Andrea Mecke Barfuß

Andrea Mecke
Barfuß
Gestern entschlief ich im Wald, da sah ich im Traume das kleine
Mädchen, mit dem ich als Kind immer am liebsten verkehrt.
Und sie zeigte mir hoch im Gipfel der Eiche den Kuckuck,
Wie ihn die Kindheit denkt, prächtig gefiedert und groß,
»Drum! Dies ist der wahrhaftige Kuckuck!« - rief ich - »Wer sagte
Mir doch neulich, er sei klein nur, unscheinbar und grau?«
Eduard Mörike, Ideale Wahrheit
„Ich gehe heute allein in den Kindergarten." Das sagt sie so einfach. Ganz nebenbei.
In einem Ton, der keine Diskussion zulässt.
Und warum sollten wir auch diskutieren? Schließlich ist sie sechs Jahre alt und kennt
das Dorf wie ihre Westentasche. Welchen vernünftigen Grund sollte es geben, den
Weg nicht allein zurückzulegen. Also nicke ich, ganz nebenbei, und diskutiere nicht.
Sie zieht sich die Sandalen an, schultert den Rucksack und lässt sich von mir noch
einmal das Unterhemd in die Hose stecken. Dann öffnet sie die Tür, geht die Treppe
herunter, dreht sich noch einmal um und winkt - ihr ganz eigenes Winken, bei dem
die Hand durch die Luft flattert wie ein aufgeregtes Hühnchen. Ich winke zurück.
"Pass an der Straße auf!"
Sie verdreht die Augen und nickt, dann dreht sie sich um, geht los. Ich sehe, dass
ich ihr die Hose zu weit hochgezogen habe. Man sieht die Socken und sogar ein
Stück Bein. Das stört sie aber nicht, es ist warm.
Sie balanciert über die niedrige Mauer, die den Vorgarten der Nachbarn umsäumt,
und wie jeden Morgen macht sie einen kleinen Hopser über die gelben Blumen, die
wie ein Kissen über die Steine wachsen. Der Rucksack hüpft mit. Am Ende der Mauer springt sie herab und dreht sich noch einmal um. Ängstliche Augen suchen mich,
halten sich an mir fest, dann ein Lächeln.
Und plötzlich stehe ich nicht mehr an der Haustür und sehe ihr nach. Jetzt bin ich
es, die fortgeht, einen Rucksack auf dem Rücken, die sich noch einmal umdreht, gefangen von der plötzlichen Angst, die Tür könnte schon geschlossen und der Abschied ohne mein Wissen besiegelt sein. Aber da steht sie noch, meine Mutter, und
ich winke ein letztes Mal, lächle zurück. Jetzt nehme ich endgültig Abschied, bevor
ich weitergehe und den Blick nach vorne richte.
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Noch einmal flattert die kleine Hand durch die Luft. An dieser Stelle habe ich sonst
immer zu ihr gesagt: "Gib mir die Pfote, Kojote", dann hat sie gelacht und mir ihre
kleine, weiche, klebrige Kinderhand hingestreckt. Jetzt biegt sie allein um die Ecke.
Auch ich biege um eine Ecke, in einem anderen Dorf, gehe an der langen Hecke
entlang, lasse meine Finger über den Holzzaun gleiten und wiederhole im Rhythmus
meiner Schritte noch einmal das Vaterunser, dass ich heute auswendig können muss,
damit ich ein Oblatenbildchen bekomme, einen Blumenkorb, vielleicht sogar einen
Engel, wenn ich es gut mache.
Das Vaterunser muss meine Tochter nicht lernen, aber wahrscheinlich murmelt sie
auch etwas vor sich hin, einen Abzählreim, „ich kenne eine Frau, die hat Augen aus
Kakao“ oder „auf einem Gummi-Gummi-Berg, da wohnt ein Gummi-GummiZwerg“. Dabei hat sie den Blick nach unten gerichtet, auf der Suche nach Schnecken
mit hellgelben, zartgewundenen Häusern, die sich auf die Straße verirrt haben und
die sie retten muss. Bestimmt ist sie jetzt schon unten an der Ecke, da, wo wir immer
die graugetigerte Katze treffen, die sich streicheln lässt. Am Dorfteich dann hält sie
ängstlich Ausschau, ob die beiden dicken, weißen Enten noch da sind. Das tut sie
immer, ängstlich deswegen, weil die anderen Kinder ihr erzählt haben: Wenn die mal
nicht mehr da sind, dann wurden sie geschlachtet.
Sicher sind die Enten noch da und dümpeln träge vor sich hin, so wie jeden Morgen. Hoffentlich.
