Redebeitrag - Nürtinger STATTzeitung

Redebeitrag Manuel Werner zur Enthüllung der Holzskulptur Anton Köhler als
„Wächter der Erinnerung“ am 26. Juli 2015:
Anton Köhler,
eines der so genannten Sinti-Kinder von Mulfingen, auf dem Foto rechts vorne in
Habacht-Stellung,
Anton Köhler wurde nicht 88 Jahre alt wie die soeben verlesenen
Gemeindemitglieder,
Anton Köhler durfte nicht einmal 13 Jahre alt werden.
Wir sind heute zusammen, weil er beispielhaft ausgewählt wurde als „Wächter der
Erinnerung“ an alle Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen,
ob sie nun geistig Behinderte, Zwangsarbeiter, Juden, Kommunisten oder sonstwas
waren. Ich bedanke mich für diese Wahl bei Robert Koenig und Jakob Fuchs, denn
ich freue mich sehr, dass hierfür ein Sinto gewählt wurde. Auch freut mich, dass Sinti,
Romnija und Roma der Einladung gefolgt sind. Hinweisen möchte ich auf den
Büchertisch zum Thema, den Michaela Saliari hinten aufgebaut hat. Sie ist wie ich im
Arbeitskreis Sinti/Roma und Kirchen Baden-Württemberg.
Anton Köhler: geboren 1932 in Nürtingen – ermordet 1944 in Auschwitz-Birkenau.
Das steht als knappe, sachliche Überschrift auf meinem Redemanuskript. Welche
schrecklichen Dinge, welches Grauen steckt bereits in dieser dürren
Apostrophierung?!
Im Anschluss an meinen Redebeitrag bitte ich deshalb nicht um Applaus, auf keinem
Fall, sondern ganz im Gegenteil um eine Schweigeminute, nicht jetzt also die
Schweigeminute, sondern nach dem, was Sie in diesen zehn Minuten an Impulsen
zu Anton Köhlers kurzem Leben, großem Leid und grausamem Lebensende und den
Folgen hören und vielleicht aufnehmen.
Bereits gut vier Monate nach Anton Köhlers Geburt in Nürtingen kam Adolf Hitler an
die Macht, man kann auch sagen, ihm wurde die Macht gegeben.
Zehn Jahre nach Anton Köhlers Geburt vergaste und verbrannte die SS seinen
Vater, denn er konnte im KZ Dachau geschwächt dort nicht mehr arbeiten, und somit
war er nichts mehr wert, für die SS und für die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Bleibt
die Mutter. Doch auch sie, Hilda Köhler, geborene Winter, durfte nicht bleiben. Ein
Jahr später, elf Jahre nach der Geburt von Anton Köhler, wurde sie von der Kripo
nach Stuttgart beordert, und von dort zusammen mit anderen Sinti nach AuschwitzBirkenau deportiert. Der Vater ermordet, die Mutter, folglich waren die Kinder - schon
vorher für die Planer absehbar - Waisen und deswegen schon zuvor in die für SintiKinder vorgesehene St. Josefspflege ins abgelegene Mulfingen eingeliefert, in die
Obhut eines katholischen Waisenheimes, in die trügerische Obhut eines katholischen
Waisenheimes, in die trügerische Obhut der Kirche. Dort, in Mulfingen, wurden sie
als Untersuchungsobjekte für eine pseudowissenschaftliche Doktorarbeit
missbraucht. Diese sollte beweisen, dass bei - in Anführungszeichen -
„Zigeunerkindern“, auch eine - ich zitiere – „artfremde Erziehung“ – Zitat Ende - wie
im Heim in Mulfingen nichts bringt. Frau Dr. Eva Justin empfiehlt in ihrer Doktorarbeit,
auch wenn ich den Text schwer ertragen kann, zitiere ich zwei Sätze daraus, sie
schrieb: "Erziehen wir einen Zigeuner, und läßt er sich in deutschen Verhältnissen
überhaupt halten“ - ich wiederhole „und läßt er sich in deutschen Verhältnissen
überhaupt halten“ - „so bleibt er infolge seiner mangelhaften Anpassungsfähigkeit in
der Regel doch mehr oder weniger asozial... Alle Erziehungsmaßnahmen für
Zigeuner und Zigeunermischlinge, einschließlich jeder Form der Fürsorgeerziehung
oder Erziehungsfürsorge sollten daher aufhören.“ – Zitat Ende. – Sofort nach der
Druckauslieferung dieser „Dissertation“ – dadurch war formal der Doktortitel für Eva
Justin gesichert - folgte das gewaltsame Abschieben Hauptsache weit weg von hier
und die dortige Vernichtung. Folglich wurden all die Geschwister auf diesem Foto,
auch Anton Köhler, von der SS, die letztlich ausführte, was Politik war, vergast und
verbrannt, wie deren Eltern zuvor. Bis auf die einzige Überlebende auf diesem Foto,
Waltraud Köhler, hier mit einem Kranz aus Wiesenblüten im Haar, die überlebte,
denn sie war zum Zeitpunkt des in Anführungszeichen „schönen Ausflugs“ nicht in
der Obhut der St. Josephspflege. Zum Glück. Die Frau Dr. Eva Justin wurde nie von
der Justiz belangt. Im Namen des Volkes. Anton Köhler erhielt beim Eintreffen im
Vernichtungslager Birkenau die Nummer Z-9878 zugewiesen, „Z“ für „Zigeuner“.
