr
Pritzwalk
13/6
Deutschland
Tiefstwert
bis 8 Uhr
Schwerin
13/5
Heringsdorf
11/8
Rostock
12/5
Die Ermittler haben einen zunächst kleineren Ermittlungsradius Stück für Stück
nach außen verbreitert. Zunächst wurde
das Videomaterial des Lageso gesichtet,
dann das Videomaterial von der Turmstraße. Erst ab dem 22. Oktober wurden
auch Gaststättenbesitzer aus dem weiteren Umkreis von der Polizei nach Aufnahmen von Überwachungskameras gefragt. Die Videoaufnahmen sind illegal
entstanden. Eigentlich dürfen Private nur
ihren Privatbesitz und nicht den öffentlichen Raum filmen. Polizei und Staatsanwaltschaft ließen am Freitag keine Zweifel daran, dass dies nicht strafrechtlich
verfolgt wird. Wahrscheinlich handele es
sich ohnehin nur um eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat. Das Video ist
aber ein Glücksfund für die Ermittler gewesen, nur durch die Veröffentlichung
ging der entscheidende Hinweis auf Silvio S. durch seine Mutter ein, der dazu
führte, dass die Leiche des kleinen Mohamed am Donnerstag gefunden wurde.
„Die scharfen Aufnahmen wurden mehrere hundert Meter vom Lageso entfernt
gemacht – ohne diese Aufnahmen wäre
heute nichts geklärt“, sagte ein Sprecher
der Staatsanwaltschaft Berlin.
Hätten die Tode der beiden Kinder durch
schnellere Ermittlungen verhindert werden
können?
Im Fall des Mohamed Januzi eher nicht,
das Kind wurde nach derzeitigem Ermittlungsstand nur einen Tag nach seiner Entführung vom Lageso-Gelände am 1. Oktober getötet. Wie der Oberstaatsanwalt Michael von Hagen bei einer Pressekonferenz am Freitag mitteilte, habe die Obduktion des Vierjährigen ergeben, dass das
Kind schon seit ein paar Wochen tot ist.
Das bestätigte die Angaben des Beschuldigten Silvio S, der angab, dass er das
Kind nach Verlassen des Lageso-Geländes gleich mit nach Hause genommen
hatte und es dort sexuell missbraucht
und getötet habe. Im Fall von Elias ist
aber noch nicht geklärt, ob schnellere Ermittlungen seinen Tod verhindert hätten.
AUSSICHTEN
31. 10. 2015
Kühlungsborn
12/7
Von Sandra Daßler
und Ronja Ringelstein
Wieso liefen im Fall Mohamed die Ermittlungen so schleppend an?
Ein Sprecher der Berliner Polizei gab an,
dass es gewisse „Widersprüche“ in den
ersten Aussagen der Mutter gegeben
habe, die anfangs die Fahndung nach dem
Jungen verzögert hätten. Außerdem
hatte die von der Polizei am 10. Oktober
veröffentlichte kurze Videosequenz aus
einer Überwachungskamera, in der zu sehen ist, wie Mohamed am 1. Oktober gegen 14.40 Uhr an der Hand eines unbekannten Mannes das Lageso-Gelände verlässt, eine relativ schlechte Qualität. Erst
am 27. Oktober wurde ein neues Video
von besserer Qualität veröffentlicht, das
den mutmaßlichen Entführer deutlich
zeigt. Die Videoaufnahmen waren schärfer als die bislang bekannten – sie stammten von einem Lokal, etwa 700 Meter von
der Turmstraße entfernt.
Brandenburg, Berlin und die Ostsee
Göhren
11/9
Am Donnerstag wurde
die Leiche von
Mohamed gefunden.
Kurz darauf gestand
Silvio S. auch
die Tötung von Elias.
Am Freitag fanden die
Ermittler eine zweite
Kinderleiche.
Wie sind die Ermittlungen
verlaufen und welche
Erkenntnisse gibt es?
dem 29. Oktober, zum Fall des vierjährigen Mohamed Januzi, kam es zu entscheidenden Hinweisen im Fall Elias:
Silvio S. räumte ein, ein weiteres Kind getötet zu haben, das Elias heiße. Als die
Polizei ihm ein Bild von Elias zeigt, bestätigt er, dass das der Junge sei, den er getötet habe.
22˚
26˚
21˚
24˚
29˚
29˚
Amsterdam
Barcelona
Bern
Djerba
Eilat
Genf
Hongkong
Innsbruck
Jerusalem
Kapstadt
Kairo
Korfu
Kreta
Larnaca
Los Angeles
Mailand
Malta
Miami
New York
Palermo
Peking
Prag
Reykjavik
Salzburg
St. Moritz
Sydney
Tel Aviv
Tokio
Zermatt
sonnig
heiter
heiter
sonnig
sonnig
sonnig
heiter
sonnig
heiter
stark bewölkt
heiter
wolkig
heiter
heiter
sonnig
wolkig
leichte Regenschauer
leichte Regenschauer
sonnig
starke Regenschauer
sonnig
sonnig
wolkig
sonnig
sonnig
Regenschauer
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DIE DRITTE SEITE
DIE FÄLLE MOHAMED UND ELIAS Auf
F
rüh am Vormittag liegt der Nebel so dicht über den Brandenburger Äckern, wie es das Klischee vom November verlangt.
