#Grenzgänger Texte von Hannah Pool Fotos von Felix Volkmar Mit dem Projekt #Grenzgänger haben Hannah Pool und Felix Volkmar Flüchtlinge auf ihrem Weg von Griechenland bis nach Deutschland begleitet. Während der dreiwöchigen Reise haben sie dabei persönliche Geschichten der Geflüchteten gesammelt, aufgeschrieben und in Fotografien dokumentiert. Der Fokus lag dabei auf den menschlichen und zwischenmenschlichen Geschichten, die sich auf der Flucht ergeben. Hannah Pool spricht Farsi und hat in Dresden Internationale Beziehungen studiert. Darüber hinaus hat sie an der Universität Teheran Islamwissenschaften und Iranistik studiert. Felix Volkmar ist ein Dokumentarfotograf und studiert Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg. Er hat bisher in Iran, Ruanda, der Türkei und Marokko fotografiert. #Grenzgänger Sonntag, 6.09. 2015, 17:05, Kos: "Aufbruchsstimmung nicht nur bei uns! Nach 12 Tagen auf der Insel Kos geht es sowohl für uns, als auch für die syrische Familie von Ahmed auf in Richtung Athen. Nach tagelangem Warten heute endlich die ersehnten Papiere zur Weiterfahrt durch Griechenland. Es kann losgehen!" Montag, 7.09.2015, 7:10, Athen: Guten Morgen, Athen! Eine Nacht auf Gängen, zwischen Stühlen und Tischen liegt hinter uns. Mit verschlafener Gegenwehr frisiert eine syrische Mutter ihre drei Töchter, während die Oma noch schläft. Montag, 7.09.2015, 8:40, Athen: Auf einmal ein lautes "Hey you" hinter uns. Freudestrahlend winkt uns Mohamed, 23 aus Pakistan zu! Wir hatten uns vor einer Woche im Hotel Kaptain Elias kennengelernt. Wir schieben uns gemeinsam zum Ausgang der Fähre und kommen an einer Europakarte vorbei. Deutschland. Da wollen wir drei hin.Beim Verlassen der Fähre wird uns bewusst, dass dies der erste Moment seit Wochen ist, in dem Geflüchtete und Touristen gemeinsam in einer Schlange anstehend warten müssen. 1 Montag, 7.09.2015, 10:15, Athen: "Parke Victoria" - wie eine Formel wird diese Ortsangabe in Athen bei Geflüchteten schon in ihren Heimatländern herumgereicht. Der Park soll der Ausgangspunkt, die Informationsstelle und der Treffpunkt für alle Weiterfahrten nach Westeuropa sein. Wo genau er ist, wurde heute Morgen schon von zwei Afghanen laut durch die Bahn gerufen. Wir sind auf dem Weg. Montag 07.09.2015, 12:40, Athen: Informationen sind Mangelware. Hannah wird umzingelt und von allen Seiten über die zu durchquerenden Länder und Merkels Aussage zu den angeblichen offenen Grenzen auf persisch befragt. Montag, 07.09.2015, 13:06, Athen: Aus dem benachbarten Alexanderpark werden die Flüchtlinge von der Polizei vertrieben. Wir aus Deutschland dürfen im Park bleiben. Montag, 07.09. 2015, 17:12, Athen: Ob ich seine Tochter nicht in meiner Tasche mit nach Deutschland nehmen könne, hat mich dieser Mann gefragt. So sehr wir alle über die Möglichkeiten verschiedener Taschen gelacht haben, so frustrierend ist doch die Geschichte der beiden. Die Mutter ist schon seit 8 Monaten mit dem kleinen Bruder in Deutschland , während Vater und Tochter hier warten müssen. 2 Montag, 07.09.2015, 17:21, Athen: Ein erstes Vorzeigeflüchtlingslager für 550 Personen ist nach Monaten endlich in Griechenland entstanden. Wohncontainer, medizinische Versorgung und Waschgelegenheiten sind hier gesichert. Der Nachteil: die begrenzte Kapazität. Diese Familien campieren vor den Eingangstüren und warten auf einen freien Platz. Montag, 07.09.2015, 19:09, Athen: Vor Lachen haben wir Tränen in den Augen, als Aria von seiner Flucht aus Afghanistan vor 6 Jahren erzählt. Darf man das überhaupt? Man muss, sagt der Filmstudent aus Kassel, denn durch die komischen Momente bekommen die Geflüchteten ihre Menschlichkeit und Würde wieder. Er ist zurück nach Athen gekommen, wo er auf seiner Flucht damals 9 Monate gelebt hat und nun hier einen Film über Flüchtlinge dreht. Er erzählt vom Vermieten eines Rasierers, von Geldscheinen in Unterhosenverstecken, die im Supermarkt plötzlich hervorgekramt werden müssen und vom ganz normalen Wahnsinn zwischen Schlepperbanden und Polizisten. Sehen könnt ihr seine Filme als Teil der internationalen Nur-Film Kompanie. Montag, 07.09.2015, 19:50, Athen: Athena, Athena! Vor einem ausländischen Kamerateam rief ein Geflüchteter immer nur, dass er nach Athen wolle. Wir haben den Kopf geschüttelt damals. Athen sei doch nur ein Punkt auf der Reise, viel wichtiger, dass man schon voraus den Weg bedenkt. Tatsächlich ist Athen aber viel mehr. Seit 10 Jahren bereits ist die Stadt der wichtigste Punkt der Route. Hier existieren Geldtransfers -offizielle per Western Union, inoffizielle über Subkanäle- hier werden Infos ausgetauscht, Rast gemacht, EU Asyl-Regelungen debattiert und interpretiert und von hier versucht man es erneut, wenn man nach Dublin Regelung zurück abgeschoben wurde. Die Stadt und ihr Park Victoria sind ein Mythos auf tausend Kilometern Flucht. Montag, 07.09.2015, 19:59, Athen: "Welches Land liegt zwischen Griechenland und Deutschland?". Eine junge Frau mit zwei Kindern schaut mich fragend an. Ich muss schlucken. Informationen und Wissen über die Route sind rar. Die dadurch existierende Lücke wird gefüllt von Gerüchten und der Abhängigkeit von Schleppern. Beides kommt die Geflüchteten teuer zu stehen. Aria berichtet von einem Dialog zwischen zwei Afghanen: "Da drüben im Shop haben sie mir GPS aufs Handy gemacht. Funktioniert super und kostete nur 10€. Das brauchst du auch." 3 Montag, 07.09.2015, 22:10, Athen: Man trifft kaum Geflüchtete, bei denen nicht irgendwann die vertrauten WhatsApp Pfiffe oder Skype Klingeltöne das Gespräch unterbrechen. Das Smartphone bietet Heimatkontakt, Fluchthilfe und speichert wichtige Dokumente. So beruhigend die Anrufe, Nachrichten und Fotos der Liebsten aus Deutschland, dem Bazar in Kabul oder den Flüchtlingslagern in Libanon auch sind, so sehr wird der Anrufbeantworter oder das ausstehende zweite Häkchen beunruhigen. Wir treffen immer wieder auch Geflüchtete, die ganz bewusst gesagt haben, dass sie sich erst in Westeuropa angekommen wieder Zuhause melden werden, um die Nervenachterbahn auszusetzen. Montag, 07.09.2015, 22:27, Athen: "Khanume Hannah, Aqaye Felix!". Sieben freudestrahlende Gesichter stehen vor uns. Da sind sie, unsere Jungs vom Strand! Sie waren die ersten, die wir auf Kos kennenlernt haben. Allabendlich standen wir zusammen, sie waren dabei als Felix kurz von der griechischen Polizei festgenommen wurde und wir waren dabei, als Nimja vor der Fährabfahrt seinen Ausweis verlor. Am letzten Abend auf Kos waren wir essen. Richtig mit Hinsetzen und Getränk. Das erste Mal seit Monaten für die Jungs. Nach dem Essen dann die riesige Diskussion um die Rechnung. Wir wären ja partout ihre Gäste. Am Ende haben wir es dennoch geschafft zu zahlen. Es ist schön, Freunde wiederzutreffen. Dienstag, 08.09.2015, 8:45, Athen: Ratlosigkeit, wie soll man am besten zur mazedonischen Grenze kommen? Hier wird von einem entfernten Bekannten berichtet, der in drei Tagen in Österreich war, dort hört man von einem Schlepper, der einen für 1500 € nach Skopje bringt. Wieder ein anderer warnt vor griechischen Zügen, lobt aber die Busse. Wir sind verwirrt. Ortsnamen werden uns auch nur aufgezählt, bevor wieder neue erfolgversprechendere Routen eingeworfen werden. Wir entscheiden uns für den öffentlichen Verkehrsbus nach Thessaloniki. 