Horst Meier (Hrsg.) Lehren und Lernen für die moderne Arbeitswelt Der vorliegende Tagungsband stellt Forschungsergebnisse der Mitglieder der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Arbeits- und Betriebsorganisation vor. Die Beiträge behandeln das Thema aus der wissenschaftlichen Perspektive mit praktischen Umsetzungsbeispielen. ISBN 978-3-95545-128-8 9 783955 451288 GITO Schriftenreihe der Hochschulgruppe für Arbeits- und Betriebsorganisation e. V. (HAB) Die industrielle Produktion unterliegt aufgrund innovativer Produktionstechnologien, vernetzter Produktionssysteme, neuer Organisationsformen und insbesondere durch die zunehmende Durchdringung der Produktionsprozesse durch Informations- und Kommunikationstechnologien einem stetigen Wandel. Für die Wandlungsfähigkeit eines Produktionssystems sind die Kompetenzen der Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung. In der modernen Arbeitswelt werden von ihnen Innovationfähigkeit, Komplexitätsbeherrschung und die ganzheitliche Betrachtung von Produktionsprozessen erwartet. Hierzu wurden neue Lehr- und Lernkonzepte für die studentische Ausbildung und für die industrielle Weiterbildung entwickelt. Lehren und Lernen für die moderne Arbeitswelt Horst Meier (Hrsg.) Horst Meier (Hrsg.) Lehren und Lernen für die moderne Arbeitswelt Reihe: Schriftenreihe der Hochschulgruppe für Arbeits- und Betriebsorganisation e. V. (HAB) Lehren und Lernen für die moderne Arbeitswelt Horst Meier (Hrsg.) Prof. Dr.-Ing. Horst Meier Ruhr-Universität Bochum Lehrstuhl für Produktionssysteme Universitätsstraße 150 44801 Bochum ISBN 978-3-95545-128-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Veröffentlicht im GITO Verlag 2015 Gedruckt und gebunden in Berlin 2015 © GITO mbH Verlag Berlin 2015 GITO mbH Verlag für Industrielle Informationstechnik und Organisation Detmolder Straße 62 10715 Berlin Tel.: +49.(0)30.41 93 83 64 Fax: +49.(0)30.41 93 83 67 E-Mail: [email protected] Internet: www.gito.de Horst Meier (Hrsg.) Lehren und Lernen für die moderne Arbeitswelt Vorwort Die industrielle Produktion unterliegt aufgrund innovativer Produktionstechnologien, vernetzter Produktionssysteme, neuer Organisationsformen und insbesondere durch die zunehmende Durchdringung der Produktionsprozesse durch Informations- und Kommunikationstechnologien einem stetigen Wandel. Für die Wandlungsfähigkeit eines Produktionssystems sind die Kompetenzen der Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung. In der modernen Arbeitswelt werden von ihnen Innovationfähigkeit, Komplexitätsbeherrschung und die ganzheitliche Betrachtung von Produktionsprozessen erwartet. Hierzu wurden neue Lehr- und Lernkonzepte für die studentische Ausbildung und für die industrielle Weiterbildung entwickelt. In der industriellen Weiterbildung sind Lösungskonzepte für das lebenslange Lernen eine wichtige Herausforderung. Hierzu wurden umfangreiche Forschungsprojekte zur zielgerichteten Weiterbildung durchgeführt. Ein besonders aktuelles Forschungsfeld ist Industrie 4.0 und die damit verknüpften veränderten Anforderungen an die Mitarbeiter. In der studentischen Ausbildung wird der Globalisierung der Arbeitswelt durch die Internationalisierung der Studienprogramme und der ganzheitlichen Sicht auf Produktionsprozesse durch Lernfabriken Rechnung getragen. Mit diesem Buch möchten ich ihnen interessante Forschungsergebnisse der Mitglieder der wissenschaftlichen Gesellschaft für Arbeits- und Betriebsorganisation vorstellen. Es werden die Themenfelder lebenslanges Lernen, Lehren und Lernen im Kontext von Industrie 4.0, Lehren und Lernen mit Lernfabriken und universitäre Ausbildungskonzepte behandelt. Den Autoren der Beiträge danke ich herzlich für ihre umfassende Behandlung der Thematik. Herrn Sebastian Freith danke ich für seine hervorragende Unterstützung bei der Organisation des Buches. Bochum, im September 2015 Horst Meier Inhaltsverzeichnis 7 Lebenslanges Lernen Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft ……………………………………………………………………………………………………15 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning zur Förderung reflexiver Handlungsfähigkeit in der Produktionsorganisation………………………………………………..39 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion - Ein Ansatz zur Strukturierung relevanter Parameter…………………….57 André Ullrich, Gergana Vladova PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen………………………………………………………………….81 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze für eine moderne Arbeitswelt……………………………97 Egon Müller, David Jentsch 8 Inhaltsverzeichnis Lehren und Lernen im Kontext von Industrie 4.0 Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0………………………………113 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0…………………………………………………………………………125 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 im Rahmen eines Planspielszenarios – Simulation und Evaluation………………………..145 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft……………………………………………………………………….163 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen………………………………………………………………………………………..183 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Inhaltsverzeichnis 9 Lehren und Lernen mit Lernfabriken Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt………………………………………………………………………..211 Horst Meier, Bernd Kuhlenkötter, Dieter Kreimeier, Sebastian Freith, Björn Krückhans, Friedrich Morlock, Christopher Prinz InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität……………………………………………………………………………………………...233 Martin Schmauder, Martin Erler, Christian Fabig, Christian Friedrich, Daniel Gröllich, Anja Günther, Gritt Ott Universitäre Ausbildungskonzepte Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität…………………………………………………………………………………………249 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung im Rahmen der universitären Lehre…………………..265 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen………………………………………………………………………………………..285 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny 10 Inhaltsverzeichnis Ergänzungsbeitrag Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras…………………………..313 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding 13 Lebenslanges Lernen – Übersicht Lebenslanges Lernen Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning zur Förderung reflexiver Handlungsfähigkeit in der Produktionsorganisation Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion – Ein Ansatz zur Strukturierung relevanter Parameter André Ullrich, Gergana Vladova PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze für eine moderne Arbeitswelt Egon Müller, David Jentsch Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 15 Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Lebenslanges Lernen ist eines der bedeutenden Themen in Wirtschaft und Gesellschaft geworden. Es ist entscheidend und zukunftsweisend für individuelle Chancen, unternehmerische Wettbewerbsvorteile und generelle Standortvorteile von Regionen und Ländern. Dabei wird das Lebenslange Lernen als begleitendes Lernen verstanden, das informelles Lernen, außerbetriebliche Weiterbildung wie auch Lernen am Arbeitsplatz umfasst. Im folgenden Beitrag werden die Hintergründe und jüngsten Entwicklungen in verschiedenen Bereichen der Technologie, Methodik und Didaktik beschrieben und Lebenslanges Lernen an Hand zweier aktueller Forschungsprojekte, an denen DITF-MR maßgeblich beteiligt ist, vorgestellt. Dies erfolgt anhand von Beispielen aus der klein und mittelständisch geprägten Textilwirtschaft für eine zielgruppenspezifische außerbetriebliche Weiterbildung und Training am Arbeitsplatz. 1 Einleitung Die Annahme, dass eine einmalige Aus- oder Weiterbildung für ein ganzes Berufsleben reichen kann, ist in den entwickelten Industriestaaten längst obsolet. Aufgrund der vorherrschenden Dynamik in der Wirtschaftswelt, der gesellschaftlichen Veränderungen, aber auch angesichts schnell aufeinander folgender technologischer Innovationen wird eine kontinuierliche Weiterbildung für beinahe alle Berufe und in nahezu allen Branchen immer wichtiger, wenn nicht gar zur Pflicht. Die folgende Abbildung 1 zeigt überblickartig die sich seit einiger Zeit andeutenden Entwicklungen aus den Bereichen Ökonomie, Technologie sowie Gesellschaft (und Politik), die einen Einfluss auf den Bereich des Lebenslangen Lernens bzw. der Aus- und Weiterbildung haben: 16 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Abbildung 1: Entwicklungen und daraus resultierende Konsequenzen (in Anlehnung an Müller 2004, S. 10) Während die aufgezeigten ökonomischen Entwicklungen, wie Globalisierung, Deregulierung etc., hauptsächlich einen verstärkten Wettbewerbsdruck auf die Unternehmen, aber auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Folge haben, können die Entwicklungen in der Technologie für neue Formen der Arbeits- und Betriebsorganisation genutzt werden. Mit diesen beiden wirken auch die gesellschaftlichen Veränderungen, wie der demographische Wandel, aber auch die Zunahme der persönlichen Freiheit, der Wertewandel und die Enttraditionalisierung auf die Angebote der Aus- und Weiterbildung. Die hier zu erkennenden Konsequenzen sind eine generell erhöhte Bedeutung von Aus- und Weiterbildung, gestützt durch eine gesteigerte Nachfrage, aber auch ein verstärkter Blick auf die Effektivität und die Effizienz von verschiedenen Formen der Aus- und Weiterbildung, der in neuen Lernkontexten und neuen Geschäftsmodellen resultiert. Während mehr als 70% der Führungskräfte im deutschsprachigen Raum eine Weiterbildung in Anspruch nehmen (Groll 2014 und Hernstein Management Report 2014), um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden, gilt dies oftmals nicht für die Angestellten und Arbeitenden, ob- Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 17 wohl auch dort ein großer Bedarf vorhanden ist. Denn gerade die Beschäftigten in mittelständisch geprägten Unternehmen in weniger gut ausgestatteten Industriesektoren müssen mit der technischen Entwicklung Schritt halten können und ein Training erhalten, das das eigene Kompetenzprofil im Sinne von „Employability“ stärkt und die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationsstärke steigert. Im