Dabei ist doch noch Oktober. An
Tagen wie diesen können nicht mal die
bunt gefärbten Ahornblätter Trost spenden, man sieht sie ja auch kaum. Der
Mann, von dem später bekannt wird,
dass er Harald heißt, steht in einem grobgestrickten Pullover und Filzpantoffeln
vor der Tür. „Mich wundert das nicht,
was da passiert ist“, sagt er, und dass er
jetzt schon ein paar Stunden vor seinem
Haus stehe. „Ist schon seltsam, dass auf
einmal so viele Leute herkommen, hier
ist doch noch nie was passiert.“
Die Gemeinde Niedergörsdorf im Fläming südwestlich von Potsdam hat schon
bessere Tage gesehen. Tage, an denen
noch kein Gestrüpp vor dem Eingang zur
stillgelegten Ziegelei wucherte, im Einkaufszentrum noch eingekauft wurde
und in den Straßen zwischen Bahnhof
und Gokartbahn womöglich noch Menschen zu sehen waren. Vom Bahnhof Niedergörsdorf ist es zu Fuß eine halbe
Stunde zum Ortsteil Kaltenborn. Allerlei
wild parkende Autos und Menschen mit
Kameras und Fotos weisen den Weg zum
Haus, in dem Silvio
S. mit seinen Eltern
gewohnt hat. Der
So viele
Mann, der mutmaßKerzen –
lich zwei kleine Jungen entführt und geman spürt
tötet hat, den Flüchtdie Wärme
lingsjungen Mohamed aus Berlin und
der kleinen
Elias aus Potsdam.
Flammen
Zwei Jungen, vier
und sechs Jahre alt,
die Berlin und Brandenburg, ja ganz Deutschland einen Sommer und einen beginnenden Herbst lang
in Atem halten. Die Spur führt nach Kaltenborn, 84 Einwohner, eine Feldsteinkirche und das graubraun verputzte Haus
der Familie S.
Auf dem Gehweg brennt ein Lichtlein
im Glas, jemand hat eine weiße Rose abgelegt. Ein paar Meter weiter vorn steht der
Mann mit den Filzpantoffeln. „Mein
Name tut nichts zur Sache“, und sein Alter
will er auch nicht verraten, „ich bin Rentner, den Rest können Sie sich denken.“
Der Mann sagt, niemand im Dorf habe
Kontakt zur Familie S.,„mit denen will keiner was zu tun haben“, und der Sohn sei
ihm schon immer komisch vorgekommen, „der war bereits als Kind nicht ganz
richtig im Kopf, wenn Sie verstehen was
ich meine“. Nein, eigentlich nicht. „Na,
der war geistig ein bisschen zurückgeblieben, das hat hier doch jeder gewusst.“
Von der anderen Straßenseite nähert
sich ein anderer Mann in Jeans und dunkler Jacke, er führt seinen Hund spazieren.
„Gestatten, Christian Laiblin, ich bin der
Ortsvorsteher“, und dann eilt er auch
schon weiter zu dem Mann mit den Filzpantoffeln. „Harald, hör jetzt sofort auf
damit, solchen Unsinn zu erzählen!“ –
„Ich sag doch gar nichts!“
In der allgemeinen Erregung fällt das
Wort „Redeverbot“, aber das mag der
Ortsvorsteher nun auf keinen Fall so stehen lassen. „Hier kann jeder sagen, was
er will, ich verwahre mich nur dagegen,
dass dieser Mann für den Ort spricht.“ Es
gehe hier um eine schreckliche Tragödie.
Es gehe um Anstand und Respekt, vor
den Eltern der toten Kinder, aber auch
vor denen des Verdächtigen Silvio S.
Der Mann in den Pantoffeln schlurft zurück in sein Haus. Zurück bleibt der Ortsvorsteher, er kommt gerade von Angehörigen der Familie S., „fragen Sie bitte
nicht nach Einzelheiten, ich werde keine
nennen.“ Nur so viel: „Es gibt für uns hier
eine Fürsorgepflicht im Umgang mit den
Eltern. Wir alle im Ort stehen zu den beiden, sie trifft keine Schuld an dem, was
passiert ist, wir werden normal mit ihnen
umgehen.“ Ob er schon mit ihnen gesprochen habe? „Nein, die beiden arbeiten gerade. Aber ich habe einen Brief hinterlassen.“ Ansonsten hätten sich alle im Ort
darauf geeinigt, nichts zu sagen.
Die selbst auferlegte Omerta wirkt. Mit
einem Mal ist Kaltenborn wieder menschenleer und schweigt. Auch Harald
lässt nicht mehr blicken. In der Einfahrt
vor dem Haus der Familie S. parkt ein Polizeiauto. Im Briefkasten steckt die „Märkische Allgemeine“, die Rollläden sind heruntergelassen. Silvios Wohnung liegt unter dem Dach. Was ist da oben passiert?
Aber will man das wirklich wissen, in allen furchtbaren Einzelheiten?