32€ pro Person, das passt auch besser in unser Budget. Und siehe da, ganz ohne notwendige gekaufte Informationen oder Schlepper: alle Infos stehen in Farsi und Arabisch an den Wänden. 4 8. September 2015, 11:25, Busfahrt nach Thessaloniki Gezielte provozierte Eskalation als Politikmaßnahme? Es scheint, als ob manche Politiker eine neue "Problemlösungsstrategie" gefunden hätten. Es funktioniert ganz einfach. Beispielsweise wurden auf Kos im August alle Flüchtlinge auf Geheiß des Bürgermeisters zur Registrierung nur noch ins Stadion gebracht. Dann wurde kein Wasser mehr verteilt und als die Menschen bei 40 Grad ohne Schatten anfingen zu demonstrieren, löste die Polizei die Menge gewaltsam auf. Die Journalisten waren bereits für gute Pressefotos positioniert. Erfolg: Athen schickte endlich die benötigten zusätzlichen Beamten zur Registrierung sowie eine große Fähre, die fast 2000 Flüchtlinge von der Insel nach Athen brachte. Neues Beispiel Viktoriapark, Athen. Seit vier Tagen wird der Park nicht mehr gesäubert. Die schon jetzt gereizte Stimmung der Anwohner, kann dadurch noch weiter eskalieren. Helfer schätzen, dass es das Ziel sei, den Park sehr bald ganz zu räumen. Auf Kos werden ebenfalls seit 3 Tagen die DIXI Toiletten im Camp nicht mehr gesäubert. Mittlerweile wurde der leerstehende Pool umfunktioniert. Wieder wartet man auf die Eskalation, um anschließend zu handeln. Ein gefährliches Spiel mit Menschen in einem Land, in dem momentan Wahlkampf ist. Gleichzeitig können die Ereignisse aber auch als Hilferuf Griechenlands an die EU interpretiert werden. Die Geflüchteten brauchen europäische Hilfe, denn ihre Lage ist ein europäisches Problem, kein rein griechisches. 8. September 2015, 12:44, Busfahrt nach Thessaloniki Am Ende haben wir es einfach nicht in den Bus mit Flüchtlingen geschafft. Sei es nun organisatorische Notwendigkeit oder gezielter Wille Geflüchtete und andere Passagiere zu trennen, wir befinden uns nun in einem gekühlten Bus mit WLAN, im Busfernseher läuft 'Grand Budapest Hotel'. Ein Film über Flucht. Auf der Hälfte der sechsstündigen Fahrt sind wir zusammen mit zwei Reisebussen mit Syrern an der Raststelle angekommen. Kurzes Gespräch mit einer syrischen Familie, die seit drei Wochen auf dem Weg von Aleppo nach Westeuropa ist. Die mittlerweile eingespielten Fragen: wo wollt ihr über die Grenze? Wie viele Stunden Wanderung? Welche GPS Daten sind notwendig? Mit wie vielen lauft ihr? Braucht ihr Hilfe? Dienstag, 08.09.2015, 17:26, Thessaloniki: Dichtester Verkehrsstau in Thessaloniki. In Gedanken sind wir wieder bei diesen fünf syrischen Jungs auf Kos, die für Felix ein Wassersprung-Fotoshooting gemacht haben. Noch mal, noch mal, noch mal. Kopfschüttelnde Blicke der Mamas im Schatten und jubelnder Applaus von Hannah. 5 Dienstag, 08.09.2015, 20:59, Thessaloniki: Der Zufall hat uns in die Aktivisten- und FrewilligenSzene für Geflüchtete in Thessaloniki und Eidomeni geführt. Gegenwärtig dürfen wir an einer Diskussion mit lokalen Rechtsanwälten, Journalisten und Filmemachern teilnehmen. Einblicke von der griechischen Seite, die wir für die kommenden Tage brauchen werden. und rassistische Beiträge werden selbstverständlich nicht geteilt. Dienstag, 08.09.2015, 23:14, Thessaloniki: So ganz wissen wir noch nicht, ob wir nun, nach der Diskussion hoffnungsvoller oder verzweifelter sein sollten. Zum ersten Mal haben wir hier geballte Aktivistenpower gesehen: im Flur des alten umfunktionierten Hotels stapeln sich die Sachspenden, eine Gruppe von Rechtsanwälten bietet Rechtsberatung für Geflüchtete an und es gibt ein Team für Öffentlichkeitsarbeit. Ein Gefühl der Ohnmacht hingegen macht sich breit, als der ehemalige Filmemacher Vasilis Tsartsanis von den Mafiastrukturen und dem Drehkreuz aus Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel an der Grenze berichtet. Morgen früh werden wir zusammen mit einer Rechtsanwältin zu ihm an die Grenze fahren. Mittwoch, 09.09.2015, Fahrt nach Idomeni: Wir befinden uns auf einer rasanten Autofahrt mit einer Strafanwältin Richtung mazedonische Grenze. Der Fahrstil ist eine Mischung aus Gas geben und gleichzeitig nach dem Weg suchen. Die Erzählungen: Griechenlands steigende Kriminalität und Vertriebenenhistorie in der Region. Es ist nicht einfach den Weg zur Grenze mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen und der Zufall hat uns diese Mitfahrgelegenheit gebracht! Wir sind etwas nervös und wissen noch nicht genau was uns an der Grenze erwarten wird. 6 Mittwoch, 09.09.2015 , 9:52, Fahrt nach Ideomeni: Fünf Kilometer vor Eidomeni werden die Flüchtlinge von den Busfahrern rausgelassen. Kurzerhand füllt sich unsere Rückbank mit dieser syrischen Familie. Zwei weitere Kinder sitzen auf Hannahs Schoß. Kurze Erleichterung auf dem Weg! Mittwoch, 09.09.2015, 10:22, Idomeni: Angekommen an der Grenze. Ungefähr 2000 Leute warten hier darauf, den illegalen aber mittlerweile semioffiziellen Grenzübergang überqueren zu dürfen. In Gruppen à 50 Leuten dürfen die Geflüchteten rüber. Bisher ist alles recht ruhig und geordnet. Wir sind erleichtert, dass die Gerüchte einer gezielten Eskalation heute, wie letzte Woche, scheinbar falsch waren. Dieser Mann trägt seinen gehbehinderten Freund über die Schienen. Mittwoch, 09.09.2015, 12:51, Idomeni: Es gibt nur einen Weg nach Westeuropa, den alle nehmen. Man trifft sich. Wieder Gelächter und Freude, unsere Jungs von Kos warten schon auf uns! Sie haben die Passiernummer 117 zugeordnet bekommen. Gerade gehen die 99er. Ach, die Wiedersehensfeier in Deutschland wird von den Jungs schon mal geplant. 7 Mittwoch, 09.09.2015, 13:05, Idomeni: Während diese Geflüchteten gerade ihre Handys aufladen, ist unser Akku fast am Ende. Wir werden nun die Grenze überqueren und uns dann von Mazedonien aus wieder melden. Der UNHCR soll dort ein gutes Camp aufgebaut haben, indem aber keine Farsi Dolmetscher sind. Vielleicht können wir helfen! Mittwoch, 09.09.2015, 18:27, Idomeni: Die Situation an der Grenze zu Mazedonien ist nicht gut. Aber sie hat sich verbessert. Seit 3 Wochen sind internationale Organisationen wie UNHCR, Ärzte ohne Grenzen und UNICEF vor Ort. Tagtäglich kommen etwa 5000 Menschen über die Grenze, wobei die Zahl in den kommenden Tagen ansteigen wird. Dass die Situation sich so verbessert hat, ist der Verdienst von Vasilis. Vor über einem Jahr ist er auf den Menschenschmuggel hier aufmerksam geworden. Im Niemandsland zwischen den Grenzen haben sich Mafiabanden darauf spezialisiert, vollbewaffnet Geflüchtete zu überfallen. Erst wenn die Familie 1500€ pro Person zahlen konnte, durfte man passieren. Bis zu 500.000€ wurden so tagtäglich umgesetzt. Die Polizei hat diese Mafia in einer Koexistenz gewähren lassen. Vergewaltigungen, Erpressungen, Folter fanden zu Hunderten direkt an der EU-Grenze statt. Seit Mai hat sich hier alles verändert, es gibt einen geregelten Grenzübergang. "Bleibt am meiner Seite, ich muss euch dem Militär erst vorstellen" sagt Vasilis und schon stehen wir vor bewaffneter griechischer Polizei und mazedonischen Soldaten und passieren die Bahngleise zur Grenze. Wir dürfen fotografieren und uns umschauen. Mittwoch, 09.09.2015, 22:24, Gevgelija: Grenzgänger. Diesem Namen sind wir heute das erste Mal gerecht geworden. Während die Geflüchteten über den irregulären Grenzübergang gingen, mussten wir 30 km Umweg fahren, um auf die mazedonische Seite zu kommen. Genau so rasant wie heute morgen hat uns unsere Strafanwältin zur Grenze gefahren, wo wir vergnügt an der streng kontrollierten langen Autoschlange vorbeispaziert sind, durchs Zwischenland wateten und nach Mazedonien hineinlaufen konnten. Die 6 km nach Gevgelija haben uns zwei Berliner mitgenommen, die scherzten, dass sie ja nur keine Flüchtlinge mitnehmen würden (wenn die wüssten...). Um das mazedonische Flüchtlingslager betreten zu können, ist eine Erlaubnis aus Skopje notwendig. 