folgenden Kapitel dieses Beitrages werden zunächst die aktuelle Situation und der Bedarf für Lebenslanges Lernen in der Textilwirtschaft dargestellt. Die Textilwirtschaft steht dabei beispielhaft für Industrien, die von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägt sind und in denen sich viele Unternehmensnetzwerke bilden und gemeinsam Produkte und Leistungen erstellen. Hier wird die Aus- und Weiterbildung zwar als notwendig erkannt, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht nachgefragt. Im Anschluss werden in Kapitel 3 neue Technologien, neue didaktische Konzepte und Methoden erläutert, die aktuell großen Einfluss gewinnen. Pars pro toto für die neuen Technologien werden hier Lernplattformen (LMS), mobile Endgeräte und Augmented Reality vorgestellt, die alle weitreichenden Möglichkeiten offerieren und bereits eine hohe Akzeptanz in der Forschungs- und Bildungslandschaft aufweisen. Die neuen didaktischen Konzepte und Methoden sind im darauf folgenden Abschnitt beschrieben. Hierbei sind besonders die hybriden Lernformen hervorzuheben, die zudem die Lernsituation und informelles Lernen berücksichtigen. Als exemplarische Umsetzungen werden in Kapitel 4 zwei Forschungsprojekte beschrieben. Im BMBF-Forschungsprojekt Learn Textile! liegt der Fokus auf der außerbetrieblichen Weiterbildung für bestimmte Zielgruppen. Im EU-Forschungsprojekt TELL ME steht das Training am Arbeitsplatz im Vordergrund. Hier wird eine eigene umfassende Trainingsmethodik entwickelt und der Einsatz neuer Technologien forciert. 2 Die Ausgangssituation und der Bedarf für Lebenslanges Lernen in der Textilwirtschaft Die Textilbranche in Deutschland durchlief in den letzten Jahren einen starken Wandel. Einer dramatischen Konsolidierungsphase im Bereich Bekleidung folgte ein Boom im Bereich der Technischen Textilien. Der deutsche Textilmaschinenbau blieb führend, und es kommt immer noch jede vierte Textilmaschine aus Deutschland. Bei den Endprodukten sieht die Branche aktuell eine Zweiteilung in qualitativ hochwertige und hoch- 18 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein modische Bekleidung und Heimtextilien sowie funktionalisierte Textilien für technische oder medizinische Anwendungen. Die Perspektiven 2025, dargestellt in der gleichnamigen Broschüre des Forschungskuratoriums Textil, beschreibt die Konsequenzen dieses Wandels folgendermaßen: „Bei Innovationen ´made/created in Germany` ist die Textilforschung mit neuen faserbasierten Materialien ein gefragter Problemlöser. Nicht nur die klassischen ´Treiber` wie Automotive und Luftfahrt greifen verstärkt auf neuartige Hightech-Werkstoffe aus Textil zurück: Auch Biomaterialien für die Medizin, leitfähige Polymere zur Herstellung sensorischer oder lichtleitender Textilien und nanomodifizierte Hybridgarne für die Bauteilfertigung sind gefragter denn je.“ (Jansen 2014) Daraus ergibt sich seitens der Textil- und Bekleidungsindustrie ein immer höher werdender Bedarf an Fachkräften mit Kenntnissen im Umgang mit neuen Materialien, Prozessen, Verfahren und Anforderungen potentieller neuer Kunden und Entwicklungspartner, aber auch mit der Entwicklung und Produktion von Klein- und Kleinstserien bis hin zu Stückzahl eins. Darüber hinaus wächst von Seiten der Kunden z. B. im Hinblick auf Leichtbau und Energieeinsparung das Interesse an textilen Werkstoffen wie beispielsweise Carbon-, Keramik- oder Glasfasern. Auch müssen sich viele Unternehmen erst mit digitalen Verfahren und technologischen Neuerungen für eine kundenindividuelle Fertigung, wie z. B. der Digitaldruck auf textilen Flächen, vertraut machen. Hierzu kommen als weitere Treiber für Lebenslanges Lernen die bereits in der Einführung beschriebenen Faktoren, insbesondere der demographische Wandel und der sich verschärfender Wettbewerb in bestehenden Märkten. Dies alles begründet für die zumeist mittelständisch geprägten Textilunternehmen in Deutschland die Notwendigkeit sich mit Lebenslangem Lernen intensiv auseinanderzusetzen. Schon heute zeigen die Unternehmen großes Interesse an der Weiterbildung ihrer Beschäftigten, wenn es um betrieblich relevante Themen geht. Sie realisieren diese aber z. B. wegen hoher Kosten der Weiterbildung oder langer Abwesenheit der Mitarbeiter vom Arbeitsplatz oftmals nicht. Hier besteht ein großes Potential für – jedoch noch kaum vorhandene – spezifische, ortsunabhängige E-Learning-Angebote und Weiterbildung der Beschäftigten direkt am Arbeitsplatz. Bisherige Angebote in der Textilwirtschaft, die von regionalen oder überregionalen Verbänden, IHKs oder der Industrie getragen werden, decken diesen Bereich noch nicht hinreichend ab. Zurzeit existieren deutschspra- Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 19 chige E-Learning-Angebote von verschiedenen Anbietern, die spezifische Zielgruppen adressieren. Kommerzielle Angebote für Beschäftigte des Einzelhandels (Ein Angebot des Deutschen Fachverlags GmbH: www.textilwissen.de) Textilreinigungs-Fachleute (E-Learning-Kurse der InternetAkademie zu spezifischen Themen für Textilreinigungs-Fachleute: http://internetakademie-textilreinigung.de/) Mitarbeiter der Textilwirtschaft mit abgeschlossener Berufsausbildung (Staatlich anerkannte Weiterbildung der IHK Nordwestfalen: www. Ihk-nordwestfalen.de) Angebote von Verbänden oder Communities für Nachwuchs in der Textilwirtschaft (Portal zur Nachwuchswerbung, 2014 ergänzt um den Kursfinder zum Suchen von Kursen –ausnahmslos Präsenzveranstaltungen: www.gotextile.de) Studierende der Textil- und Bekleidungstechnik (Fachbereich Textil- und Bekleidungstechnik der HS Niederrhein: weissnet.hsniederrhein.de:8080) Lehrer und Lehrerinnen von Berufsschulen (Ein Angebot des Entwicklungspolitischen Bildungs- und Informationszentrums (EPIZ): epizberlin.de/moodle/course/category.php?id=15) Auszubildende aus den Bereichen Flach- und Rundstrickerei sowie Wirkerei (entstanden im Rahmen eines LeonardoProjekts: www.etex-online.net) 1 Weitere lexikonartige Angebote im deutschsprachigen Raum sind u. a. ViBiNeT (Ein lexikonartig aufgebautes Wiki-System mit digitalen Inhalten, die ursprünglich für die Unterstützung der Arbeit der Lehrenden gedacht war; heute wird es auch von Lernenden als zusätzliches Lernmaterial verwendet: www.vibinet.de) 1 Auf weitere englischsprachige oder branchenfremde Angebote soll hier nicht eingegangen werden. 20 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Texsite (dies ist ein mehrsprachiges Textilwörterbuch mit kurzen Erklärungen der enthaltenen Textilbegriffe. Allerdings sind die Inhalte nicht didaktisch aufbereitet: www.texsite.info) Textil- bzw. Modelexikon auf FASHION-BASE.de Das Mode – Portal (Das Textil- und Modelexikon erläutert Fachbegriffe aus der Textil- und Modebranche: www.fashionbase.de/Modelexikon/ index.htm) TextilWISSEN auf Raumprobe (Im Vordergrund stehen Erklärungen zu Materialien für den Innenausbau: www.raumprobe.de/service/ materialwissen/textilwissen) Neben den Anforderungen der kleinen und mittelständisch geprägten Unternehmen der Textilwirtschaft in Deutschland wurden darüber hinaus auf der europäischen Ebene weitere Aspekte identifiziert, die in der beruflichen Bildung generell in den Mittelpunkt rücken. Hier sind an erster Stelle der Mensch im Mittelpunkt der Produktion (Human-centred manufacturing), lernende Ökosysteme (Learning ecosystems) und Lernen am Arbeitsplatz (Learning at the workplace) zu nennen. 3 3.1 Die Möglichkeiten neuer Technologien, didaktischer Konzepte und Lernangebote für Lebenslanges Lernen Ausgewählte neue Technologien Die in Abbildung 1 skizzierten allgemein formulierten technologischen Entwicklungen wie Vernetzung, Datenvolumen/ Datenhaltung, Ambient Intelligence, Mobilisierung der Netze etc. finden ihre Ausprägungen im Bereich des Lebenslangen Lernens insbesondere auch in Lernmanagement-Systemen (LMS) sowie bei der Anwendung mobiler Endgeräte und Augmented Reality (AR). Auf diese drei Technologien wird im Folgenden näher eingegangen. LMS sind Lernplattformen, die nicht mehr nur der Bereitstellung digitaler Inhalte dienen, wie dies z. B. bei den im vorherigen Kapitel beschriebenen Plattformen ViBiNeT und TextilWISSEN der Fall ist. Moderne LMS integrieren vielmehr eine große Zahl unterschiedlicher Funktionalitäten, um den gesamten Lernprozess zu unterstützen. Diese Funktionalitäten lassen sich zu folgenden Bereichen zusammenfassen: Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 21 Erstellen von Lernfragmenten, d. h. der kleinsten Einheiten (Text, Bild, Video) und Komposition dieser Elemente zu größeren Modulen und Kursen. Häufig bieten die Systeme die Möglichkeit, diese Elemente auf jeder Granularitätsebene in sogenannten Medienpools zu verwalten. Dies erlaubt es, die Erstellung der Inhalte von der Komposition zu größeren Einheiten und Mehrfachverwendung zu entkoppeln. Erstellen von Prüfungsaufgaben unterschiedlicher Formate. In der Regel werden dafür geschlossene Fragestellungen unterstützt, d. h. die Antworten werden nicht als freier Fließtext erwartet, sondern aus einer Menge möglicher Antworten ausgewählt oder Zuordnungen vorgenommen. Dieses Vorgehen erlaubt die automatische Auswertung der Prüfungsaufgaben und – auf Basis der erzielten Ergebnisse – die Ermittlung von Folgeaktivitäten für die Lernenden. Unterstützen der Kommunikation zwischen den Lehrenden bzw. Tutorinnen sowie Tutoren und den Lernenden oder auch zwischen den Lernenden untereinander. Dafür kommen systeminterne Mail- und Chatfunktionalitäten in Frage, die denen außerhalb der Lernplattform ähnlich sind. Darüber hinaus existieren häufig Whiteboards oder andere Formen der gemeinsamen Dokumentenbearbeitung, womit eine Zusammenarbeit in kleinen Gruppen möglich ist. Auch Application-Sharing wird von manchen Plattformen unterstützt. Verwalten der Anwenderinnen und Anwender und Organisation der Kursangebote sind Arbeiten, die in der Regel von Mitarbeitern des Bildungsträgers, in dessen Auftrag die Lernplattform betrieben wird, durchgeführt werden. Um den Nutzenden der Plattform den Überblick über ihre Aktivitäten und Möglichkeiten zu erleichtern, bieten fast alle Systeme einen nutzerspezifischen Bereich, häufig Desktop, myHome oder Schreibtisch genannt. In diesem Bereich werden alle für die spezifische Person (Lernende, aber auch für Lehrende, Tutoreninnen und Tutoren, Autorinnen und Autoren sowie selbst für Verwalter, d. h. Mitarbeiter der Bildungseinrichtung) relevanten Informationen übersichtlich strukturiert dargestellt. Die Nutzung der Plattformen auf mobilen Endgeräten gewinnt immer mehr an Bedeutung. Dies sollte zumindest für die Tutorinnen und Tutoren sowie für die Lernenden gut unterstützt werden. 