Texte - Volksbund

Materialsammlung zum Volkstrauertag
(zusammengestellt von Erich und Hildegard Bulitta)
Texte
Dann gibt es nur eins!
Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine
Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann
gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst
Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre montieren, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakao Schießpulver
verkaufen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen
das Leben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst
Hasslieder singen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst die Männer kriegstauglich schreiben,
dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg
heilig sprechen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Kapitän auf dem Dampfer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keinen Weizen mehr fahren –
sondern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Bomben und Phosphor über die
Städte tragen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Schneider auf deinem Brett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Uniformen zuschneiden, dann
gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Richter im Talar. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur
eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für
den Munitionszug und für den Truppentransport, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den
Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du Mutter in Frisco und London, du am
Hoangho und am Mississippi, du Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen
Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern
für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter sagt NEIN!
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann:
dann:
In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe stöhnend verstummen und
wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern
schwanken,
algen-, tang- und muschelüberwest den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich,
fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben –
die Straßenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert
neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten
Schuppen, in verlorenen kratzerzerrissenen Straßen –
eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen, gefräßig, wachsend, wird
anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und
Kinderspielplätzen, grausig und gierig, unaufhaltsam –
der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde
vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre
totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken
in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen Ärzte sauer werden, verrotten, pilzig
verschimmeln
in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Säcke
Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen – das Brot unter den
umgestürzten Tischen und auf den zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter
wird stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken
sein wie ein erschlagenes Heer und die stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras bedeckt,
zerbröckeln – zerbröckeln – zerbröckeln –
dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam
unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den
unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten
Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM?
wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der
Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des
letzten Tieres Mensch – all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht
schon, vielleicht heute nacht, wenn – wenn –
wenn ihr nicht NEIN sagt.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Die Küchenuhr
Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht,
aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu
ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, war er in der Hand trug.
Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne
saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben. Er hielt eine runde tellerweiße
Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blaugemalten Zahlen ab.
Sie hatte weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht so
besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch
ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr.
Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt
nicht mehr geht.
Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang. Und er
sagte leise: Und sie ist übrig geblieben.
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Frau in
ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand:
Sie haben wohl alles verloren?
Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr wieder
hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten.
Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau.
Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie immer:
weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr er aufgeregt fort,
das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie
mal, sie ist um halb drei stehen geblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken Sie mal!
Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig die Unterlippe
vor, Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt
von dem Druck.
Er sah seine Uhr an und schüttelte überlegen den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. Das hat
mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war
ganz etwas anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass sie gerade um halb drei
stehen geblieben ist. Und nicht um viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich
immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz Er sah die
anderen an, aber die hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da nickte er seiner
Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche Da war es
dann immer fast halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür
aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte,
ging plötzlich das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und
barfuß. Immer barfuß. Und dabei war unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein,
weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht.
So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir das
Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die
Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und
dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht
hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand
ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz
selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder. Aber das
sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich. Das
alles war doch immer so gewesen.
Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen
an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich,
dass es das Paradies war. Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und ihre Familie?
Er lächelte sie verlegen an: Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg.
Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg.
Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an.
Da hob er wieder die Uhr hoch und er lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist
ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehengeblieben ist.
Ausgerechnet um halb drei.
Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah
auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Nachts schlafen die Ratten doch
Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke
flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste.
Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, dass jemand gekommen war und
nun vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich! Dachte er. Aber als er ein bißchen blinzelte, sah
er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die standen ziemlich krumm vor ihm, dass er zwischen ihnen
hindurchsehen konnte. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen
älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der Hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen.
Du schläfst hier wohl, was? fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter. Jürgen
blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: Nein, ich schlafe nicht. Ich
muss hier aufpassen. Der Mann nickte: So, dafür hast du wohl den großen Stock da? Ja, antwortete
Jürgen mutig und hielt den Stock fest.
Worauf passt du denn auf?
Das kann ich nicht sagen. Er hielt die Hände fest um den Stock. Wohl auf Geld, was? Der Mann setzte
den Korb ab und wischte das Messer an seinem Hosenboden hin und her.
Nein, auf Geld überhaupt nicht, sagte Jürgen verächtlich.
Auf ganz etwas anderes.
Na, was denn?
Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.
Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe. Der Mann stieß mit
dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu.
Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig; Kaninchenfutter.
Donnerwetter, ja! sagte der Mann verwundert; bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?
Neun.
Oha, denk mal an, neun also. Dann weißt du ja auch, wie viel drei mal neun sind, wie?
Klar, sagte Jürgen, und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: Das ist ja ganz leicht. Und er sah durch die
Beine des Mannes hindurch. Dreimal neun, nicht? fragte er noch mal, siebenundzwanzig. Das wußte
ich gleich.
Stimmt, sagte der Mann, und genau so viel Kaninchen habe ich.
Jürgen machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig?
Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?
Ich kann doch nicht. Ich muss doch aufpassen, sagte Jürgen unsicher.
Immerzu? fragte der Mann, nachts auch?
Nachts auch. Immerzu. Immer. Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. Seit Sonnabend schon,
flüsterte er.
Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du musst doch essen.
Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot. Und eine Blechschachtel.
Du rauchst? fragte der Mann, hast du denn eine Pfeife?
Jürgen fasste seinen Stock fest an und sagte zaghaft: Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.
Schade, der Mann bückte sich zu seinem Korb, die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können.
Vor allem die Jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja nicht weg.
Nein, sagte Jürgen traurig, nein nein.
Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. Na ja, wenn du hierbleiben musst – schade. Und
er drehte sich um. Wenn du mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen der Ratten.
Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: Wegen der Ratten?
Ja, die essen doch von den Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.
Wer sagt das?
Unser Lehrer.
Und du paßt nun auf die Ratten auf? fragte der Mann.
Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise. Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da. Jürgen
zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal
war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. ER war viel kleiner als ich. Erst vier.
Es muss hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich.
Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer Lehrer euch
denn nicht gesagt dass die Ratten nachts schlafen?
Nein, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt.
Na, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten
doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird,
schon.
Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er,
alles kleine Betten. Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): Weißt du
was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen, und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht
kann ich eins mitbringen. Ein kleines oder, was meinst du?
Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue. Ich
weiß nicht, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, wenn sie wirklich nachts schlafen.
Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte er von da, euer Lehrer soll
einpacken, wenn er das nicht mal weiß.
Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?
Ich will mal versuchen, rief der Mann schon im Weggehen, aber du musst hier so lange warten. Ich
gehe dann mit dir nach Hause, weißt du? Ich muss deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall
gebaut wird. Denn das müsst ihr ja wissen.
Ja, rief Jürgen, ich warte. Ich muss ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt. Und er
rief: Wir haben auch noch Bretter zu Hause Kistenbretter, rief er.
Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu. Die
war schon rot vom Abend und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurch schien, so krumm
waren sie. Und der Korb schwankte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin. Grünes
Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Mein bleicher Bruder
Noch nie war etwas so weiß wie dieser Schnee. Er war beinah blau davon. Blaugrün. So fürchterlich
weiß. Die Sonne wagte kaum gelb zu sein von diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so
sauber gewesen wie dieser. Nur hinten stand ein dunkelblauer Wald. Aber der Schnee war neu und
sauber wie ein Tierauge. Kein Schnee war jemals so weiß wie dieser an diesem Sonntagmorgen. Kein
Sonntagmorgen war jemals so sauber. Die Welt, diese schneeige Sonntagswelt, lachte. Aber irgendwo
gab es dann doch einen Fleck. Das war ein Mensch, der im Schnee lag, verkrümmt, bäuchlings,
uniformiert. Ein Bündel Lumpen.
Ein lumpiges Bündel von Häutchen und Knöchelchen und Leder und Stoff. Schwarzrot überrieselt von
angetrocknetem Blut. Sehr tote Haare, perückenartig tot. Verkrümmt den letzten Schrei in den Schnee
geschrien, gebellt oder gebetet vielleicht: Ein Soldat. Fleck in dem nie gesehenen Schneeweiß der
saubersten aller Sonntagmorgende. Stimmungsvolles Kriegsgemälde, nuancenreich, verlockender
Vorwurf für Aquarellfarben:
Blut und Schnee und Sonne. Kalter kalter Schnee mit warmem dampfendem Blut drin. Und über allem
die liebe Sonne. Unsere liebe Sonne. Alle Kinder auf der Welt sagen: die liebe, liebe Sonne. Und die
beschneit einen Toten, der den unerhörten Schrei aller toten Marionetten schreit:
Den stammen fürchterlichen stummen Schrei. Wer unter uns, steh auf bleicher Bruder, wer unter uns
hält die stummen Schreie der Marionetten aus, wenn sie von den Drähten abgerissen so blöde verrenkt
auf der Buhne rumliegen? Wer, oh, wer unter uns erträgt die stummen Schreie der Toten? Nur der
Schnee hält das aus, der eisige. Und die Sonne. Unsere liebe Sonne.
Vor der abgerissenen Marionette stand eine, die noch intakt war. Noch funktionierte. Vor dem toten
Soldaten stand ein lebendiger. An diesem sauberen Sonntagmorgen im nie gesehenen weißen Schnee
hielt der Stehende an den Liegenden folgende fürchterlich stumme Rede:
Ja. Ja ja. Ja ja ja. Jetzt ist es aus mit deiner guten Laune mein lieber. Mit deiner ewigen guten Laune.
Jetzt sagst du gar nichts mehr, wie? Jetzt lachst du wohl nicht mehr, wie? Wenn deine Weiber das
wüssten, wie erbärmlich du jetzt aussiehst, mein Lieber. Ganz erbärmlich siehst du ohne deine gute
Laune aus. Und in dieser blöden Stellung. Warum hast du denn die Beine so ängstlich an den Bauch
rangezogen? Ach so, hast einen in die Eingeweide gekriegt. Hast dich mit Blut besudelt. Sieht
unappetitlich aus, mein Lieber. Hast dir die ganze Uniform damit bekleckert. Sieht aus wie schwarze
Tintenflecke. Man gut, dass deine Weiber das nicht sehn. Du hattest dich doch immer so mit deiner
Uniform, Saß alles auf Taille. Als du Korporal wurdest, gingst du nur noch mit Lackstiefletten. Und die
wurden stundenlang gebohnert, wenn es abends in die Stadt ging. Aber jetzt gehst du nicht mehr in die
Stadt. Deine Weiber lassen sich jetzt von den andern. Denn du gehst jetzt überhaupt nicht mehr,
verstehst du? Nie mehr, mein Lieber. Nie nie mehr. Jetzt lachst du auch nicht mehr mit deiner ewig
guten Laune. Jetzt liegst du da, als ob du nicht bis drei zählen kannst. Kannst du auch nicht. Kannst
nicht mal mehr bis drei zählen. Das ist dünn, mein Lieber, äußerst dünn. Aber das ist gut so, sehr gut
so. Denn du wirst nie mehr „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid“ zu mir sagen. Jetzt nicht mehr, mein
Lieber. Von jetzt ab nicht mehr. Nie mehr, du. Und die andern werden dich nie mehr dafür feiern. Die
andern werden nie mehr über mich lachen, wenn da „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid» zu mir
sagst. Das ist viel wert, weißt du? Das ist eine ganze Masse wert für mich, das kann ich dir sagen.
Sie haben mich nämlich schon in der Schule gequält. Wie die Läuse haben sie auf mir herumgesessen.
Weil mein Auge den kleinen Defekt hat und weil das Lid runterhängt. Und weil meine Haut so weiß ist.
So käsig. Unser Bläßling sieht schon wieder so müde aus, haben sie immer gesagt. Und die Mädchen
haben immer gefragt, ob ich schon schliefe. Mein eines Auge wäre ja schon halb zu. Schläfrig, haben
sie gesagt, du, ich wär schläfrig. Ich möchte mal wissen, wer von uns beiden jetzt schläfrig ist. Du oder
ich, wie? Du oder ich? Wer ist jetzt „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid»? Wie? Wer denn, mein
Lieber, du oder ich? Ich etwa? Als er die Bunkertür hinter sich zumachte, kamen ein Dutzend graue
Gesichter aus den Ecken auf ihn zu. Eins davon gehörte dem Feldwebel. Haben Sie ihn gefunden, Herr
Leutnant? fragte das graue Gesicht und war fürchterlich grau dabei. Ja. Bei den Tannen. Bauchschuss.
Sollen wir ihn holen?
Ja. Bei den Tannen. Ja, natürlich. Er muss geholt werden. Bei den Tannen. Das Dutzend grauer
Gesichter verschwand. Der Leutnant saß am Blechofen und lauste sich. Genau wie gestern. Gestern
hatte er sich auch gelaust. Da sollte einer zum Bataillon kommen. Am besten der Leutnant, er selbst.
Während er dann das Hemd anzog, horchte er. Es schoß. Es hatte noch nie so geschossen. Und als der
Melder die Tür wieder aufriss, sah er die Nacht. Noch nie war eine Nacht so schwarz, fand er.
Unteroffizier Heller, der sang. Der erzählte in einer Tour von seinen Weibern. Und dann hatte dieser
Heller mit seiner ewig guten Laune gesagt: Herr Leutnant, ich würde nicht zum Bataillon gehn. Ich
wurde erst mal doppelte Ration beantragen. Auf Ihren Rippen kann man ja Xylophon spielen. Das ist ja
ein Jammer, wie Sie aussehn. Das hatte Heller gesagt. Und im Dunkeln hatten sie wohl alle gegrinst,
Und einer musste zum Bataillon. Da hatte er gesagt: Na, Heller, dann kühlen Sie Ihre gute Laune mal
ein bisschen ab. Und Heller sagte: Jawohl. Das war alles. Mehr sagte man nie. Einfach Jawohl. Und
dann war Heller gegangen. Und dann kam Heller nicht wieder.