Einen Teich gab es nicht in meinem Dorf, aber einen Brunnen. „Kein inkwasser“
stand in weißen Buchstaben auf schwarzem, lädierten Emaille an dem steinernen
Trog, das „T“ und das „r“ waren abgeplatzt. „Wer daraus trinkt, der wird ein Reh“,
das habe ich lange geglaubt, und natürlich habe ich wie das Kind im Märchen eines
Tages daraus getrunken, bin aber kein Reh geworden.
Ob sie den direkten Weg zum Kindergarten geht? Ich habe es nicht getan. Hinter
dem Gasthaus habe ich mich stets durch eine Lücke zwischen Mauer und Zaun gedrückt, bin im Schatten einer verwitterten Hauswand durch hohes Gras geschlichen,
an einem Holzstapel vorbei, durch eine Seitentür in eine Scheune geschlüpft und habe hier eine kurze Pause eingelegt. Habe mich umgesehen in dem dämmrigen Licht,
das durch die Ritzen fiel und in dem Staubkörner tanzten, vorsichtig die Sensen berührt, die an der Schuppenwand lehnten, bin auf die Deichsel des Anhängers geklettert. Dann habe ich nach oben gesehen und mit Schaudern die Heuluke über mir betrachtet, eine Luke wie die, durch die Dorothea gefallen war, ein stilles, blasses Kind
mit dünnen Zöpfen, Tochter eines Bauern, die einer jungen Katze auf den Heuboden
gefolgt und durch die Luke auf den betonierten Boden gefallen war. Der ganze Kindergarten ist zur Beerdigung gekommen, ich habe weißen Flieder in das offene Grab
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geworfen und hinterher so geweint, dass ich vor Schluchzen nicht mehr atmen konnte, nicht, weil Dorothea tot war, sondern weil ihr Vater am Grab geweint hatte. Dass
Väter weinen konnten, hatte ich nicht gewusst.
Habe ich meiner Tochter gesagt, dass sie nicht auf Heuböden klettern darf? Habe
ich sie vor den Gefahren im Dorf ausreichend gewarnt? Kenne ich die Gefahren überhaupt? Der Heuboden, die Sensen – die waren für mich nicht gefährlich. Ernst
wurde es erst, wenn ich aus dem angelehnten Scheunentor herausgeschlüpft und in
die schmale Gasse kurz vorm Kindergarten gebogen bin, die links von einer fensterlosen Hauswand und rechts von einer Gartenmauer begrenzt wurde. Stand hier ein alter Leiterwagen, dann war ich verloren. Dann würden innerhalb von wenigen Sekunden die beiden Buben über die Mauer springen, die Schubers, mich packen und quälen. Zum Fliehen war es zu spät. Wenn ich den Wagen sehen konnte, hatten sie mich
stets längst erspäht. Sie waren älter als ich, schon in der Schule, aber in der Sonderschule, weil sie schwer erziehbar waren, so wurde gemunkelt. Lang, dünn, schlaksig,
rothaarig der eine, dunkelhaarig der andere, mit dünnen Lippen und hungrigem Blick.
Sie haben sich mir in den Weg gestellt, der eine vorn, der andere hinten, und dann
haben sie mich verhöhnt, gefragt, warum ich so blöd glotzen würde, warum ich plärren würde wie ein Mädle, ob ich etwa auch noch ins Bett seuchen tät wie a Bäbi. Ich
war ein Mädchen, aber das sah man nicht, meine Mutter fand kurze Haare praktisch.
Manchmal haben sie mich hin- und hergeschubst, einmal haben sie mir sogar den
Rucksack weggenommen und ihn über die Mauer geschmissen. Geschlagen allerdings haben sie mich nie. Irgendwann durfte ich dann weitergehen, bin weggerannt
und habe schließlich atemlos den Kindergarten erreicht.
Soll ich meiner Tochter nachgehen, vorn fern beobachten, ob jemand sie quält?
Würde sie es mir sagen? Ich habe meinen Eltern nie von den Schubers erzählt, und
erst jetzt, hier an der Haustür, fällt mir ein, warum ich geschwiegen habe. Die Schubers waren gefährlich. Auf der verwilderten Wiese gegenüber vom Kindergarten hatten sich die beiden eine Hütte gebaut, ein solides Haus aus Ziegelsteinen mit einem
Bretterdach. Eines Nachmittags beobachteten meine Freundin und ich, wie die beiden
mit ihrer Mutter in den Bus stiegen. Wir nutzten die Gelegenheit, die Hütte zu inspizieren und machten in ihrem Inneren eine ekelhafte Entdeckung: Da lagen weiße Federn mit blutigem Kiel, darauf zwei abgeschnittene Hühnerkrallen. Hinter der Hütte
entdeckten wir die Reste eines Feuers, daneben abgenagte Knochen. Wie die Kannibalen, so schien es uns, hatten die beiden hier gehaust und ein unschuldiges Huhn
gemetzelt. Wer so etwas tat, der hatte auch vor Erwachsenen keinen Respekt, ja, der
war vielleicht sogar imstande, sie ebenfalls zu quälen und zu schikanieren. Und von
den Eltern der Schubers war keine Hilfe zu erwarten. Die Mutter, gebeugt und abge-
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härmt, hatte denselben hungrigen Blick wie ihre Söhne, nur dass ihre Augen abirrten,
so wie auch ihr Verstand abirrte auf verschlungene Pfade. Und einen Vater hatten die
Schubers nicht.