22 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Ein mobiles Endgerät ist typischerweise ein kleines, tragbares Gerät mit einem Display und einer Eingabemöglichkeit, wie Touchscreen oder Tas2 tatur (siehe o. V. 2015a). Typische Vertreter von mobilen Endgeräten sind in der Kategorie Mobile Computers die Ausprägungen Smartphones, 3 PDAs, Tablet Computers, Wearables (Smartwatches), Head-mounted displays, Hand held games consoles u.v.m. Der Vorteil der mobilen Endgeräte liegt darin, dass sie unterschiedliche digitale und multimediale Inhalte ortsunabhängig zur Verfügung stellen können. Augmented Reality ist vereinfacht formuliert „… die Erweiterung der Realität um digitale Informationen …“ (Drochtert/Geiger 2015, S. 41), und erfolgt z. B. mit Hilfe des Displays eines mobilen Endgerätes oder einer Brille, wie Google Glass. Die Anwendungsfälle für AR sind zahlreich. So findet AR z. B. Verwendung, um im Tourismus-Bereich erweiterte Informationen zu Orten oder Ausstellungen anzubieten, in Spielen, in Apps oder auch in Anfängen in der Ausbildung. AR dient, neben der Anreicherung der Realität um digitale Informationen, der Visualisierung komplexer Zusammenhänge und unterstützt dadurch das Verständnis abstrakter Inhalte. Die meisten der mobilen ARAnwendungen können durch die Magic-Lense-Metapher beschrieben werden. Sie beschreibt die Sicht durch das Display des mobilen Geräts in die durch digitale Informationen erweiterte Welt. Darüber hinaus gibt es die Magic-Mirror-Systeme, in denen man sich und die einen umgebende Welt wie in einem Spiegel sieht, z. B. bei der „virtuellen“ Anprobe von Beklei4 dung oder Accessoires wie Sonnenbrillen. 3.2 Neue didaktische und methodische Konzepte Die neueren Entwicklungen im Bereich des E-Learning ermöglichen, wie in Kapitel 2 skizziert, auch didaktisch immer anspruchsvollere und wirksame- 2 Weitere Kategorien nach (o. V. 2015a) sind: Digitale Kameras, Pager, Smart Cards, Personal Navigation Devices u. a. 3 Wearables werden am Körper, und zwar unter der Kleidung, in die Kleidung integriert oder über der Kleidung, getragen (o. V. 2015b). 4 Siehe hierzu die Ausführungen bei (Drochtert/Geiger 2015, S. 42). Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 23 re Szenarien, die u. a. der Anreicherung von Inhalten oder der Integration in Präsenzveranstaltungen bzw. deren Substitution bis hin zur Vollvirtualisierung dienen. Solche Szenarien werden durch neue InternetTechnologien unterstützt und erlauben eine Verlagerung des Betrachtungsschwerpunktes. Es wird nicht mehr die Lehre in den Vordergrund gestellt, sondern der Vorgang des Lernens, die Lernenden und die Lernumgebung. Diese Entwicklungen bewirken, dass hybride Ausprägungen des ELearning, ebenso wie informelles Lernen immer größere Bedeutung ge5 winnen. Ebenso ergeben sich durch die Verlagerung vom Lehren zum Lernen und durch den Einbezug der Umgebung gravierende Veränderungen in der Auswahl und Gestaltung der einzusetzenden Medien und Technologien sowie der Ausgabegeräte. Dies gilt auch für das Konzept des Blended Learning, das aus einer didaktisch passenden Kombination von unterschiedlichen methodischen und medialen Präsenz- und Online-Komponenten besteht und in den letzten 6 Jahren eine deutliche Aufwertung erhielt. Es geht hierbei um die bestmögliche Kombination unterschiedlicher Medien und Methoden hinsichtlich der 7 Zielgruppe sowie der angestrebten Lernziele , ohne die Lernumgebung aus den Augen zu verlieren. Damit sind Lernanwendungen gemeint, mit denen die Lernenden verteilte Online-Informationen, -Ressourcen, Kontakte und -Kommunikationsmöglichkeiten nach individuellen Bedürfnissen zusammenstellen und zu persönlichen Lernumgebungen kombinieren können. In der Implementierung neuer hybrider Lehr-Lernformate (wie beim Blended Learning) und persönlicher Lernumgebungen im beschriebenen Sinne stellt die Etablierung einer digitalen Lernumgebung als Leitmedium einen ersten Schritt des Transformations- bzw. Entwicklungsprozesses eines Bildungsangebotes dar, wie exemplarisch in Abbildung 2 aufgezeigt wird. 5 Arnold/Faber 2011, S. 165 6 Erpenbeck/Sauter 2014, S. 3 7 Siehe hierzu insbesondere Walter 2007 24 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Abbildung 2: Vom Blended Learning zum Workbased Learning Die Entwicklungen in diesem Bereich können durch verschiedene Möglichkeiten neuer Technologien, didaktischer Konzepte und Lernangebote unterstützt werden, wie z. B. die bereits erwähnten technologiegetriebenen Lernmanagement-Systeme, mobile Endgeräte und Augmented Reality. Weitere Ansätze sind beispielsweise: (Distance) Assessment bzw. ortsunabhängige Lernerfolgskontrolle Precision Teaching zur systematischen Evaluierung des Lernfortschritts und damit auch zur Untersuchung von Lerneinheiten und Lehrplänen Informelles Lernen, also Lernen außerhalb des formalen Bildungswesens, z. B. mit Gleichgesinnten Mikrolernen auf Basis kleinstmöglicher Lerneinheiten Selbstgesteuerte Lerngeschwindigkeit und -dauer Webinare (Online-Seminare) Massive Open Online Courses (MOOCs), die als kostenlose Onlinekurse (häufig auf Universitätsniveau) frei zugänglich sind Serious Gaming bzw. Gamification, d. h. das Einbinden digitaler spielerischer Elemente, die nicht primär der Unterhaltung dienen Interaktion der Lernenden (Computer Supported Collaborative Learning, Whiteboard, Virtual Classroom etc.) Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 4 25 Die Einführung neuer Technologien, didaktischer Konzepte und Lernangebote in der Textilwirtschaft 4.1 Das Projekt Learn Textile! Wie bereits im Kapitel 2 dargestellt, steigt in Deutschland der Bedarf an Fachkräften mit grundlegendem Textil-Know-how sowie mit spezifischen Kenntnissen im Umgang mit neuen textilen (Verbund-)Werkstoffen. Da sich deren Verarbeitung unter anderem aufgrund ihres biegeschlaffen Verhaltens sehr von der Verarbeitung von steifen Materialien wie Metallen unterscheidet, entsteht auch bei den Unternehmen der nun angrenzenden Branchen, die neue faserbasierte Materialien nutzen wollen, ein Bedarf an einem Mindestverständnis textiler Grundlagen und der Kenntnis spezieller Eigenschaften von z. B. Hochleistungsfasern, um diese in geeigneter Form in innovative Produkte und Prozesse integrieren zu können. Darüber hinaus verbessert die Vermittlung eines gemeinsamen Basiswissens die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie den Austausch von Personal zwischen den beteiligten Branchen signifikant. 8 Das Projekt Learn Textile! zielt vor diesem Hintergrund auf die Entwicklung und den Aufbau einer Lernplattform für die Textilwirtschaft. Hierbei steht weniger die technische Entwicklung der Plattform im Fokus, sondern die Entwicklung eines Gesamtkonzepts bestehend aus an drei spezifische Zielgruppen (Nichttextiler bzw. Quereinsteiger, Beschäftigte in Fortbildungsmaßnahmen und Auszubildende) angepasste didaktische Konzepte, einer prozessorientierten Gesamtstruktur zur Einordnung der einzelnen Kursmodule, (Online-)Prüfungen und Lerneinheiten, Kursen für die Themenfelder „Hochleistungsfasern und Einsatzfelder“, „Virtuelle Produktentwicklung und neue Verfahren in der Bekleidungsindustrie“ und „Textile Grundkenntnisse“, auf andere Branchen übertragbaren Best Practices, um einen Transfer in andere Sektoren zu ermöglichen, 8 Learn Textile! ist ein Projekt im Programm „Digitale Medien in der beruflichen Bildung“, gefördert von Oktober 2014 bis März 2017 durch Bundesministeriums für Bildung und Forschung und betreut durch den Projektträger im DLR (BMBF 01PD14008 A-F. URL: www.learn-textile.de) 26 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein einer Verzahnung der Kursmodule mit bestehenden Präsenzangeboten der Verbände und einem tragfähigen Geschäftsmodell für einen neu entstehenden Bildungsträger der Textilverbände in Deutschland. Zu den Projektpartnern gehören neben DITF-MR als Gesamtkoordinator des Projektes, Verbände der Textilwirtschaft (Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie e. V., Verband der Südwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e. V.), die Hochschule Niederrhein University of Applied Sciences, die Technische Universität Kaiserslautern und die Allianz faserbasierte Werkstoffe Baden-Württemberg e.V. Das Vorgehen des Projekts Learn Textile! beinhaltet zuerst eine Anforderungsanalyse bezogen auf die didaktische Konzeption sowie die technischen Anforderungen an das LMS und an den zukünftigen Bildungsträger. Dies verlangt sowohl die Entwicklung eines Bedienkonzeptes und daraus abgeleiteter Funktionalitäten, die das LMS anbieten muss, als auch erste Überlegungen zum Geschäftsmodell des Bildungsträgers. Hinsichtlich der Erarbeitung der didaktischen Konzeption wurde ein mehrstufiges Verfahren gewählt (siehe auch Abbildung 3): Aus den Erkenntnissen der Anforderungsanalyse wird ein didaktisches Konzept für eine Zielgruppe und ein Themenfeld erstellt und formativ evaluiert. Aufbauend auf den erzielten Ergebnissen werden auch für die anderen Zielgruppen und Themenfelder entsprechende Konzepte entwickelt. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse werden in Form von Best Practices genutzt, um eine mögliche Übertragbarkeit auf andere Branchen und Themenfelder zu erproben. Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 27 Abbildung 3: Der Entwurf didaktischer Konzepte in Learn Textile! Im nächsten Schritt erfolgt die Spezifikation der ersten Zielgruppe und die Auswahl des ersten (Pilot-)Themas: „Hochleistungsfasern und Einsatzfelder“ mit dem Schwerpunkt: „Carbonfasern – Herstellung, Eigenschaften und Anwendungsfelder“. Dieses erste Thema wird in einen Selbstlernkurs umgesetzt. Damit kommt als Lernmethode die selbst gesteuerte Informationsrezeption und verarbeitung zum Einsatz (siehe folgende Tabelle 1, Zeile 1), da die Zielgruppe folgende Merkmale aufweist: Quereinsteiger mit Vorwissen aus Weiterverarbeitung von Carbonfaserverstärkten Kunststoffen, ausreichende Medienkompetenz, hohe Selbstlernkompetenz. 