30 Minuten haben wir an der Polizeiwache gewartet. Telefonat hier, Telefonat dort. Zwei Afghanen haben dort auch gewartet. Für ihr Gespräch mit ihnen hat Hannah gleich einen polizeilichen Rüffel bekommen. Soeben kam die Bestätigung. Morgen früh können wir ins Camp. 8 Donnerstag, 10.09.2015, 7:13, Gevgelija: Dank der besseren Versorgung seit der mazedonischen Grenze sind die Flüchtlinge endlich in einem Lager für die Wartezeit bis zum nächsten Zug Richtung Serbien - untergebracht. Es gibt Schutz, Wasser und medizinische Versorgung. Für uns bedeutet das aber auch, dass wir das erste Mal weit entfernt von den Geflüchteten unterkommen müssen. Wir sind im einzigen guten und günstigen Hotel in Gevgelija untergekommen, das über Nacht zum Hotspot der internationalen Helfercommunity und Journalistenwelt geworden ist. UNHCR, UNICEF, Ärzte ohne Grenzen, das rote Kreuz, alle sitzen sie abends erschöpft in der Lobby vor leuchtenden Bildschirmen und checken die Mails ihrer Organisationen. Sie haben es geschafft, dass die Geflüchteten erstmals menschlich auf der Flucht behandelt werden. Abends gehen wir alle gemeinsam essen. Ein schöner und interessanter Abend. Felix unterhält sich mit World Press Fotografen. Und doch, wir fühlen uns das erste Mal entfernt von der dahinziehenden Gruppe. Donnerstag, 10.09.2015, 9:40, Gevgelija: Es regnet seit gestern Abend. Ununterbrochen in Binnfäden. Es muss der erste Regen auf der Flucht sein. Bisher war es bei 30 Grad immer möglich auch nachts im Freien zu schlafen. Wir denken an das große, freie Feld, an dem wir gestern an der griechischen Grenze sechs Stunden lang waren. Es ist davon auszugehen, dass viele dort übernachten mussten. Jetzt, um 7 Uhr morgens, werden die ersten Busse mit weiteren 5000 Leuten für den heutigen Tag dort langsam aus Athen ankommen. Im Camp auf der mazedonischen Seite stehen die Leute in geordneten Reihen ohne Schutz im Regen und warten auf den Zug, der sie zur nächsten Station auf ihrem langen Weg bringt. Alle sind klitschnass, viele zittern vor Kälte. Donnerstag, 10.09.2015, 10:00, Gevgelija: Der erste Zug, der an der neu geschaffenen "Station" hält, ist schnell gefüllt. Die Geflüchteten müssen sich gegenseitig per Räuberleiter in den Zug helfen. Ungefähr 500 Leute schaffen es nicht in den Zug und werden vom Militär zurückgehalten. Nach knapp einer Stunde im Regen werden endlich Planen vom UNHCR verteilt. Es gibt keine Informationen, ob noch ein weiterer Zug kommen wird und wie lange die Menschen noch im Regen stehen bleiben müssen. Donnerstag. 10.09.2015, 12:59, Gevgelija: Endlich ist Hannah ins Camp gekommen, während Felix der Zutritt verweigert wurde. Die Situation dort hat sich durch den Regen radikal verändert. Viele haben die ganze Nacht im Regen unter freiem Himmel auf der griechischen Grenzseite verbracht. Vier Züge haben heute Morgen ungefähr 2000 Menschen zur serbischen Grenze gebracht, doch Tausende sind neu angekommen. Decken und Essen sind nicht mehr ausreichend vorhanden. Mehrere Säuglinge haben durch den Regen gefährliches Fieber bekommen und es gibt keine Möglichkeit die Anziehsachen in den nächsten Tagen trocken zu bekommen. Für die gesamte Balkanregion gibt es erste Flutwarnungen. Mittlerweile wurden von den Geflüchteten Hölzer gesammelt und Feuer entfacht, um 9 irgendwie warm zu werden. Donnerstag, 10.09.2015, 14:02, Gevgelija: Für die Geflüchteten gibt es insgesamt drei verschiedene Möglichkeiten für die Weiterreise. Der Zug für 10 Euro pro Person ist die günstigste Möglichkeit. Busse fahren von Gevgelija für 20 Euro die Strecke zur serbischen Grenze. Für 25 Euro gibt es Taxis, die die gesamte Strecke in knapp drei Stunden zurücklegen. Der Regen und das Gerücht, das Ungarn seine Grenze schließen lässt, haben eine Welle der Angst erzeugt und die Leute versuchen um jeden Preis in die Busse zu kommen. Den Taxifahrern werden 100 Euro angeboten, damit man mitgenommen wird, es herrscht Gedränge. Wir selber werden nicht zur Grenze auf dem Weg kommen. Wir versuchen unsere Route zu ändern. Donnerstag, 10.09.2015, 20:28, Gevgelija: Nachtrag von 15:00 Uhr (kein Handyakku): Unser mazedonischer General hat strahlend blaue Augen. Sein Deutsch ist voller Höflichkeitsbekundungen, seine Stimme warm und leise. Wir haben ihn gestern direkt auf der Grenze getroffen. Händeschütteln im Niemandsland. Ja, das sei schon alles sehr schlimm hier, bekundete er gestern. Heute Morgen begrüßen wir uns am Campeingang. Trotz Eintrittserlaubnis des Innenministeriums darf nur Hannah als Übersetzerin dank ihm doch eintreten. "Es ist schrecklich geworden. Sehr schrecklich." In seiner Uniform wirkt er genauso verloren und orientierungslos - wie viele der Umstehenden. Er ist nicht vorbereitet gewesen. Die Kinder in durchnässten T-Shirts, die schlotternden großen Männer und die schreienden Babies überfordern ihn. In seiner Ratlosigkeit und seinem leeren Blick spiegelt sich für uns das ganze Ausmaß dieser Krise. Ein Soldat, der die Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens erlebt hat, steht dort und tut nichts anderes als dort zu stehen. Gelähmt von den überwältigenden Massen an Menschen. Heute waren es vielleicht 8000, morgen sollen noch mehr kommen. Donnerstag, 10.09.2015, 21:28, Skopje: Rückblick auf unsere letzten Momente in Gevgelija: Tausende Geflüchtete warten hinter den Campgittern und werden vom mazedonischen Militär am Betreten des überfüllten Camps gehindert. Aus schierer Angst, eine weitere Nacht draußen verbringen zu müssen, lösen sich hunderte aus der Gruppe und stürmen am Camp vorbei in die Felder. Einfach los nach vorne, auch wenn keiner genau weiß, wohin der Weg überhaupt führt. Das Militär und die Polizei kreuzen mit ihren Jeeps die Wege und treiben die Gruppen zurück ins Camp. Der einzige Grund, warum die Flüchtlinge nicht sofort weiter können, sind die fehlenden Verkehrsmittel zur Weiterreise. Die vier Züge waren schon am Morgen voll und selbst die knapp hundert Busse, die sich als lange Schlange durch Gevgeljia aufreihen, werden nicht reichen. Aus ganz Mazedonien sind Taxen gekommen, 10 so viel Nachfrage gibt es. Ein Taxifahrer bietet uns an, mit ihm zur serbischen Grenze zu fahren. Zwei wertvolle Plätze, die zumindest zwei Flüchtlinge weiterbringen könnten. Ungefähr 6000 warten. Wir können das nicht mit unserem Gewissen vereinbaren. Nun sitzen wir in der mazedonischen Hauptstadt Skopje, hundert Kilometer von den Flüchtlingen entfernt. Logistisch ging es einfach nicht mit ihnen zusammen weiterzufahren. Um