Über Silvio S. ist bislang wenig bekannt. Er ist 32 Jahre alt, arbeitete in einem Teltower Wachschutzunternehmen,
er stand im Ruf eines Einzelgängers und
ist polizeilich noch nicht in Erscheinung
getreten. Er soll sogar noch ein Geburtstagsgeschenk für seine Cousine gekauft
haben, bevor er am Donnerstag vor dem
graubraun verputzten Haus in Kaltenborn festgenommen wurde.
Angeblich hatte er eine Parzelle in einer Kleingartenkolonie im nahe gelegenen Luckenwalde gepachtet, aber davon
will man bei den Schrebergärtnern nichts
wissen. „Der Täter ist hier nicht bekannt
und hat auch keinen Garten gepachtet“,
sagt Werder Fränkler, er steht dem „Kreisverband Luckenwalde der Gartenfreunde“ vor. Und doch verdichtet sich
nach der Vernehmung von Silvio S.
schnell das Gerücht, der seit dem 8. Juli
vermisste Elias aus Potsdam sei in der Lu-
Silvio S. war schon als Kind schwer gestört,
behauptet einer aus seinem Heimatdorf.
Die anderen haben beschlossen zu schweigen.
In Potsdam und Berlin reagieren die Menschen fassungslos.
Und ein Forensiker glaubt: Dieser Täter hätte weitergemacht
Von Sven Goldmann, Kaltenborn,
Torsten Hampel, Potsdam, und Sebastian Leber
Täter.
Das von der Polizei herausgegebene
Bild aus einer Überwachungskamera
zeigt den 32-jährigen Silvio S..
Er soll die Leiche von Elias in der Kleingartensparte Eckbusch in Luckenwalde
versteckt haben.
Fotos: dpa (2), AFP
zen, möge dich Gott schützen“, hat jemand auf ein Stück Pappe geschrieben.
Immer wieder bleiben Menschen stehen,
einige knieen sich hin, es wird geflüstert
und auch gebetet. Es spricht sich schnell
herum, dass der Täter einen zweiten
Mord gestanden hat. Vielleicht sollte
man noch ein Foto von Elias ausdrucken
und es dazulegen, schlägt einer der Umstehenden vor. Petra Kühn, eine Frau aus
der Nachbarschaft, sagt, wie gern sie Mohameds Eltern ihr Beileid aussprechen
würde. „Sie hatten es eh schwer im Leben, sie sind immerhin hierher geflüchtet.“ Und nun sei ihnen ausgerechnet
dort, wo sie sich Sicherheit erhofften, der
Sohn genommen worden.
Mohameds Mutter stammt aus dem Kosovo, kam vor drei Jahren nach Berlin,
lebte mit ihrem neuen Freund und drei
kleinen Kindern in Reinickendorf. Nach
Bekanntwerden von Mohameds Verschwinden waren Mutter und Stiefvater
zunächst selbst in Verdacht geraten: Womöglich, so hieß es, hätten sie das Verschwinden des Jungen bloß vorgetäuscht,
umihre eigene drohende Abschiebung zurück ins Kosovo zu verhindern. Erst als die
Aufnahmen aus der Überwachungska-
3
den Spuren des Täters
Das doppelte
Grauen
ckenwalder Kolonie Eckbusch verscharrt
worden. Schon zur Mittagsstunde hat die
Brandenburger Polizei das Gelände im Süden der Stadt weiträumig abgeriegelt. Ein
ältere Frau steht vor dem rot-weißen Absperrband an der Schwalbenstraße.
„Komme ich denn heute nicht mehr in
meinen Garten?“ – „Tut mir leid, gute
Frau, aber das wird heute wohl nichts
mehr.“ Am frühen Nachmittag transportieren die Polizisten jedenfalls ein Paket
ab.
Auf dem Lageso-Gelände in Moabit,
dem Ort, an dem Mohamed entführt
wurde, ist die Trauer schon seit Donnerstag nicht zu übersehen. Gleich rechts neben dem Haupteingang Turmstraße – in
Sichtweite zu der Überwachungskamera,
die den Jungen vor 30 Tagen an der Hand
des Täters beim Verlassen des Areals
filmte – haben Passanten und Flüchtlinge
mittlerweile hunderte Kerzen angezündet. Es sind so viele, dass man die Wärme
der kleinen Flammen sogar aus ein paar
Metern Entfernung spürt. Inmitten des
Lichtermeers liegen Blumen, Briefe, winzige Engelsfiguren und eine Menge Stofftiere: ein Pinguin, ein Panda, mehrere
Teddys. „Wir konnten dich nicht beschüt-
POTSDAMER NEUESTE NACHRICHTEN
mera auftauchten, verstummten die bösen Gerüchte. Bald hieß es stattdessen,
bei dem Fremden handele es sich um einen ehrenamtlichen Helfer – oder jedenfalls einen Menschen, der sich wiederholt auf dem Gelände als solcher ausgegeben habe.
Womöglich ist das nicht einmal falsch.
Wie Winfrid Wenzel, Kriminaloberrat
beim LKA Berlin, am Freitag auf der Pressekonferenz mit versteinerter Miene feststellt, hat Silvio S. im Rahmen seines Geständnisses eine kaum zu glaubende Aussage gemacht: Am Tattag habe er sich zum
Lageso begeben, um Gutes zu tun. Er habe
den notleidenden Flüchtlingen helfen und
Kindern Spielzeug schenken wollen.