28 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Tabelle 1: Der Entwurf didaktischer Konzepte in Learn Textile! (in Anlehnung an ReinmannRothmeier 2003, S. 35, entnommen aus Arnold et al. 2013) Rolle der Medien für den Lernprozess Verständnis von ELearning und Anforderungen an die Lernenden Distribution von Selbst gesteuerte InforInformation mationsrezeption und verarbeitung Aufgaben der Entwickler Rolle der Betreuer Lernerfreundliche Informationsgestaltung Keine Betreuer notwendig Medienkompetenz Ausreichendes Vorwissen Hohes Anforderungsniveau Interaktion Angeleitete Informations- Lernerfreundliche Betreuer als zwischen Nutzer verarbeitung InformationsLernberater oder und System gestaltung Teletutoren Selbst organisiertes Üben Gestaltung von LernMotivation aufgaben und Übungen, Feedback und Eher niedriges AnfordeAntworten rungsniveau Kollaboration zwischen Lernenden Eigenständige Wissenskonstruktion Lernerfreundliche Informationsgestaltung Betreuer als Initiatoren und Begleiter von Soziales Problemlösen GruppenprozesGestaltung von LernSelbststeuerungsfähigkeit aufgaben und Übun- sen gen, Feedback und Medienerfahrung Antworten Sehr hohes AnforderungsGestaltung von niveau Gruppenaufgaben, Einbeziehen sozialer Kontexte Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 29 Die Umsetzung des Selbstlernkurses erfolgt in den Schritten: 1. Festlegen des Lernziels, Detailspezifizierung und Strukturierung der Lerninhalte, Modularisierung (Aufteilen in kleinere abgegrenzte Inhalte), Auswahl geeigneter Medienformate (Text, Bild, Video, o.ä.) und Ausgabegeräte (u. a. mobile Endgeräte), 2. Implementierung bzw. Umsetzung auf der Plattform (im LMS) und 3. Test durch Pilotanwender Parallel hierzu findet die Auswahl einer LMS-Software und Aufbau der Lernplattform mit der Erarbeitung eines Kriterienkatalogs, Marktanalysen bezüglich geeigneter LMS und erster Testinstallationen (OpenOlat, Moodle, Ilias) statt. Im nächsten Schritt werden die ersten Kurse auf den Systemen implementiert, um eine Entscheidung bezüglich des einzusetzenden LMS treffen sowie die Oberfläche anpassen zu können. Darüber hinaus sind Templates zu entwickeln und Zusatzmodule (z. B. OpenMeetings) auszuwählen und zu installieren. Aufbauend auf heute am Markt verfügbaren LMS und in Zusammenarbeit der am Projekt beteiligten Partner entsteht in Learn Textile! eine ELearning-Plattform für die Textilwirtschaft in Deutschland, die getragen von den Verbänden ein umfangreiches und zeitgemäßes Angebot zur Qualifizierung der Beschäftigten bereitstellt. Zusätzlich hilft eine gemeinsame Lernplattform aller Verbände der Textilwirtschaft durch einen gemeinsamen Pool von Lerneinheiten wertvolle Ressourcen zu bündeln, da bei der Erstellung unterschiedlichster Kursmodule auch auf bewährte Inhalte anderer Verbände zurückgegriffen werden kann. Der neue Bildungsträger soll darüber hinaus auch Kursmodule Dritter, z. B. von Hochschulen, am Markt anbieten können. 4.2 Das Projekt TELL ME 9 Das europäische Forschungsprojekt TELL ME hat zum Ziel neueste Technologien und Erkenntnisse aus dem Bereich des Lernens kleinen und 9 TELL ME wird gefördert von November 2012 bis Oktober 2015 durch das siebte Rahmenprogramm der Europäischen Union (FP7) mit der Projektnummer 318329. URL: www.tellme-ip.eu 30 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein mittelständisch geprägten Unternehmen so zur Verfügung zu stellen, dass sie besser auf die Anforderungen der Märkte und ihrer oftmals industriellen Großkunden reagieren können. Hieran arbeitet ein Konsortium aus 14 europäischen Partnern (aus dem Industrie-, Forschungs- und Hochschulbereich sowie Technologie- und Transferpartner) aus insgesamt acht Ländern (Italien, Großbritannien, Finnland, Schweden, Frankreich, Deutschland, Spanien und Portugal). In diesem Projekt werden konkrete Lösungen für drei Pilotpartner in unterschiedlichen Branchen erarbeitet: Textil in Deutschland, Inneneinrichtung von Luxusbooten in Spanien und Wartung von Helikoptern in Italien. DITFMR hat dabei die Aufgabe die Lösung für den Pilotpartner in der Textilbranche zu spezifizieren um umzusetzen. Um das Projektziel zu erreichen, wird sowohl eine innovative, firmenübergreifende Methodik als auch eine IT-Plattform für Lebenslanges Lernen am Arbeitsplatz für kleine und mittelständisch geprägte Unternehmen entwickelt, die aber auch für Großunternehmen anwendbar ist. Sie wendet die aktuellen Methoden des E-Learnings und Blended Learnings sowie die neuesten Technologien (z. B. AR) an. In diesem Zusammenhang werden Indikatoren zur Erfolgsmessung auf verschiedenen Ebenen (individuelle Ebene der Mitarbeiterin und des Mitarbeiters, organisationale Ebene des Unternehmens sowie Ebene der Stakeholder bzw. des wirtschaftlichen Umfelds) erhoben und die entwickelte Lösung erprobt. Die zu Grunde liegende, erarbeitete Lernmethodik des TELL MEKonsortiums besteht vereinfacht dargestellt aus fünf Schritten und wurde EMEMO benannt (siehe auch Abbildung 5): 1. Enquiry: In einem ersten Schritt wird der Lernbedarf festgestellt, entweder durch die Beschäftigte oder den Beschäftigten selbst oder einen Dritten, wie die vorgesetzte Führungskraft bzw. durch ein IT-System (z. B. ein LMS oder ein Ambient Intelligence (AmI) Modul). 2. Mix: Der Mix stellt die Lerninhalte bzw. -einheiten und die Beschreibung der Arbeitsschritte, -zeiten sowie -ressourcen zur Verfügung. Die Darstellung und eingesetzten Medien zur Übermittlung der Lerninhalte hängen von der angewandten Lernmethode und dem Lernszenario ab. Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 31 5 – OPTIMISE Improve things 3. Experience: Hier erlernt die oder der Beschäftigte die vorgegebenen Inhalte, wobei eine Erfassung der Lernfortschritte und des Lernverhaltens über das LMS möglich ist. 4. Match: In diesem Schritt wird das tatsächliche Lernergebnis mit dem erwarteten verglichen. Dies geschieht über qualitative Aussagen („schwer verständliche Inhalte“) oder quantitative Angaben (benötigte Lernzeit in Stunden/Minuten). 5. Optimize: Die in Schritt 4 gemachten Erfahrungen fließen in die Lerninhalte bzw. -einheiten ein (das Einpflegen erfolgt i. d. R. durch Tutoren) und verbessern auf diese Weise das Lernangebot. Abbildung 4: Die Methodik von EMEMO (in Anlehnung an Sanguini/Sesana 2014) Die Methodik EMEMO wird in eine IT-Lösung umgesetzt, deren Architektur in Abbildung 5 dargestellt ist, und die bei den drei Pilotfirmen eingesetzt und evaluiert wird: 32 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Abbildung 5: Die IT-Architektur für EMEMO (Sanguini/Sesana 2014) Die Pilotfirmen und deren IT-Lösungen werden im Folgenden kurz beschrieben: Augusta Westland (AW) ist ein italienischer Hersteller von Hubschraubern, der neben der Produktion auch Ausbildung (Piloten und Mechaniker) und Wartung anbietet. AW nutzt die Möglichkeiten von TELL ME in seiner eigenen Trainingsakademie und stellt diese darüber hinaus Vertragspartnern weltweit zur Verfügung. Dabei werden Virtual Classrooms zum Training ebenso wie die Methode Precision Teaching eingesetzt. Precision Teaching ist definiert als „basing educational decisions on changes in continuous self-monitored performance frequencies displayed on 'standard celeration charts'” (Lindsley, 1992, S. 51), und dient als Methodik zur Evaluierung, (West/Young 1992, S. 114). Zum Einsatz kommen dabei auch AR und mobile Endgeräte (Google Glass, Smartphones, Tablets). Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 33 Bei AIDIMA in Spanien, einem Technologieinstitut für Holzverarbeitung und Ausbilder für entsprechende Industrien, wird die Aus- und Weiterbildung mit persönlicher Anleitung (mit entsprechenden Anschauungsmaterialien), E-Learning und Precision Teaching angeboten. Dies dient unter anderem dazu den Einbau für Inneneinrichtungen von Luxusbooten zu erleichtern. Profitex ist ein kleineres Textilunternehmen im oberfränkischen Helmbrechts und auf die Qualitätskontrolle textiler Zwischen- und Endprodukte spezialisiert. Es bietet eine Reihe von Textilprüfungen und Tests an, darunter beispielsweise die Warenschau für textile Flächen, insbesondere Gewebe. Die bei Profitex angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind typischerweise älter als 40 Jahre, verfügen über einen Migrationshintergrund und haben lediglich Grundkenntnisse in IT-Anwendungen. Im Rahmen von TELL ME wurden drei Anwendungsbereiche für Lernen bei Profitex oder bei an Profitex beteiligten Unternehmen identifiziert und entsprechende Lösungen (mit Hilfe von EMEMO) umgesetzt: 1. Precision Teaching (softwaregestützt) für die Warenschau zur Erkennung und Behebung von Fehlern – insbesondere neuer Fehlertypen aus verschiedenen Einsatzfeldern: Hierbei erlernen die Beschäftigten das Verhalten beim Auftreten bestimmter Fehler sowie grundlegende Zusammenhänge und Fachvokabular. Dieser Ansatz führt im Vergleich zu konventionellen Trainingsmethoden zu einer deutlich geringeren Trainingszeit und einer besseren Vergleichbarkeit der Lernergebnisse. 2. Augmented Reality zur Einstellung von Webmaschinen: Da das Einstellen einer Webmaschine wissens- und zeitintensiv ist, erleichtert der Einsatz von Augmented Reality den Einstellprozess und das Auffinden spezifischer Informationen (z. B. mit Google Glass). Die Prozessschritte werden einfach in die Brille eingeblendet und der Arbeiter wird auf diese Weise durch den gesamten Prozess geführt. 