Der Leutnant zog sein Hemd über den Kopf. Er hörte, wie sie draußen zurückkamen. Die andern. Mit
Heller. Er wird nie mehr „Mein bleicher Bruder Hängendes Lid“ zu mir sagen, flüsterte der Leutnant.
Das wird er von nun an nie mehr zu mir sagen. Eine Laus geriet zwischen seine Daumennägel. Es
knackte. Die Laus war tot. Auf der Stirn hatte er einen kleinen Blutspritzer.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Radi
Heute Nacht war Radi bei mir. Er war blond wie immer und lachte in seinem weichen breiten Gesicht.
Auch seine Augen waren wie immer: etwas ängstlich und etwas unsicher. Auch die paar blonden
Bartspitzen hatte er.
Alles wie immer.
Du bist doch tot, Radi, sagte ich.
Ja, antwortete er, lach bitte nicht.
Warum soll ich lachen?
Ihr habt immer gelacht über mich, das weiß ich doch. Weil ich meine Füße so komisch setzte und auf
dem Schulweg immer von allerlei Mädchen redete, die ich gar nicht kannte. Darüber habt ihr doch
immer gelacht. Und weil ich immer etwas ängstlich war, das weiß ich ganz genau.
Bist du schon lange tot? fragte ich.
Nein, gar nicht, sagte er. Aber ich bin im Winter gefallen. Sie konnten mich nicht richtig in die Erde
kriegen. War doch alles gefroren. Alles steinhart.
Ach ja, du bist ja in Russland gefallen, nicht?
Ja, gleich im ersten Winter. Du, lach nicht, aber es ist nicht schön, in Russland tot zu sein. Mir ist das
alles so fremd. Die Bäume sind so fremd. So traurig, weißt du. Meistens sind es Erlen. Wo ich liege,
stehen lauter traurige Erlen. Und die Steine stöhnen auch manchmal. Weil sie russische Steine sein
müssen. Und die Wälder schreien nachts. Weil sie russische Wälder sein müssen. Und der Schnee
schreit. Weil er russischer Schnee sein muss. Ja, alles ist fremd. Alles so fremd.
Radi saß auf meiner Bettkante und schwieg.
Vielleicht hasst du alles nur so, weil du da tot sein musst, sagte ich. Er sah mich an: Meinst du? Ach
nein, du, es ist alles so furchtbar fremd. Alles. Er sah auf seine Knie. Alles ist so fremd. Auch man
selbst.
Man selbst?
Ja, lach bitte nicht. Das ist es nämlich. Gerade man selbst ist sich so furchtbar fremd. Lach bitte nicht,
du, deswegen bin ich heute Nacht mal zu dir gekommen. Ich wollte das mal mit dir besprechen.
Mit mir?
Ja, lach bitte nicht, gerade mit dir. Du kennst mich doch genau, nicht?
Ich dachte es immer.
Macht nichts. Du kennst mich ganz genau. Wie ich aussehe, meine ich. Nicht wie ich bin. Ich meine,
wie ich aussehe, kennst du mich doch, nicht?
Ja, du bist blond. Du hast ein volles Gesicht.
Nein, sag ruhig, ich habe ein weiches Gesicht. Ich weiß das doch. Also –
Ja, du hast ein weiches Gesicht, das lacht immer und ist breit.
Ja, ja. Und meine Augen?
Deine Augen waren immer etwas – etwas traurig und seltsam –
Du musst nicht lügen. Ich habe sehr ängstliche und unsichere Augen gehabt, weil ich nie wusste, ob ihr
mir das alles glauben würdet, was ich von den Mädchen erzählte. Und dann? War ich immer glatt im
Gesicht?
Nein, das warst du nicht. Du hattest immer ein paar blonde Bartspitzen am Kinn. Du dachtest, man
würde sie nicht sehen. Aber wir haben sie immer gesehen.
Und gelacht.
Und gelacht.
Radi saß auf meiner Bettkante und rieb seine Handflächen an seinem Knie. Ja, flüsterte er, so war ich.
Ganz genauso.
Und dann sah er mich plötzlich mit seinen ängstlichen Augen an. Tust du mir einen Gefallen, ja? Aber
lach bitte nicht, bitte.
Komm mit.
Nach Russland?
Ja, es geht ganz schnell. Nur für einen Augenblick. Weil du mich noch so gut kennst, bitte.
Er griff nach meiner Hand. Er fühlte sich an wie Schnee. Ganz kühl. Ganz lose. Ganz leicht.
Wir standen zwischen ein paar Erlen. Da lag etwas Helles. Komm, sagte Radi, da liege ich. Ich sah ein
menschliches Skelett, wie ich es von der Schule her kannte. Ein Stück braungrünes Metall lag
daneben. Das ist mein Stahlhelm, sagte Radi, er ist ganz verrostet und voll Moos.
Und dann zeigte er auf das Skelett. Lach bitte nicht, sagte er, aber das bin ich. Kannst du das
verstehen? Du kennst mich doch. Sag doch selbst, kann ich das hier sein? Meinest du? Findest du das
nicht furchtbar fremd? Es ist doch nichts Bekanntes an mir. Man kennt mich doch gar nicht mehr. Aber
ich bin es. Ich muss es ja sein. Aber ich kann es nicht verstehen. Es ist so furchtbar fremd. Mit all dem,
was ich früher war, hat das nichts mehr zu tun. Nein, lach bitte nicht, aber mir ist das alles so furchtbar
fremd, so unverständlich, so weit ab.
Er setzte sich auf den dunklen Boden und sah traurig vor sich hin.
Mit früher hat das nichts mehr zu tun, sagte er, nichts, gar nichts.
Dann hob er mit den Fingerspitzen etwas von der dunklen Erde hoch und roch daran. Fremd, flüsterte
er, ganz fremd. Er hielt mir die Erde hin. Sie war wie Schnee. Wie seine Hand war sie, mit der er vorhin
nach mir gefasst hatte: Ganz kühl. Ganz lose. Ganz leicht.
Riech, sagte er.
Ich atmete tief ein.
Na?
Erde, sagte ich.
Und?
Etwas sauer. Etwas bitter. Richtige Erde.
Aber doch fremd? Ganz fremd? Und doch so widerlich, nicht?
Ich atmete tief an der Erde. Sie roch kühl, lose und leicht. Etwas sauer. Etwas bitter.
Sie riecht gut, sagte ich. Wie Erde.
Nicht widerlich? Nicht fremd?
Radi sah mich mit ängstlichen Augen an. Sie riecht doch so widerlich, du.
Ich roch.
Nein, so riecht alle Erde.
Meinst du?
Bestimmt.
Und du findest sie nicht widerlich?
Nein, sie riecht ausgesprochen gut, Radi. Riech doch mal genau.
Er nahm ein wenig zwischen die Fingerspitzen und roch.
Alle Erde riecht so? fragte er.
Ja, alle.
Er atmete tief. Er steckte seine Nase ganz in die Hand mit der Erde hinein und atmete. Dann sah er
mich an. Du hast recht, sagte er. Es riecht vielleicht doch ganz gut. Aber doch fremd, wenn ich denke,
dass ich das bin, aber doch furchtbar fremd, du. Radi saß und roch und er vergaß mich und er roch und
roch und roch. Und er sagte das Wort fremd immer weniger. Immer leiser sagte er es. Er roch und roch
und roch. Da ging ich auf Zehenspitzen nach Hause zurück. Es war morgens um halb sechs. In den
Vorgärten sah überall Erde durch den Schnee. Sie war kühl. Und lose. Und leicht. Und sie roch. Ich
stand auf und atmete tief. Ja, sie roch. Sie riecht gut, Radi, flüsterte ich. Sie riecht wirklich gut. Sie
riecht wie richtige Erde. Du kannst ganz ruhig sein.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Jesus macht nicht mehr mit
Er lag unbequem in dem flachen Grab. Es war wie immer reichlich kurz geworden, so dass er die Knie
krumm machen musste. Er fühlte die eisige Kälte im Rücken. Er fühlte sie wie einen kleinen Tod. Er
fand, dass der Himmel sehr weit weg war. So grauenhaft weit weg, dass man gar nicht mehr sagen
mochte, er ist gut oder er ist schön. Sein Abstand von der Erde war grauenhaft. All das Blau, das er
aufwandte, machte den Abstand nicht geringer. Und die Erde war so unirdisch kalt und störrisch in ihrer
eisigen Erstarrung, dass man sehr unbequem in dem viel zu flachen Grab lag. Sollte man das ganze
Leben so unbequem liegen? Ach nein, den ganzen Tod hindurch sogar! Das war ja noch viel länger.
Zwei Köpfe erschienen am Himmel über dem Grabrand. Na, passt es, Jesus? fragte der eine Kopf, wobei
er einen weißen Nebelballen wie einen Wattebausch um den Mund fahren ließ. Jesus stieß aus seinen
beiden Nasenlöchern zwei dünne ebenso weiße Nebelsäulen und antwortete: Jawoll. Passt.
Die Köpfe am Himmel verschwanden. Wie Kleckse waren sie plötzlich weggewischt. Spurlos. Nur der
Himmel war noch da mit seinem grauenhaften Abstand.
Jesus setzte sich auf und sein Oberkörper ragte etwas aus dem Grab heraus. Von weitem sah es aus,
als sei er bis an den Bauch eingegraben. Dann stützte er seinen linken Arm auf die Grabkante und
stand auf. Er stand in dem Grab und sah traurig auf seine linke Hand. Beim Aufstehen war der frisch
gestopfte Handschuh am Mittelfinger wieder aufgerissen. Die rot gefrorene Fingerspitze kam daraus
hervor. Jesus sah auf seinen Handschuh und wurde sehr traurig. Er stand in dem viel zu flachen Grab,
hauchte einen warmen Nebel gegen seinen entblößten frierenden Finger und sagte leise: Ich mach
nicht mehr mit. Was ist los, glotzte der eine von den beiden, die in das Grab sahen, ihn an. Ich mach
nicht mehr mit, sagte Jesus noch einmal ebenso leise und steckte den kalten nackten Mittelfinger in
den Mund.
Haben Sie gehört, Unteroffizier, Jesus macht nicht mehr mit.
Der andere, der Unteroffizier, zählte die Sprengkörper in eine Munitionskiste und knurrte: Wieso? Er
blies den nassen Nebel aus seinem Mund auf Jesus zu: Hä, wieso? Nein, sagte Jesus noch immer
ebenso leise, ich kann das nicht mehr. Er stand in dem Grab und hatte die Augen zu. Die Sonne machte
den Schnee so unerträglich heiß. Er hatte die Augen zu und sagte: Jeden Tag die Gräber aussprengen.
Jeden Tag die Leute da reingeklemmt in die Gräber, die ihnen immer nicht passen. Weil die Gräber zu
klein sind. Und die Leute sind manchmal so steif und krumm gefroren. Das knirscht dann so, wenn sie
in die engen Gräber geklemmt werden. Und die Erde ist so hart und eisig und unbequem. Das sollten sie
den ganzen Tod lang aushalten. Und ich, ich kann das Knirschen nicht mehr hören. Das ist ja, als wenn
Glas zermahlen wird. Wie Glas.
Halt das Maul, Jesus. Los, raus aus dem Loch. Wir müssen noch fünf Gräber machen. Wütend flatterte
der Nebel vom Mund des Unteroffiziers weg auf Jesus zu. Nein, sagte der und stieß zwei feine
Nebelstriche aus der Nase, nein. Er sprach sehr leise und hatte die Augen zu: Die Gräber sind doch auch
viel zu flach. Im Frühling kommen nachher überall die Knochen aus der Erde. Wenn es taut. Überall die
Knochen. Nein, ich will das nicht mehr. Nein, nein. Und immer ich. Immer soll ich mich in das Grab
leben, ob es passt. Immer ich. Allmählich träume ich davon. Das ist mir grässlich, wisst ihr, dass ich das
immer bin, der die Gräber ausprobieren soll. Immer ich. Immer ich. Nachher träumt man noch davon.
Mir ist das grässlich, dass ich immer in die Gräber steigen soll. Immer ich.
Jesus sah noch einmal auf seinen zerrissenen Handschuh. Er kletterte aus dem flachen Grab heraus
und ging vier Schritte auf einen dunklen Haufen los. Der Haufen bestand aus toten Menschen. Die
waren so verrenkt, als wären sie in einem wüsten Tanz überrascht worden. Jesus legte seine
Spitzhacke leise und vorsichtig neben den Haufen von toten Menschen. Er hätte die Spitzhacke auch
hinwerfen können, der Spitzhacke hätte das nicht geschadet. Aber er legte sie leise und vorsichtig hin,
als wollte er keinen stören oder aufwecken. Um Gottes willen keinen wecken. Nicht nur aus Rücksicht,
aus Angst auch. Aus Angst. Um Gottes willen keinen wecken. Dann ging er, ohne auf die beiden
anderen zu achten, an ihnen vorbei durch den knirschenden Schnee auf das Dorf zu.
Widerlich, der Schnee knirscht genauso, ganz genauso. Er hob die Füße und stelzte wie ein Vogel durch
den Schnee, nur um das Knirschen zu vermeiden.
Hinter ihm schrie der Unteroffizier: Jesus! Sie kehren sofort um! Ich gebe ihnen den Befehl! Sie haben
sofort weiterzuarbeiten! Der Unteroffizier schrie, aber Jesus sah sich nicht um. Er stelzte wie ein Vogel
durch den Schnee, wie ein Vogel, nur um das Knirschen zu vermeiden. Der Unteroffizier schrie – aber
Jesus sah sich nicht um. Nur seine Hände machten eine Bewegung, als sagte er: Leise, leise! Um
Gottes willen keinen wecken! Ich will das nicht mehr. Nein. Nein. Immer ich. Immer ich. Er wurde immer
kleiner, kleiner, bis er hinter einer Schneewehe verschwand. Ich muss ihn melden. Der Unteroffizier
machte einen feuchten wattigen Nebelballen in die eisige Luft. Melden muss ich ihn, das ist klar. Das
ist Dienstverweigerung. Wir wissen ja, dass er einen weg hat, aber melden muss ich ihn.