Im Kindergarten angelangt, hatte ich die beiden stets schnell vergessen. Seltsam eigentlich: Nie hatte ich Alpträume deswegen, nie habe ich versucht, mich vor dem
Weg in den Kindergarten zu drücken, ich habe die beiden einfach hingenommen wie
etwas Unabänderliches. Und die Erinnerung an mein Dorf haben sie mir nicht getrübt. Die schäbigen Häuser, die schadhaften roten Dächer, die Misthaufen vor den
Türen, die stupfenden Stoppelfelder und die verwilderten Obstbaumwiesen – rückblickend waren sie immer von Sonne beschienen, roch es hier stets nach frischgeschnittenem Gras, und in meinen Träumen laufe ich immer noch barfuß durch die Straßen
und bohre mit den Zehen in dem weichen, sonnenwarmen Teer, mit dem die Löcher
im steinigen Asphalt ausgebessert worden waren. Auch an die Gesichter meiner
Freundinnen erinnere ich mich noch, an Bärbel, deren Hände eines morgens braun
vom Saft der Walnussschalen waren und die einmal ein Hühnerei mitgebracht hat,
das ohne Schale gelegt worden war. An Sabine, die mit ihrer aufgestülpten Nase und
ihren dicken Augenlidern immer aussah, als ob sie geweint hatte und die ich deswegen immer besonders sanft behandelt habe, bis eines Tages ihre Mutter kam, um sie
abzuholen, und ich merkte, dass sie dieselbe Nase und dieselben Augen hatte. An
Sandra, die keiner mochte, und die sich Freundschaften mit Süßigkeiten erkaufte, und
an Erika, die so dick war, dass keiner mit ihr spielen wollte, bis der Pfarrer einige von
uns herausgriff und im wahrsten Sinne des Wortes ins Gebet nahm, so dass wir von
da an für unser Seelenheil mit Erika spielten. Ich erinnere mich auch noch an den
hellblonden Michael, in den ich heimlich verliebt war und an Jochen mit den starken
Augenbrauen, der so rot werden konnten wie das Regal mit den Märchenbüchern,
wenn er die Luft anhielt, was er, unserer großen Bewunderung sicher, auch regelmäßig tat. Ich kann sie alle noch vor mir sehen, wenn ich die Augen schließe.
Seltsam auch, dass ich mich Ihnen immer zugehörig fühlte, obwohl ich hochdeutsch war, reingeschmeckt und katholisch, obwohl wir im Neubaugebiet wohnten
und nicht im alten Ortskern. Solche Unterschiede gab es nicht, viel wichtiger war,
wer fünf war und wer schon sechs, wer schnell rennen konnte und wer mehr Sammelbilder hatte als die anderen.
Und so ist es jetzt auch bei meiner Tochter: Sie wirbt um die Freundschaft von
Andrea, die zu Hause einen Schweinestall hat und sieben Katzen, sie beneidet Jenny,
weil sie von ihren zahllosen Cousinen insgesamt 18 Barbiepuppen geerbt hat und sie
bewundert Max, weil er erst fünf ist und schon freihändig Fahrrad fahren kann.
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Und jetzt geht sie allein in den Kindergarten. Sie bewohnt dieses Dorf, wie wir das
nie wieder tun können, und sie wird sich an die Wiesen, an die Zäune, an die Scheunen, an die Gassen und an die Gesichter ihrer Freunde noch erinnern, wenn sie die
ersten grauen Haare bekommt.
Jetzt ist sie bestimmt im Kindergarten angekommen. Alle Abenteuer sind bestanden. Ich verlasse meinen Posten an der Haustür, betrachte im Flurspiegel meine ersten Falten, greife dann den Autoschlüssel von der Ablage und verlasse das Haus.
Heute arbeite ich nicht. Heute fahre ich die paar Kilometer zu meinem Dorf und sehe
nach, ob die Scheunentür immer noch nur angelehnt ist.
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