3. TELLME.live für die stufenübergreifende Produktentwicklung: Profitex ist neben anderen Unternehmen Mitglied der Quality Group, die als Netzwerk eine sogenannte „social community“ für die stufenübergreifende Produktentwicklung erproben (siehe Abbildung 6). Mit Hilfe der Software TELLME.live können sich die Beteiligten 34 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein der unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen (Designer, Entwickler, Weber, Veredler) über Probleme und Erkenntnisse austauschen, die aktuelle und ältere Produkte betreffen. Dadurch können Fehler, die in der Vergangenheit auftraten, bereits im Vorfeld ausgemerzt werden. Abbildung 6: Screenshot der Anwendung TELLME.live Diese und andere Ergebnisse des Projektes TELL ME haben als potentielle Nutzer neben kleinen und mittelständisch geprägten Unternehmen bzw. Netzwerken auch größere Unternehmen. Das Projekt zielt mit seiner Methodik und IT-Umsetzung in erster Linie auf die operativen Beschäftigten, deren Vorgesetzte und Personalverantwortliche, die Lebenslanges Lernen als Herausforderung begriffen haben. Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 4.3 35 Gegenüberstellung der beiden Forschungsprojekte In diesem Abschnitt werden abschließend die beiden vorgestellten Forschungsprojekten Learn Textile! und TELL ME in Bezug auf die darin genutzten neuen Technologien, didaktischen Konzepte und Lernangebote verglichen und in zwei Tabellen gegenübergestellt: Tabelle 2: Neue Technologien eingesetzt in den Forschungsprojekten Learn Textile! und TELL ME Lernmanagement-System Mobile Endgeräte Learn Textile! TELL ME X X (X) X X Augmented Reality Tabelle 3: Neuere didaktische Konzepte und Lernangebote eingesetzt in den Forschungsprojekten Learn Textile! und TELL ME (Distance) Assessment Learn Textile! TELL ME (X) X X Precision Teaching Informelles Lernen Mikrolernen X (X) Selbstgesteuerte Lerngeschwindigkeit bzw. -dauer X Webinar X MOOCS Serious Gaming Interaktion der Lernenden X 36 Marcus Winkler, Guido Grau, Meike Tilebein Es ist erkennbar, dass sich die Schwerpunkte der beiden Forschungsprojekte deutlich unterscheiden, hinsichtlich der eingesetzten Technologien (TELL ME ist hier breiter aufgestellt) und der eingesetzten didaktischen Konzepte und Lernangebote (hier nutzt Learn Textile! mehr der möglichen neuen didaktischen Konzepte und Lernangebote). 10 Dies liegt u. a. daran, dass TELL ME im Umfeld des TEL konzipiert und eine eigene generelle Methodik entwickelt wurde (EMEMO). Learn Textile! hingegen konzentriert sich auf eine klare didaktische Aufgabe für genau umrissene Zielgruppen, ohne das Training der Beschäftigten am Arbeitsplatz in den Mittelpunkt zu stellen. Langfristig werden im betrieblichen Alltag der Textilwirtschaft die unterschiedlichen Arten des Lernens, wie sie die vorgestellten Forschungsprojekte repräsentieren – das Lernen am Arbeitsplatz einerseits und die zielgruppenspezifische außerbetriebliche Weiterbildung andererseits – noch mehr zusammenwachsen, um Lebenslanges Lernen, sowohl formell als auch informell, immer wieder bestmöglich zu fördern. 5 Zusammenfassung und Ausblick Die Geschwindigkeit der Entwicklungen im Bereich des Trainings sowie der Aus- und Weiterbildung nimmt zu. Dabei gilt es die Chancen neuer Technologien und didaktischer Methoden zu nutzen. Strömungen und Angebote in der Didaktik und in der politischen Förderung der Forschung unterstützen aktuell die Verlagerung von den Lehrenden hin zum Lernen und zur Lernumgebung unter Nutzung neuester Technologien. Gerade die gesteigerten Bedarfe der kleinen und mittelständisch geprägten Unternehmen der Textilwirtschaft erfordern ein angepasstes Training für ihre Beschäftigten. Hierzu können speziell ausgerichtete Weiterbildungskurse und Lernen am Arbeitsplatz einen entscheidenden Beitrag leisten, indem geeignete didaktische Methoden und neue Technologien eingesetzt und miteinander verbunden werden. Die in diesem Beitrag vorgestellten Forschungsprojekte Learn Textile! und TELL ME zeigen dies an Hand von Lösungen für die außerbetriebliche 10 Technology enhanced Learning; englisch für den im Deutschen verwendeten Begriff ELearning Lebenslanges Lernen – Neue Ansätze für die Textilwirtschaft 37 Weiterbildung für bestimmte Zielgruppen (Nichttextiler bzw. Quereinsteiger, Beschäftigte in Fortbildungsmaßnahmen und Auszubildende) sowie an Hand von technologiegetriebenem Training am Arbeitsplatz für Beschäftigte. Dabei liefern sie Antworten auf die in der Zukunft immer wichtiger werdenden Fragen: Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in mittelständisch geprägten Unternehmen in weniger gut ausgestatteten Industriesektoren mit der technischen Entwicklung Schritt halten und wie kann Training positioniert und verbessert werden, um die Überlebensfähigkeit und die Innovationsstärke dieser Sektoren zu steigern? Danksagung Die beiden hier beschriebenen Forschungsprojekte wurden mit öffentlichen Mitteln gefördert. Der Dank der Autoren gilt neben den Projektpartnern der genannten Projekte zum einen dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Förderung des Projektes Learn Textile! (Nr. 01PD14008A-F, http://www.learn-textile.de“) im Rahmen des Programms „Digitale Medien in der beruflichen Bildung“ und zum anderen der Europäischen Kommission für die Co-Finanzierung des Projektes TELL ME (Nr. 318329, http://wwww.tellme-ip.eu) im 7. Forschungsrahmenprogramm. Literatur Arnold, R., Faber, K., 2011: Vom Lehren zum selbstgesteuerten Lernen, in: Schwuchow, K., Gutmann, J., Hrsg., 2011: Jahrbuch Personalentwicklung 2011. Luchterhand Verlag, Köln, S. 163 – 170. Arnold P,. Kilian L., Thillosen A., Zimmer G., 2013: Handbuch E-Learning. Lehren und Lernen mit digitalen Medien, 3. aktualisierte Auflage. W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld Drochtert, D., Geiger, C., 2015: Von der Fiktion zur Wirklichkeit, in: iX, 5/2015, S. 40-48 Erpenbeck, J.,Sauter, W., 2014: Kompetenzentwicklung im Netz: New Blended Learning mit Web 2.0. epubli Verlag, Berlin Goodyear, P., Retalis, S., 2010: Learning, Technology and Design, in: Goodyear, P., Retalis, S., eds., 2010 Technology-Enhanced Learning: Design Patterns and Pattern Languages. Sense Publishers, Rotterdam, S. 1-27 Groll, T., 2014: Seminarjunkie, ja und?, in: Zeitonline vom 14.04.2014, URL: http://www.zeit.de/karriere/2014-03/lebenslanges-lernen-coaching. 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Reinmann-Rothmeier, G., 2003.: Didaktische Innovation durch Blended Learning. Leitlinien anhand eines Beispiels aus der Hochschule. Hans Huber Verlag, Bern u. a. Sanguini, R. und Sesana, M. 2014: The TELL ME Project (Technology Enhanced Living Lab for Manufacturing Environments), Beitrag zur Didamatica 2014, URL: http://www.tellmeip.eu/sites/default/files/library/%235%20 DIDAMATICA%202014%20%20TELL%20ME_22-04-2014_TXT%20AW_0.pdf. Abgerufen im Mai 2015 Walter, S., 2007: Blended Learning in der Hochschullehre: Entwicklung, Implementierung und Evaluation eines didaktischen Konzepts am Beispiel der Wirtschaftsinformatik (81). Rudolf Haufe Verlag, Freiburg i. Br. u. a. West, R. P., Young, K. R., 1992. : Precision teaching, in: West, R. P., Hamerlynck, L. A. (Eds.), Designs for excellence in education: The legacy of B. F. Skinner (pp. 113-146). Longmont, CO: Sopris West, Inc. Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 39 Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning zur Förderung reflexiver Handlungsfähigkeit in der Produktionsorganisation Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz Wirtschaftlicher Erfolg von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) des produzierenden Gewerbes macht sich vor allem an effektiven und effizienten Produktionsprozessen fest, weshalb komplexe Aufgaben der Produktionsorganisation zunehmend an Bedeutung gewinnen. Als Reaktion des Bildungswesens auf diese Entwicklungen wurden mit einer Systematik zur Aus- und Fortbildung in der Produktionstechnologie innovative Strukturen beruflicher Bildung geschaffen. Für ein anforderungsgerechtes Lehren und Lernen in diesen Tätigkeitsfeldern fehlten bisher jedoch didaktische Konzepte und entsprechende praxistaugliche Lernangebote. Deshalb wurde ein innovativer Fernlehrgang mit einem Mobile Learning Angebot als Konzept zur Kompetenzförderung entwickelt. 1 1.1 Die Erwerbsarbeit in der Produktionsorganisation als Beispiel von Tätigkeiten für eine moderne Beruflichkeit Herausforderungen einer modernen Beruflichkeit Im „Hochlohnland“ Deutschland liegt der wirtschaftliche Erfolg von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) des produzierenden Gewerbes v. a. in einer hohen Innovations- und Gestaltungsfähigkeit sowie einer hohen Flexibilität in Strukturen und Prozessen im Hinblick auf veränderte Marktbedingungen aufgrund ökonomischer, ökologischer und sozialer Herausforderungen begründet. Dafür werden effektive und effiziente Produktionsprozesse benötigt. Diese Herausforderungen umfassen z. B. eine zunehmende Digitalisierung in der Produktion, das Beherrschen innovativer fertigungs- und automatisierungstechnischer Lösungen, die Integration umfassender Organisations- und Logistikkonzepte und die kontinuierliche Verbesserung aller Prozessschritte. Damit einher geht die Herausforderung, Kundenbedarfe trotz zunehmender Anforderungen mit einer hohen 40 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz Liefertermintreue bei gleichzeitig hoher Wirtschaftlichkeit zu bedienen. Beispielhafte Anforderungen sind stetig abnehmende Durchlaufzeiten, zunehmende Produkt- und Prozessvariantenvielfalt sowie eine „turbulente“ Markt- und Produktionsumgebung. Aufgrund dieser kundenspezifischen Anforderungen bei gleichzeitiger Automatisierung der Herstellung selbst werden zunehmend Tätigkeiten in der Produktionsorganisation in Unternehmen des produzierenden Gewerbes auch von Mitarbeitenden auf Facharbeiter- und Meisterebene ausgeübt. Aufgrund der Komplexität und der hohen Anforderungen dieser Tätigkeiten muss die Entwicklung der dafür notwendigen Kompetenzen auf betrieblicher Seite durch ein professionelles Kompetenzmanagement geplant und gesteuert werden. Auf Seite der beruflichen Bildung werden im Kontext der o.g. Herausforderungen und Entwicklungen intensiv Veränderungen in beruflichen Strukturen diskutiert, insbesondere die „moderne Beruflichkeit“ als neue Form gesellschaftlich organisierter Erwerbsarbeit (Meyer 2010). Demnach nimmt die Bedeutung von Charakteristika traditioneller Berufsformen (Institutionalisierung, feste Lernorte, klarer Fachbezug, Konstanz, Kollektivität, soziale Begrenzung) ab und die Erwerbstätigkeiten in der beruflichen Bildung unterliegen einem „Professionalisierungsprozess“. Dies äußert sich u. a. in der Erfordernis gut ausgeprägter Kompetenzen zur Bearbeitung komplexer Aufgaben, die häufig zieloffen und durch Ungewissheit geprägt sind sowie dynamische Interaktionen erfordern. Zudem besteht ein hoher Grad an Autonomie und Selbstgestaltung (ebd.; Frenz et al. 2011; Frenz/Heinen 2013). 