Case Studie – Walid

Fallstudie
Walid*, 17 - kurdischer Flüchtling, Deutschland
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Freigegeben am 12.Oktober 2015 durch Claudia Kepp. Bearbeitet von Diane Nakschbandi am 12. Oktober 2015.
Kind/Erwachsener
Thema
Walid* (17), seine Mutter Shams* and seine Brüder Tawfiq* (12) und Nidal* (4)
Flüchtlinge, Syrien
Zusammenfassung
Walid* ist 17 Jahre alt und lebt mit seinen zwei Brüdern und seiner Mutter in einem kleinen Dorf. Als die Lage in Syrien immer
gefährlicher wurde, beschloss die Familie das Land zu verlassen. Auf der Flucht stießen sie auf eine Straßenblockade einer
bewaffneten Gruppe und was dort geschah, traumatisierte die gesamte Familie. Sie hatten nicht genug Geld für die Flucht der
gesamten Familie, also blieb der Vater, Schulrektor, zurück in Syrien. Die Familie hofft, dass er bald zu ihnen stoßen kann. Die
gesamte Familie lernt Deutsch und die Kinder werden bald zur Schule gehen, damit sie schneller die Gepflogenheiten lernen und sich
integrieren können. Sie haben eine 92-jährige Nachbarin, die täglich nach ihnen schaut, für sie kocht, im Haushalt hilft und den Kindern
Deutsch beibringt.
Walids* Geschichte in eigenen Worten
Ich kam am 4. August 2015 hierher. Davor waren wir in zwei verschiedenen Städten in Deutschland. Syrien haben wir bereits im April
dieses Jahres verlassen. Nach Deutschland sind wir im Juni eingereist. Es war nicht sicher und wir hatten Angst. Als wir flohen war uns
eine bewaffnete Gruppe dicht auf den Fersen. Wir sind von 11 Uhr morgens bis 5 Uhr morgens am nächsten Tag gelaufen. Das sind
keine Menschen, das sind keine Muslime. Meine Mutter trägt normalerweise keinen Schleier, aber sie zwangen sie dazu. Einmal
konnte mein kleiner Bruder sie nicht finden. Da hat sie den Schleier abgenommen, damit er sie erkennt und das hat einen der
bewaffneten Kämpfer so böse gemacht, dass er rüber kam, sie anschrie und bedrohte. Mein Vater musste trotz der Gefahr in Syrien
bleiben. Das Geld für die Schleuser reichte nicht für die ganze Familie. Er blieb zurück und versucht, mehr von unseren Sachen zu
verkaufen. Auch das Haus, falls möglich. Er ist Schulleiter und wir sprechen jeden Tag über Skype mit ihm, wenn er Strom hat. Die
bewaffnete Gruppe ist nun 30 Minuten von der Stadt entfernt, in der mein Vater ist.
Griechenland war hart. Wir schliefen neun Tage lang im Wald und es hat geregnet. Es war gar nicht sicher - es gibt Tiere im Wald.
Mein kleiner Bruder wurde während der Flucht von uns getrennt. Drei Tage lang haben wir ihn nicht gefunden. Wir haben geweint und
geweint. Nidal* war traumatisiert. Er spricht nie darüber. Als wir ihn endlich drei Tage später fanden, hat er gleichzeitig geweint und
gelacht - es war unbeschreiblich. Wäre es mir passiert, wäre das OK gewesen, aber Nidal* ist nur ein Kind. Meine Mutter bricht
manchmal zusammen. Es wird unser glücklichster Tag sein, wenn wir unseren Vater wieder sehen.
Wir haben alle Albträume. Wir haben gesehen, wie Kämpfer zwei Menschen töteten, als wir eine Nacht während der Flucht auf dem
Boden einer Schule verbrachten. Ich werde es nie vergessen. Meine zwei Brüder haben es auch gesehen. Manchmal scheint Nidal* zu
versuchen, sich selbst zu verletzen. Als wir Syrien verlassen haben, hatte ich noch etwas Gepäck, aber das habe ich entweder
zurückgelassen oder es ging verloren. Mit den Kleidern, die ich dabei hatte, habe ich Feuer gemacht oder mein Gesicht gewaschen.