Mitternacht werden wir mit dem Bus nach Belgrad in Serbien fahren und dort wieder auf die Geflüchteten treffen. Wir haben die Hoffnung, dort wieder auf unsere Jungs und andere Familien von Kos zu stoßen. Freitag, 11.09.2015, 9:38, Belgrad: Die mittlerweile vertrauten blau-grünen Freizeitzelte leuchten uns am Belgrader Busbahnhof entgegen. Der Regen hat den Park davor in ein Matschfeld verwandelt. Während diese syrischen Kinder sich gegenseitig mit Felix Kamera fotografieren dürfen, wird vor Freude immer lauter geschrien und gelacht. Morgens um 7 Uhr haben wir alle damit gleich die vielen noch schlafenden Flüchtlinge drum herum geweckt. Entschuldigung! Freitag, 11.09.2015, 14:00, Belgrad: Aus dem Nichts rieselt Konfetti vom Himmel. Die Kinder jauchzen, einem Baby steht der Mund weit offen. Magie! Der Zauberer grinst. Es hat geklappt, die Anstrengung ist für einen kurzen Moment bei allen verflogen. Wir geben zu, auch wir sind gerade ein wenig verzaubert. So viel ehrenamtliches Engagement hier am Busbahnhof von Belgrad! Die freiwillige Jugendgruppe vom Roten Kreuz händigt Hunderten begeistert Anziehsachen aus. Es gibt kleine Rangeleien bei der Kleiderausgabe, verständlich, will doch keiner mehr die nassen Anziehsachen tragen. Ein älteres serbisches Paar drückt einer syrischen Mutter einen warmen Mantel in die Hand und sagt ihr "I love you, I love you". Ein paar Meter weiter flattern Luftballons im Wind. Wenn man ihnen folgt, wird man zum umfunktionierten Parkplatz von Refugee Aid Serbia geführt. Tee, Toiletten, Ladestationen, Essenstüten und Anziehsachen stehen bereit, während eine ganze Schar an Freiwilligen auf die Geflüchteten warten. Es ist das erste Mal auf dem Weg, dass wir so ein wundervolles, freiwilliges zivilgesellschaftliches Engagement sehen. 11 Freitag, 11.09.2015, 16:30, Belgrad: Hipsterbart, 90er Trainingsjacke, Tunnel im Ohr, knallrote Chucks. Als Ahmed Hannah zum PersischÜbersetzen nach vorne holt, freuen wir uns über diesen "serbischen Helfer", der in perfektem Englisch die Lage erklärt. Es braucht einen Moment, bis wir begreifen, dass er selber syrischer Flüchtling ist. Mit modischer Stilsicherheit und Selbstironie erzählt er: "This is my Sarah. I Love her. We married last months and now we are on a big honeymoon adventure excitement, boat ride, sunsets, sport all inclusive." Als Freiwillige ihm eine Packung Tee in die Hand drücken, ist die Situationskomik perfekt. Was macht man mit einem Paket Tee auf der Flucht, wenn man noch nicht mal sein Handy aufladen kann? Wir lachen, schwatzen und könnten auch in Berlin vor einer Kneipe zusammenstehen. Hoffentlich kommt es bald dazu! Freitag, 11.09.2015, 21:12, Belgrad: Ein Zimmer, klamme Bettwäsche, Dreck in den Ecken, das Ganze für 4 Personen und 50 Euro die Nacht. Das ist viel Geld für wenig Komfort und der Gedanke der Geldmacherei liegt nahe. Tatsächlich aber ist es für die Flüchtlinge eine riesige Chance, dass sie in Serbien legal zwei Nächte in ein Hotel oder Hostel einchecken dürfen. Auf der Urlaubsinsel Kos mussten auch Flüchtlinge, die ausreichend Geld für die Flucht mitgenommen hatten, häufig auf der Straße schlafen, weil Hoteliers sich weigerten, ihre Zimmer an sie zu vermieten. Hier in Belgrad gibt es sogar Hostelwerbung auf Arabisch. Die Konsequenz war für uns beide leider eine 3-stündige Unterkunftssuche! Samstag, 12.09.2015 Als wir mit unserer Dokumentation anfingen, hätten wir nie gedacht, dass das Ganze so einen Anklang finden würde. Wir haben auf einmal das schöne Gefühl, nicht mehr allein mit den ganzen Geschichten, den Gesprächen und Erfahrungen da zu stehen. Danke für die Unterstützung und die lieben Worte. Uns macht das richtig glücklich! Samstag, 12.09.2015: Dass Smartphones auf der Flucht kein luxuriöses Accessoire, sondern lebensnotwendige Begleiter sind, ist mittlerweile den meisten bewusst. Besonders nützlich werden sie durch die Informationsverteilung in den sozialen Netzwerken. Diese Übersichtskarte haben wir bei Facebook gefunden und orientieren uns auch an ihr. Heute Mittag fahren wir von Belgrad nach Kanjiza und von dort aus geht es dann zu Fuß weiter zur ungarischen Grenze. 12 Samstag,12.09.2015: Eine kleine Menschentraube hat sich um die solarbetriebene Handyladestation zusammengefundenen, zwei Kinder futtern Müsliriegel und mehrere Frauen probieren Schuhe für die Weiterreise an, während Tee verteilt wird. Zwischen all dem springt Elise hin und her, strahlt, gibt Anweisungen auf Englisch, telefoniert auf Serbisch und erklärt uns auf Deutsch, wie es zu dem Projekt gekommen ist. Der Szeneladen Mistališke hat seinen Lagerplatz für die Freiwilligen geöffnet, die dort in Eigenregie ein Zentrum aufbauen. "Wir möchten, dass sich die Leute auf dem Weg kurz ausruhen, abschalten und dann weitergehen können. Unsere nächste Herausforderung ist es, das Camp für den Winter bereit zu machen." Elise ist voller Energie und es kommt immer wieder zu neuen, kreative Kooperationsideen. Eine Flüchtlingsinitiative aus dem Jugoslawienkrieg bietet Expertise, eine Künstlergruppe hat Eierkarton-Hocker gebaut. Es ist schön diesen Volunteer-Spirit einzuatmen. Aber wir sind auch etwas besorgt: die riesige Welle an Flüchtlingen, die wir an der mazedonischen Grenze überholt haben, wird morgen wohl in Belgrad ankommen, 20.000 weitere Geflüchtete werden nun in Athen von den Inseln erwartet und dazu die Drohung, dass die ungarische Grenze ganz schließt. Die nächsten Tage werden die Freiwilligen herausfordern. Samstag, 12.09.2015: Die Wegbeschreibung mit den Informationen zu Bussen, Fußwegen und Warnungen vor der gefährlichen ungarischen Polizei sind Gold wert. Ausgerüstet mit diesen Flugblättern sind wir durch den immer voller werdenden Park gezogen. Heute Morgen musste Hannah zum Glück aber nicht alleine übersetzen, sondern hatte diesen wahren Experten an ihrer Seite. Als wir seiner Familie den Zettel in die Hand drückten, sprach der 12jährige Saeid uns an. Schwupps, war der selbstbewusste Junge aus Damaskus mit in unserem Team und rannte von Zelt zu Zelt, um die Infos auf Arabisch weiterzugeben. Auf gutem Englisch erzählte er uns von der Flucht durch Griechenland und der Weiterreise heute Nachmittag nach Ungarn. Good luck and Safe travels! 