Überlebende Rückkehrer hatten diese Nummer zeitlebens eintätowiert am Unterarm.
Dennoch wurden sie von der Mehrheitsbevölkerung so behandelt, dass auch ihre
weitere Lebenserkenntnis war wie vor: Zitat: „Wir sind egal wo der Dreck“, wie mir
der Sohn eines Nürtinger Einwohners über die Lebenserkenntnis der Rückkehrer aus
den Lagern sagte, unwillkommen zurück in ihrer Heimat. Sein Vater ist in einer
Nürtinger Mieterkarte der NS-Zeit als „Zig.“ – das steht für „Zigeuner“ - und als
Einwohner einmal in der Mühlstraße und dann des Lagers Linder verzeichnet,
letzteres war zwischen der Plochinger Straße und der Kanalstraße, ersteres die
Mühlstraße, beides damals Orte für Unterkünfte für seinen Vater, beides damals wie
heute Unterkünfte.
Die damals 16jährige Johanna Köhler, eine Schwester von Anton Köhler, auf
unserem Foto hinten rechts, nun die verbliebene Ältere, wusste es. Sie warf sich kurz
vor ihrer „Deportation“ am 9. Mai 1944 in der Mulfinger St. Josefspflege auf ihr Bett
und fragte weinend: „Warum muss ich sterben, ich bin doch noch so jung?“. Ein
jüngeres Sinti-Mädchen in Mulfingen fragte bei ihrem Abtransport misstrauisch:
"Warum müssen wir denn in ein Lager, wir können doch nicht schaffen wie unsere
Eltern, wir sind doch noch so klein?". An beide klagende Äußerungen erinnerte sich
deren Lehrerin Johanna Nägele, die die Kinder in der St. Josefspflege unterrichtet
hatte und die dieses Foto gemacht hat.
"Wer hat schon um diese Kinder geweint?" fragte Angela W., ich anonymisiere ihren
Nachnamen, sie war eines der Sinti-Kinder der katholischen St. Josephspflege in
Mulfingen, eine der wenigen Überlebenden. Von der so genannten
„Rassenhygienikerin“ und „Kriminalbiologin“ – diese damaligen zwei Bezeichungen
sprechen für sich - „Rassenhygienikerin“ und „Kriminalbiologin“ Dr. Eva Justin war
Angela, die kleine […], in meiner Heimatstadt […] als kleines Mädchen als – ich
zitiere – „Zigeuner-Mischling (+)“ – klassifiziert worden, nachdem sie im Wald meiner
Kindheit, in dem sie sich ab Oktober 1939 lange versteckt hatte, von Kripo und
anderen Häschern letztlich in einem Schafstall aufgespürt und gegriffen worden war,
dort herausgezerrt, dann „klassifiziert“, bevor sie nach Mulfingen eingeliefert wurde.
Ich kürze den Nachnamen von Angela W. ab, um hier ganz in der Nähe lebende
Nachfahren zu schützen, sie nicht zu outen. Vielleicht fragen sie sich: Warum wollen
diese Sinti sich denn nicht outen? Wenn sie die Gründe dessen herauskriegen
wollen, sind Sie auf einem guten Weg. Angela W. also sagte als 66-Jährige: „In allen
Jahren meines Lebens musste ich immer wieder an die Zeit in der Heiligen St.
Josefspflege und den Abschied von den Kindern denken. Ich kam nie davon los.
Noch immer sehe ich den Bus vor mir, in den die Kleinen fröhlich einstiegen, die
älteren Kinder aber weinend und mit Schlägen hineingedrängt wurden.
Wer hat schon um diese Kinder geweint. Ich habe immer wieder um sie weinen
müssen, in all den Jahren.“, sagte Angela W. „Aber sie werden nicht mehr lebendig
von meiner Trauer.
Wer hat schon um diese Kinder geweint?“ Zitat Ende.