Frank Häßler, forensischer Psychiater
am Universitätsklinikum Rostock, ist
überzeugt, „dass dieser Mann nicht unauffällig war in seiner Biografie“. Häßler
hat, wie er sagt, für Gerichte etwa 70 Mörder begutachtet. Er vermutet, dass Silvio
S. früher in einem Heim oder in der Psychiatrie gewesen ist oder wegen irgendwelcher Auffälligkeiten in Behandlung
und ambulant betreut worden ist. Dass
Silvio S. mit seinen Eltern zusammenlebt, deute auf eine „Abhängigkeitsbezie-
hung“ hin. Vermutlich habe Silvio S. die
Erfahrung gemacht, dass er das Selbstständigwerden nicht schaffe, den
„Sprung in die Autonomie“, den normale
Jugendliche in der Pubertät vollziehen.
„Wenn man den Absprung nicht schafft,
leidet man“, sagt Frank Häßler. Damit verbunden sei ein Mangel an sozialer Kompetenz. Womöglich habe der Mann auch „eigene Gewalterfahrung“ in Kindheit oder
Jugend erleben müssen. Doch auch wenn
er missbraucht worden sei, folge daraus
nicht zwangsläufig eine kriminelle Entwicklung. Viele Kinder machten Erfahrung mit Gewalt, so Häßler, „nur ganz wenige von ihnen werden straffällig“.
Für den Gewaltausbruch des Silvio S.
könne es verschiedene Ursachen geben.
Womöglich sei S. vor Monaten in eine Krisensituation geraten, zum Beispiel durch
eine Trennung. Menschen wie S. seien
manchmal durchaus in der Lage, ihre Impulse oder Triebe über lange Zeit im Griff
zu haben. Eine Krise könne das ändern
und dazu führen, dass jemand Gewalttaten in kürzeren Abständen begehe.
„Nicht außergewöhnlich“ sei, dass Silvio S. von seiner Mutter angezeigt worden sei. Sie habe vielleicht einfach Angst
gehabt, dass ihr Sohn ein weiteres Kind
töten könnte. Jedenfalls, so Häßler, sei es
gut, dass die „Odyssee dieses Mannes ein
Ende hat“ – weil er sonst wahrscheinlich
noch andere Kinder ermordet hätte.
Was den Täter im Sommer zum Ort seines ersten Verbrechens verschlug, ist derzeit noch völlig unklar. Elias lebte im Potsdamer Ortsteil Schlaatz, und dort ist es
Freitagmittag nahezu menschenleer. Im
Bürgerhaus, wo sich im Sommer die Freiwilligen trafen, die bei der Suche nach
dem Jungen halfen, haben sich die Nachrichten bereits herumgesprochen. Eine
Frau aus der Gruppe von damals hat angerufen, völlig aufgelöst sei sie gewesen,
sagt der Büroleiter. Er sagt auch: „Wer
weiß, was da noch kommt. In Sachsen-Anhalt ist ja auch ein Kind verschwunden, so weit weg von hier ist das
nicht.“
Auch Janine Lucas hat damals bei der
Suche geholfen. Sie arbeitet hinterm Tresen der Gaststätte „Full House“, die im
Erdgeschoss eines Hochhauses untergebracht ist. Die Tische sind gut besetzt,
Lucas kommt mit dem Bedienen kaum
hinterher. Ob sie, da nun der mutmaßliche Mörder des Jungen gefasst ist, auch
etwas erleichtert sei
an diesem Tag?
„Nee,
bestimmt
Silvio S.
nicht.“
Dann
behauptet,
schweigt sie lange.
„Ist ja keine schöne
er habe
Nachricht. Und unam Tattag
sere
Befürchtung
traurige
Gewissnur Gutes
heit.“
tun wollen
Eineinhalb Wochen hatte Janine Lucas mitgesucht, von
jenem Mittwoch an, an dem Elias verschwunden war. „Ich hatte das an dem
Abend auf Facebook gelesen und sofort
den Impuls: ‚Ich will da unbedingt helfen
gehen.‘“ Es war der 8. Juli, Elias und seine
Mutter lebten damals seit einem Jahr im
Schlaatz, vier Wochen zuvor hatten sie
eine neue Wohnung im Hochparterre bezogen. Halb sieben am Abend, der Junge
war vom Spielen nicht nicht heimgekommen, bat die Mutter Freunde darum, beim
Suchen zu helfen. 19 Uhr 11 ging der Notruf bei der Polizei ein. 21 Uhr war Lucas,
die in Teltow wohnt, im Schlaatz eingetroffen und half mit. Zehn Tage lang,
dann sei „die Luft raus“ gewesen, „und
irgendwann mussten wir es hinnehmen,
dass wir nichts mehr machen können.“
Genauer gesagt: Es hatte Ärger gegeben. Hunderte von Helfern hatten sich
gelbe Warnwesten angezogen und waren
durch das Viertel gelaufen, durch die Wiesen, immer auf der Suche nach Elias. Erst
später merkten Helfer und Polizei selbst,
dass das ein Problem werden könnte. Der
Polizeidirektor, der selbst 170 Beamte
täglich im Einsatz hatte, lobte die Freiwilligen ausdrücklich. Und er formulierte einen Satz, der allenfalls andeutete, dass es
Probleme gab beim Koordinieren des
breiten Engagements. „Die Helfer waren
in der euphorischen Phasen etwas jenseits dessen, wie man suchen sollte.“
Andere Kritiker sprachen von „einem
peinlichen Happening mit Volksfestcharakter“. Die Stimmung kippte,als ein Flugblatt auftauchte, es war überschrieben mit
„Einsatzleitung. Team Soko Elias“, listete
drei Telefonnummern auf und die Forderung „Bitte alle Hinweise ERST an die Einsatzleitung per Telefon durchgeben und
NICHT die Polizei anrufen!!“
„Da ist was dran“, sagt David Krause,
einer der Suchhelfer von damals. „Wütend“ sei er jetzt, sagt er, „traurig“, „ein
gemischtes Gefühl, sprachlos“. Krause
steht vorm Bürgerhaus, nicht weit von
hier wohnt er. Elias’ Mutter ist weggezogen, ein Hausmeister bestätigt das. Wohin, weiß hier keiner. Auch der Spielplatz, auf dem Elias zum letzten Mal gesehen wurde, ist in der Nähe. Er ist leer. „Er
ist ständig leer seit dem Julimittwoch“,
sagt Krause. Kaum ein Kind habe er seitdem dort noch spielen sehen. Von dem
Spielplatz gehe etwas Gespenstisches
aus, sagt er. Es ist ein böser Ort.