13 Samstag, 12.09.2015: Eigentlich fährt das Busunternehmen gar nicht nach Kanjiza an der ungarischen Grenze. Seit letzter Woche fahren die Busse jedoch rund um die Uhr die dreistündige Strecke hin und her. Der Bus ist voll. Eltern dürfen ihre Kinder ausnahmsweise umsonst mitnehmen, wenn sie auf dem Schoß sitzen, also haben wir noch einmal 20 zusätzliche kleine Passagiere. Schon das Einsteigen war ein Chaos und die Sitzverteilung führte zu Streit. Bei allen liegen die Nerven blank. Der cholerische Busfahrer, der Felix sofort das Fotografieren verbietet, sieht auf einmal ein einwöchiges Baby im hinteren Busabteil. Immer aufgeregter will er, dass sich der Vater zu ihm nach vorne setzt und erkundigt sich immer wieder "Sir, Sir, is the Baby ok?". Er telefoniert und plötzlich hält der Bus. Seine Ehefrau, die Kinderärztin ist, steigt ein und fährt mit bis zur Grenze. Der Fahrer ist müde, seit gestern fährt er den Weg auf und ab. Er will den Leuten helfen und ist selbst sprachlos und aufgewühlt von den Massen an Familien, die da durch sein Land fahren, um Sicherheit zu finden. Samstag, 12.09.2015: Kurzer Stopp für die Flüchtlinge, bevor ein weiterer gefährlicher Teil der Flucht beginnt. Ein provisorisches Ausruh-Camp mit Toiletten, Handyladestationen, WIFI und Ärzten wurde hier, umgeben von Gutshöfen und Maisfeldern, aufgebaut. Kaum jemand bleibt länger, alle nehmen sofort den nächsten Bus zum Grenzort Horgos. Mit der ersten warmen Sonne seit Tagen können die feuchten Anziehsachen endlich trocknen. Eine syrische Familie aus Aleppo lädt uns auf ihrer UNHCR-Decke auf einen Keks ein. Die sechs Monate alte Siselina wird von Bruder Hamed so lange geknuddelt und geküsst, bis sie anfängt zu weinen. Der 20jährige Onkel liest im Quran- allerdings nur so lange, bis er vom kostenlosen WIFI hört, aufspringt und zum Camp rennt. Samstag, 12.09.2015. Samstagabend in Kanjiza. Der kleine Kurort ist seit Jahrhunderten für seine heilenden Quellen bekannt und der Tourismus reicht immerhin für drei Hotels im Dorf. Die Anwesenheit der Flüchtlinge hat hier wenig verändert, da sie nur durchreisen und kaum im Stadtbild präsent sind - wären da nicht die vollen und leeren Busse, die im Viertelstundentakt an manchen Tagen bis zu 6000 Menschen über die Dorfstraße nach Horgoš fahren. Im Dorf sind seit Wochen alle Bolzenschneider, Zangen und sonstigen Werkzeuge zum Durchschneiden von Zäunen ausverkauft, erzählt uns ein Serbe. Morgen soll das letzte Stück der ungarischen Grenzbefestigung fertiggestellt werden. Wie es dann für die Geflüchteten rüber geht, wissen wir noch nicht. Morgen früh machen wir uns selbst auf den Weg dorthin. Sonntag, 13.09.2015: Serbien-Ungarn. Seit wir auf Kos, Griechenland angekommen sind, haben wir von den Geflüchteten die wildesten Geschichten und gegensätzlichsten Gerüchte über diesen Abschnitt der Fluchtstrecke gehört. Einsatz von Kampfhunden, Schießbefehle, Polizisten, die höflich mit Flüchtlingen bis zur österreichischen Grenze fahren, Hilfsbereitschaft und Rechte Bürgerwehren. 14 Mit all diesen Widersprüchen im Kopf fahren wir nun zur befestigten EU-Grenze. Sonntag, 13.09.2015: Es gibt keine freien Taxis mehr, da alle fürden Transport der Flüchtlinge eingespannt sind. Kurzerhand entschließen wir uns, die 15 km nach Horgoš zu trampen, vergessen dabei aber, dass uns alle selbst für Geflüchtete halten, haben wir doch nichts außer einem kleinen Rucksack dabei. Sonntag, 13.09.2015: Ein Auto nach dem anderen rast an uns vorbei. Nach 2 km endlich! Ein älterer Mann hält, fragt gar nicht erst, was los sei und lässt uns in Horgoš freudestrahlend raus. Als wir einer älteren serbischen Frau auf dem Weg einen guten Morgen wünschen, bleibt sie stehen, winkt uns her und will uns 30 Dinar in die Hand drücken. Wir sind gerührt - während wir vehement ablehnen. Kurz vor dem Eintritt zum Pfad Richtung Grenze verteilen noch einmal Freiwillige Milch und Thunfischdosen. Wir reihen uns in die Gruppen ein und gehen auf den Bahnschienen in Richtung Grenze. Sonntag, 13.09.2015: Seit einer Stunde kreist ein ungarischer Militärhubschrauber über unseren Köpfen. Man kann die Anspannung bei allen auf den stillgelegten Gleisen förmlich spüren. Ein 25 Meter hoher ehemaliger serbischer Wachturm wird von einzelnen jungen Männern erklommen, um einen Blick über das ungarische Gebiet und die Anzahl der ungarischen Soldaten zu erkennen. Jasmin kümmert das wenig. Die Dreijährige hüpft die Bahngleise auf und ab und erzählt Hannah eine Geschichte auf Arabisch. Immer mehr Gruppen kommen uns von der Grenze wieder entgegen. Scheinbar werden doch wieder Fingerabdrücke genommen und man hat Angst, in einem ungarischen Camp bleiben zu müssen. Kurz vor der Stacheldrahtgrenze kehren wir selber wieder um und machen uns auf den Weg zum offiziellen Grenzübergang. Sonntag, 13.09.2015: Fünfzehn Meter breit ist das letzte unfertige Stück der neuen ungarischen Grenzanlage. Blickt man von diesem Tor nach links und rechts, sieht man einen knapp drei Meter hohen Zaun, zusätzlich bestückt mit Natodraht. Die Pfeiler für das letzte Stück stehen schon. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich hier die Grenze schließt. 15 Sonntag, 13.09.2015: Auf der Grenze stolpert ein kleiner, pummeliger Mann über die Gleise. Plötzlich hält er inne, sieht Felix, läuft und fällt ihm in die Arme. Küsschen links, Küsschen rechts, Küsschen links. Als wir uns das letzte Mal auf Kos gesehen haben, saß er mit knallbunter Badehose im Meer und wusch sich vergnügt die Haare. Allerdings nur so lange unbeschwert, bis sich die drei afghanischen Kinder am Strand überlegten, dass sie doch ihn beim Muschelwerfen als Zielscheibe benutzen sollten. Was haben wir gelacht! Und nun, an diesem inoffiziellen, letzten Stück offener ungarischer Grenze, sehen wir uns wieder. Es gibt nur einen Weg, und den nehmen wir alle. Sonntag, 13.09.2015: Wer die Grenze am inoffiziellen Übergang nimmt, ist für einen Moment überrascht, wie einfach es erscheint. Keine Hunde, keine Gewalt. Das erwartet nur jene, die sich durch die Maisfelder schlagen wollen. Das einzige Ziel für diese Gefahrenaufnahme ist es, bloß keine Fingerabdrücke abgeben zu müssen und somit in Ungarn registriert zu werden. Dieser Unsicherheit sind nun die Leute im "offiziellen" Camp ausgesetzt. In einem Chaos aus NGOs, Müllbergen, Freiwilligen und Fernsehübertragungswagen suchen sich Hunderte von Flüchtlingen ihre Informationen für die Weiterreise zusammen. Jedoch beginnt diese erst, wenn man von einem der ungarischen Polizeibusse in ein Registrierungscamp gebracht wird. Diese sind streng bewacht, eingezäunt und es gibt keinen Zutritt für die Presse. Was genau in diesen Camps passiert, wissen wir nicht. Die Weiterfahrt nach Budapest, die am Grenzzaun noch so nah erschien, verzögert sich in jedem Falle noch. Montag, 14.09.2015: Eigentlich hätten wir uns denken können, dass Deutschland seine Grenzen bald kontrollieren wird. Dennoch hat uns die Nachricht gestern wie ein Schlag getroffen. Die Hoffnung, die von Anfang an bei den Geflüchteten mit Deutschland verbunden war, scheint plötzlich in weite Ferne zu rücken. Gleichzeitig glauben wir, dass die Leute nun den Umweg über die Schmuggler nehmen werden. Sie sind die wahren Gewinner von Deutschlands Politikänderung. Wir haben uns entschieden, bis nach München weiterzureisen und möchten hören, wie nun am Bahnhof von Budapest und Wien neue Wege, Möglichkeiten und Alternativen besprochen werden. Ein Umdrehen gibt es nicht mehr für die Menschen, die alles hinter sich gelassen haben. 16 Montag, 14.09.2015: Jeder Grenzübergang ist auch ein Netzwechsel. In Griechenland, Mazedonien und Serbien haben Mobilfunkanbieter dieses Potenzial schnell erkannt: in leuchtender Kleidung mit großen Werbeschildern und Sonderaktionen warten Mitarbeiter direkt hinter den Grenzübergängen auf Tausende neue Kunden. In Griechenland wurde direkt für 100 Freiminuten nach Syrien und Afghanistan geworben. Ein florierender Markt. Montag, 14.09.2015: "Bitte einsteigen, beeilen Sie sich und nutzen Sie bitte das zweite Abteil." Mit seinem Megaphon sorgt Ibrahim dafür, dass auch die letzten Nachzügler den Zug an die ungarische Grenze in Györ noch bekommen. "Jetzt aber schnell", ruft er auf Arabisch mit dem typischen harten palästinensischen Dialekt einer hastenden Familie zu. Er lächelt zufrieden, als auch sie es noch schaffen. "25 years ago I came to Hungary as a student, fell in love, married and now I am a professor for electro engineering." Ibrahim hat sich ein Leben aufgebaut. Der Palästinenser weiß, wie sich das seinem Handy zeigt er uns das Wiedersehensvideo mit seiner großen Schwester. 