Und was machen sie dann mit ihm? grinste der andere.
Nichts weiter. Gar nichts weiter. Der Unteroffizier schrieb sich einen Namen in sein Notizbuch. Nichts.
Der Alte lässt ihn vorführen. Der Alte hat immer seinen Spaß an Jesus. Dann brüllt er ihn zusammen,
dass er zwei Tage nichts isst und redet, und lässt ihn laufen. Dann ist er wieder ganz normal für eine
Zeit lang. Aber melden muss ich ihn erst mal. Schon weil der Alte seinen Spaß dran hat. Und die Gräber
müssen doch gemacht werden. Einer muss doch rein, ob es passt. Das hilft doch nichts.
Warum heißt er eigentlich Jesus, grinste der andere.
Oh, das hat weiter keinen Grund. Der Alte nennt ihn immer so, weil er so sanft aussieht. Der Alte findet,
er sieht so sanft aus. Seitdem heißt er Jesus. Ja, sagte der Unteroffizier und machte eine neue
Sprengladung fertig für das nächste Grab, melden muss ich ihn, das muss ich, denn die Gräber müssen
ja sein.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Das ist unser Manifest
Helm ab Helm ab: – Wir haben verloren! Die Kompanien sind auseinandergelaufen. Die Kompanien,
Bataillone, Armeen. Die großen Armeen. Nur die Heere der Toten, die stehn noch. Stehn wie
unübersehbare Wälder: dunkel, lila, voll Stimmen. Die Kanonen aber liegen wie erfrorene Urtiere mit
steifem Gebein. Lila vor Stahl und überrumpelter Wut. Und die Helme, die rosten. Nehmt die verrosteten
Helme ab: Wir haben verloren.
In unsern Kochgeschirren holen magere Kinder jetzt Milch. Magere Milch. Die Kinder sind lila vor Frost.
Und die Milch ist lila vor Armut. Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin und Jawohl sagen auf
ein Gebrüll. Die Kanonen und die Feldwebel brüllen nicht mehr. Wir werden weinen, scheißen und
singen, wann wir wollen. Aber das Lied von den brausenden Panzern und das Lied von dem Edelweiß
werden wir niemals mehr singen. Denn die Panzer und die Feldwebel brausen nicht mehr und das
Edelweiß, das ist verrottet unter dem blutigen Singsang. Und kein General sagt mehr Du zu uns vor der
Schlacht. Vor der furchtbaren Schlacht.
Wir werden nie mehr Sand in den Zähnen haben vor Angst. (Keinen Steppensand, keinen ukrainischen
und keinen aus der Cyrenaika oder den der Normandie –und nicht den bitteren bösen Sand unserer
Heimat!) Und nie mehr das heiße tolle Gefühl in Gehirn und Gedärm vor der Schlacht.
Nie werden wir wieder so glücklich sein, dass ein anderer neben uns ist. Warm ist und da ist und atmet
und rülpst und summt – nachts auf dem Vormarsch. Nie werden wir wieder so zigeunerig glücklich sein
über ein Brot und fünf Gramm Tabak und über zwei Arme voll Heu. Denn wir werden nie wieder
zusammen marschieren, denn jeder marschiert von nun an allein. Das ist schön. Das ist schwer. Nicht
mehr den sturen knurrenden Andern bei sich zu haben – nachts, nachts beim Vormarsch. Der alles mit
anhört. Der niemals was sagt. Der alles verdaut. Und wenn nachts einer weinen muss kann er es
wieder. Dann braucht er nicht mehr zu singen – vor Angst.
Jetzt ist unser Gesang der Jazz. Der erregte hektische Jazz ist unsere Musik. Und das heiße
verrückttolle Lied, durch das das Schlagzeug hinhetzt, katzig, kratzend. Und manchmal nochmal das
alte sentimentale Soldatengegröl, mit dem man die Not überschrie und den Müttern absagte.
Furchtbarer Männerchor aus bärtigen Lippen, in die einsamen Dämmerungen der Bunker und der
Güterzüge gesungen, mundharmonikablechüberzittert:
Männlicher Männergesang – hat keiner die Kinder gehört, die sich die Angst vor den lilanen Löchern
der Kanonen weggrölten? Heldischer Männergesang – hat keiner das Schluchzen der Herzen gehört,
wenn sie Juppheidi sangen, die Verdreckten, Krustigen, Bärtigen, überlausten ?
Männergesang, Soldatengegröl, sentimental und übermütig, männlich und baßkehlig, auch von den
Jünglingen männlich gegrölt: Hört keiner den Schrei nach der Mutter? Den letzten Schrei des
Abenteurers Mann? Den furchtbaren Schrei: Juppheidi?
Unser Juppheidi und unsere Musik sind ein Tanz über den Schlund, der uns angähnt. Und diese Musik
ist der Jazz. Denn unser Herz und unser Hirn haben denselben heißkalten Rhythmus: den erregten,
verrückten und hektischen, den hemmungslosen.
Und unsere Mädchen, die haben denselben hitzigen Puls in den Händen und Hüften. Und ihr Lachen ist
heiser und brüchig und klarinettenhart. Und ihr Haar, das knistert wie Phosphor. Das brennt. Und ihr
Herz, das geht in Synkopen, wehmütig wild. Sentimental. So sind unsere Mädchen: wie Jazz. Und so
sind die Nächte, die mädchenklirrenden Nächte: wie Jazz: heiß und hektisch. Erregt.
Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr.
Wir selbst sind zu viel Dissonanz. Wer macht für uns ein lilanes Geschrei? Eine lilane Erlösung? Wir
brauchen keine Stilleben mehr. Unser Leben ist laut.
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen
die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja
sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.
Für Semikolons haben wir keine Zeit und Harmonien machen uns weich und die Stilleben überwältigen
uns: Denn lila sind nachts unsere Himmel. Und das Lila gibt keine Zeit für Grammatik, das Lila ist schrill
und ununterbrochen und toll. Über den Schornsteinen, über den Dächern : die Welt: lila. Über unseren
hingeworfenen Leibern die schattigen Mulden: die blaubeschneiten Augenhöhlen der Toten im
Eissturm, die violettwütigen Schlünde der kalten Kanonen – und die lilane Haut unserer Mädchen am
Hals und etwas unter der Brust. Lila ist nachts das Gestöhn der Verhungernden und das Gestammel der
Küssenden. Und die Stadt steht so lila am nächtlich lilanen Strom.
Und die Nacht ist voll Tod: Unsere Nacht. Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im
Traumtod voller Gefechtslärm. Und die nachts bei uns bleiben, die lilanen Mädchen, die wissen das und
morgens sind sie noch blass von der Not unserer Nacht. Und unser Morgen ist voller Alleinsein. Und
unser Alleinsein ist dann morgens wie Glas. Zerbrechlich und kühl. Und ganz klar. Es ist das Alleinsein
des Mannes. Denn wir haben unsere Mütter bei den wütenden Kanonen verloren. Nur unsere Katzen
und Kühe und die Läuse und die Regenwürmer, die ertragen das große eisige Alleinsein. Vielleicht sind
sie nicht so nebeneinander wie wir. Vielleicht sind sie mehr mit der Welt. Mit dieser maßlosen Welt. In
der unser Herz fast erfriert.
Wovon unser Herz rast? Von der Flucht. Denn wir sind der Schlacht und den Schlünden erst gestern
entkommen in heilloser Flucht. Von der furchtbaren Flucht von einem Granatloch zum andern – die
mütterlichen Mulden – davon rast unser Herz noch – und noch von der Angst. Horch hinein in den
Tumult deiner Abgründe. Erschrickst du? Hörst du den Chaoschoral aus Mozartmelodien und Herms
Niel–Kantaten? Hörst du Hölderlin noch? Kennst du ihn wieder, blutberauscht, kostümiert und Arm in
Arm mit Baldur von Schirach? Hörst du das Landserlied? Hörst du den Jazz und den Luthergesang?
Dann versuche zu sein über deinen lilanen Abgründen. Denn der Morgen, der hinter den Grasdeichen
und Teerdächern aufsteht, kommt nur aus dir selbst. Und hinter allem? Hinter allem, was du Gott,
Strom und Stern, Nacht, Spiegel oder Kosmos und Hilde oder Evelyn nennst – hinter allem stehst immer
du selbst. Eisig einsam. Erbärmlich. Groß. Dein Gelächter. Deine Not. Deine Frage. Deine Antwort.
Hinter allem, uniformiert, nackt oder sonst wie kostümiert, schattenhaft verschwankt, in fremder fast
scheuer ungeahnt grandioser Dimension: Du selbst. Deine Liebe. Deine Angst. Deine Hoffnung.
Und wenn unser Herz, dieser erbärmliche herrliche Muskel, sich selbst nicht mehr erträgt – und wenn
unser Herz uns zu weich werden will in den Sentimentalitäten, denen wir ausgeliefert sind, dann
werden wir laut ordinär. Alte Sau, sagen wir dann zu der, die wir am meisten lieben. Und wenn Jesus
oder der Sanftmütige, der einem immer nachläuft im Traum, nachts sagt: Du, sei gut! – dann machen
wir eine freche Respektlosigkeit zu unserer Konfession und fragen: Gut, Herr Jesus, warum? Wir haben
mit den toten Iwans vorm Erdloch genauso gut in Gott gepennt. Und im Traum durchlöchern wir alles
mit unsern MGs: Die Iwans. Die Erde. Den Jesus.
Nein, unser Wörterbuch, das ist nicht schön. Aber dick. Und es stinkt. Bitter wie Pulver. Sauer wie
Steppensand. Scharf wie Scheiße. Und laut wie Gefechtslärm.
Und wir prahlen uns schnodderig über unser empfindliches deutsches Rilke–Herz rüber. Über Rilke, den
fremden verlorenen Bruder, der unser Herz ausspricht und der uns unerwartet zu Tränen verführt: Aber
wir wollen keine Tränenozeane beschwören – wir müssen denn alle ersaufen. Wir wollen grob und
proletarisch sein, Tabak und Tomaten bauen und lärmende Angst haben bis ins lilane Bett – bis in die
lilanen Mädchen hinein. Denn wir lieben die lärmend laute Angabe, die unrilkesche, die uns über die
Schlachtträume hinüberrettet und über die lilanen Schlünde der Nächte, der blutübergossenen Äcker,
der sehnsüchtigen blutigen Mädchen.
Denn der Krieg hat uns nicht hart gemacht, glaubt doch das nicht, und nicht roh und nicht leicht. Denn
wir tragen viele weltschwere wächserne Tote auf unseren mageren Schultern. Und unsere Tränen, die
saßen noch niemals so lose wie nach diesen Schlachten. Und darum lieben wir das lärmende laute lila
Karussell, das jazzmusikene, das über unsere Schlünde rüberorgelt, dröhnend, clownig, lila, bunt und
blöde – viel – leicht. Und unser Rilke-Herz – ehe der Clown kräht – haben wir es dreimal verleugnet.
Und unsere Mütter weinen bitterlich. Aber sie, sie wenden sich nicht ab. Die Mütter nicht !
Und wir wollen den Müttern versprechen:
Mütter, dafür sind die Toten nicht tot: Für das marmorne Kriegerdenkmal, das der beste ortsansässige
Steinmetz auf dem Marktplatz baut – von lebendigem Gras umgrünt, mit Bänken drin für Witwen und
Prothesenträger. Nein, dafür nicht. Nein, dafür sind die Toten nicht tot: Dass die Überlebenden weiter in
ihren guten Stuben leben und immer wieder neue und dieselben guten Stuben mit Rekrutenfotos und
Hindenburgportraits. Nein, dafür nicht.
Und dafür, nein, dafür haben die Toten ihr Blut nicht in den Schnee laufen lassen, in den nasskalten
Schnee ihr lebendiges mütterliches Blut: Dass dieselben Studienräte ihre Kinder nun benäseln, die
schon die Väter so brav für den Krieg präparierten. (Zwischen Langemarck und Stalingrad lag nur eine
Mathematikstunde.) Nein, Mütter, dafür starbt ihr nicht in jedem Krieg zehntausendmal!
Das geben wir zu: Unsere Moral hat nichts mehr mit Betten, Brüsten, Pastoren oder Unterröcken zu tun
– wir können nicht mehr tun als gut sein. Aber wer will das messen, das „Gut“? Unsere Moral ist die
Wahrheit. Und die Wahrheit ist neu und hart wie der Tod. Doch auch so milde, so überraschend und so
gerecht. Beide sind nackt.
Sag deinem Kumpel die Wahrheit, beklau ihn im Hunger, aber sag es ihm dann. Und erzähl deinen
Kindern nie von dem heiligen Krieg: Sag die Wahrheit, sag sie so rot wie sie ist: voll Blut und
Mündungsfeuer und Geschrei. Beschwindel das Mädchen noch nachts, aber morgens, morgens sag
dann die Wahrheit: Sag, dass du gehst und für immer. Sei gut wie der Tod. Nitschewo. Kaputt. For ever.
Parti, perdu und never more.
Denn wir sind Neinsager. Aber wir sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest. Und wir
haben keine Ruhe beim Küssen, wir Nihilisten. Denn wir müssen in das Nichts hinein wieder ein Ja
bauen. Häuser müssen wir bauen in die freie Luft unseres Neins, über den Schlünden, den Trichtern und
Erdlöchern und den offenen Mündern der Toten: Häuser bauen in die reingefegte Luft der Nihilisten,
Häuser aus Holz und Gehirn und aus Stein und Gedanken.