— Mitarbeit: Steffi Pyanoe, Werner van
Bebber, Thorsten Metzner, Stefan Engelbrecht
CHRONIK
DER BEIDEN FÄLLE
8. Juli
17 Uhr: Elias spielt am Nachmittag
auf dem Innenhof des Plattenbaus im
Potsdamer Wohngebiet Am Schlaatz.
18 Uhr: Die Mutter will Elias zum
Abendessen holen, der Junge ist
aber nicht mehr da.
18.30 Uhr: Seine Mutter bittet über
Facebook im Freundes- und Bekanntenkreis um Mithilfe bei der Suche.
19:11 Uhr: Elias’ Mutter alarmiert
die Polizei.
9. Juli
Noch in der Nacht beginnt eine groß
angelegte Suchaktion. In den folgenden Tagen suchen 150 Polizeibeamte und hunderte freiwillige Helfer
das Wohngebiet, das angrenzende
Waldstück und die Nuthe ab.
14. Juli
Die Suche wird auf Berlin erweitert.
15. Juli
Am Abend läuft eine 30-sekündige
Meldung bei der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“.
16. Juli
Die Nuthe wird erneut abgesucht. Dafür wird der Wasserstand um 20 Zentimeter abgesenkt.
Foto: Ralf Hirschberger / dpa
SONNABEND, 31. OKTOBER 2015
27. Juli
Die eigens eingerichtete mobile Wache am Schlaatz wird abgezogen.
3. August
Die Soko „Schlaatz“ wird verkleinert.
Fast alle 900 Hinweise sind überprüft. Im Laufe des August stellen
auch die freiwilligen Helfer die Suche
nach und nach ein.
4. September
Die erste Spur: Die Soko „Schlaatz“
sucht nach einem dunklen
Pkw-Kombi.
1. Oktober
Der vier Jahre alte Mohamed Januzi
aus Bosnien-Herzegowina ist mit seiner Mutter und seinen Geschwistern
auf dem Lageso-Gelände; offenbar
während seine Mutter in einem Beratungsgespräch ist, verschwindet er
plötzlich.
4. Oktober
Die Polizei leitet eine Öffentlichkeitsfahndung ein. Später sagt ein Polizeisprecher, „Widersprüche“ in den Aussagen der Mutter hätten die Fahndung verzögert.
8. Oktober
Elias wird seit drei Monaten vermisst.
300 Stunden Filmmaterial und 1000
Fotos werden erneut überprüft.
10. Oktober
Die Polizei veröffentlicht eine kurze
Videosequenz aus einer Überwachungskamera, in der zu sehen ist,
wie Mohamed am 1. Oktober an der
Hand eines unbekannten Mannes
das Lageso-Gelände verlässt.
13. Oktober
Die Polizei richtet eine 50-köpfige
Sonderkommission ein.
27. Oktober
Ein neues Video des mutmaßlichen
Entführers taucht auf.
29. Oktober
Bei der Polizei meldet sich eine Frau
und gibt an, dass ihr Sohn der Gesuchte ist. In seinem Auto findet die
Polizei die Leiche Mohameds und
nimmt den 32-Jährigen fest. In der
Nacht gesteht dieser, sowohl Mohamed als auch Elias getötet zu haben.
30. Oktober
Die Polizei sucht in einer Kleingartenkolonie in Luckenwalde nach der Leiche von Elias. Der Täter hat die Stelle
auf einer Skizze eingezeichnet.
4
POTSDAM
POTSDAMER NEUESTE NACHRICHTEN
DIE FÄLLE MOHAMED UND ELIAS Die
SONNABEND, 31. OKTOBER 2015
Trauer in Potsdam
Ein Abschied
„Nun ist
es traurige
Gewissheit“
150 Menschen gedachten
am Freitagabend im
Potsdamer
Stadtteil Schlaatz
Elias und Mohamed.
