John Kenneth Galbraith

 Gesellschaft im Überfluss
The Affluent Society, Cambridge, MA u. a.1958
Gesellschaft im Überfluss, München/Zürich 1959
I.
John Kenneth Galbraith, 1908 als Sohn eines Lehrers in Kanada
geboren, wurde in jungen Jahren stark von der Weltwirtschaftskrise geprägt. Daraus entwickelte sich eine in allen Werken präsente Kritik am Kapitalismus, manchmal offen, manchmal versteckt. Seine Ausbildung in Agrarökonomie absolvierte er in
Toronto und an der University of California in Berkeley, wo er
1934 promoviert wurde. In den darauf folgenden Jahren arbeitete
er als Tutor für Ökonomie an der Harvard University; 1937 erhielt
er ein Research Fellowship an der University of Cambridge – und
im gleichen Jahr auch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Galbraith engagierte sich in ungewöhnlichem Ausmaß für die demokratische Partei in den Vereinigten Staaten von Amerika und beteiligte sich aktiv an Franklin D. Roosevelts Wirtschaftsprogramm
«New Deal». Während rund sechs Jahrzehnten war Galbraith, obwohl auch wissenschaftlich höchst produktiv, in verschiedensten
Aufgaben in der amerikanischen Politik und Verwaltung tätig.
So leitete er während des Zweiten Weltkriegs die amerikanische
Lohn- und Preiskontrolle; er stand dem United States Strategic
Bombing Survey vor; er war unter Präsident John F. Kennedy Botschafter in Indien; er schrieb Reden für die Präsidenten Franklin
D. Roosevelt, John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, für den er
das Reformprogramm «Great Society» entwarf. Auch die demokratischen Präsidenten Jimmy Carter und Bill Clinton legten Wert auf
sein wirtschaftspolitisches Urteil.
Neben seinen politischen Tätigkeiten war er von 1943 bis
1948 Herausgeber des Wirtschaftsmagazins Fortune, von 1949 an
lehrte er an der Harvard University Wirtschaftswissenschaften.
1972 präsidierte er die American Economic Association. Seine
Passion galt dabei dem Verfassen von Büchern und Artikeln, was
ihn zu einem der meistgelesenen Ökonomen seiner Zeit machte.
Er publizierte mehr als 40 Sachbücher, die meisten mit außergewöhnlichem Erfolg, einzelne Romane und mehr als 1000 Artikel,
in denen er bis zu seinem Tod im Jahr 2006 die Macht der Großkonzerne und die Konsumgesellschaft anprangerte.
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John Kenneth
Galbraith
«Ohne Zweifel ist der Reichtum
ein unerbittlicher Feind des
Denkens.» (S. 11)
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«In der freien Marktwirtschaft
und in Zeiten endemischer
Inflation ist es also, finanziell
gesehen, weit vorteilhafter,
Spekulant oder Prostituierte
zu sein als Lehrer, Pfarrer oder
Polizist. Und das Ganze wird von
den Vertretern des herkömmlichen Konzepts das System des
Arbeitsansporns genannt.»
(S. 239)
II.
Die Klage gegen die Konsumgesellschaft prägt auch eines der bekanntesten Werke von Galbraith, The Affluent Society, das in deutscher Sprache 1959 unter dem Titel Gesellschaft im Überfluss herauskam. Grundthese des Buches ist die Idee, Armut sei über
Jahrtausende hinweg der treibende Faktor des Wirtschaftens gewesen. Die wachsende Produktion habe dazu gedient, Hunger und
Not zu überwinden. Zumindest in der westlichen Welt sei diese
«Raison d’être» der Wirtschaft aber weggefallen. Der Grundbedarf
könne längst ohne Weiteres gedeckt werden. Weil sich die Wirtschaftsgesellschaft nicht an diese gänzlich neuen Rahmenbedingungen anpasse, komme es zur Überproduktion. Der Nutzen von
Produkten, die über den Grundbedarf hinausgehen, tendiert gemäß Galbraith gegen null. Die nicht vorhandenen Bedürfnisse
müssten deshalb überhaupt erst durch Werbung oder geschickte
Verkäufer künstlich geschaffen werden. Die Produktion fülle eine
Leere, die sie selbst erzeugt habe, woraus ein «Abhängigkeitseffekt» entstehe. Die Mehrproduktion als Selbstzweck verursache
unter anderem eine Verschuldung der Konsumenten, eine ständige Inflationstendenz sowie ein zu geringes Angebot von öffentlichen Dienstleistungen. Mit regulärer Geldpolitik könne man die
steigenden Preise nicht bekämpfen, da Zinserhöhungen nur
kleine Wettbewerber träfen, während die Oligopolisten die höheren Kosten mittels Preisabsprachen auf die Verbraucher abwälzen
könnten. Die einzig wirksamen Maßnahmen sind in den Augen
von Galbraith daher direkte Preis- und Lohnkontrollen.