Ich habe meinen Ausweis nicht mitgenommen. Das hätte es nur noch gefährlicher für mich gemacht, Ich habe auch keine Papiere oder
Zeugnisse mitgebracht. Warum auch? Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. Ich habe vor kurzen mit einem
Deutschkurs begonnen und wenn alles wie geplant läuft, dann werde ich ab nächsten Monat, Oktober, in die Schule gehen. Ich kann es
kaum erwarten.
Es leben vor allem alte Leute hier (die Stadt hat 8000 Einwohner). Ich muss in die Schule, um Freunde zu finden. Ich mag Sprachen
sehr. Ich spreche Kurdisch, Arabisch, Englisch und nun etwas Deutsch. Ich habe auch Französisch gelernt. Ich möchte Schauspieler
werden. In Syrien hatte ich Schauspielunterricht. Uns wurde gesagt, es gäbe einen Kindergartenplatz für Nidal*. Ich wünschte, ich
könnte die Uhr zurückdrehen, bis dahin, als alles noch OK war und wir sicher waren. Meine Mutter möchte unbedingt, dass wir alle zur
Schule gehen und keine Angst mehr vor Bomben haben müssen. Ich wünschte, mein Vater wäre hier. Der Krieg kam immer näher,
deswegen mussten wir gehen. Ich konnte auch nicht zur Schauspielschule gehen. Es scheint auch nicht, als ob sich daran etwas
ändern wird. Die Gesellschaft ist so tief gespalten.
Während der Flucht, als wir kurz vor der türkischen Grenze waren, wurden wir immer wieder an Straßenblockaden kontrolliert. Durch
die ersten fünf sind wir problemlos durchgekommen. Aber die sechste Blockade wurde von einer bewaffneten Gruppe kontrolliert. Die
Schleuser hatten uns in zwei LKW gepackt und fuhren hintereinander. Als die bewaffneten Männer den Fahrer fragten, was er
transportiert, sage er "nur Schafe". Als die Kämpfer uns fanden und begriffen, dass der Fahrer sie belogen hatte, taten sie, als ob sie
ihn töten würden. Mein kleiner Bruder stand neben dem Fahrer als die Kämpfer mehrfach in seine Richtung schossen. Mein Bruder
stand unter Schock. Meine Mutter trug zu diesem Zeitpunkt einen schwarzen Schleier, was sie sonst nicht tut. Um ihn zu beruhigen, hat
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Fallstudie
sie den Schleier angehoben, aber das machte die Kämpfer noch wütender und sie drohten ihr. Als sie versprach, das nie wieder zu tun,
ließen sie sie gehen. Aber sie begannen, die Männer von den Frauen und Kindern zu trennen. Mich hielten sie zwei Tage lang fest. Sie
wollten, dass ich mich ihnen anschließe. Ich hätte 100 Euro pro Monat verdient und sie versprachen mir, dass ich ein Scheich werden
würde. Ich sagte, ich könne nicht, da ich auf meine Mutter und meine Brüder aufpassen müsse. Ich glaube, es war ein Wunder, dass
sie mich gehen ließen. Ich habe immer noch Albträume, in denen sie mich erschießen, weil ich Nein sage. Ich bin so dankbar, dass ich
nur zwei Tage in ihrer Gefangenschaft war. Ich will mir gar nicht vorstellen, was andere erleben, die Monate oder sogar Jahre gefangen
sind. Meine Brüder hatten so viel Angst, dass sie in die Hosen machten. Mein kleiner Bruder macht manchmal immer noch in die Hose.
Wir haben versucht, über Bulgarien nach Deutschland zu kommen, wurden aber jedes Mal von der bulgarischen Polizei aufgegriffen
und zurück in die Türkei geschickt. Letztlich haben wir es geschafft, über Mazedonien einzureisen. Wir sind nun seit vier Monaten in
Deutschland und ich bin wirklich glücklich. Seit ich fünf Jahre alt bin, habe ich meinem Onkel (der bereits in Deutschland lebte) gesagt,
dass ich in Deutschland studieren möchte, wenn ich groß bin. Unser Onkel, der in Nürnberg lebt, unterstützt uns. Ich habe ihn vor
kurzem besucht. Mein größter Wunsch ist, dass mein Vater zu uns kommt und ich will immer noch Schauspieler werden. Jetzt kann
mich niemand mehr daran hindern.