Denn wir lieben diese gigantische Wüste, die Deutschland heißt. Dies Deutschland lieben wir nun. Und
jetzt am meisten. Und um Deutschland wollen wir nicht sterben. Um Deutschland wollen wir leben.
Über den lilanen Abgründen. Dieses bissige, bittere, brutale Leben. Wir nehmen es auf uns für diese
Wüste. Für Deutschland. Wir wollen dieses Deutschland lieben wie die Christen ihren Christus: Um sein
Leid.
Wir wollen diese Mütter lieben, die Bomben füllen mussten – für ihre Söhne. Wir müssen sie lieben um
dieses Leid.
Und die Bräute, die nun ihren Helden im Rollstuhl spazieren fahren, ohne blinkernde Uniform – um ihr
Leid.
Und die Helden, die Hölderlinhelden, für die kein Tag zu hell und keine Schlacht schlimm genug war –
wir wollen sie lieben um ihren gebrochenen Stolz, um ihr umgefärbtes heimliches Nachtwächterdasein.
Und das Mädchen, das eine Kompanie im nächtlichen Park verbrauchte und die nun immer noch
Scheiße sagt und von Krankenhaus zu Krankenhaus wallfahrten muss – um ihr Leid.
Und den Landser, der nun nie mehr lachen lernt – und den, der seinen Enkeln noch erzählt von
einunddreißig Toten nachts vor seinem, vor Opas M.G. – sie alle, die Angst haben und Not und Demut:
Die wollen wir lieben in all ihrer Erbärmlichkeit. Die wollen wir lieben wie die Christen ihren Christus:
Um ihr Leid. Denn sie sind Deutschland. Und dieses Deutschland sind wir doch selbst. Und dieses
Deutschland müssen wir doch wieder bauen im Nichts, über Abgründen: Aus unserer Not, mit unserer
Liebe. Denn wir lieben dieses Deutschland doch. Wie wir die Städte lieben um ihren Schutt – so wollen
wir die Herzen um die Asche ihres Leides lieben. Um ihren verbrannten Stolz, um ihr verkohltes
Heldenkostüm, um ihren versengten Glauben, um ihr zertrümmertes Vertrauen, um ihre ruinierte Liebe.
Vor allem müssen wir die Mütter lieben, ob sie nun achtzehn oder achtundsechzig sind – denn die
Mütter sollen uns die Kraft geben für dies Deutschland im Schutt.
Unser Manifest ist die Liebe. Wir wollen die Steine in den Städten lieben, unsere Steine, die die Sonne
noch wärmt, wieder wärmt nach der Schlacht –
Und wir wollen den großen Uuh–Wind wieder lieben, unseren Wind, der immer noch singt in den
Wäldern. Und der auch die gestürzten Balken besingt –
Und die gelbwarmen Fenster mit den Rilkegedichten dahinter –
Und die rattigen Keller mit den lilagehungerten Kindern darin –
Und die Hütten aus Pappe und Holz, in denen die Menschen noch essen, unsere Menschen, und noch
schlafen. Und manchmal noch singen.
Und manchmal und manchmal noch lachen –
Denn das ist Deutschland. Und das wollen wir lieben, wir, mit verrostetem Helm und verlorenem Herzen
hier auf der Welt.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Dichter
Jemand besucht etwas mit seinem Kind
„Der Bauer hat gesagt: erst rechts und dann links bis zu dem halbhohen Haus und dann immer grade
aus ... Warte mal ... Hier ist die Bürgermeisterei ... da ist ...das war früher nicht ... das hat hier nie
gestanden ... Ah, hier ist die Chaussee. Jetzt weiß ich weiter.
Also, pass auf mein Junge, da drüben lagen wir: von dem kleinen Berg an bis ungefähr hierher. Nein, es
hat sich mächtig verändert – das war hier alles nicht. Na, gar nichts war – gar nichts. Hier lagen wir,
dann kam eine ganze Weile nichts, das war das Niemandsland – das gehörte keinem ... und dann
kamen die Deutschen. Da drüben lagen sie – der Horchposten lag hier, nein warte mal, da – ja, gerade
da, wo jetzt der Teich ist. Ihr Graben fing da an. Jetzt erkenne ich alles wieder. Immer vier Tage hier
vorn, dann drei Tage Ruhe hinten. Na, Ruhe ... Und dann der Urlaub, da wurdest du geboren – und dann
wieder her. Nein, die Bauern waren alle fort – es waren nur Soldaten hier. Wir hatten aneinander
vollkommen genug. Komm mal ein Stück weiter nach vorn, vielleicht kann ich dir da etwas zeigen. Bist
du müde? Wir waren auch müde, manchmal. Ja, nachts auch, du Dummerchen. Grade nachts. Meinst
du, da hat’s aufgehört? Na – man konnte schon sehen: sie haben Raketen angezündet. Ja – viele. Viele
sind totgeschossen. Siehst du dort oben die schwarzen Kreuze? Das ist der Soldatenfriedhof, da liegen
sie, da liegen sie alle ... Siehst du, über dieses Feld hier muss der Graben gelaufen sein, grade hier. Und
da! da, wo der Baum steht, da lagen die anderen. Dazwischen? Dazwischen war ein leeres Feld.
Fünfmal sind wir da gelaufen, fünf Angriffe haben sie gemacht ... und sie sind auch darüber hin
gelaufen, die Deutschen ... immer ist alles so geblieben, wie es war. Da drüben, aber natürlich – genau
an der Stelle – da war der Offiziersunterstand, von da kamen immer nachts die Krankenträger, und hier
waren die größten Einschläge. Und da, gerade da, wo ich jetzt den kleinen Stein hinwerfe, da war die
Sache mit Blanchard.
Besinnst du dich auf sein Bild? Es steht bei Vater auf dem Schreibtisch. Ja, der Mann mit dem großen
Bart und dem ulkigen Stock. Das war Blanchard. Junge, wenn du den gekannt hättest! – so einen gab
es nicht mehr. Klug und anständig und so ein Freund! So ein guter Freund wie dein Freund René. Der
Blanchard – Guten Tag Madamchen, na immer noch so rüstig auf den Beinen? Ja, sehr heiß! – der
Blanchard, der lag da auf dem Horchposten. Das ist ein Posten, der muss horchen, wann die Feinde
kommen. Und da kam ein Schrapnell geflogen, und ein Eisenstück muss ihn gerade in den Bauch
getroffen haben. Das war nachts um zwölf. Junge, halt doch meinen Finger nicht so fest, es tut dir ja
hier keiner was! Und da hat er geschrieen, drei Nächte und zwei Tage hat er noch gelebt. Nach mir hat
er immer gerufen, nach mir und nach seiner Mutter. Die Stimme wurde immer leiser. Zuletzt hat er nur
noch ganz leise mit seinem Verbandsfetzen gewinkt – ganz wenig. Wir konnten ihn nicht holen.
Niemand durfte heraus – es wäre der sichere Tod gewesen. Damals waren die Deutschen gerade
furchtbar erbittert, ich glaube sie hatten eine Schlacht verloren. Und da mussten wir ihn liegen lassen,
den Blanchard, die ganze Zeit über. Ich wollte auf ihn schießen – damit er nicht so zu leiden brauchte.
Aber es ging nicht, er lag in einer Mulde, und ich konnte auch nicht. Er hat so geschrieen, dass sie aus
dem Nebengraben zu uns gekommen sind, weil sie wissen wollten, was es da gäbe. Hier war das. Da
hinten ist der Feldwebel gefallen, da war der große Einschlag, bei dem zwei Korporalschaften
daraufgegangen sind ... da ungefähr muss ich gestanden haben. Nein, nein! Das ist nur in deinen
Lesebüchern so. Du musst nicht glauben, was in deinen Geschichtsbüchern steht – es ist alles nicht
wahr. Dies hier – das ist wahr, Junge ...“
„Was hast du, Papa? Warum sagst du nichts mehr? Nimm doch die Hand von den Augen –! Papa –!“
Kurt Tucholsky (1890–1935), deutscher Schriftsteller
Der Junge mit den roten Schuhen (Auszug)
Ich war gerade neun Jahre alt, da war endlich Frieden.
Berlin sah aus, als hätte ein Riese mit einem Knüppel auf die Stadt eingeschlagen. Trotzdem, es war
nicht alles kaputt. Zwischen den Trümmerbergen standen noch einzelne Häuser, manchmal sogar
ganze Straßen. Es gab auch Gegenden, in denen nur ausgebrannte Häuser zu finden waren. Die Ruinen
bestanden aus Außenwänden mit leeren Fensterhöhlen. In den Stockwerken hatten sich nur
ausgeglühte Eisenträger und Öfen gehalten. Alles andere war verbrannt oder in die Tiefe gestürzt. Die
Treppenhäuser hatten teilweise überlebt und führten ins Nichts. Schornsteine ragten wie Knochenarme
in den Himmel hinein.
Als ich den Güterbahnhof verließ, auf dem ich angekommen war, staunte ich über die Verwüstungen.
Ich hatte schon viele kaputte Häuser in Städten und Dörfern gesehen, durch die ich während der Flucht
vor den Russen gekommen war, aber mir war nie in den Sinn gekommen, dass es in Berlin ebenso sein
könnte. Ich hatte keine Zeit viel herumzuwandern. Mein grösster Wunsch war, möglichst schnell nach
Hause zu kommen. – Endlich wieder etwas Richtiges essen! Endlich in einem Federbett schlafen! Auf
der Straße musste ich aufpassen, um nicht in Glasscherben oder andere scharfe Gegenstände zu
treten. Ach, ja, das hatte ich vergessen, zu erzählen. – Meine Winterstiefel waren längst zu klein
geworden. Zuerst hatte ich vorne die Kappen abgeschnitten, so, dass meine nackten Zehen lustig in
die Luft schauten. Socken besaß ich schon lange nicht mehr. Es war Sommer. Da machte es nicht viel
aus. Später hatte sich eine Schuhsohle selbständig gemacht. Die hatte weder Bindfaden noch Draht
halten können. Und kann mir einer sagen, was sollte ich mit einem Schuh allein? Vom
Bremserhäuschen des Güterwaggons, mit dem ich nach Berlin rollte, warf ich die Schuhe einfach in die
Landschaft. – „Der Krieg ist vorbei, also gibt es auch neue Schuhe‘, dachte ich. Da hatte ich die Stadt
noch nicht gesehen!
Die meisten Untergrundbahnstrecken waren so kurz nach dem Krieg noch nicht wieder in Betrieb. Da
hieß es also: Laufen! Halb gehend, halb hüpfend fand ich nach einem halben Tag unsere Wohngegend
in Kreuzberg.
Unsere Straße erkannte ich nur an einem Eckhaus wieder. Dort befand sich ein Laden, in dem meine
Mutter früher eingekauft hatte. Die Mehrzahl der Häuser an dem kleinen Park, waren nur noch
Trümmerhaufen. Mensch, davon hatte mir Mutter nichts geschrieben. Oder sollten die Bomben erst
gefallen sein, als wir in Ostpreußen schon keine Post mehr von zu Hause bekamen? Die Russen hatten
uns durch ihre Front vom Deutschen Reich abgetrennt.
Der Trümmerberg, vor dem ich schließlich stand, sollte einmal unser Haus gewesen sein! Nur vom
Parterre des vierstöckigen Hauses waren zusammenhängende Mauerreste stehen geblieben. Sogar ein
Stückchen des Hauseinganges ohne Hausnummer gab es noch. Ich betrachtete die Rundung des
Torbogens und versuchte mich zu erinnern. Einen Moment glaubte ich, es wäre der richtige Eingang.
Dann kamen mir wieder Zweifel. War unser Hauseingang überhaupt rund gewesen?
Ich nahm einen halben Mauerstein vom Bürgersteig in die Hand und betrachtete ihn. Er war in der
Mitte durchgebrochen. An den Rändern backte noch der Kalk, der ihn mit anderen Steinen verbunden
hatte. Wenn Steine reden könnten, würden sie mir vielleicht etwas über meine Mutter erzählen.
Würden sie mir vielleicht schildern, wie meine Mutter unter den Trümmern des Hauses verschüttet
worden war? Ich versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Nein, meine Mutter musste noch leben. Sie
musste einfach! Was sollte sonst aus mir werden?
An anderen Gebäuden, von denen noch die Grundmauern standen, konnte man ab und zu
Kreideinschriften lesen: „Max, Grete und Rudi sind bei Tante Olga ...“ oder „Wir sind bei Opa in der
Laube!“ Nun begann ich aufgeregt den Rest der erhaltenen Grundmauern zu untersuchen. Nur eine
fette Aufschrift fand ich an einem Kellerfenster – „LSR“. Das bedeutete, dass sich an dieser Stelle der
Luftschutzraum befunden hatte. Von meiner Mutter – keine Botschaft! Sollte sie vielleicht doch unter
den Trümmern liegen? Wieder verscheuchte ich diesen Gedanken. Ein Kalkbrocken, mit dem man
schreiben konnte, war leicht zu finden. Aber was sollte ich meiner Mutter mitteilen? – Eine Adresse,
hatte ich nicht. Vor Verzweiflung begann ich im weißen Staub, der den Bürgersteig bis zum Rinnstein
überzogen hatte, mit dem großen Zeh zu malen.