1.2 Systematische Aus- und Fortbildung in der Produktionstechnologie Für die Professionalisierung in der Produktionsorganisation wurde mit der „Aus- und Fortbildung in der Produktionstechnologie“ (Borsch/Zinke 2008) eine Systematik geschaffen, welche Aus- und Weiterbildung, aber auch formales und informelles Lernen miteinander verbindet und damit hohe Ansprüche an die Akteure in der beruflichen Bildung stellt. Die systematische Ausbildung zum/zur Produktionstechnologen/-in sowie die Schaffung der Spezialistenprofile Applikations- und Prozessexperte/-in und die Aufstiegsfortbildung zum/zur Prozessmanager/-in Produktionstechnologie auf Industriemeister- bzw. Bachelorebene bieten einen entsprechenden Rahmen für die erforderliche prozessorientierte Qualifizierung. Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 41 Die Fortbildung ist zweistufig angelegt. Zunächst erfolgt eine berufliche Weiterbildung und Spezialisierung in den beiden Expertenprofilen. Diese Stufe ist offen für alle Fachkräfte aus einschlägigen Produktionsbereichen mit mehrjähriger Berufserfahrung. Der zweite Schritt ist die Prüfung zum/zur geprüften Prozessmanager/-in Produktionstechnologie auf Meisterebene (ebd.; Koch/Zinke 2012; Abbildung 1). Abbildung 1:Ebenen der systematischen Aus- und Fortbildung für die Produktionstechnologie (Borch/Zinke 2008) Diese Systematik zielt im Wesentlichen auf eine Kompetenzentwicklung für die Planung, Steuerung, Sicherung und Optimierung von Produktionsprozessen. Neben dem Beherrschen fertigungs- und automatisierungstechnischer Lösungen bedingen diese Tätigkeiten auch die Integration effektiver Organisations- und Logistikkonzepte und die kontinuierliche Verbesserung aller Prozessschritte. Somit hat dieses Konzept eine prozessorientierte, produktions- und informationstechnische Ausrichtung und adressiert übergreifende Kommunikations-, Organisations- und Technologiekompetenzen (Abbildung 2). Die gemeinsame Basis für die zu entwickelnden Kompetenzen stellen die Arbeits- und Geschäftsprozesse dar: Während die Ausbildung zum/zur Produktionstechnologen/-in noch überwiegend in Bezug auf die Herstellung konkreter Produkte entlang der Prozesskette gestaltet wird, zielt die Fortbildung direkt auf die Gestaltung der Unternehmensprozesse. Offen geblieben sind bislang jedoch die Entwicklung geeigneter didaktischer Konzepte sowie deren Umsetzung in konkreten Lernangeboten, welche den Anforderungen einer modernen Beruflichkeit in der Produktionsorganisation gerecht werden. Diese sind im Sinne einer Professionalisierung als die Ausübung komplexer zieloffener und durch Zielkonflikte 42 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz geprägter Tätigkeiten zu verstehen. Die theoretischen Grundlagen hierfür bietet eine kompetenzorientierte Didaktik. Abbildung 2:Prozesskette und Zuordnung der Abschlüsse zu Tätigkeitsfeldern in der Produktionsorganisation (Borch/Zinke 2008) 2 Anforderungen einer kompetenzorientierten Didaktik an die Gestaltung von Lernangeboten Ziel beruflicher Bildung ist nach §1 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) die Förderung und Entwicklung beruflicher Handlungsfähigkeit für die auszuübenden Tätigkeiten und somit für eine reflektierte Bewältigung der darin inkorporierten Problemstellungen. Hierfür gilt die Kompetenzorientierung als zentrale didaktische Leitkategorie für die Gestaltung entsprechender Bildungsangebote und Lernprozesse (Gillen 2013; Lehberger 2013). Grundlegend für kompetenzorientierte Ansätze im Sinne einer „OutcomeOrientierung“ ist der Bezug zu realen Anwendungszusammenhängen in der Erwerbstätigkeit. Dies bedeutet, dass in einem Bildungsangebot für die curricular beschriebenen Ziele einer Kompetenzentwicklung ein konkreter Bezug zum Arbeitsleben und somit zu typischen Handlungssituationen der Lernenden herzustellen ist. Die Gestaltung der Lernprozesse sollte sich entsprechend auf die Bewältigung typischer Probleme beziehen, die bei der Ausübung der Tätigkeiten auftreten (Dörner/Schaub 1995; Kremer 2013; Siebert 2012). In diesem Sinne ist das übergreifende Ziel, eine reflexive Handlungsfähigkeit für typische Problemstellungen der Produktionsorganisation in eigenen betrieblichen Prozessen zu entwickeln. Das erforderliche Wissen wird in Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 43 reflexiven Lernprozessen unter Einbezug der eigenen Erfahrungen aufgebaut (Dehnbostel 2010). Daher ist der Ausgangspunkt für diese Lernprozesse ein konkreter Unternehmensprozess aus der Arbeitsumgebung der Lernenden, zu dem entsprechendes Theoriewissen als Reflexionsbasis angeboten wird (ebd.). Gefördert werden sollen die Reflexivität sowohl bezogen auf die eigenen Produktionssysteme und Prozessketten (fachlichmethodische Kompetenz) als auch die Interaktionsprozesse zwischen Arbeitspersonen (Sozialkompetenz) und die eigene Position und individuellen Handlungsoptionen im Unternehmen (Selbstkompetenz). Die Lernangebote werden nach den Phasen einer vollständigen Handlung (Pampus 1987) konzipiert. Durch eine Fokussierung auf konstruktivistische Ansätze (Dubs 2013; Reich 2012) wird ebenfalls die Arbeitswelt der Lernenden einbezogen. 3 Studien der Qualifikationsforschung in der Produktionsorganisation Aus den Anforderungen einer kompetenzorientierten Didaktik ergeben sich für die Entwicklung eines Lehrgangs zwei Schwerpunkte. Erstens müssen die normativen Vorgaben der Ordnungsmittel (Prüfungsordnung und Rahmenplan) analysiert werden. Zweitens sind zu bewältigende Probleme in der Tätigkeitsausübung von Erwerbstätigen herauszustellen und im Sinne typischer Handlungssituationen als Grundlage für Lerngelegenheiten zu systematisieren. Hierfür werden entsprechende Arbeitsprozesse in der Produktionsorganisation erhoben und analysiert. 3.1 Ordnungsmittelanalyse für die Fortbildung zum/zur geprüften Prozessmanager/-in Für die Fortbildung zum/zur geprüften Prozessmanager/-in Produktionstechnologie existieren eine Prüfungsordnung und ein Rahmenplan (DIHK 2009). Für die Prüfung ist es erforderlich, im eigenen Unternehmen ein praxisrelevantes Projekt durchzuführen, zu dokumentieren und in einem Fachgespräch zu präsentieren. Weiterhin umfasst die Prüfung zwei schriftliche Situationsaufgaben zu Themenbereichen des Prozessmanagements sowie eine schriftliche Situationsaufgabe und ein situationsbezogenes Fachgespräch zum Themenbereich Mitarbeiterführung und Personalmanagement. Der Rahmenplan beschreibt entsprechend der Anforderungen der Prüfungsordnung die Inhalte, die den Lehrgangsteilnehmenden zu vermitteln 44 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz sind. Er beinhaltet entlang der Prozessphasen (Abbildung 2) die 4 Lernbereiche „Produkt- und Prozesskonzeption“, „Prozessentwicklung“, „Prozessimplementierung, Produktionsanlauf“, „Produktionsplanung und -steuerung“ sowie das Querschnittsthema des „Prozess- und Projektmanagements“. Dabei ist eine enge inhaltliche Vernetzung des Projekt- und Prozessmanagement zu den vier Lernbereichen vorgesehen: Entsprechende Methoden und Instrumente des Prozess- und Projektmanagements sind für die Erschließung einer Problemsituation im jeweiligen Lernbereich auszuwählen, einzusetzen und entsprechende Maßnahmen abzuleiten sowie die Ergebnisse im Gesamtkontext zu reflektieren. Eine Situierung dieser Inhalte in Handlungskomplexen oder eine handlungsorientierte Beschreibung von typischen Problemsituationen ist dort nicht enthalten. Dies zu erstellen ist Aufgabe eines Lehrgangsanbieters. 3.2 Arbeitsprozessanalysen in der Produktionsorganisation Um einen outcomeorientierten Lehrgang entwickeln zu können, müssen die auszuübenden Tätigkeiten in Arbeitsprozessanalysen grundlegend untersucht werden und reale Anwendungszusammenhänge als Grundlage für Lerngelegenheiten aufbereitet werden. Dafür sind in ausgewählten kleinen und mittleren Unternehmen des produzierenden Gewerbes Arbeitsprozesse zu erheben und zu analysieren, die entsprechend der Inhalte des Rahmenplans und der Prüfungsordnung als typisch für das Prozessmanagement anzusehen sind. Zur Beschreibung dieser werden in Workshops mit Experten aus dem jeweiligen Unternehmen die entsprechenden Arbeitsprozesse mit der K3-Modellierungsmethode (Nielen 2014) beschrieben. Ergänzt wird die Erhebung um teilstandardisierte Interviews mit den Stelleninhabenden, um die Anforderungen an die Tätigkeitsausübung zu analysieren. In anschließenden Workshops mit Expertinnen und Experten aus der beruflichen Praxis und Wissenschaft werden die konkreten berufsfachlichen Zusammenhänge und zentralen Problemstellungen in der jeweiligen Tätigkeit systematisiert. Erhoben wurden die insgesamt 27 typischen Arbeitsprozesse in sieben kleinen und mittleren Unternehmen des produzierenden Gewerbes aus unterschiedlichen Branchen. In den erhobenen Arbeitsprozessen wurde insgesamt deutlich, dass Prozessmanager/-innen sowohl technologische Fragen beantworten als auch arbeitsorganisatorische Problemstellungen bewältigen müssen. Typische technologische Herausforderungen sind das Verstehen und Gestalten von Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 45 komplexen, automatisierten Produktionssystemen in Prozessketten, z. B. die Integration und Inbetriebnahme einer neuen Produktionszelle in einer Fertigungskette. Organisatorische Herausforderungen beinhalten im Wesentlichen das Verstehen von komplizierten Fertigungsprozessen und Arbeitsabläufen und deren selbstständige Planung, Optimierung und Steuerung, bspw. die Konzeption von Fertigungsprozessen einschließlich der Berücksichtigung einer digitalen Vernetzung mit ERP- und PPSSystemen oder der Einsatz moderner IT-gestützter Feinplanungssysteme in der Produktionsplanung und -steuerung. Diese Vielfalt zeigt, dass alle Bereiche des Rahmenplans mit den erhobenen Aufgaben gut abgedeckt werden können. In Workshops mit 12 Expertinnen und Experten wurden die berufsfachlichen Zusammenhänge näher analysiert und typische zu bewältigende Probleme erschlossen. Im Fokus dieser qualitativen Analyse stand die Komplexität der zu bewältigenden Probleme nach Dörner u. Schaub (1995) hinsichtlich der Art und des Ausmaßes auftretender Zielkonflikte und Widersprüche im Gegenstandsbereich, der Anzahl beteiligter Kommunikationspartner, der Anzahl und Vielfalt notwendiger Interaktionen sowie des Anspruchs domänenspezifischer Anforderungen (notwendige Fach- und Methodenkenntnisse). Als ein zentrales Beschreibungsmodell wurde das magische Dreieck des Projektmanagements genutzt. Es gliedert aus einer arbeitsökonomischen Perspektive heraus die auftretenden Zielkonflikte entsprechend der drei Dimensionen Leistung, Termine und Kosten (Heinen et al. 2014). 