Das Interview führte Hedinn Halldorsson während eines Besuches in Deutschland im September 2015.
Walids* Geschichte in den Worten seiner Mutter
Einer der größten Schocks der Reise war unsere Begegnung mit der bewaffneten Gruppe. Schlimmer war jedoch, als wir drei Tage
lang unseren Kleinsten verloren hatten. Wir waren eine große Gruppe von Flüchtlingen, irgendwo in den Wäldern Bulgariens. Von Zeit
zu Zeit kam ein Kleinbus und nahm so viele Flüchtlinge mit, wie hineinpassten. Unser jüngster Sohn konnte nicht mehr laufen und ich
selbst war zu müde, um ihn zu tragen. Ein syrischer Mann, der ebenfalls floh, hat ihn dann auf den Schultern getragen. In diesem
Moment kam wieder ein Kleinbus und der Mann stieg mit unserem kleinen Sohn auf den Schultern ein. Genau in dem Moment, als
meine anderen Söhne und ich einsteigen wollten, kam ein Polizeiauto. Der Kleinbus beschleunigte und raste davon, die Polizei
hinterher. Wir waren gelähmt vor Schreck. Wir wussten nicht was tun. Wir weinten die ganze Zeit. Endlich, nach drei Tagen kam noch
ein Kleinbus und brachte uns zu einem verlassenen Haus. Wir trauten unseren Augen nicht, als wir in dem Haus eine Familie sahen,
die sich um unseren kleinen Sohn kümmerte. Er weinte und lachte gleichzeitig, als er uns sah. Später auf der Flucht bin ich fast in
einen sieben Meter tiefen Kanal gefallen, aber im letzten Moment bekam ich die Hand einer anderen Person zu fassen. Wir skypen
jeden Tag mit meinem Mann. Normalerweise gibt es gegen 2 Uhr nachmittags in Syrien Strom, aber oft funktioniert es nicht. Gestern
hatte er drei Minuten lang Strom und wir konnten uns schreiben (sie zeigt ihr Smartphone mit dem Chat).
Informationen zum Setting
Die dreiköpfige Familie lebt in einer kleinen Wohnung in einer Kleinstadt. Sie schlafen alle zusammen in einem Schlafzimmer. Die 80jährige deutsche Nachbarin hilft ihnen viel und kommt sie täglich besuchen. Gegenüber wohnt eine serbische Familie, die auch
arabisch spricht. In der Nähe der Wohnung gibt es einen Park mit einem kleinen Teich. Dort geht Walid* hin, wenn er allein sein will. In
der Wohnung stehen nur wenige Möbel und an den Wänden hängen keine Bilder. Man sieht, dass die Familie eben erst eingezogen ist.
Projektinformationen und wichtige Daten und Fakten
Es wird davon ausgegangen, dass 2015 etwa 800,000 Flüchtlinge (jüngste Zahlen sprechen von bis zu 1,5 Mio.) nach Deutschland
kommen werden. Gegenwärtig stammt die Mehrheit der Asylbewerber in Deutschland aus Syrien. Im Durchschnitt dauert die Prüfung
eines Asylantrags 5,3 Monate. Nach Anerkennung des Asylantrags wird eine dreijährige Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt. Danach
kann ein Antrag auf unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung gestellt werden. Asylbewerber bleiben offiziell zwischen 6 Wochen und
maximal 6 Monaten in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Danach hängt die Art und Weise der Unterbringung vom geltenden Recht des
jeweiligen Bundeslandes ab, das sie aufnimmt. SCDE setzt aktuell zwei Programme als Antwort auf den Flüchtlingszustrom der letzten
Monate um. Ein Programm begann im Mai 2015 und fördert neun Organisationen durch Capacity Building Maßnahmen und unterstützt
sie dabei, den am Projekt teilnehmenden Kindern eine Stimme zu geben. Das zweite Programm begann im Juli 2015. Es wird aus EU
Mitteln gefördert, hat eine Laufzeit von drei Jahren und umfasst die Analyse und Verbesserung der Kinderrechtssituation in sechs
Erstaufnahme- und Flüchtlingseinrichtungen gemeinsam mit drei Bundesländern.
Weitere Informationen zur Arbeit von Save the Children Deutschland unter www.savethechildren.de.
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