„An Mutter“, schrieb ich. Dabei war mir klar, der nächste Wind oder Regen würde meine Schrift
verwischen. Ich reckte mich, um besser zum Gipfel des Trümmerberges hinaufschauen zu können. Wir
hatten im obersten Stockwerk gewohnt. Unsere Sachen mussten darum ganz oben auf dem
Trümmerberg liegen! Ich versuchte barfuß den Berg zu erklettern, aber die Ziegel, Putzbrocken,
zerborstene Balken und Eisenteile fügten mir kleine Verletzungen zu. „Egal“, dachte ich, „du musst
noch etwas finden, was dich an Zuhause erinnert!“ Auf dem Gipfel des Trümmerbergs wuchsen ein paar
Stauden Löwenzahn. Wie ganz früher, als ich noch klein war und meine Eltern mit mir aus der Stadt ins
Grüne gefahren waren, pustete ich die Fallschirmchen in die Luft. Sollte sich ihr Samen doch
verbreiten! Aus dieser Trümmerwüste würde niemals mehr eine Stadt werden! Wenn das tatsächlich
unser Haus gewesen sein sollte, lagen unter dem Trümmerberg nicht nur meine Mutter! Auch andere
Leute, die ich gekannt hatte, waren vielleicht hier begraben. Zum Beispiel, Herr von Kosel, der Offizier
im ersten Weltkrieg gewesen war. Er hatte aus Spaß mit mir „Stillgestanden“ und andere Kommandos
geübt. Auch die alte Frau Werner fiel mir ein, die jede Woche die Treppen im ganzen Haus gescheuert
hatte. Und dann der Jude Grau, den die Nazis nicht eingesperrt hatten, weil seine Frau Nichtjüdin war.
Nein, meine Mutter war bestimmt nicht unter diesen Trümmern umgekommen! Plötzlich entdeckte ich
zwischen Balken und Ziegelbrocken etwas, das mir sehr bekannt vorkam. Es war ein Stück buntes
Blech, auf dem eine Frau mit komischer Haube abgebildet war. Als ich das Blech aus den Trümmern
herausgebuddelt hatte, erkannte ich die zusammengedrückte Kaffeebüchse der Firma „Zunz“, die
meine Mutter wie einen Schatz gehütet hatte.
Vielleicht lacht jetzt einer, wenn ich erzähle, dass mir wegen der dämlichen Kaffeebüchse plötzlich
Tränen in den Augen standen. – Meine arme Mutter!
© Peter Abraham (geb. 1936), deutscher Schriftsteller (Auszug aus einem Romanmanuskript)
Lieber Hanno
Auszüge aus den Briefen der 18jährigen Barbara an ihren Freund, den Jagdflieger Hanno:
5.3.43
Lieber Hanno!
... Wir waren während des großen Angriffs in der Schule. Du weißt ja, dass unsere Klasse seit Monaten
ein Dauerquartier im Luftschutzkeller hat. So können wir auch bei Alarm weiterarbeiten. Wir hatten
gerade Geschichte und wiederholten wichtige Fragen für die Abiturprüfung. Es wurde gerade über das
Thema „Das Recht eines Volkes auf Lebensraum“ gesprochen, da heulten die Sirenen. Weil wir schon
daran gewöhnt sind, ging der Unterricht weiter.
Plötzlich riss uns eine Druckwelle von den Stühlen. Dann hörten wir in der Ferne ein seltsames
Rauschen, das immer näher kam und immer lauter wurde. Wir warfen uns auf den Boden und wagten
kaum zu atmen. Dann gab es ein ohrenbetäubendes Krachen und Bersten. Wir zitterten vor Angst.
Unser Lehrer öffnete vorsichtig die Kellertür und ging nach oben. Wir drängten alle hinterher, obwohl es
noch keine Entwarnung gegeben hatte. Ein Blick aus dem Fenster sagte uns alles. Aus einem Gebäude
ganz in unserer Nähe war eine Ruine geworden und über dem westlichen Stadtteil färbte sich der
Himmel blutrot vom Brand. Alle, die dort wohnten, schrien auf und fingen an zu weinen. Ich war wie
gelähmt.
Nach der Entwarnung schickte uns der Direktor sofort nach Hause. Eine Straßenbahn fuhr nicht mehr,
deshalb machten Elke und ich uns zu Fuß auf den Heimweg. An der Goethestraße trennte ich mich von
Elke. Sie wollte durchaus, dass ich bei ihr blieb. „Du kannst doch nicht in den Brand rennen“, sagte sie
immer wieder. Aber du wirst dir denken können, dass mich nichts halten konnte. Ich hatte eine
wahnsinnige Angst, dass meine Mutter nicht mehr lebte. ... Die Hauptstraße zum Westen endete in
einem riesigen Trümmerhaufen. Ich kletterte über die Trümmer und Balken. Überall waren noch Helfer
dabei, die Brände zu löschen, Verletzte aus den Trümmern zu ziehen und Tote zu bergen. Dazwischen
irrten Ausgebombte umher und suchten laut jammernd ihre Angehörigen. Andere suchten in den
Trümmern ihre letzte Habe. Es war ein Bild des Grauens. Ich hetzte mit zitternden Knien weiter,
während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Mit zerschundenen Knien und Händen – ich war ein paar
Mal hingefallen – kam ich völlig erschöpft zu Hause an. Unser Haus stand noch …
24.3.43
Mein lieber Hanno!
... Dein erster Nachtflug muss für Dich ein großes Erlebnis gewesen sein. Aber du hast einfach zu wenig
Schlaf. Nach 12stündigem Dienst kannst du doch nicht mehr leistungsfähig sein. Ich habe Angst, dass
man Euch ganz schnell zum Einsatz bringen will. Daran darf ich gar nicht denken. Gestern schoss die
Flak hier ein englisches Flugzeug ab. Ich sah, wie es brennend abstürzte. Einige Leute jubelten. Es war
ein Feind, der abstürzte. Ein Feind, der Tod und Verderben brachte. Ich war wie erstarrt. Ich sah in dem
Flugzeug einen jungen Flieger sitzen. Vielleicht hat er eine Freundin in England, die ihn liebt, so wie ich
Dich liebe. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Aber das junge Leben verlöschte wie die
brennende Fackel am Himmel. Mein Verstand sagte mir, dass dieser feindliche Jäger vielleicht
deutschen Fliegern den Tod gebracht hätte. Vielleicht sogar Dir. Ein schrecklicher Gedanke! Und ich
hatte für ihn gebetet. Für den Feind! In welche Verwirrungen stürzt der Krieg uns Menschen! Er bringt
Zwiespalt in die innersten Gefühle und Empfindungen. Und wie leicht wird der Mensch im Krieg in
Schuld verstrickt! Ich verstehe jetzt, warum du durchaus kein Bombenflieger werden wolltest. „Ich
könnte nicht mehr ruhig schlafen“, hast du damals gesagt. Welche Gefühle mögen die feindlichen
Flieger haben, wenn sie ihre Bombenlast auf unsere Städte werden? Wenn sie sehen könnten, was sie
anrichten, würden sie sicher auch nicht mehr ruhig schlafen können, denn es sind doch Menschen wie
wir ...
3.4. 43
Lieber Hanno!
Meine Freundin Elke ist tot. Ihre Mutter auch. Volltreffer auf den Bunker in ihrem Garten. Ich wünschte,
ich könnte weinen.
Deine Barbara
20.5.43
Lieber Hanno!
... Ich habe in der letzten Woche Furchtbares gesehen und erlebt. Es ist mir unmöglich, Einzelheiten zu
schildern, aber du kennst die Berichte bestimmt aus dem Rundfunk und aus den Zeitungen. Du ahnst
sicher schon, dass ich an der Möhnetalsperre eingesetzt war. ... Hier haben Menschen bewusst geplant
und gerechnet, um eine Sintflut auszulösen, die ganze Dörfer mit Menschen und Vieh in die Tiefe riss.
Ich kann Dir die grausamen Bilder nicht beschreiben, aber ich werde sie in meinem ganzen Leben nicht
vergessen. Sie werden immer auftauchen, wenn ich das Wort KRIEG höre. Auf unserer Seite wird
bestimmt schon wieder ein Vergeltungsschlag geplant, und darunter haben dann wieder andere
Menschen zu leiden. Und so geht es weiter, immer weiter. Schlag auf Schlag. Ich hatte an der Möhne
den Eindruck, dass die Menschen dabei sind, Gottes Schöpfung, ihre eigenen Werke und sich selbst zu
zerstören ...
15.2.44
... Du kannst Dich doch sicher noch an die Ferntrauung von Gerda erinnern. Ihr Freund kämpfte im
deutschen Afrikakorps und konnte zum angesetzten Termin keinen Urlaub bekommen. Es war doch ein
eigenartiges Gefühl, dass während der Trauung auf dem Platz des Mannes nur ein Stahlhelm lag.
Unterdessen gibt es solche Trauungen ja häufiger. Manchmal ist der Mann sogar schon tot, wenn die
Trauung stattfindet. Heute schickte mir Gerda eine Anzeige von der Geburt ihres Jungen. Der Vater ist
vor vier Wochen gefallen. Nun steht sie ganz allein da mit ihrem Kind. Ihr Vater ist schon früh
verstorben und Ihre Mutter kam vor einem Jahr bei einem Angriff ums Leben. ... Else Rademachers
Mann ist aus dem Lazarett entlassen worden. Er ist blind und wird sein Augenlicht nie mehr
zurückbekommen. Wie ich von meiner Mutter hörte, ist der Verlobte von Ursula Conrad auch wieder zu
Hause. Er hat ein Bein und eine Hand verloren ...
13.5.44
Lieber Hanno!
Habe ich das wirklich nicht geträumt, dass wir uns heute Morgen gesehen haben? ... Bis jetzt weiß ich
noch nicht, wie du es fertiggebracht hast hierher zu kommen. ... Jetzt, wo ich erst langsam alles
begreife, verstehe ich dich. Ich hatte dich noch nie so gesehen. Alles an Dir sah nach überstandenem
Kampf aus. Deine beschmutzte Fliegermontur, Dein Gesicht und der Verband am Kopf. Ich spürte die
Todesnot, der Du vor wenigen Stunden entronnen warst. Ich bin Dir sehr dankbar, dass du mir so offen
und ehrlich zeigtest, wie es in Dir aussah. Du warst kein strahlender Held, der einen Gegner
abgeschossen und das eigene Flugzeug gerettet hatte. Du warst ein Mensch, der tieftraurig war. Ich
bin erschrocken über viele Deiner Worte. Wo ist Dein Optimismus und Deine feste Überzeugung, dass
wir siegen werden? ... Noch immer klingen mir die schrecklichen Worte im Ohr: „Wir starten und
werden hingeschlachtet“. Als du dich mit schmerzverzerrtem Gesicht von mir losrissest und in den Zug
stiegst, spürte ich die zerstörende Macht des Krieges wie nie zuvor. ... Hab Dank für Deine Ehrlichkeit!
Es gibt nun für mich nichts mehr, was das wahre Gesicht des Krieges verschleiern oder beschönigen
kann. Keine großen Worte. Keine Parolen. Keine großartigen Ziele. Hanno! Ich danke Dir für jedes Wort
...
18.7.44
Lieber Hanno!
... Wir wollten mit ungestümer jugendlicher Begeisterung eine völlig neue Welt aufbauen, aber wir
mussten nach langen Jahren des Schreckens erfahren, dass nicht Bomben geworfen und Menschen
getötet werden müssen, wenn unsere Welt besser werden soll. Jeder Krieg, jede Anwendung von
Gewalt ist ein Verbrechen. ... Ich weiß seit unserer letzten Begegnung, dass wir beide die gleichen
Gedanken und Ziele haben. Eines Tages werden wir, du als Verkehrsflieger und ich als Journalistin,
Brücken der Verständigung schlagen können. Wenn du heimkehrst, werden wir Frieden haben. Bis
dahin bleibe ich mit meiner Hoffnung und mit meiner ganzen Liebe Deine Barbara
15.8.44
Sehr geehrtes Fräulein Barbara!
Auf Wunsch meines Kameraden Hanno Bruckner schicke ich Ihnen beiliegende Briefe zurück, die er mir
vor seinem letzten Einsatz übergeben hat. Ich nehme an, dass Sie durch die Eltern meines Kameraden
wissen, dass Hanno von seinem Feindflug am 17.6. nicht zurückgekehrt ist und seitdem als vermisst
galt. Unterdessen haben wir die Gewissheit, dass Hanno mit seiner brennenden Maschine abgestürzt
ist. Ich habe meinen besten Kameraden verloren und Sie einen Freund, der Sie sehr geliebt hat. In
aufrichtigem Mitgefühl grüßt Sie
Ihr Karl–Heinz Möller
(Die Briefe der Barbara sind eigene Briefe der Autorin, die dem Verlag Herder in Freiburg vorgelegen
haben. Namen wurden geändert.)
aus:
© Ilse Bintig, Lieber Hanno. Verlag Herder, Freiburg 1986
Der Imperator und die Macht des Bösen – Ein modernes Märchen
Alle Kameras richteten sich auf den großen Helikopter, der aus der Bläue des Himmels herabsank und
sanft auf dem tiefgrünen englischen Rasen aufsetzte. Mehrere goldbetresste Lakaien schoben die mit
dem eindrucksvollen Werbebanner einer bekannten Getränkemarke verzierten Türen auf und einer
legte sich als Tritt davor. Heraus stieg der Imperator mit seinen beiden Hunden und seiner Gattin. Ein
Lächeln um die Mundwinkel, schlenderte der Herrscher in der Pose eines überalterten Yale–Studenten,
eine Hand in der Tasche seines Sportsakkos, den Mikrophonen entgegen. Vernehmbar entrang sich
Hunderten von Kehlen bewunderndes Aufstöhnen. Siegessicher, selbstbewusst, schaute das Oberhaupt
im Blitzlichtgewitter in die Menge der Reporter, die sich gleich darauf den beiden Hunden und der nach
letztem Pariser Schick gekleideten, hektisch winkenden Gattin zuwandten.