46 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz Abbildung 3:Übersicht über die erhobenen Arbeitsaufgaben in der Produktionsorganisation und deren Zuordnung zur Prozesskette Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 47 Diese Analysen sollen am Beispiel der Gestaltung eines Fertigungsablaufes in der Produktion eines Schweißbauteils bei einem mittelständischen Stahlbauunternehmen verdeutlicht werden. Die Aufgabe der Fachkraft bestand darin, für eine kundenspezifische Variante eines zu fertigenden Schweißbauteils in Kleinserie einen geeigneten Fertigungsablauf zu planen. Zentrales Problem war die Entscheidung für den einzusetzenden Schweißarbeitsplatz (manuelles Schweißen, semi-automatisches Schweißen oder automatische Schweißzelle). Abbildung 3 visualisiert die dabei zu berücksichtigenden Kriterien und mögliche Zielkonflikte anhand des magischen Dreiecks. Abbildung 4: Zieldimensionen für die Gestaltung eines alternativen Fertigungsablaufs für ein Schweißbauteil in einem mittelständischen Stahlbauunternehmen Die durchgeführten Arbeitsprozessanalysen haben bestätigt, dass für die Tätigkeitsbereiche der Produktionsorganisation auch auf Fachkräfteebene gut ausgebildete Arbeitspersonen benötigt werden, die in der Lage sind, Arbeitsprozesse aktiv mitzugestalten, kontinuierlich zu optimieren und Entwicklungen im Unternehmen bewusst zu reflektieren. Sie müssen über umfassende Kenntnisse bspw. des Projektmanagements, des Lean Managements oder des Total Quality Managements verfügen und deren einschlägigen Methoden anwenden können. In diesem Zusammenhang müssen ebenfalls Kompetenzen im Umgang mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien vorhanden sein. Die Arbeitsaufgaben sind 48 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz zumeist sehr komplex und geprägt durch oft widersprüchliche Anforderungen aus den Perspektiven der Qualitätsansprüche an ein Produkt, der zu berücksichtigenden Terminvorgaben und einzuhaltender Kostenvorgaben. Zudem ist eine intensive Interaktion mit Vorgesetzten, anderen Mitarbeitenden und Kunden erforderlich. Entsprechend der erhobenen Anforderungen an eine Tätigkeitsausübung in der Produktionsorganisation kann nun für die Förderung der benötigten Kompetenzen ein entsprechendes didaktisches Konzept entwickelt werden. 4 Konzept für einen Fernlehrgang Zur Vorbereitung auf die Prüfung zum geprüften Prozessmanager bzw. zur geprüften Prozessmanagerin vor der Industrie- und Handelskammer wurde ein Fernlehrgang mit einem Mobile Learning Angebot entwickelt, erprobt und evaluiert. Innovativer Ansatz dieses Fernlehrgangs ist es, das klassische Format der Lehrbriefe durch ein geeignetes digitales Medium (Lern-App für Tablet-PCs) zu ersetzen. Digitale Medien bieten einen vielseitigen Einsatz als Wissensträger und eröffnen für die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen vielfältige neue Einsatzmöglichkeiten. Allgemein bieten digital unterstützte Bildungsangebote im Vergleich zu herkömmlichen Medien folgende Potenziale: Erhöhung der Orts- und Zeitflexibilität sowie der Aktualität der Inhalte, mehr Offenheit und Vielfalt an Lernressourcen, bessere Differenzierung und Diversität von Lern- und Lehrhandlungen, höhere Autonomie und bessere Selbstorganisation des Lernens, Erschließen neuer sozialer Kontexte und Kooperationsformen sowie neue Möglichkeiten zum Präsentieren und Diskutieren von Lernergebnissen (Arnold et al. 2013; Elsholz/Knutzen 2010; Euler 2009). Mit dem Rahmenplan zur Fortbildung „geprüfte/-r Prozessmanager/-in“ kann auf eine detaillierte, prozessorientierte Beschreibung der Inhalte in der Produktionsorganisation zurückgegriffen werden. Durch die durchgeführten Arbeitsprozessstudien liegen typische Handlungssituationen der Produktionsorganisation vor, die für das Lernangebot aufzubereiten sind. 4.1 Förderung reflexiver Handlungsfähigkeit als didaktisches Ziel Die Entwicklung des didaktischen Konzepts für den Fernlehrgang erfolgt einer kompetenzorientierten Didaktik entsprechend unter dem Leitgedanken der Förderung reflexiver Handlungsfähigkeit. Für die Gestaltung von Lernprozessen hierfür gilt die Orientierung an betrieblichen Aufträgen bzw. an Lern- und Arbeitsaufgaben in Unternehmensprozessen als zentraler Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 49 didaktischer Ansatzpunkt. Eine Kompetenzentwicklung kann demnach nicht durch den Erwerb von trägem Theoriewissen, beispielsweise das Lernen einer bestimmten Methode des Prozessmanagements, erfolgen („Lernen auf Vorrat“). Vielmehr erfolgt sie durch Lernprozesse, die sich auf konkrete Anwendungszusammenhänge in den Tätigkeitsfeldern (Handlungssituationen) und eine reflektierte Bewältigung charakteristischer Probleme in der Tätigkeitsausübung unter Einsatz einschlägiger Methoden und Instrumente beziehen. Auf das zur Problembewältigung benötigte Theoriewissen muss während des Prozesses der Kompetenzentwicklung gezielt als Reflexionsbasis zurückgegriffen werden können, wenn es notwendig ist (Dehnbostel 2010; Gillen 2013). Im entwickelten Fernlehrgang wird die Kompetenzentwicklung dementsprechend durch den Einsatz einer Lern-App für Tablet-PCs unterstützt, welche die Lernenden bei der Bearbeitung von Situationsaufgaben und der Durchführung von Projekten aus dem eigenen Unternehmenskontext sowie eine Portfoliostruktur zur Projektdokumentation unterstützt. 4.2 Situationsaufgaben Bei der Entwicklung der Situationsaufgaben wurden die in den Arbeitsprozessanalysen erhobenen und dem Rahmenplan zugeordneten Aufgaben genutzt. Die erhobenen Tätigkeiten wurden als Handlungssituationen mit einer Beschreibung der Ausgangslage und der zu bewältigenden Probleme entsprechend der jeweiligen Lernbereiche aufbereitet. In den Situationsaufgaben werden die Lernenden mit einer komplexen Problemsituation konfrontiert, für die entlang der Phasen einer vollständigen Handlung eine Problemerschließung durchzuführen und entsprechende Lösungen zu konzipieren, umzusetzen sowie zu reflektieren sind. Dies soll im Folgenden anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Die für das Anwendungsszenario genutzten Daten wurden bei einem mittelständischen Stahlbauunternehmen erhoben und zielen auf die Implementation eines automatischen Hochregallagersystems in den Fertigungsablauf. Innerhalb des gesamten Projektes erfolgten die notwendige Prozesskonzeption, die Prozessentwicklung sowie die Prozessimplementation. Für diese Situationsaufgabe wird der Abschnitt der Konzeption einer geeigneten Prozesskette betrachtet. Die zur Verfügung gestellte Ausgangslage, also der betriebliche Kontext für die Situationsaufgabe, stellt sich wie folgt dar: Das Unternehmen verfügt über eine große Fertigungstiefe und hohe Produkt- und Variantenviel- 50 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz falt. Es soll die Prozesskette zur Produktion von Schweißbauteilen verbessert werden. Dazu soll das bisherige Materiallager durch ein automatisches Hochregallagersystem inklusive eines modernen Logistik-ITSystems ersetzt werden. Vorgesehen sind zudem Hallenerweiterungen. Das Hochregallager muss dazu in die Prozesskette eingebunden werden. Die angeschlossenen Produktionssysteme, beispielsweise Laserschneidmaschinen zur Blechvorbereitung, werden durch das Hochregallager und über die neue digitale Anbindung an das Logistik-IT-System automatisch mit Material versorgt. Das Ziel für die Lernenden ist die Erstellung eines Konzeptes für die verbesserte Prozesskette im Unternehmen. Zunächst erhalten die Lernenden die offene Aufgabenstellung bzw. Zielvorgabe, aufgrund der zur Verfügung gestellten Ausgangslage ein geeignetes Konzept für eine verbesserte Prozesskette zu erstellen. Die Bearbeitung der Situationsaufgabe erfolgt entlang der 6 Phasen einer vollständigen Handlung. Über die Lern-App werden die Lernenden beim Bearbeiten der Situationsaufgaben unterstützt. Dort sind zu den einzelnen Handlungsphasen der Situationsaufgaben in handlungslogischer Reihenfolge entsprechende Lernbausteine, z. B. Auszüge aus Lehrbüchern, Lernvideos etc. hinterlegt, sodass diese gezielt je nach individuellem Bedarf abgerufen werden können. In Abbildung 4 werden für das gewählte Handlungsziel (Konzeption einer verbesserten Schweißkette) die in jeder Phase durchzuführenden Handlungsschritte vorgestellt und dargelegt, welches Lernmaterial zur Reflexion der Arbeitsschritte an welcher Stelle der Bearbeitung der Situationsaufgaben zu nutzen ist. Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 51 Abbildung 5: Beispiel für Handlungsschritte und zugeordnetes Lernmaterial einer Situationsaufgabe zum Lernbereich Produkt- und Prozesskonzeption für die Fortbildung zum/zur geprüften Prozessmanager/-in Produktionstechnologie In der Bearbeitung der Situationsaufgabe kann der Lernende jederzeit auf diese hinterlegten Lerninhalte gezielt zurückgreifen. Für das benötigte Hintergrundwissen werden einzelne Lernbausteine entwickelt und der Wissenserwerb über Lernerfolgsfragen sichergestellt. Beispielsweise gibt es zum Bereich der Problemerschließung in der Prozesskonzeption einen Lernbaustein zur Prozessmodellierung. Dort werden Lernmaterialien zu Grundlagen der Prozessmodellierung angeboten. Über eine anwendungsorientierte Lernerfolgsfrage – ein dokumentierter Arbeitsablauf ist mithilfe einer Prozessmodellierungsmethode zu visualisieren – wird der Erwerb der theoretischen Grundlagen zur Reflexion der Situationsaufgabe sichergestellt. Bei Bedarf können entsprechend der in Abbildung 4 dargestellten Handlungsschritte zusätzliche Hilfen gegeben werden. Sollte also ein Teilnehmender Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der offenen Aufgabenstellung haben, können nach Bedarf zusätzliche Hilfen zur Lösung freigeschaltet 52 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz werden. Auf insgesamt 4 Niveaus besteht hier die Möglichkeit für den Lernbegleiter entweder sehr offene Leit- und Reflexionsfragen zu den Handlungsphasen („Hilfe zum selbstgesteuerten Lernen“) oder aber auf niedrigstem Niveau einen geschlossenen Leittext (starke Anleitung und dadurch Komplexitätsreduktion) zur Verfügung zu stellen (Heinen et al. 2015). 