Wer hat schon um diese Kinder geweint?" Welch ein Satz! Sie meinte damit, und das
berechtigt: Wer hat uns zuhören wollen, von uns wissen wollen, uns Raum
einräumen wollen, gar Anteilnahme gezeigt, gar um diese Kinder geweint? Vielleicht
eine gute Fee oder eine seltene Prinzessin, die sich behutsam annähert, interessiert,
mehr wissen will, die aufgrund ihres dann gewonnenen Erkenntnisstandes weiß und
handelt – und dann angesichts N[…]s Nummer Z-5[…] am Arm nichts mehr sagt,
Worte fehl am Platz findet, und nur weint, mit ihr mitweint. Mitten unter Ihnen, die Sie
hier sitzen, hat sich diese Prinzessin niedergelassen, doch sie ist extra von weit
hergekommen, besucht uns für diese zehn Minuten, und wird wieder weit weg gehen,
Ihnen, die Sie hier sitzen, bleibt dann überlassen, ob sie nach Ihrem Beispiel handeln
oder nicht.
D[…] - Wir haben die Ehre, dass ein in Nürtingen geborener Sinto, in Nürtingen
geboren wie Anton Köhler, jetzt die Kerze entzündet, für Anton Köhler und die
anderen.
(– […] entzündet die Kerze! -)
Ein vorletzter Impuls: Eine Überlebende der Sinti-Kinder von Mulfingen, Amalie
Schaich, erinnert sich an die letzten Worte ihrer jüngeren Schwester Scholastika bei
ihrem letzten Zusammentreffen im „Waisenblock“ von Auschwitz-Birkenau. Ich zitiere
sie: "Als ich meine jüngeren Geschwister das letzte Mal sah, da hat mein
Schwesterle beim Abschied gesagt: ,Du gehst und wir werden verbrannt.’ Das waren
die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Das vergesse ich nie!" Zitat Ende.
Woher um aller Welt hatte Scholastika Reinhardt die fürchterliche Horror-Vorstellung
verbrannt zu werden? Nun, die Nürtinger, die mit dabei waren bei der „AuschwitzStudienfahrt“ in diesen Lagerabschnitt, die haben es gesehen: Zwei Krematorien und
Gaskammeranlagen waren durch den elektrischen Zaun direkt sichtbar neben dem
Lagerabschnitt des Waisenblockes, Lastwagen fuhren menschenbeladen hin, und
leer zurück, und aus den hohen Schornsteinen schlugen danach die hohen
Flammen. Das verstehen Kinder, das ist kinderleicht zu verstehen, und doch nicht zu
verstehen. Die SS-Männer befahlen ihnen: „Wenn man euch fragt, was das ist, das
ist eine Bäckerei“. Dazu kann man als wissendes Kinder nach einiger Überlegung nur
stumm und heftig nicken, dort, deportiert in den absoluten Horror.
Gestatten Sie als einen letzten einminütigen Impuls Anton Köhlers letzte Begegnung
mit der Mehrheitsbevölkerung. Die jüdische Kinderfachärztin Lucie Adelsberger, sie
war bis dahin von der SS in diesen Lagerabschnitt abkommandiert, schildert das
schreckliche Ende der Kinder aus dem Waisenblock: "Ehe ich zu meinen Kindern in
den Waisenblock eilen konnte, war die Lagerstraße schon von schußbereiter SS
abgesperrt, die in enggliedrigen Ketten zu beiden Seiten aufgepflanzt war. Schnell
flüchtete ich zu den Kollegen in den Infektionsblock... In der Ferne fuhren Autos an,
und verschwanden wieder in der Stille. Dann wurde das An- und Abfahren und das
Bremsen immer deutlicher. Gegen halb 11 Uhr hielten sie vor unserem Block. War es
soweit? Unser Tor blieb verschlossen. Es galt nicht uns sondern dem Waisenblock
gegenüber. Wir hören die kurzen Befehle der SS, das Kreischen der Kinder. Ich
erkenne die einzelnen Stimmen. Die älteren wehren sich hörbar, rufen um Hilfe,
brüllen Verrat, Schufte, Mörder!
Ein paar Minuten nur und die Autos fuhren davon, das Geschrei verhallt in der Nacht.
Nach einer knappen halben Stunde kehren die Wagen zurück…“
Der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß schrieb einen Satz dazu: „Es war nicht
leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen". --------------------------Nun bitte ich Sie um die zuvor angekündigte eine Schweigeminute, für Anton
Köhler, und all die, wofür er als „Wächter der Erinnerung“ bereits draußen steht und
wacht! Geste. (= Ich bitte darum, dass Sie dazu aufstehen.) – - [volle Minute!] Danke.
------------------------------(Text und Redebeitrag: Manuel Werner, zur Enthüllung der Holzskulptur Anton Köhler als Wächter der
Erinnerung, Nürtingen, vom 26. Juli 2015, Mithilfe bei der Auswahl der Inhalte Monika Schmied, dies
ist die tatsächlich, teils spontan gesprochene Textform aus der Erinnerung, mit Auslassungen für
diese Druckversion, diese sind mit […] gekennzeichnet, alle Rechte vorbehalten)