Eine weitere These lautet, dass es so etwas wie ein «soziales
Gleichgewicht», ein «richtiges» Verhältnis zwischen dem Angebot
privater und dem Angebot öffentlicher Güter und Dienstleistungen gebe und dieses Gleichgewicht vor allem in den Vereinigten
Staaten von Amerika gestört sei. Das Ungleichgewicht zugunsten
der privaten Gütererzeugung zeige sich beispielsweise in der
Armseligkeit öffentlicher Einrichtungen und in der zunehmenden
Verwahrlosung und Verschmutzung der amerikanischen Großstädte.
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III.
John Kenneth Galbraiths Ansehen unter liberalen Ökonomen steht
in krassem Gegensatz zu seiner Bekanntheit oder gar Beliebtheit
in der breiteren Bevölkerung. Seine Begabung, Thesen zu entwickeln, die ein Unbehagen der Bevölkerung aufnahmen, seine für
einen Ökonomen relativ verständliche Sprache und seine Absage
an die aufkommende Mathematisierung seiner Wissenschaft
machten ihn zum Bestsellerautor. Weil er Wirtschaft richtigerweise als Teil von Gesellschaft und Kultur betrachtete, weil er die
Macht als prägenden Faktor auch der Ökonomie ansah, wurde er
von Kritikern eher als Soziologe, Politikwissenschaftler oder Journalist eingeschätzt denn als Ökonom. Dieser unsachlichen Kritik
entgegnete er einmal mit der Aussage: «Ich glaube nicht, dass jemand, der nur Ökonom ist und soziale wie politische Gedanken
ausklammert, irgendeine Bedeutung für die reale Welt hat.» Diese
Aussage könnte genauso auch von Friedrich August von Hayek
stammen, der in der Tat etwas Ähnliches einmal formuliert hat.
Vorzuwerfen ist Galbraith nicht seine breite Art des Denkens
oder seine Methodik. Hingegen wirkt das Vertrauen, das er in die
Fähigkeit des Staates setzt, die großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme zu lösen, manchmal geradezu bizarr
und, zumal für amerikanische Verhältnisse, teils sehr weitgehend. Weil er die Macht des Staates für weniger problematisch
hielt als die der Großkonzerne, schlug er beispielsweise vor, die
hundert größten amerikanischen Firmen in öffentliche Unternehmen umzuwandeln. Selbst seine großen Vorbilder John Maynard
Keynes, Joseph Schumpeter und Thorstein Veblen waren weniger
staatsgläubig als Galbraith.
Die Kritik am Versagen der Märkte und das Plädoyer für eine
Stärkung des Wohlfahrtsstaat, wie bereits in seinem ersten großen
Werk American Capitalism: The Concept of Countervailing Power
(1952) entwickelt, nahm Galbraith in Gesellschaft im Überfluss wieder auf. Letztlich stellt er eine der Grundlagen der modernen Ökonomie und der offenen Gesellschaft infrage: die Konsumentensouveränität. Das ist nahe bei dem, was Paternalisten links-grüner
Provenienz auch heute predigen. Wenn man wie Hayek nur die
wenigsten Bedürfnisse wie Essen, Unterkunft und Fortpflanzung
als wirklich grundlegend ansieht und alle anderen als Prägungen
unseres sozialen und kulturellen Umfeldes, dann stellt die Attacke
«Es ist wohl kaum sehr
vernünftig, daß wir unsere
Gier nach privaten Gütern rücksichtslos und ohne Hemmungen
befriedigen, während wir gegenüber den öffentlichen Diensten
ganz offensichtlich äußerste
Enthaltsamkeit üben.»
(S. 276)
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«Das Gemeinwesen ist reich an
privatwirtschaftlich erzeugten
Gütern, arm an öffentlichen
Diensten. Die Lösung liegt ganz
offensichtlich darin, die ersten
zu besteuern, um die zweiten
liefern zu können.»
(S. 333)
auf solche neu geschaffenen Bedürfnisse einen Angriff auf die
ganze kulturelle Errungenschaft der Menschheit dar.
Man kann von Glück reden, dass die teilweise recht vereinfachte Sicht von John Kenneth Galbraith sich nicht durchgesetzt
hat. Doch die Vorstellung vom sozialen Gleichgewicht zwischen
staatlichen und privaten Gütern und Dienstleistungen, das die angebliche Realität von privatem Reichtum und öffentlicher Armut
überwinde, hält sich hartnäckig in den Köpfen staatsgläubiger
Politiker und Bürger, ebenso wie das Bild von den übermächtigen
Großkonzernen, die sich an keine Regeln halten.
Gerhard Schwarz
Friedrich August von Hayek, The Non Sequitur of the «Dependence Effect». Southern Economic Journal, Band 27, Nr. 4 (1961), S. 346–348
Ian Macdonald, The American Economy of Abundance. The Canadian Journal of Economics and Political Science, Band 25, Nr. 3 (1959), S. 352–357
Jochen Schumann, Gesellschaft im Überfluss. FinanzArchiv/Public Finance Analysis, New Series, Band 20, Heft 3 (1959/1960), S. 473–481
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