„Meine lieben Landsleute“, begann der Imperator dann, „wir leben in schwerer Zeit, umgeben von
Feinden, die uns den mühsam erarbeiteten Wohlstand neiden, ja streitig machen. Es gilt, auf der Hut zu
sein, gerade jetzt in unserer Wachsamkeit und Abwehrbereitschaft nicht nachzulassen, um jeden
Andersdenkenden zur Strecke zu bringen.“ Applaus brandete auf, hier und da waren Hochrufe zu
vernehmen.
Der Imperator winkte huldvoll, zog fast unbemerkt einen Zettel aus der Tasche und fuhr fort: „Wie ihr
wisst und wie euch schon mein verehrter Vater nahegebracht hat, führen wir einen immerwährenden
Existenzkampf, einen Kreuzzug auf Leben und Tod, einen Krieg des Guten gegen das Böse. Wir, die wir
die Zivilisation verkörpern, sind angetreten gegen die Barbarei, die uns bedroht. Wie immer, sind
selbstverständlich Moral, Sitte und Anstand auf unserer Seite, und wir werden nicht, niemals,
nachlassen in der Anstrengung, die Fahne der Freiheit hochzuhalten. Gott segne unsere Fahne! Gegen
Kameltreiber, Weicheier und Kalaschnikows! Wir werden sie einsaften und verdampfen, alles platt
machen, keinen Stein auf dem andern lassen! Gott segne unser Land!“ Donnernder minutenlanger
Beifall.
Nun trat ein ordengeschmückter vierschrötiger General an die Mikrophone und räusperte sich.
Nachdem der Beifall abgeebbt war, begrüßte er den Imperator mit Handschlag und einer
Ehrenbezeugung. Er winkte einigen kleinen Mädchen, die seitwärts Aufstellung genommen hatten und
rasch herbeiliefen, um dem Oberhaupt Blumensträuße zu überreichen. Erneuter Applaus übertönte ein
paar Schüsse im Hintergrund, wo einer der Anwesenden missverständlich in die Tasche gegriffen und
dadurch die Aufmerksamkeit der Bodyguards auf sich gezogen hatte.
„Liebe Landsleute, liebe Freunde, Kameraden!“, sprach jetzt der General mit fester Stimme. „Die Macht
des Bösen, diese Verschwörung des Antichrist, muss gebrochen werden. Dazu stehen uns Dank der
Unterstützung unseres Imperators und natürlich unserer 13Rüstungsindustrie sämtliche Mittel zur
Verfügung. Wir werden die Frevler zur Rechenschaft ziehen, die Agitatoren des Terrors, diese
Ausgeburten der Hölle, die unseren Wohlstand und unsere Freiheit bedrohen! Wir stehen für technisch
ausgereifte Industrieprodukte, für international verfügbare Konsumgüter und Genussmittel sowie für
eine phantastische Unterhaltung. Heutzutage braucht niemand mehr im Sandkasten zu spielen oder
auf einem Esel zu reiten, geschweige denn zu Fuß zu gehen. Wir werden das zu verhindern wissen!“
Spontaner Beifall unterbrach die Rede, Rufe wie „Es lebe die Freiheit!“ oder „Tod den Gottlosen!“
waren zu vernehmen.
„Wir eliminieren jeden, der sich uns in den Weg stellt!“, fuhr der General mit erhobener Stimme fort.
„Neue Waffensysteme der Kategorien A bis Z sind in der Entwicklung und werden demnächst zum
Einsatz gebracht. Dank gebührt besonders unseren heldenmütigen Soldaten, unseren Agenten,
Spionen und Lockspitzeln – wir beten für sie –, die überall in der Welt für unsere Sache kämpfen, in
unermüdlichem Einsatz zum Wohl unseres großen Volkes, unserer Wirtschaft und der
Rüstungsindustrie!“
Ein dreifaches donnerndes Hoch folgte diesen ergreifenden Ausführungen. Danach legten alle ihre
rechte Hand aufs Herz und lieblich klang die Nationalhymne durch den weitläufigen, von
Panzerspähwagen und Flugabwehrgeschützen gesäumten Park. Anschließend begaben sich der
Imperator, seine beiden Hunde und seine Gattin wieder zum Helikopter, der sich mit ihnen in der
Unendlichkeit des Himmels verlor, eskortiert von den Kondensstreifen der Abfangjäger. Und wenn der
Imperator nicht vor Aufgeblasenheit geplatzt ist, dann leben er, seine beiden Hunde und seine Gattin
noch heute.
© Wolfgang Bittner (geb. 1941), deutscher Schriftsteller
Frieden
Frieden – was ist das?
Nicht – Krieg?
Sehnsucht nach Ruhe und Stille?
Unerfüllbarer Traum? – Eine Utopie?
Innere Zufriedenheit des Einzelnen trotz
Not und Gewalt und Krieg?
Erzwungenes Verhalten des Schwächeren?
Großmut der Stärkeren?
Entscheidung zur unbedingten Gewaltlosigkeit?
Frieden – was bedeutet das?
Balance of power (terror)?
Erhaltung bestehender Verhältnisse oder Aktion für soziale Gerechtigkeit in der Welt?
Betonung völkischer, rassischer oder religiöser Unterschiede oder Abbau ungerechter Vorurteile?
Anpassung oder Wagnis?
Zustand oder ständige Aufgabe für die Zukunft?
Gefühlvolle Appelle oder zielbewusste Planung?
Frieden – was ist das?
Die UNO?
Die Politiker?
Die Militärs?
Die Parteien?
Die Kirchen?
Oder ...?
„Gewaltlosigkeit ist kein Verzicht auf Taten!“
© Martin Luther King Jr. (1929–1968), amerikanischer Baptistenpfarrer und Bürgerrechtler
Frieden
Alles Leben steht in einer Wechselbeziehung miteinander.
Wir sind in einem unentrinnbaren System der Gegenseitigkeit gefangen,
in ein einzigartiges Netzwerk des Schicksals gebunden.
Was immer den einzelnen direkt betrifft,
betrifft indirekt auch alle anderen.
Die ineinandergreifenden Strukturen der Wirklichkeit
erfordern unser Zusammenleben.
So ist unsere Welt geschaffen,
das ist ihr auf Wechselbeziehungen beruhendes Wesen.
Wir werden keinen Frieden auf Erden haben,
ehe wir nicht diese gegenseitige Abhängigkeit allen Seins begreifen.
© Martin Luther King Jr. (1929–1968), amerikanischer Baptistenpfarrer und Bürgerrechtler
Zwei Männer
Es waren einmal zwei Menschen. Als sie zwei Jahre alt waren, da schlugen sie sich mit den Händen.
Als sie zwölf waren, schlugen sie sich mit Stöcken und warfen mit Steinen.
Als sie zweiundzwanzig waren, schossen sie mit Gewehren nach einander.
Als sie zweiundvierzig waren, warfen sie mit Bomben.
Als sie zweiundsechzig waren, nahmen sie Bakterien.
Als sie zweiundachtzig waren, da starben sie. Sie wurden nebeneinander begraben.
Als sich nach hundert Jahren ein Regenwurm durch beide Gräber fraß, merkte er gar nicht,
dass hier zwei verschiedene Menschen begraben waren. Es war dieselbe Erde. Alles dieselbe Erde.
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Auf dem Markt
Eine Frau hatte einen Traum.
In diesem Traum besuchte sie einen Markt. Dort inmitten all der Stände traf sie an einem von ihnen
Gott.
„Was verkaufst du hier?" fragte die Frau Gott.
Gott antwortete: „Alles, was das Herz begehrt."
Das konnte die Frau kaum glauben. Sie überlegte eine Weile und beschloss dann, das Beste zu
verlangen, was sich ein Mensch nur wünschen konnte.
„Ich möchte Frieden für meine Seele und Liebe und Glück. Und weise möchte ich sein und nie mehr
Angst haben." sagte die Frau zu Gott. „Und das nicht nur für mich allein, sondern für alle Menschen."
Gott lächelte. „Ich glaube, du hast mich missverstanden. Ich verkaufe hier keine Früchte, sondern die
Samen."
© Anthony de Mello (1931–1987), Jesuitenpriester und spiritueller Lehrer
Ausblick (1897)
Wenn ich auch ganz gut weiß, dass neun Zehntel der gebildeten Welt die (Friedens-) Bewegung noch
gering schätzen und ignorieren – und eines dieser Zehntel sie sogar befeindet – das tut nichts –, ich
appelliere an die Zukunft. Das zwanzigste Jahrhundert wird nicht zu Ende gehen, ohne dass die
menschliche Gesellschaft die größte Geißel – den Krieg – als legale Institution abgeschüttelt haben
wird. Ich habe bei meiner Tagebuchführung die Gewohnheit, bei Eintragungen von Situationen, die
drohend oder verheißend sind, ein Sternchen zu machen, ein paar Dutzend weiße Blätter umzuschlagen
und dorthin zu schreiben: Nun wie ist es gekommen? Siehe S. –. Dann, wenn ich beim Weiterschreiben
ganz unvermutet auf diese Frage stoße, kann ich sie beantworten. Und so frage ich hier einen viel, viel
späteren Leser, der diesen Band vielleicht aus verstaubtem Bodenkram hervorgeholt hat: „Nun, wie ist
es gekommen, hatte ich Recht?“ Der möge dann auf den Rand die Antwort schreiben – ich sehe die
Glosse schon vor mir: „Ja, Gott sei Dank!“
Bertha von Suttner (1843–1914), österreichische Schriftstellerin und Friedensnobelpreisträgerin
Wolfgang Borchert schrieb vor Jahrzehnten unter dem Eindruck des Krieges:
„Als sie zweiundzwanzig waren, schossen sie mit Gewehren nacheinander. Als sie zweiundvierzig
waren, warfen sie mit Bomben. Als sie zweiundsechzig waren, nahmen sie Bakterien. Als sie
zweiundachtzig waren, da starben sie. Sie wurden nebeneinander begraben. Als sich nach hundert
Jahren ein Regenwurm durch ihre beiden Gräber fraß, merkte er gar nicht, dass hier zwei verschiedene
Menschen begraben waren. Es war dieselbe Erde.“
© Wolfgang Borchert (1921–1947), deutscher Schriftsteller
Ich habe ihn erschossen ...
Nachher fuhr ich an den qualmenden Trümmern vorbei. Aus der Luke hing ein Körper, der Kopf nach
unten, seine Füße waren eingeklemmt und brannten bis zum Knie. Der Körper lebte, der Mund stöhnte.
Es müssen entsetzliche Schmerzen gewesen sein. Und es gab keine Möglichkeit, ihn zu befreien.
Selbst wenn es diese Möglichkeit gegeben hätte, wäre er doch nach Stunden qualvoll gestorben. Ich
habe ihn erschossen, und dabei liefen mir die Tränen über die Backen. Nun weine ich schon seit drei
Nächten über den toten russischen Panzerfahrer, dessen Mörder ich bin. Die Kreuze von Gumrak
erschüttern mich und vieles, über das die Kameraden mit geschlossenem Mund hinwegsehen. Ich
fürchte, nie mehr ruhig schlafen zu können, wenn ich heimkommen sollte zu Euch, Ihr Lieben. Mein
Leben ist ein entsetzlicher Widerspruch.
Unbekannter Soldat aus Stalingrad
I have a Dream
„… Ich habe zu viel Hass gesehen,
als dass ich selber hassen möchte.
Ich träume davon,
dass eines Tages die Menschen sich erheben und einsehen werden,
dass sie geschaffen sind,
um als Brüder miteinander zu leben.
Ich träume davon,
dass eines Tages jeder Neger in diesem Lande,
jeder Farbige in dieser Welt
auf Grund seines Charakters
anstatt seiner Hautfarbe beurteilt werden wird
und dass jeder Mensch
die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit achten wird.
Ich träume davon, dass Brüderlichkeit mehr sein wird
als ein paar Worte am Ende eines Gebetes,
vielmehr das vordringlichste Geschäft eines jeden Gesetzgebers.
Ich träume auch heute noch davon,
dass in all unsere Parlamente und Ratshäuser
Männer gewählt und einziehen werden,
die Gerechtigkeit und Gnade üben
und demütig sind vor ihrem Gott.
Ich träume auch heute noch davon,
dass eines Tages der Krieg ein Ende nehmen wird.
Der gewaltlose Widerstand gründet sich auf die Überzeugung,
dass das Universum auf der Seite der Gerechtigkeit steht;
infolgedessen hat der,
der an Gewaltlosigkeit glaubt,
einen tiefen Glauben an die Zukunft …“
© Martin Luther King Jr. (1929–1968), amerikanischer Baptistenpfarrer und Bürgerrechtler
aus seiner berühmten Rede „I have a Dream“, die er am 28. August 1963 in Washington D.C: vor dem
Lincoln Memorial hielt.
Ein Kind berichtet
Nguyen van Hoi, 10 Jahre alt, berichtet:
„Ich war auf dem Weg zur Schule, morgens früh.
Wir spielten etwas auf der Wiese, mein Freund und ich.
Plötzlich hörten wir Flugzeuge.
Wir hatten gelernt, uns sofort hinzuschmeißen.
Es war sehr laut.
Ich lag auf dem Rücken. Ich schrie.
Mein Rücken tat entsetzlich weh.
Ich konnte nicht mehr aufstehen.
Ich weiß nicht mehr, was geschah.
Später saß meine Mutter am Bett.
Ich war im Krankenhaus.
Meine Beine waren noch da.
Ich spürte nichts mehr.“
Nguyen wird immer auf den Rollstuhl angewiesen sein; er kann nie wieder gehen.