13 Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen, bis sie endlich ihren Sohn in Leipzig besuchen durfte und er als Überraschung dort erschien. Montag, 14.09.2015: #Grenzgänger: Gesehen am Bahnhof Keleti. 17 Montag, 14.09.2015: Tariq setzt sich mit einem Becher Tee und einer Hand voll Nüsse an unseren Tisch in der Eingangshalle des Bahnhofes. Nicken, Essen, Austausch eines Lächelns. Wir sprechen ihn auf Englisch an, aber er schüttelt nur den Kopf. Ein zweiter Versuch auf Persisch, er versteht Hannah, aber seine Antwort versteht sie nun wiederum nicht. Seine Muttersprache ist Paschtu und nicht Dari, was wiederum dem Persisch stark ähnelt. Er winkt einen Paschtu und Dari sprechenden Afghanen herüber und Rafiola setzt sich dazu. Die beiden kommen aus dem Süden Afghanistans, aus dem Grenzgebiet zu Pakistan. Die Taliban haben ihre Familien so sehr terrorisiert, dass die beiden Männer vor Jahren in die Türkei geflohen sind. Über Nacht haben sie ihre Pläne geändert. Statt in Deutschland Asyl zu suchen, werden sie mit einem PKW nach Italien und dann nach Belgien geschmuggelt werden, Inshallah. Montag, 14.09.2015: Zur Zeit ist die Lage hier in Budapest sehr ruhig. Die ehrenamtlichen Helfer hier am Bahnhof Keleti erwarten allerdings wieder zahlreiche Flüchtlinge heute Nacht. In den letzten Tagen sind die Züge und Busse aus der Grenzstadt Röszke meistens zwischen zwei und vier Uhr nachts angekommen. Wir bleiben die Nacht über hier am Bahnhof. Dienstag, 15.09.2015: 0.00 Uhr. Als ob direkt etwas passieren könnte, schauten die meisten Freiwilligen um Mitternacht zur großen Uhr über dem Bahnhofsgebäude. Ab diesem Moment nun sind offiziell die neuen Notstandsgesetze der Regierung von Präsident Orban in Kraft. Die Veränderungen betreffen insbesondere den Umgang mit den Flüchtlingen. Die große Gefahr ist nun, dass fast jede Hilfe nach den bewusst breitgefassten und schwammig formulierten Gesetzen als Menschenschmuggel aufgefasst werden kann. Das kann im Zweifelsfall auch schon bedeuten, dass das Verteilen von Lebensmitteln illegal wird und mit Haftstrafen geahndet werden könnte. Diese "Einwanderungsnotstandsgesetze" erlauben nun auch den Einsatz von Militär gegen zivile Flüchtlinge. In Röske, von wo wir gestern berichtet haben, sind heute morgen bereits gepanzerte und bewaffnete Fahrzeuge an der Grenze in Stellung gebracht worden. 18 Dienstag, 15.09.2015: #Grenzgänger: Ungarns Lager sind leergeräumt und es häufen sich wieder einmal nur die Gerüchte, wer womit wohin gebracht wurde. Wie alle wollen wir so schnell wie möglich nach Wien, denn die Grenzen sollen nun doch passierbar sein. Vom KeletiBahnhof nehmen wir den Zug nach Györ, doch in das Abteil mit den wenigen Geflüchteten werden wir nicht hereingelassen, Fotos sind ebenfalls nicht erwünscht. Beim Umsteigen schaffen wir es endlich zu Ihnen und sitzen mit Ahmed, Nilufar und ihren Freunden zusammen. Die drei syrischen Freunde sind in ihren 30ern. Sie sprechen exzellentes Englisch. Alle haben sie 7 Jahre in der Ukraine Medizin studiert, weil der Medizin NC in Syrien so hoch war. "You know we have been refugees twice. Our wives are all three from Ukraine, they are in Turkey now with our children. We all worked 2 years as doctors, we speak English, Russian, French and Arabic. We lost everything but we want to build up everything again. What shall we do?" Wir knabbern gemeinsam die letzten Packungen Studentenfutter, reden über die verschiedenen Asylmöglichkeiten und die Situation in der Ukraine. Zwei Länder, zwei Kriege. Dienstag, 15.09.2015: In Hegyeshalom begrüßt die ungarische Polizei sie und erklärt ihnen, wie sie zur österreichischen Grenze kommen. Ruhig und nett sind die Polizisten und nur Ahmed bekommt ein Problem. Sein sauberes, weißes Real Madrid Trikot wird ausgebuht und stattdessen wird ihm erklärt, dass er das nächste mal ein FC Barcelona Trikot brauchen würde. Gelächter, Applaus und Pfiffe anderer Polizisten. Dienstag, 15.09.2015: #Grenzgänger: Curryduft, dampfender Reis, breites Lächeln auf den Lippen. Der Sikh-Tempel in Wien kocht seit 4 Tagen warmes indisches Essen für die Flüchtlinge und verteilt dies genau auf der ungarisch-österreichischen Grenze. Zwei der Köche sind vor 20 Jahren ebenfalls als afghanische Flüchtlinge nach Österreich gekommen: "Jetzt geht's ums zurückgeben." 19 Dienstag,15.09.2015: "Im Camp in Griechenland hatten wir so viele Freundinnen. Wir haben gespielt und es war schön, dann sind alle langsam weggegangen." Mahmi, 12, und ihre kleine Schwester Mariam, 5, sitzen am Grenzzaun zwischen Österreich und Ungarn. Mariam hat einen Stickerbogen von Lilifee auf den Knien, zieht bedächtig einen Sticker ab und klebt ihn sorgfältig wieder auf die vorgesehene Form. Die beiden Mädchen beginnen, Hannah über iranisches Essen auszufragen. Sie zählen genau auf, was sie vermissen und welches Essen sie gleich am liebsten vom Roten Kreuz ausgehändigt bekommen würden. "Am Schlimmsten war die Bootsfahrt nach Griechenland. Wir saßen im Schlauchboot, direkt am Ufer und haben gemerkt, dass ein Loch darin war. Wir haben so laut geschrien. Zum Glück konnten wir zurück und einen Tag später sind wir mit einem neuen Boot gefahren, aber wir hatten mindestens genauso viel Angst." Dienstag, 15.09.2015: WhatsApp von Aria, dem Kasseler Filmemacher aus Afghanistan: ein Foto von einem Notizzettel mit den Worten "Sie sagen danke und dass sie mit der Beschreibung keinen Schmuggler gebraucht hätten." Vor zwei Wochen auf Kos haben wir für eine Familie diese Notiz als Orientierung angefertigt. Das Wissen über die Route ist so gering, dass schon die rudimentäre Aufzählung der zu durchquerenden Länder einen Informationsgewinn darstellte. Aria filmt den Weg der Flüchtlinge und geriet durch Zufall an "unsere" Familie in Wien, im Gespräch erzählen sie ihm, von dieser Notiz und den beiden Deutschen. Er erkennt uns! Es ist wundervoll so zu hören, dass man helfen konnte. 