Generation Storno

JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 4 53
Generation Storno
V
erträge sind in der heutigen Zeit offensichtlich nichts mehr wert sind.
Von wegen pacta sunt servanda und so. Pacta sunt das Papier nicht
wert, auf dem sie stehen. So sieht’s aus. Man muss ja bloß die
Nachrichten ansehen. Egal, ob es um Europa, das Klima oder die
Beschäftigungsverhältnisse von Fußballprofis geht: Wann immer über
Verträge gesprochen wird, folgt der Zusatz, dass diese ja eh nicht
ernsthaft bindend seien. Meine Kinder nehmen sich an dieser Kultur
des Regelbruchs ein Beispiel und kennen praktisch keine
Vertragsbindung mehr.
Sie tauschen auch ständig alles um. Meine Tochter hat vermutlich noch keine einzige
Hose gekauft, die sie nicht umgehend wieder zurückgegeben hätte. Sie und ihre Freunde
leben in einer Welt, in der man sich niemals festlegt. Nicht auf eine Musikrichtung, nicht auf
eine Haarfarbe, nicht auf eine Haltung, nicht auf einen Lebensentwurf. Sie sind der Alptraum
der Demoskopen und Meinungsforscher. Keine Ahnung, ob die Soziologie für diese
modernen Menschlein schon einen Begriff erfunden hat. Ich würde ja vorschlagen, wir
nennen sie „Generation Storno“. Es ist im Grunde nicht sehr schwer, mit ihr unter einem
Dach zu leben, es sei denn, man ist ein Vertragspartner alter Schule. So wie ich.
In der Hand halte ich einen Vertrag, den wir als vermeintlich moderne Familie vor einiger
Zeit abgeschlossen haben. Diese Methode zur Organisation von Alltagspflichten hatten Sara
und ich aus einer Zeitung. Darin stand, dass man mit seinen Kindern Rechte und Pflichten
schwarz auf weiß festhalten solle, um im wahrscheinlichen Krisenfall in bilateralen
Gesprächen auf Eckpunkte des Papiers verweisen zu können. Es wurde zum Beispiel
festgelegt, dass immer eines unserer Kinder entweder den Tisch decken oder abräumen
müsse. Im Gegenzug würde immer ein Elternteil kochen. Es stehen darin auch Computer–
und Fernsehzeiten, sowie Vereinbarungen zur Raumpflege, die darauf hinauslaufen, dass in
den Zimmern der Kindern nichts aufbewahrt werden darf, was zwar einen Pelz hat, sich aber
nicht bewegt. Außerdem wurde der Besucherstrom in Carlas Gemächer in der Weise
geregelt, dass Gäste keine Getränke mitbringen dürfen, dafür aber auch nicht erst zwecks
erkennungsdienstlicher Maßnahmen durchs Wohnzimmer geleitet werden müssen.
Es war ein Paragraphenwerk, gegen das die amerikanische Unabhängigkeitserklärung
wirkt wie die Bauanleitung in einem Überraschungsei. Ich war sehr stolz darauf, obwohl ich
mich darin verpflichtet hatte, sämtliche Führerscheinversuche meiner Kinder zu bezahlen,
auch wenn das Risiko besteht, dass Carla so oft zur Prüfung antritt, bis man ihr die
Fahrerlaubnis ehrenhalber verleiht. Aber egal. Ich stehe zu meinem Wort. Da bin ich
allerdings der Einzige.
Nick begann bald mit einer sehr eigenwilligen Auslegung einzelner Paragraphen. Zum
Beispiel war er der Ansicht, dass man Jacken nur dann vertragsgemäß aufhängen müsse,
wenn auch ein Bügel da sei. Der Vertragstext sei eindeutig. Wenn gerade kein Bügel frei sei:
Boden. Dann musste ich feststellen, dass er eigenmächtig und handschriftlich im Vertrag
herumgepfuscht hatte. Er müsse nur den Tisch decken, wenn es etwas gebe, was ihm
schmecke, hieß es darin eines Tages. Er fügte auch neue Absätze ein. Zum Beispiel in dem
Teil, in dem es um die Mitarbeit beim Schneeschippen geht. In Artikel drei steht nun, dass
Nick sich dazu verpflichtet jede einzelne Schneeflocke eigenhändig und prompt zu
beseitigen, und zwar in den Monaten Mai, Juni, Juli, August und September. In allen anderen
Monaten sei er dafür von diesem Dienst befreit.
Ich komme mir irgendwie betrogen vor, zumal sich an meinen Pflichten rein gar nichts
geändert hat. Aber ich freue mich darüber, dass mein Sohn offenbar das Zeug zu einem
erfolgreichen Staatsmann hat. Und es müssen ja nicht immer große historische Sätze sein,
die man so einem noch nach Jahrhunderten bewundert zuschreibt. Manchmal reichen auch
rasch hingeworfene Gedanken. Wie bei Nick. Der sah heute Morgen aus dem Fenster und
sagte dabei mehr zu sich als zu mir: „Ich liebe den Geruch von Döner in meinem
Bademantel.“ •
14. DEZEMBER 2015