Krieg
Ein Mädchen fragte seine Eltern: „Warum hat Onkel Peter nur einen Arm? Hatte er einen Autounfall?“
„Nein“, sagte die Mutter. „Sein linker Arm ist im Krieg verwundet worden. Die Ärzte mussten ihn ganz
abnehmen.“
Ein anderes Mal fragte das Mädchen. „Stimmt es, dass bei Matthias im Keller siebzehn Tote liegen?
Das hat er uns erzählt.“
„Unsinn!“ sagte die Mutter. „Früher stand dort ein anderes Haus. Es wurde im Krieg von einer Bombe
getroffen. Alle Menschen, die dort wohnten, waren im Keller verschüttet. Aber man hat sie später
ausgegraben und beerdigt. Matthias soll sich nicht wichtig tun mit einem so großen Unglück.“
Wieder ein anderes Mal fragte das Mädchen: „Warum habe ich nur einen Großvater? Ist der andere
schon lange tot?“
„Er ist im Krieg gefallen, eine Kugel hat ihn in den Kopf getroffen“, sagte der Vater. „Damals war
Mutter so alt, wie du jetzt bist.“
„Und das war dein Vater?“ fragte das Mädchen die Mutter.
Sie nickte.
„Aber jetzt ist doch kein Krieg?“ fragte das Mädchen.
„Bei uns nicht“, sagte die Mutter. „Aber jeden Tag ist irgendwo auf der Erde Krieg.“
Und wieder ein anderes Mal sah das Mädchen die Tagesschau im Fernsehen, und es sah, wie Frauen
und Kinder durch eine brennende Straße rannten. Ein Junge war dabei, der schleppte ein schweres
Bündel hinter sich her. Ein brennendes Holzstück fiel auf das Bündel. Der Junge blieb stehen und
schlug mit der flachen Hand auf die Flammen.
„Schmeiß es doch weg! Lauf weiter!“ rief das Mädchen am Fernsehapparat. „Lass es doch brennen!“
„Dort ist Krieg“, sagte die Mutter. „In dem Bündel ist alles, was der Junge noch hat, alle seine Kleider
und sein Bettzeug. Die Leute sind auf der Flucht, sie haben keine Wohnung mehr.“
Dann kamen andere Bilder. Das Mädchen sah Männer mit Gewehren, die schossen auf andere Männer.
Das Mädchen rief:
„Warum machen die Menschen denn immer wieder Krieg?“
„Weil sie zu dumm und zu selbstsüchtig sind“, sagte der Vater. „Weil sie immer noch nicht gemerkt
haben, dass Krieg für alle nur Unglück bringt.“
© Ursula Wölfel (1922–2014), deutsche Kinderbuchautorin
Ausschnitte aus dem Interview, das die Zeitschrift „Der Spiegel“ 1981 mit dem
amerikanischen Erfinder der Neutronenwaffe, Samuel T. Cohen (1921–2010,
amerikanischer Physiker), geführt hat:
Spiegel:
Cohen:
Spiegel:
Cohen:
Wann haben Sie die Bombe erfunden?
Das geschah im Sommer 1958.
Was war das für eine Entdeckung?
Es ist das, was wir eine saubere Kernwaffe nennen. Nämlich mit wenig
Radioaktivität.
Spiegel:
Entwickeln Sie gerne Waffen?
Cohen:
Ehrlich gesagt, ja. Es ist eine Herausforderung. Eine sehr faszinierende
Beschäftigung.
Spiegel:
Wie denkt Ihre Frau über die Bombe?
Cohen:
Meine Frau beschäftigt sich absolut nicht mit der Bombe. Sie spielt Tennis und
beschäftigt sich mit dem Haushalt.
Spiegel:
In welchem Falle könnte ihre Bombe zum Einsatz kommen?
Cohen:
In einer herkömmlichen Kriegssituation, z. B. beim Kampf um eine Stadt. Hoch oben
in der Luft, so 600 bis 900 Meter über der Stadt, käme die Neutronenbombe zur
Explosion. Der Luftdruck, der bei einer Explosion hoch oben in der Luft entsteht,
erreicht die Erdoberfläche nicht. Die Neutronenbombe wird deshalb als Bombe
geschildert, die Menschen tötet, aber Eigentum verschont.
Spiegel:
Kann sich die Zivilbevölkerung vor dieser Bombe schützen?
Cohen:
Die Bürger können zweierlei tun: die Stadt verlassen, bevor die Schlacht beginnt oder
Schutz unter der Erde suchen.
Spiegel:
Was passiert mit den Soldaten, über denen die Bombe explodiert?
Cohen:
Die werden schwer verletzt durch intensive Bestrahlung mit Neutronen. Innerhalb
eines bestimmten Strahlengebietes werden sie außer Gefecht gesetzt, gelähmt.
Spiegel:
Sterben sie danach?
Cohen:
Ja, die meisten sterben nach einiger Zeit. Je dichter sie dran sind, desto schneller
sterben sie.
Spiegel:
Ist das nicht ein schrecklicher Tod?
Cohen:
Sterben ist immer schrecklich.
Spiegel:
Glauben Sie, dass es Krieg gibt?
Cohen:
Ja. Schrecklich, das zu sagen, aber ich glaube, es liegt einfach in der Natur des
Menschen: das Kämpfen. In jedem Krieg haben die Parteien stets ihre besten Waffen
eingesetzt. Ich befürchte also nicht nur, dass es wieder Krieg gibt, sondern, dass
dann auch Kernwaffen eingesetzt werden.
Die Geschichte von Onkel Erwin
Eines Tages hieß es, es sei Krieg und Onkel Erwin konnte nicht mehr zum Schwimmen gehen, weil er in
seiner Fabrik richtige Flugzeuge zu bauen hatte und nun täglich zwei Stunden länger arbeiten musste.
Das war ihm gar nicht recht, denn er ging so gerne mit uns an den Rhein. Aber er sagte: „Das ist immer
noch besser als draußen.“
Eines Tages kam ein Einschreibebrief für Onkel Erwin. Er zeigte ihn der Tante, und die fing an zu
weinen, und Onkel Erwin sagte: „Es nutzt alles nichts.“
Da packte er seine Sachen und fuhr weg.
Eines Tages kam ein freundlicher dicker Herr in brauner Uniform und fragte nach den Kindern, die er
gar nicht kannte. Da fing die Tante wieder an zu weinen, und der dicke Herr machte die Sache kurz. Er
sagte etwas vom „Dank der Nation“ und dass Onkel Erwin ein „Held“ sei. Eine französische Kugel habe
ihn in den Kopf getroffen. Bei Verdun. Dann ging er weiter.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass Onkel Erwin mit den Franzosen böse war. Die Tante weinte viele
Wochen.
Dann hatte sie keine Zeit mehr dazu. Die sechs Kinder wollten ihr Essen wie immer, und zerrissen die
Hosen wie immer und wollten neue Segelschiffe haben.
Das ist die Geschichte von Onkel Erwin.
Ob Erwin oder Pierre oder Franklin – es ist ja immer dasselbe.
(Unbekannter Verfasser)
Aus Feldpostbriefen
Am 25. Juli 1943 schreibt A. in einem Feldpostbrief an ihren Mann an der Ostfront nach einem
Luftangriff auf Hamburg:
„Heute, der Sonntag, ist ein schwarzer Tag! In der Nacht hatten wir einen stundenlangen bösen Angriff.
Hamburg hat es hart getroffen. Man sah das Feuer förmlich lodern. Die ganze Reeperbahn, der Hafen,
Wandsbek, das Berliner Tor, das Reichshof Hotel, die große Feuerwache Berliner Tor, alles dahin! ...
Auch der Hauptbahnhof ist getroffen. Sehr viele Tote! Furchtbar, furchtbar! Es hat so gebrannt, dass
heute Morgen alles mit Asche übersät war. Und den ganzen Tag hat es noch geflockt. ... Das Leben ist
nicht mehr schön. Wer weiß, wie lange man noch lebt! ...“
Am 18. Mai 1943 berichtet Frau L. an ihren Mann über neue britische Luftangriffe auf Duisburg:
„... Der Angriff war tatsächlich sehr schlimm. Wir haben die ganze Zeit (fast eine Stunde dauerte der
Angriff) auf dem Boden gelegen wegen des Luftdrucks. Ich hatte manchmal auch das Gefühl, als wenn
es uns diesmal erwischen würde und wir nicht mehr lebend heraus kämen. In den ersten Tagen warn
169 Tote gemeldet. Aber die Zahl hat sich bestimmt noch um ein Beträchtliches erhöht, denn es waren
sehr viele im Keller eingeschlossen. Die Stadt sieht wirklich verheerend aus ...“
Marie Rößler aus Quedlinburg am 24. September 1916 an ihren Mann an der Westfront in Frankreich.
„Mein inniggeliebter Otto!
Ich weiß nun meinem Herzen nicht weiter Luft zu machen, als mich in Schreiben zu vertiefen. Dein Bild
steht vor mir, und so oft ich dieses ansehe, denke ich an den letzten Abend in Aschersleben.
Mein guter Otto, seit Dienstag bin ich ohne Nachricht von Dir. Auf keinem Fleck habe ich Ruhe. Tu mir,
mein Schatz, nur das nicht an und lass mich so lange warten. Wo ich nun weiß, Du bist dort
fortgekommen, nur weiß ich nicht, wohin. Dass Du aber weiter vor bist, kann ich mir denken. Auch bist
Du gewiss schon im Gefecht. Ach möge Dich doch dort der liebe Gott glücklich wieder herausführen.
Du hast doch sonst immer, wenn irgend es Deine Zeit erlaubte, uns geschrieben. Wir warten so
sehnsüchtig auf Deinen uns versprochenen Brief. Bis morgen will ich noch hoffen (...). Bekomme ich
aber auch morgen nichts, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll. Also, mein treuer Schatz, vergiss
uns nicht. Bedenke meine Unruhe.“
Die von Angst und Verzweiflung geprägten Worte erreichen Otto Rößler nicht mehr. Er fiel am 20.
September 1916. Seine Frau erhält diesen sowie andere von ihr geschriebene Briefe mit den
Vermerken zurück: „Auf dem Felde der Ehre gefallen“ und „Starb den Heldentod“.
Aus: „Kain, wo ist dein Bruder“, von Hans Dollinger, 1984
Im Westen nichts Neues
[...] Es ist still, die Front ist ruhig bis auf das Gewehrgeknatter. Die Kugeln liegen dicht, es wird nicht
planlos geschossen, sondern auf allen Seiten scharf gezielt. Ich kann nicht hinaus.
„Ich will deiner Frau schreiben“, sagte ich hastig zu dem Toten, „ich will ihr schreiben, sie soll es durch
mich erfahren, ich will ihr alles sagen, was ich dir sage, sie soll nicht leiden, ich will ihr helfen und
deinen Eltern auch und deinem Kinde –“
Seine Uniform steht noch halb offen. Die Brieftasche ist leicht zu finden. Aber ich zögere, sie zu öffnen.
In ihr ist das Buch mit seinem Namen. Solange ich seinen Namen nicht weiß, kann ich ihn vielleicht
noch vergessen, die Zeit wird es tilgen, dieses Bild. Sein Name aber ist ein Nagel, der in mir
eingeschlagen wird und nie mehr herauszubringen ist. Er hat die Kraft, alles wieder zurückzurufen, es
wird stets wieder kommen und vor mich hintreten können.
Ohne Entschluss halte ich die Brieftasche in der Hand. Sie entfällt mir und öffnet sich. Einige Bilder und
Briefe fallen heraus. Ich sammle sie auf und will sie wieder hineinpacken, aber der Druck, unter dem
ich stehe, die ganze ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese Stunden mit dem Toten haben mich
verzweifelt gemacht, ich will die Auflösung beschleunigen und die Quälerei verstärken und enden, wie
man eine unerträglich schmerzende Hand gegen den Baum schmettert, ganz gleich, was wird.
Es sind Bilder einer Frau und eines kleinen Mädchens, schmale Amateurfotografien vor einer
Efeuwand. Neben ihnen stecken Briefe. Ich nehme sie heraus und versuche sie zu lesen. Das meiste
verstehe ich nicht, und ich kann nur wenig Französisch. Aber jedes Wort, das ich übersetze, dringt mir
wie ein Schuss in die Brust – wie ein Stich in die Brust – [...]
© aus: „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque (1898–1970), deutscher Schriftsteller
Eine Kindererinnerung aus Hiroshima
Die Zeit vergeht schnell. Sechs Jahre sind schon vorbei, seit Hiroshima zu einem Opfer der Atombombe
gemacht wurde. Jetzt erheben sich mit jedem Jahr neue Häuser und neue Straßen entstehen. Die Stadt
sieht wieder schön aus.
Ich war fünf Jahre alt, als die Atombombe auf unsere Stadt kam. Nachdem ich Vater zum Büro gebracht
hatte, spielte ich vor dem Haus. Plötzlich gab es eine Wolke aus gelbem Rauch und einen
unbeschreiblichen lauten Krach. Es war mir so, als ob aus weiter Ferne meine Mutter rief: „Oma Shige!“
Mir war, als ob etwas sehr Schweres auf mich drückte, und ich konnte mich nicht bewegen. Allmählich
wurde der Rauch dünner, und ich konnte erkennen, dass das Haus zerstört war. Mutter gelang es, aus
der zerstörten Küche herauszukommen. Im Haus selbst konnte man keinen Schritt tun.
Oma war krank und hatte im Schlafzimmer im Bett gelegen. Sie wurde so, wie sie war, verwickelt im
Bettzeug, durch den großen Druck herausgeschleudert. Glücklicherweise wurde sie überhaupt nicht
verletzt.
„Hilfe, Hilfe!“ Als Mutter diesen Schrei hörte, eilte sie nach nebenan und fand die Großmutter der
Nachbarn unter den Ruinen ihres Hauses gefangen. Mutter warf Dachziegel, Gebälk und Glas beiseite
und zog sie heraus. Flammen erhoben sich, und wir konnten keine Minute länger im Haus bleiben.