20 Dienstag, 15.09.2015: Heute benutze Verkehrsmittel: - Zug Budapest - Györ - Zug Györ - Hegyeshalom - Trampen (ca. 1,5 km) mit zwei charmanten Französinnen einer ungarischen Menschenrechts-NGO - Trampen (ca. 2 km) mit einem afghanischen Dolmetscher, der seit 15 Jahren in Wien lebt und "Österreich so sehr liebt" - Trampen (ca. 65 km) von Nickelsdorf - Wien mit einem herzlichen Familienvater, der eigentlich Flüchtlinge mitnehmen wollte, aber überrascht von der Polizei zurückgeschickt wurde, da bereits genug Busse vorhanden waren. Stattdessen wurden wir bis zum Westbahnhof Wien gefahren. Unser Dank gilt allen! Mittwoch, 16.09.2015: Tausende Hände, die anpacken und eine Organisation, die jedem seinen richtigen Platz zuweist. Der Wiener Bahnhof hat mittlerweile um die tausend Flüchtlinge aufgenommen und dennoch ist noch kein Chaos zu sehen. Die Freiwilligen finden sich über Wiener Apps zusammen, alles ist dreisprachig und die Stadt Wien informiert mit Postern über die Sicherheitslage, Versorgung und Ortskunde. Nachts werden die Flüchtlinge mit Bussen in umliegende Zelte und Turnhallen gebracht, während sie tagsüber frei herumlaufen können. Ein eigens eingerichteter Familienbereich in einem umfunktionierten Parkhaus bietet Schutz und die ganz Kleinen toben sich in einem über Nacht entstandenen "Kindergartenraum" aus. Mittwoch, 16.09.2015: Assad, seine 23-jährige Schwester und sein kleiner Sohn stehen vor dem Ticketautomaten und schauen ratlos umher. Das Ticket nach München kostet 97€ pro Person, die Reservierung 4€. So weit, so gut. Aber wie fügt man die Reservierung nun dazu? Wie funktioniert die Karte? Allgemeine Ticketautomatenverwirrung wie vielerorts. Sie erkennen uns, winken uns herüber und umarmen uns. Vor 6 Tagen hatten wir uns in Idomeni, an der griechischen Grenze, kennengelernt. Es geht Ihnen so weit gut, aber sie haben alle abgenommen. 3 Tage waren sie in Ungarn eingesperrt und es gab nur ein Toast pro Tag. Ob wir mit dem Ticket helfen könnten, fragen Sie uns. Wir sprechen die Polizei an: "Ja, Flüchtlinge können ein Ticket nach München kaufen, soweit auch eine Reservierung verbucht ist. Nein, wir wissen nicht, ob sie dann an der Grenze einfach rausgeschmissen werden." Bis morgen werden sie nun hierbleiben, das Risiko, 300 Euro falsch zu investieren, ist den Syrern zu hoch. Assad lächelt: "Okay, okay we wait. But we never want to return to Hungary again." 21 Mittwoch, 16.09.2015: 1. Stock des Bahnhofs, eine kleine Sitzecke für wartende Passagiere und neuer Handyaufladepunkt für Flüchtlinge mit Wifizugang. Wieder ein Informationspunkt zum Austauschen und der Anlaufpunkt für Schlepper. Die Bahnen fahren die Menschen nicht mehr nach Deutschland? Ein neues System findet sofort einen Abnehmer bei den Flüchtlingen, die noch etwas Geld für die Weiterreise haben. Ein Flüchtling drückt einem Mann in Lederjacke (welch ein Klischee) 620€ in bar in die Hand. Für welche Strecke und welche Anzahl an Personen, wissen wir nicht. Nur, dass Verzweiflung einen nach vorne treibt. Egal, ob die Bahn ihren Verkehr einstellt oder nicht. Mittwoch, 16.09.2015: #Grenzgänger: "Zugverkehr von und nach Deutschland über Salzburg eingestellt. Eine Weiterfahrt mit Zügen ist derzeit nicht möglich. Mittwoch, 16.09.2015: Farzin und Naima haben wir auf Kos kennengelernt. Das iranische Paar ist vor Jahren zum Christentum konvertiert und musste seitdem einen Teil der eigenen Identität verstecken. Farzin ist als erster vor zwei Jahren nach Frankreich geflohen. Der Asylantrag wurde abgelehnt und man schob ihn nach Mali ab. Wir schauen ihn ungläubig an. Nach Mali? Ja, es waren so viele Leute und es war ihnen egal, wer wohin geht. 4 Monate war er in Mali, bevor er sich die Reise zurück in den Iran leisten konnte. Nun also wollten sie es zu zweit nach Westeuropa wagen. Bis Ungarn ging alles gut. Obwohl nachts immer einer Wachdienst hatte, wurden sie zusammen mit einem Freund in Budapest mit Waffen überfallen. Handy, Geld, Karten- alles weg. Als sie endlich wegrennen konnten liefen sie zur Polizei, die zwar nichts zur Auflösung des Überfalls unternahm, ihnen aber Schlafplätze für die Nacht gab und sie am nächsten Tag zur österreichischen Grenze fuhr. Während Farzin erzählt wird Naima schwindelig. Sie ist schmal geworden. Ihre Augen glitzern nicht mehr so, wie noch vor einer Woche. Sie muss zum Arzt. Nach Deutschland schaffen es die beiden nicht mehr und sie werden heute Abend ihren Asylantrag bei der österreichischen Polizei stellen. Ihre größte Angst ist es, für das Asylverfahren nach Ungarn zurückzumüssen. "Wir möchten uns gerne in Österreich ein Leben aufbauen, hier in die Kirche gehen und studieren. Aber es ist so viel passiert. Gerade wollen wir nur schlafen." 22 Mittwoch, 16.09.2015: Stundenlang saßen diese zwei Künstlerinnen bereits am Bahnhof und haben Reisende gezeichnet. Irgendwann setzt sich ein Flüchtling dazu. Mit Händen und Füßen beginnt eine Konversation und dieses Portrait entsteht. Donnerstag, 17.09.2015: Nach 17 Tagen auf der Balkanroute nähern wir uns heute der deutschen Grenze. So viel haben wir über diese Grenze gehört, so viele Hoffnungen sind bei den Leuten um uns herum mit dem Übergang verbunden, dass auch in unseren Köpfen der Grenzübertritt die Gestalt einer wahren Überquerung angenommen hat. Wir werden zunächst bis nach Salzburg fahren, dort mit Freiwilligen sprechen und dann über die deutsche Grenze nach Freilassing laufen. Auf Facebook haben wir uns schon bestens über das dortige Engagement informiert. Donnerstag, 17.09.2015: Antwort von Hannah & Felix zu den Pässen der Flüchtlinge: "Die Frage nach den Pässen ist in der Tat eine sehr spannende Frage. Der Großteil der Flüchtlinge hat die Pässe noch dabei. Es ist das wichtigste Dokument, um zu beweisen, dass man aus einem Kriegsgebiet geflohen ist. Die traurige Wahrheit ist, dass vor allem syrische Pässe auf dem Schwarzmarkt mittlerweile eine beliebte Ware geworden sind. In der Türkei und auch bis vor einiger Zeit in Mazedonien wurden Flüchtlingsgruppen gezielt überfallen, um die Pässe zu klauen. Für viele Flüchtlinge ist es deshalb mittlerweile selbstverständlich, alle wichtigen Dokumente gescannt im E-Mail Postfach aufzubewahren. Donnerstag, 17.09.2015: Ein Geburtstagsgruß über Facebook von Ahmed für Felix. Ahmed hatten wir auf Kos portraitiert und mit ihm begann unser WhatsApp Feed auf der Fähre nach Athen: "Happy birthday to you my friend and I reached in Germany now I am living in refugee camp of Germany which is situated in Mettmann." 23 Donnerstag, 17.09.2015: Der Bahnverkehr zwischen Österreich und Deutschland wurde eingestellt und so fahren wir mit dem Salzburger Nahverkehrsbus bis zur letzten Haltestation vor Deutschland. Zusammen mit einer syrischen Familie laufen wir die letzten 300 Meter bis zur langen Schlange, die sich auf der Grenzbrücke gebildet hat. Es sind 27 Grad, die Sonne prallt auf den Asphalt und eine Gruppe Syrer ruft immer wieder "Merkel, Merkel". Es ist unklar, ob Flüchtlinge über die Grenze kommen können oder nicht. Mal scheint es, als ob die Polizei kleine Gruppen durchlässt, mal als ob alles stehen bleibe. Wanderer, Radfahrer und Einkäufer spazieren über die Brücke. Deutschland ist 10 Meter von uns entfernt. Donnerstag, 17.09.2015: Die Lage an der serbisch-ungarischen Grenze eskaliert. All unsere Sorgen, die mit den neuen ungarischen Notstandsgesetzen und der Schließung der Grenze verbunden waren, haben sich bewahrheitet. Wir sehen in den Nachrichten Bilder von blutenden, rennenden Menschen und bewaffneten Soldaten. Wir erkennen den Weg, den wir vor fünf Tagen selber gelaufen sind, die Häuser, den Duty Free Shop, das Grenzhaus. Es zieht uns dorthin zurück. Aber wir hatten vor Wochen beschlossen, für #Grenzgänger den Weg der Flüchtlinge zu gehen. Kein Flüchtling macht sich kurz vor der Grenze zu Deutschland auf den Weg zurück nach Serbien. In Gedanken sind wir dort und hoffen, dass die internationale Gemeinschaft endlich Druck auf Ungarn ausüben wird. Donnerstag, 17.09.2015: Die Angst, die eigenen Kinder, Eltern oder Freunde auf dem Weg zu verlieren, ist immer gegenwärtig. Wer es bis nach