Kerzen wurden
angezündet, es flossen
viele Tränen
Woidke und Jakobs
tief erschüttert
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hat am Freitag „mit
großer Bestürzung“ auf den Tod des kleinen Elias und des aus Bosnien-Herzegowina stammenden Mohamed reagiert.
„Nun ist es traurige Gewissheit, jede Hoffnung ist zerstört. Beide Kinder sind tot“,
erklärte Woidke. Solche
Verbrechen seien einfach unfassbar. „Ich bin
zutiefst
erschüttert.
Mein Mitgefühl gilt
jetzt den Familien der
Jungen. Ich wünsche
den Angehörigen für
die schwere Zeit sehr
viel
Kraft“,
sagte D. Woidke
Woidke am Freitag in
Potsdam. Woidke dankte zugleich nachdrücklich den Polizeibeamten und den
vielen Freiwilligen, die sich in Potsdam
wochenlang an der Suche nach Elias beteiligt hatten.
Auch Potsdams Oberbürgermeister
Jann Jakobs (SPD) zeigte sich erschüttert.
Er sei „fassungslos und
bestürzt“ ob des Geständnisses des mutmaßlichen
Mörders.
„Sollte sich das bewahrheiten, ist das eine
schreckliche Tat, die
verabscheuungswürdig
ist“, erklärte Jakobs den
PNN. Solche Taten J. Jakobs
seien „brutal und menschenverachtend“. „Wir müssen jetzt alle
zusammenstehen und zusammenhalten
und unser Mitgefühl ausdrücken, wenn
es tatsächlich so kommen sollte“, erklärte
Jakobs mit Verweis auf den Umstand,
dass die Identifizierung der gefundenen
Leiche nicht abgeschlossen sei.
mat
Foto: Andreas Klaer
Am Schlaatz – Anja Berger fällt es sichtlich schwer, ihre Tränen zu verbergen.
Dennoch steht die junge Frau tapfer oberhalb der kleinen Treppe vor dem Bürgerhaus im Potsdamer Stadtteil Schlaatz und
spricht zu den rund 150 Trauernden auf
der Gedenkveranstaltung für Elias. Sie
danke allen, die mitgeholfen hätten, zu
suchen. „Wir und die Familie sind euch
unendlich dankbar dafür. Ihr habt uns geholfen, jeder von euch.“ Nun sei es leider
Gewissheit, dass man Elias nicht mehr in
die Arme schließen könne.
Der sechs Jahre alte Junge war am 8.
Juli spurlos verschwunden. Anja Berger
ist eng befreundet mit dessen Mutter und
ihrem Lebenspartner. Sie spricht auch für
die Familie, die verständlicherweise an
Tag nicht
Viele legten diesem
hier vor Ort ist.
Stofftiere
Ihre Trauer und ihren Schmerz über
und Rosen
den grausamen Tod
in Gedenken des Jungen teilten
am Abend viele Anan die
wohner und NachKinder ab
barn. Immer mehr
Kerzen wurden auf
der Treppe vor großen Plakaten mit den Bildern von Elias,
dem vierjährigen Mohamed und auch von
Inga platziert, dem Mädchen, das im Mai
nahe Stendal in Sachsen-Anhalt verschwand und noch immer vermisst wird.
Direkt vor dem Foto von Elias legte jemand einen weißen Plüschhasen ab, weitere Stofftiere kamen hinzu sowie rote und
weiße Rosen.
Dann legte sich wie auf ein unsichtbares Zeichen Stille über den Platz zwischen den Plattenbauten, nur das Bellen
eines Hundes in der Ferne störte kurz die
Ruhe. Immer wieder hielten sich Trauernde fest in den Armen. Seelsorger standen bereit, um zu helfen.
Eine ältere Frau schaute gedankenverloren auf das Lichtermeer der Kerzen. Sie
habe damals im Juli mitgeholfen und für
die freiwilligen Helfer Brötchen geschmiert und Kaffee gekocht, sagte sie.
Die meisten Anwesenden waren bei der
Suche nach dem Jungen aktiv dabei und
durchkämmten im Sommer gemeinsam
mit der Polizei die Plattenbausiedlung tagelang ergebnislos. Jetzt haben sie Gewissheit, immerhin.
„Was geht in einem solchen Menschen
vor? Wie kann man einem kleinen Jungen
so etwas nur antun?“, hieß es immer wieder unter den zusammengekommenen
Menschen. Trauer, sprachloses Entsetzen, Wut - und doch auch bei dem ein oder
anderen Erleichterung, dass jetzt klar ist,
was mit Elias passierte. Er habe selbst eine
kleine Tochter, sagte ein früherer Nachbar
von Elias und dessen Mutter, die schon
vor Monaten aus dem Stadtteil wegzog,
den PNN. „Wir lassen die Kinder nicht
mehr aus den Augen.“ Dennoch sei er erleichtert. „Aber man weiß ja nicht, wie
viele solcher Täter es noch gibt.“
Am Schlaatz verbreitete sich die Nachricht, dass Elias mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso wie der vierjährige Moha-
Foto: Thilo Rückeis
Von Stefan Engelbrecht
VERMISSTE POTSDAMER
LKA-Akten zu
sechs ungelösten
Fällen seit 1977
Abschied nehmen. Vor dem Bürgerhaus am
Schlaatz brannten am Abend unzählige
Kerzen. Auch Seelsorger waren vor Ort. Die
Menschen trauerten um Elias, der am 8. Juli
auf einem Spielplatz (rechts unten) spurlos
verschwand und vermutlich ermordet
wurde. Rechts oben durchsucht die Polizei
ein Grundstück in Luckenwalde.