Mutter nahm Oma auf den Rücken, und wir kletterten auf das Flussufer. Viele Menschen flohen aus der
Stadt.
Fast keiner von ihnen war wiederzuerkennen. Manchen war die Haut weggebrannt, ihre Gesichter
waren rot und geschwollen, man sah rohes Fleisch, und es war schwer zu erkennen, wo ihre Augen und
ihr Mund waren. Rauch von brennenden Häusern lag über der Stadt. Es war schwarz wie die Hölle und
der ganze Himmel war bedeckt. Es war ein schrecklicher Anblick.
Ich klammerte mich an meine Mutter, mein ganzer Körper zitterte. Da kam Vater heraufgerannt. Sein
Gesichtsausdruck war unbeschreiblich von Schmerz erfüllt. Er hatte eine furchtbare Wunde auf dem
Rücken, und man konnte nicht sagen, ob sie schwarz oder gelb war, aber es war eine schreckliche
Farbe. Das Haar auf seinem Kopf sah aus, als ob es mit Asche bedeckt war. Als wir am Flussufer
entlang flohen, überholten wir immer mehr Menschen, die nicht mehr die Kraft zum Weitergehen
hatten und hingefallen waren. Wenn ich jetzt meine Augen schließe, erinnere ich mich an all diese
furchtbaren Anblicke, und mir ist, als zittere ich wieder.
Bald danach starb Vater an der radioaktiven Krankheit. Die Wunde an meinem Bein heilte lange nicht,
und es dauerte ein ganzes Jahr, bis ich keinen Verband mehr zu tragen brauchte.
Ich verabscheue aufrichtig einen derartigen fürchterlichen Krieg. Bitte, jedermann in Japan und
jedermann in der ganzen Welt, bitte macht nicht noch einen Krieg und lasst uns zusammengehen und
einander in Frieden an den Händen halten. Lasst uns glücklich leben wie die Singvögelchen. Ich denke,
es ist besser, wenn keine Atombomben gemacht werden.
Shigeko Hirata, ein Überlebende
„Hören Sie auf mit diesen Lügen!"
General Harras kondoliert Anna Eilers, deren Mann bei der Erprobung eines Bombers „MO 168"
abgestürzt ist.
Personen: H=Harras, AE=Anna Eilers
H: Anne...es tut mir so leid. Sie wissen ja, wie gern ich ihn hatte.
AE: Ich hab's den Kindern noch nicht sagen können.
H: Er wusste wenigstens, wofür er fiel. Und Sie wissen, wofür Sie ihn hergegeben haben. Hm, das Beste
an diesem bisschen Leben ist doch der Glaube. Eine Idee, die groß genug ist, um dafür zu sterben.
AE: (ein wenig hysterisch) Ja, und in stolzer Trauer die Helden beweinen, nicht wahr, das kommt doch
wohl jetzt? Nein, Harras, hören Sie auf mit diesen furchtbaren Phrasen, diesen Lügen! Ich weiß, Sie
meinen es gut, aber ich kann das nicht mehr hören, ich habe selber zu viel gelogen, die ganzen
schönen Jahre mit Friedrich (schluchzt) ... ich hab nie an das geglaubt, was ihm groß und heilig war, ich
hab immer gewusst, es ist erbärmlich und schmutzig. Aber ich hab's ihm doch nicht sagen können. Ich
hab ihn doch geliebt! – Ich hab immer gehofft, später, wenn dieser wahnsinnige Krieg einmal aus sein
wird, dann kann ich mit ihm sprechen, mit ihm streiten, mit ihm einig werden.
H: Und er hat nie gewusst, dass Sie …
AE: Durft' ich ihn denn unsicher machen? Unglücklich? Solange er Tag für Tag da draußen seinen Kopf
hinhalten musste? 'S‘is doch Krieg, er musste doch Soldat sein!
AE: (nach einer Pause) Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und dass Sie mir zugehört haben. (abgewandt)
Ich hab doch sonst niemand. (schluchzt)
H: Ich danke I h n e n, Anne. Ich wollte Ihnen helfen, und jetzt haben Sie mir geholfen. Ja ... ja. (geht
hinaus)
© Carl Zuckmayer (1896–1977), deutscher Schriftsteller, Szene aus dem Spielfilm „Des Teufels
General"
Frieden verleiht Flügel
Über die Liebe
„Wir sollten eines versuchen in dieser Welt:
Etwas weniger an uns und etwas mehr an andere denken. Etwas weniger für uns und etwas mehr für
andere tun. Etwas weniger uns selbst und nur etwas mehr den anderen lieben.“
Walter Sonneborn
Über die Menschlichkeit
„Krieg ist eine schreckliche Sache! Hüten wir uns davor, dies zu vergessen. Seien wir wachsam, dass die
Generationen von morgen nicht wieder mit Tränen, Trauer und Ruinen konfrontiert werden. Verzichten wir
auf das, was trennt. Suchen wir alles, was uns vereint. Hören wir die Botschaft der Gräber: Völker, seid
einig! Menschen, seid menschlich!“
L’Abbé Launay
Über den Frieden
„Die in den Gräbern ruhen, warten auf uns, auf uns alle. Sie waren Menschen wie wir. Aber wenn wir in der
Stille an den Kreuzen stehen, vernehmen wir ihre gefasst gewordenen Stimmen: Sorgt Ihr, die Ihr noch im
Leben steht, dass Frieden bleibe, Friede zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.“
Prof. Theodor Heuss
JAK Bremen bei der Kranzniederlegung
Vorurteile
V erurteilt ist einer gleich
O hne sich selbst
R echtfertigen zu können.
U nsere
R ichter
T reten
E in für Verständigung
I n unserem Leben
L eben und Frieden auf unserer
E rde.
V iele Menschen
O hne Verstand
R eden über andere,
U nschuldige,
R eagieren oft
T rost- und ratlos,
E rzählen meist Falsches
I n Arbeit, Schule, Familie und
L ügen sich selbst an ohne
E nde.
V iele Alte wollen mit uns leben.
O hne uns wären sie einsam,
R eden mit uns
U nd uns verstehen.
R asten heißt rosten für sie.
T un sie uns leid?
E infach abgeschoben sind sie
I ns Altersheim,
L eider zu viele
E insame Menschen.
V on Ausländern spricht man zu oft,
O b Türken, Griechen, Slawen,
R umänen
U nd anderen, nicht allzu Gutes
R edet man über sie.
T ausend
E rmüden
I n der Arbeit;
L ohn bekommen sie, doch kein Lachen,
E chtes Vertrauen kennen sie nicht.
eine 7. Klasse machte sich Gedanken
Das Jugenderlebnis des Sigmund Bendkower
Meine erste Freundschaft schloss ich mit einem gleichaltrigen Nachbarskind, als wir beide etwa drei
Jahre alt waren. Gemeinsam entdeckten wir die Geheimnisse unserer nahen Umgebung, die Hinterhöfe,
düstere Kellereingänge und andere herrliche Verstecke. Einige kostbare Kinderjahre lang waren wir
unzertrennlich, bis wir eingeschult wurden. Da aber fand diese Kinderfreundschaft ein jähes und
grausames Ende, als wir von einer Gruppe größerer Schüler aufeinander gehetzt wurden. Wenn es
anfangs einfach darum ging herauszufinden, wer von uns der Stärkere war, wir jedoch zögerten,
gegeneinander loszugehen, da wir keinerlei Grund dazu hatten, fand man alsbald eine raffinierte
Drehung der Spirale. Man sagte meinem Freunde auf mich weisend: „Siehst du, der da ist ein Jude, mit
dem darfst du als Deutscher gar nicht spielen. Wenn du zeigen willst, dass du ein richtiger Deutscher
bist, dann musst du ihn erst einmal verhauen.“
Mein Freund sah mich verlegen und zögernd an. Aber die fortgesetzte und immer schärfere Verhetzung
trug schließlich Früchte. Er fühlte sich auch geschmeichelt durch die Tatsache, dass eine Gruppe
großer Jungen ihm ihren Schutz anbot und ihn zu einem der ihren erklärte. Und so begann er, zuerst
zaghaft, dann immer wütender, mir Hiebe zu versetzen, während ich diese passiv, verständnislos und
zutiefst verstört einsteckte.
Weniger aus Furcht als vor innerer Verzweiflung lief ich heim. Meine Eltern waren erschrocken,
glaubten anfangs gar, ich hätte irgendetwas ausgefressen und daher aus eigenem Verschulden
verdiente Prügel bezogen. Diese Annahme entsprach wohl ihrer instinktiven Logik; denn es war
beruhigender zu denken, dass mein eigenes Fehlverhalten und nicht eine antisemitische Provokation
die Ursache meiner Misere war. Ich hatte natürlich erwartet, dass sie sich sofort und bedingungslos
hinter mich stellen würden. Aber auch, als sie mich später ermutigten, mich bei ähnlichen Vorfällen
meiner Haut zu wehren, habe ich ihnen ihr damaliges Verhalten vielleicht nie ganz verziehen.
Noch schlimmer war jedoch, dass ich meinen ersten und einzigen Freund verloren hatte. Lange Zeit
noch stand ein abgrundtiefes Gefühl absoluter Isolierung und totaler Einsamkeit wie eine
unüberwindliche Mauer zwischen mir und meinem Schulkameraden.
Sigmund Bendkower, „Betrachtungen zum Wesen von Gruppenvorurteilen“ in: Neue Züricher Zeitung,
14./15. 6. 1980
ABGESTÜRZT
Vielleicht war Carlo ein Sonderling. Die Männer, mit denen Carlo zusammenarbeitet, waren jedenfalls
überzeugt, dass etwas geschehen musste. Denn:
Carlo war fleißiger als sie.
Carlo beteiligte sich nicht, wenn der Meister die Baustelle verließ, an den ausgedehnten Bier- und
Zigarettenpausen.
Carlo erzählte nichts aus seinem Privatleben (wo doch jeder vom andern wusste, was er nach
Feierabend und am Wochenende trieb).
Carlo fand keinen Spaß an Karls dreckigen Witzen.
Carlo schnüffelte während der Mittagspause, wenn die anderen dösten, in seinen Büchern herum. Der
hergelaufene Hund wollte wohl „höher“ hinaus, dem schmeckte die Drecksarbeit nicht (na warte!).
Dabei sprach Carlo doch nur gebrochen Deutsch.
Aber Carlo war – der Teufel weiß, warum – beim Meister beliebt.
Die Männer hatten alle Mittel versucht. Zuerst hatten sie über Carlo gewitzelt, hatten Carlo gereizt,
geärgert und zum Narren gehabt. Aber das kleine Männlein tat, als wäre nichts geschehen. Es schien
nicht einmal zu merken, dass man es allmählich schnitt, dass man es einfach übersah. Das wurmte die
Männer sehr. Sie schoben dem Kerl die schwersten Arbeiten zu. Sie verwickelten Carlo in Streit; sie
verachteten ihn; sie hätten, wenn sie ihn sahen, am liebsten in sein Gesicht getreten.
Da kam der Tag, an dem Carlo vom Gerüst fiel.
Karl und seine Freunde hatten die Bretter gelegt, und ein Brett hatte sich losgelöst, und Carlo war
abgestürzt.
(Aus „SEHEN – BEURTEILEN – HANDELN“, Hirschgraben–Verlag, Frankfurt)
Vorurteile
Du sagst, du hast keine Vorurteile.
Aber du lachst über die Familie des Nachbarn, weil sie am Sonntag mit dem Fahrrad in die Wälder fährt.
Du sagst, wie alle anderen: Typisch Spießer – wie kann man sich noch auf dem Fahrrad abstrampeln!
Du sagst, du hast keine Vorurteile.
Aber du lachst über die andere Schule, weil sie Latein und Griechisch lehrt.
Du sagst, wie alle anderen: Typisch Humanisten! Stehen mit einem Bein im Grab ihrer toten Sprachen.
Du sagst, du hast keine Vorurteile.
Aber du lachst über die Leute aus dem anderen Stadtviertel, weil sie in alten Häusern wohnen.
Du sagst, wie alle anderen: Typisch Proletenviertel – da möchte ich nicht geschenkt wohnen.
Du sagst, du hast keine Vorurteile.
Aber du lachst über die Leute aus einer anderen Stadt, weil sie andere Gewohnheiten haben.
Du sagst, wie alle anderen: Typisch Kleinstädter, benehmen sich bei uns wie auf dem Dorf!
Du sagst, du hast keine Vorurteile.
Aber du lachst über die Leute aus einem anderen Land, weil sie einen anderen Dialekt sprechen.
Du sagst, wie alle anderen: Typisch Norddeutsche, großes Maul und nichts dahinter!
Du sagst, du hast keine Vorurteile.
Aber du schimpfst über die Leute aus einem anderen Volk, weil sie eine andere Sprache sprechen, weil
sie anders erzogen sind als du, weil sie eine andere Hautfarbe haben, eine andere Religion, andere
Ansichten als du.
Du sagst, wie alle anderen: Typisch Franzosen, typisch Engländer, typisch Italiener, typische Russen,
Polen, Tschechen, typisch Juden ...
Du sagst: Die Ausländer – und du hast doch nur einen gekannt. Morgen kannst du den zweiten treffen.
Der ist ganz anders, als es deinem Vorurteil passt.
Aber du sagst, du hast keine Vorurteile. Und du hast recht, denn du wirfst sie über Bord, wenn du sie
nicht mehr brauchst! Denn du hast kein Vorurteil mehr gegen deinen Nachbarn, wenn er dir helfen soll.
Denn du bist ein typischer Mitläufer ...
© Lutz Krause
... oder ist das ein Vorurteil?