Deutschland geschafft hat, versucht hier, Vermisste wiederzufinden. Die sozialen Medien können dabei extrem behilflich sein, doch manchmal ist auch eine Plakatsuche notwendig. Donnerstag, 17.09.2015: Der 24er Bus verbindet Österreich und Deutschland. Salzburg und Freilassing. Ein wahrer Grenzgänger. Sein Verkehr ist momentan stark eingeschränkt. Von Österreich kommend wird er auf deutscher Seite kontrolliert. Drei Flüchtlinge steigen aus, die Tickets in der Hand. Die deutschen Grenzpolizisten holen Sie ab und führen Sie zum deutschen Registrierungslager. Egal, sie haben es geschafft. Für 2,50€ mit dem öffentlichen Nahverkehr über die Grenze, die mit Schmugglern wohl 500€ kosten soll. Es war pures Glück, dass sie 10 Meter vorher nicht kontrolliert wurden und nun sind sie da. 24 Donnerstag, 17.09.2015: Sie werden in Freilassing ihre Daten abgeben, eine Nacht im Camp bleiben und dann vom Bahnhof aus in ihre deutsche Asylbewerberunterkunft reisen können. Vorher bekommen sie noch einen Müsliriegel, ein Wasser und etwas Obst von den vielen aktiven Helfern. Willkommen! Donnerstag, 17.09.2015: Gelächter im ICE. Am Nebentisch sitzt eine Flüchtlingsfamilie, die freundliche Schaffnerin hatte es geschafft, dass sie zusammen sitzen können. Irgendwann holt der Vater einen Beutel mit Süßigkeiten heraus. Er bietet seiner Frau eine Milka Haselnuss Schokolade an, sie schüttelt den Kopf. Reihum wird diese nun jedem anderen Passagier angeboten. Alle lehnen höflich ab. Er bietet seiner Frau daraufhin eine Milka Kuhflecken Schokolade an, wieder lehnt sie ab und allen anderen wird die Schokolade angeboten. Wieder nur freundliches Kopfschütteln. Er holt einen Marsriegel hervor, glücklich nimmt die Frau ihn entgegen. Alle lachen. Freitag, 18.09.2015: Während der ICE weiter durch die Nacht rast, sind die Flüchtlingsfamilien an unserer Seite eingeschlafen. Wir hängen unseren Gedanken nach. Es ist unser letzter Grenzgänger-Abend, wir wollen noch kein Fazit ziehen, morgen noch einmal offen schreiben und am Bau des Asylbewerberheims in Köln enden. Wir sind traurig, dass unsere Reise sich ihrem Ende neigt und freuen uns auf den noch verbleibenden morgigen Tag. Freitag, 18.09.2015, 12:10: Wir sind in Köln angekommen, dem neuen Flüchtlingsverteilungszentrum von NRW. Im Zug werden die Flüchtlinge aus Bayern ab Montag zum Bahnhof am Kölner Flughafen gebracht und von dort aus auf ganz NRW verteilt. Der Weg der Flüchtlinge in Deutschland ist durchgeplant, getaktet, organisiert. Wir können nicht mehr weiter neben ihnen herreisen, werden ihnen aber hier und dort wieder begegnen. Unser Blick geht nun zum Bevorstehenden: Wie geht Deutschland mit den Tausenden von Neuankommenden um? Was bedeutet der Bau von einem Asylbewerberheim für eine Nachbarschaft? Welche Auswirkungen haben die immer knapper werdenden Ressourcen, der schwindende Wohnraum, die fehlenden Mitarbeiter auf das Asylverfahren? Freitag, 18.09.2015, 16:56: Asylbewerber als Gegenstand in einem unerbittlichen Verwaltungsstreit zwischen Anwohnern und städtischem Bauamt. Wie viele dieser Konflikte existieren wohl gegenwärtig in Deutschland? Es geht um Ängste, Entfremdung, Wertverlust von Grundstücken, Überforderung und schlechte Kommunikation von Politikern. Einer dieser Konflikte findet genau vor unserer Haustür statt. Vorne links bei der Einfahrt, die Felix seit seiner Kindheit täglich durchquert hat. Eine Asylbewerberunterkunft für 80 Personen soll gebaut werden. "80? Nein, das ist das alte Spiel. Erst sagt die Politik 80, dann kommen 160, dann nochmal 80. Die Bürger werden für dumm 25 erklärt." Die Fronten unter den Bürgern verhärten sich. Es gibt den Willkommensverein, der bereits jetzt Sprachkurse und Kinderbetreuung plant, und die Klagegruppe, die einen Baustopp erzwingen will. Irgendwie geht es auch um die Menschen, die da kommen sollen, aber irgendwie geht es auch um die Wähler-Politiker Beziehung, vielleicht sogar um das System als Ganzes. Es kommt einiges auf Deutschland zu und es liegt an uns, ob dies klappen kann, denn die, die entscheiden, sind die, die wir wählen. Im Wahlkampf in Köln spielt dies bereits eine große Rolle. Freitag, 18.09.2015, 18:00: Wir wissen nicht, wo unsere Freunde gerade sind: Das Handy der beiden konvertierten Iraner ist aus, von unseren Jungs hatten wir nie die Facebook-Namen, Ahmed hat nur selten Internet in Mettmann, Assad und seine Schwester antworten nicht bei WhatsApp, von den beiden afghanischen Mädchen Mahmi und Mariam hatten wir nie mehr als ihre Namen. Vielleicht sind einige noch auf dem Weg, vielleicht sind sie auch schon in Registrierungscamps oder sogar schon in ihrem Asylbewerberheim, bereits mit ausgepackten Taschen und einem Raum, in dem sie länger bleiben können? Wir hoffen, dass wir von dem ein oder anderen noch einmal etwas hören werden, dass wir uns irgendwo zu unerwarteter Zeit über den Weg laufen, dass einmal aus dem Nichts eine Facebook-Kontaktanfragen kommt. Freitag, 18.09.2015, 20:41: Was wünschen wir den Menschen, die wir ein Stück auf ihrer Flucht begleiten durften? Wir wünschen ihnen, dass sie ein eigenes Zimmer haben, mit einer Tür, die sie zuziehen können, wenn sie allein sein wollen. Den Luxus der Privatsphäre, den es seit Wochen oder Monaten nicht mehr gab. Wir wünschen ihnen, dass sie die Albträume von der Bootsüberfahrt bald loslassen können. Dass sie ganz normal in einen Bus einsteigen können, ohne dass sie den Drang verspüren, sich mit Ellenbogen vorkämpfen zu müssen, immer mit der Angst, dass nur dieser Bus heute noch fährt und sie näher an ihr Ziel bringen kann. Wir wünschen ihnen, dass eine saubere Toilette für sie bald schon keine Besonderheit mehr ist, sondern ein Teil des Alltags. Dass das fehlende zweite "angekommen"-Häkchen bei WhatsApp nicht mehr im Kopf ununterbrochene Was-wäre-wenn-Szenarien lostritt. Mehr als alles andere aber wünschen wir ihnen, dass sie ankommen können. Freitag, 18.09.2015, 21:41: In unserem letzten Post möchten wir uns gerne von ganzem Herzen bedanken. In Berlin saß eine wunderbare „Redaktion“, die die Nachrichten weitergeleitet und moderiert hat und uns alles Organisatorische perfekt vom Hals zu halten wusste. Wir hätten nie damit gerechnet, dass über 1000 Leute unsere Reise begleiten würden. Zu spüren, wie ihr mitfiebert, Fragen stellt und euch um die Menschen sorgt, war wundervoll. Danke! Unser größter Dank geht an die, die wir begleiten durften. Die uns von ihrem Leben berichteten, unsere Hand hielten, mit denen wir gelacht haben und deren Geschichten uns manchmal die Tränen in die Augen getrieben haben So seltsam das klingt, wir hatten eine schöne Zeit. So körperlich erschöpft wir uns gerade fühlen, so sehr schmunzeln wir über die schönen Momente. Jedes Wiedersehen an einem anderen Platz, der wiedergefundene Notizzettel, das Abendessen mit „unseren“ Jungs… 26 Die kommenden Jahre werden nicht einfach sein für Deutschland. Aber wir möchten Deutschland auch eins sagen, nämlich, dass gerade auch einfach tolle Leute auf uns zu kommen, die in der schwersten Zeit ihres Lebens mit Witz, Ironie und großer Kraft vorangehen und sich nebenbei mit großem Herz um zwei Deutsche mit kleinen Rucksäcken gekümmert haben. 27
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