Fotos: M. Thomas, Patrick Pleul/dpa, Tobias Schwarz/
AFP
medvon Silvio S., einem32-jährigen Brandenburger aus Kaltenborn bei Niedergörsdorf ermordet worden ist, am Vormittag
in Windeseile.
Anja Berger war gerade an ihrem Arbeitsplatz, als sie davon hörte. „Ich habe
die Zeit und alles um mich herum vergessen. Ich musste weinen, fing an zu zittern“, sagte sie. Dann habe sie den Lebenspartner der Mutter von Elias angerufen. „Der wusste noch nichts. Das war
schlimm.“ Aber immerhin besser als es
über die Medien zu erfahren, sagte Berger. Im Juli habe sie wochenlang Elias’
Mutter beigestanden und die Familie un-
terstützt. Die Polizei hatte am Freitag jedoch versichert, die Mutter von Elias sei
informiert worden, bevor die Nachricht
an die Öffentlichkeit gegeben worden sei.
Nun bleibe nur, Abschied zu
nehmen, sagt die Pfarrerin
Auch die Stadtteilpfarrerin vom
Schlaatz, Ute Pfeiffer, reagierte betroffen
auf die Nachricht im Fall von Elias. Eigentlich habe sie am Freitag in den Ur-
laub fahren wollen. Stattdessen nahm sie
an der Trauerfeier in ihrem Kiez teil.
„Wir haben so lange verzweifelt gesucht,
gehofft, manche haben gebetet. Das ist
jetzt für uns natürlich ein Schock“, sagte
Pfeiffer. „Unsere schlimmsten Befürchtungen sind jetzt offensichtlich eingetreten.“ Nun bleibe nur, Abschied zu nehmen. Es werde aber noch dauern, bis die
Menschen hier einen Schlussstrich ziehen könnten, meinte Pfeiffer. Elias sei ein
„Kind von uns hier im Kiez“ gewesen,
sagte sie. Man habe gemeinsam nach dem
Kind gesucht und so wie der Schlaatz gesucht habe, trauere der Schlaatz auch –
zusammen. Schlimm sei vor allem, wie
der Junge gestorben sei. „Da fehlen sogar
mir als Pfarrerin die Worte“, so Pfeiffer.
Wenn das Grauen etwas Gutes in sich
tragen kann, dann ist es vielleicht der Zusammenhalt im Kiez.
Darauf spielte auch Anja Berger in ihrer kurzen Rede vor den Trauernden an.
Was sie persönlich aus den vergangenen
Monaten seit dem Verschwinden von
Elias mitnehme sei, dass man Zusammenhalt und Hilfe finden könne, auch bei
Fremden. „Und dass man jeden Tag mit
seinen Liebsten genießen sollte, als wäre
er der letzte.“
Im stillen Gedenken
In der Nikolaikirche werden Kerzen entzündet für Mohamed und Elias. Doch auch den Pfarrern fällt es schwer, Trost zu finden
Innenstadt - Zunächst waren es neun
Kerzen, nur eine gute Stunde später
brannten bereits knapp 20 Lichter. Als
erste Reaktion auf die schreckliche Nachricht, dass der mutmaßliche Entführer
und Mörder des Berliner Flüchtlingsjungen Mohamed, Silvio S., auch die Ermordung des sechsjährigen Elias gestanden
hat, wurde am gestrigen Freitagmittag
spontan in der Nikolaikirche am Alten
Markt die Möglichkeit für ein stilles Gedenken an die beiden Kinder eingerichtet. Ein schlichtes weißes Papierschild
mit dem Hinweis „Im stillen Gedenken
an Mohamed und Elias“ liegt seitdem auf
einem der großen gusseisernen Kerzenständer im Seitenschiff, die Spendenbox
ist zugeklebt.
Auch Solveig Gröbner nutzte am gestrigen Nachmittag kurz vor Schließung der
Kirche um 17 Uhr noch die Gelegenheit,
mit ihren beiden Kindern zwei Kerzen
für Mohamed und Elias anzuzünden.
„Dass wir hier sind, ist Zufall. Wir sind zu
Besuch aus Ludwigsfelde und wollten
uns eigentlich vor allem die Kirche an-
D
schauen“, sagte Gröbner. Die Nachricht
vom Geständnis habe sie während der
Fahrt erhalten. „Meine Schwiegermutter
hat mich im Auto angerufen.“ Viel Hoffnung, dass Elias noch leben könnte, habe
sie allerdings aufgrund der langen Zeitspanne seit dem Verschwinden des jungen Potsdamers ohnehin nicht mehr gehabt, räumte die Mutter aus Ludwigsfelde sichtlich bewegt ein. „Das war zu
lange.“
Auch am heutigen Samstag und am
Sonntag bestehe selbstverständlich weiterhin die Möglichkeit, an dem eigens ausgewiesenen Kerzenständer seine Anteilnahme auszudrücken und der beiden Jungen zu gedenken, sagte der Pfarrer der
Nikolaikirche, Matthias Mieke, gestern
den PNN. Selbstverständlich würden die
furchtbaren Taten auch am heutigen
Samstag um 10 Uhr Thema im Gottesdienst anlässlich des Reformationstages
sein. Am Montag allerdings bleibt die Kirche wie berichtet geschlossen.
Er selbst habe von der Nachricht am
frühen Mittag erfahren, sagte Mieke. „Ein
Anteilnahme. In der Nikolaikirche am Alten Markt wurden im Gedenken an
Mohamed und Elias Kerzen entzündet.
Foto: Manfred Thomas
Bekannter hat mir eine SMS geschrieben,
dass die Meldung gerade in den Nachrichten gelaufen war“, so der Pfarrer. „Ich bin
tief erschüttert und betrübt.“ Bei seiner
spontanen Idee, im Seitenschiff eine ent-
sprechende Gedenkstelle zu schaffen,
hatte sich Mieke mit dem Pfarrer der
Stern-Kirchengemeinde, Andreas Markert, abgesprochen, zu dessen Einzugsgebiet auch der Stadtteil Schlaatz gehört, in
dem Elias mit seiner Mutter gelebt hat. Er
habe den Vorschlag sehr begrüßt, so Markert. Die Nikolaikirche sei aufgrund ihrer
Lage eine zentrale Anlaufstelle für alle
Potsdamer und Besucher der Stadt.
Selbstverständlich werde aber auch in
der Stern-Kirche umgehend ein Ort für
eine stille Anteilnahme eingerichtet,
sagte der Gemeindepfarrer. Geplant sei,
dass zum Gottesdienst am Sonntag ein
entsprechender Bereich für Gedenkkerzen ausgewiesen werde. „Und zwar ebenfalls für Elias und für Mohamed“, betonte
Markert. Schließlich sei das Entzünden
einer Kerze eine angemessene Geste, ob
man nun Christ, Moslem oder Atheist
sei.
Die Nachricht von Elias’ Tod werde mit
Sicherheit eine große Betroffenheit innerhalb seiner Gemeinde auslösen, sagte
Markert. Er selbst habe durch einen Anruf davon erfahren, so der Pfarrer. Noch
allerdings sei die Nachricht so frisch,
dass ihm die Worte fehlen würden. „Wir
sind alle einfach nur tief bewegt und
sprachlos.“
Matthias Matern
Ungelöste Vermisstenfälle beschäftigen
die Polizei noch Jahre später. Ein Beispiel: 1977 verschwand der 15 Jahre
alte Gerd Berthold. Auf der damals gerade im Bau befindlichen Humboldtbrücke wurde noch der leere Sportbeutel
des Jungen gefunden, eine Suchaktion
blieb ohne Erfolg. Wegen dieser letzten
Spur hielt sich lange Zeit ein Verdacht:
Der Junge könnte getötet und der Leichnam in die Humboldtbrücke einbetoniert worden sein. Erst 1996 hat es die
Potsdamer Staatsanwaltschaft nach einem Antrag des Landeskriminalamts
(LKA) abgelehnt, die Brücke nach einem
Kinderleichnam zu durchleuchten: Zu
teuer und zu unverhältnismäßig sei die
Methode, hieß es.
Zu insgesamt sechs Potsdamern, die
seit 1977 vermisst werden, lagern
beim LKA in Eberswalde die alten Akten
– die bei Bedarf, sollten sich neue Spuren oder Erkenntnisse ergeben, wieder
herausgeholt werden können. Dazu gehört auch ein Fall von 1985: Seit dem
1. Februar 1985 wird der 1938 geborene Wolfgang Faustmann vermisst –
laut Akten hatte er ein Nervenleiden
und Orientierungsprobleme. Das letzte
Mal sah ihn seine Mutter, als er auf die
Außentoilette der gemeinsamen Wohnung in der Geschwister-Scholl-Straße
gehen wollte. Weitere Fälle:
Am 27. Dezember 1996 verschwand
die Potsdamerin Edeltraut Hoffmann.
Die Frau soll gegen 16 Uhr ihre Neubauwohnung verlassen haben. Gesehen
wurde sie noch einmal in einer Kneipe.
Hans-Peter Scheemann, geboren
1952, gilt seit dem 7. Februar 1995 als
vermisst. Der Erzieher arbeitete auf
dem damaligen Wohnschiff „Rostock“,
einer Art Sozialprojekt, das an der Marquardter Chaussee ankerte. Er setzte
sich in seinen Lada Samara und fuhr
weg – niemand sah ihn je wieder.
Seit dem 30. Oktober 1995 vermisst
wird Andreas Ehlert, der damals mit seinem Auto von dem Haus einer Freundin
in der Behlertstraße wegfuhr. Seitdem
ist er verschollen. Für die Ermittler blieb
unklar, ob er sich wegen diverser Straftaten absetzte oder Opfer eines Verbrechens wurde.
2008 verschwand die Potsdamerin Brigitte B. während einer Segelreise durch
die Karibik, sie sie mit ihrem Mann unternommen hatte (PNN berichteten).
Zwischenzeitliche Ermittlungen wegen
Mordverdachts hat die Staatsanwaltschaft inzwischen eingestellt.
HK