4.3 Portfoliokonzept zur Unterstützung der Projektarbeit Die Aufgabenbereiche der Praxisprojekte umfassen zum einen das Durchführen des Projekt- und Prozessmanagements, zum anderen das Anwenden einschlägiger Methoden und Instrumente der Produktionsorganisation für eine ausgewählte Prozessphase (s. Abbildung 2). Die Projektbearbeitung wird unterstützt durch ein Portfoliokonzept, welches die Lernenden mit vorgegebenen Arbeitsmodulen in der Projektbearbeitung und -dokumentation und Leitfragen zur Reflexion unterstützt. In der Lern-App sind wiederum – analog zu den zuvor beschriebenen Situationsaufgaben – gemäß der prozessorientierten Struktur des Rahmenplans zu den einzelnen Tätigkeitsbereichen in handlungslogischer Reihenfolge entsprechende Lernbausteine, z. B. Auszüge aus Lehrbüchern, Lernvideos etc. hinterlegt, die je nach Bedarf abgerufen werden können. 4.4 Lernmodule des Fernlehrgangs Die Lernmodule des Fernlehrgangs sind einer prozesslogischen Struktur folgend entlang der Prozesskette (s. Abbildung 2) aufgebaut (Module 1-4, Abbildung 5). Das Prozess- und Projektmanagement wird jeweils als Querschnittsthema eingebunden und zudem über die zu leistende eigenständige Projektarbeit der Lernenden (Modul 5) abgedeckt. Die Bearbeitung des Praxisprojektes findet parallel zu den Modulen 1-4 statt. Die Lernenden können relevante Materialien und benötigte Informationen über die Lern-App abrufen. Begleitet wird der Fernlehrgang durch fünf zweitägige Präsenzveranstaltungen, auf denen ausgewählte Inhalte vertieft behandelt werden, sowie Online-Sitzungen in zweiwöchigem Abstand in der Verantwortung von erfahrenen Lernbegleitern. Dadurch werden eine kontinuierliche Lernbegleitung gesichert und regelmäßig Lernimpulse entsprechend der aktuellen Bedarfe der Teilnehmenden gesetzt (PMKompare 2015). Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 53 Abbildung 6: Module des Fernlehrgangs zum/zur geprüften Prozessmanager/-in Produktionstechnologie Das entwickelte Fernlehrgangskonzept wird im Zeitraum von April 2015 bis Oktober 2016 mit 18 Teilnehmenden (davon 17 männlich) aus kleinen und mittleren Unternehmen erstmals in einer Fortbildung zur Vorbereitung auf die Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer eingesetzt und evaluiert. Alle Teilnehmenden verfügen über eine einschlägige gewerblichtechnische berufliche Erstausbildung in unterschiedlichen Gewerken und mehrjährige Berufserfahrung in der Produktion. 5 Zusammenfassung und Ausblick Als Reaktion auf die Veränderungen in einer modernen Arbeitswelt beschäftigt sich die Diskussion in der beruflichen Bildung sowie Arbeitswissenschaft mit der Entwicklung einer „modernen Beruflichkeit“. In diesem Kontext ist die systematische Aus- und Fortbildung in der Produktionstechnologie für Tätigkeitsfelder in der Produktionsorganisation als beispielhaft für innovative Strukturen der Beruflichkeit zu sehen, weil das Konzept die Verknüpfung von Aus-, Fort-, und Weiterbildung vorsieht und formale sowie informelle Lernprozesse berücksichtigt werden. Durch die durchgeführten Studien der Qualifikationsforschung konnte für die Produktionsorganisation das Vorliegen von folgenden Phänomenen moderner Beruflichkeit bestätigt werden: Die Tätigkeiten folgen einer Prozessorientierung und erfordern durch den Bezug auf die eigenen Unternehmensprozesse einen hohen Grad an Selbstorganisation und Individualisierung. Die Erwerbstätigen müssen über eine große fachliche Expertise hinsichtlich innovativer Fertigungsverfahren oder Automatisierungstechnologien zur Bewältigung der häufig sehr komplexen Problemstellungen verfügen. 54 Christopher M. Schlick, Simon Heinen, Martin Frenz Die zu bewältigenden Probleme sind geprägt durch Ungewissheiten und widersprüchliche Zielanforderungen und erfordern häufig dynamische Interaktionen mit weiteren Beteiligten in der Prozesskette. Im Gegensatz zu den zahlreichen Lernangeboten für etablierte technologieorientierte Berufskonzepte, z.B. Industriemechaniker/-in, fehlen entsprechende Fort- und Weiterbildungsangebote für die Produktionsorganisation. Um Erwerbstätige bestmöglich auf diese Tätigkeiten vorzubereiten, wurde entsprechend der o.g. Aus- und Fortbildungssystematik zur Vorbereitung auf die Fortbildungsprüfung zum/ zur geprüften Prozessmanager/in ein vermarktungsfähiger Fernlehrgang mit einem Mobile Learning Angebot entwickelt. Dieses Fernlehrgangskonzept und die dafür gewählte didaktische Struktur stellt sich der Herausforderung, die Kompetenzen im Sinne einer „Outcome-Orientierung“ zu fördern. Durch das gewählte Konzept eröffnet sich den Lernenden ein situierter Zugang zum Gegenstandsbereich, der durch die Lern-App für Tablet-PCs mit einer Wissenbasis gezielt verknüpft ist, auf die je nach Anwendungsbedarf zugegriffen werden kann. Die verstärkte Einbindung solcher prozessorientierter Qualifizierungskonzepte in das betriebliche Kompetenzmanagement stellt eine Strategie dar, um auch zukünftig hochqualifizierte Facharbeiterinnen und Facharbeiter am Produktionsstandort Deutschland aus- und weiterzubilden. Dadurch wird ein wichtiger Impuls zu der sowohl in Wissenschaft als auch in der Praxis der beruflichen Bildung geführten Diskussion zur zukünftigen Entwicklung des Bildungswesens in einer modernen Beruflichkeit geleistet. Für die Fortführung dieser Diskussion sind Fragen nach der zukünftigen Gestaltung von qualifizierter Facharbeit, von Berufsbildern sowie des Verhältnisses zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu beantworten. Danksagung Das diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsprojekt PM-Kompare – Für das Prozessmanagement Kompetenzen arbeitsprozessintegriert entwickeln (Laufzeit 12/2013 bis 02/2017) wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) innerhalb des Programms "Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer Entwicklung eines innovativen Fernlehrgangs einschließlich Mobile Learning […] 55 modernen Arbeitswelt" gefördert und vom Projektträger DLR (PT-DLR) betreut (FKZ: 01FK13006). Literatur Arnold, P., Kilian, L., Thillosen, A., Zimmer, G., 2013. Handbuch E-Learning. Lehren und Lernen mit digitalen Medien. Bielefeld. Bertelsmann. Borch H., Zinke G., 2008. Aus- und Fortbildung aus einem Guss – Berufsbildung in der Produktionstechnologie. BWP 4/2008: 43-47. Dehnbostel, P., 2010. Betriebliche Bildungsarbeit. Kompetenzbasierte Aus- und Weiterbildung im Betrieb. Baltmannsweiler. SchneiderVerlag Hohengehren. 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Tätigkeitsanforderungen und Weiterbildungskonzepte für Mitarbeiter, In: Kampker, A.; Burggräf, P.; Maue, A.,: ProAktiW - Produktionssysteme aktiv wandeln. Ergebnisbericht des BMBF Verbundprojektes ProAktiW. Apprimus Verlag, Aachen. S. 28-51. Heinen, S., Kaufmann, A., Frenz, M., Schlick, C., 2015. Studien der Qualifikationsforschung für die Entwicklung eines Kompetenzmodells zur arbeitsintegrierten Förderung reflexiver Handlungsfähigkeit im Fortbildungsberuf „geprüfte/-r Prozessmanager/-in“ . In: Frenz, M., Unger, T., Schlick, C. Wandel der Erwerbsarbeit – Berufsbildgestaltung und Konzepte für die gewerblich-technischen Didaktiken. Berlin: LIT Verlag (im Druck). Koch, J., Zinke, G., 2012. Der Produktionstechnologe – Argumente für einen neuen Beruf. In: berufsbildung, Heft 135 (2012), S. 29-32. Kremer, H.-H. (2013). Paradigmen in der Curriculumtheorie: Das Lernfeldkonzept im Kontext der Input-Output-Diskussion. In A. Fischer, & D. 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Ziel des Beitrages ist es, einen Ansatzpunkt zur Strukturierung relevanter Parameter des Qualifizierungsmanagements darzustellen. Im Ergebnis liegt ein Morphologisches Tableau zum Qualifikationsdurchführungsmanagement vor, anhand dessen beispielhaft die Anwendung bei der Entwicklung von Lernszenarien aufgezeigt wird. 1 Einleitung Die Veränderungen der industriellen Fertigung durch cyber-physische Systeme betreffen Fertigungsunternehmen aller Branchen und Größen. Industrie 4.0 eröffnet Unternehmen erhebliche Chancen, die allerdings auch einen umfassenden Weiterbildungsbedarf der in der Produktion tätigen Qualifikationsgruppen der Hochqualifizierten und der Facharbeiter nach sich ziehen. Fachkräfte zu Industrie 4.0 sind am Markt kaum verfügbar, sondern müssen in der Belegschaft, unter Berücksichtigung der Diversität und demographischer Faktoren selbst weitergebildet werden. Klassische Weiterbildungsangebote, die abseits des realen Fertigungsprozesses weitgehend konforme Inhalte an Gruppen von Beschäftigten vermitteln, greifen hier fehl. Vielmehr sind prozessnahe und prozessintegrierte Weiterbildungsformen erforderlich, die auf den Ausgangsbedingungen jedes einzelnen Mitarbeiters basieren und genau das vermitteln, was in der jeweiligen Qualifizierungssituation erforderlich ist. Gegenwärtig schreitet die digitale Vernetzung der einzelnen Entitäten (Mensch, Produkt, Informationssysteme, Maschinen und Anlagen) sowie 58 André Ullrich, Gergana Vladova der Prozesse einer Fabrik enorm voran. Dies führt mitunter zum Verlust der individuellen Prozesskontrolle an Informationssysteme und erfordert unter Umständen neue Entscheidungsregeln sowie entsprechendes Entscheidungsverhalten der betroffenen Akteure. Vor allem für die Mitarbeiter vollzieht sich hier ein fundamentaler Wandel. Wurden doch bisher Entscheidungen fast ausschließlich durch den Menschen auf Basis von bereitgestellten Daten getroffen, so ist es nun möglich, dass - im Sinne einer dezentralen Produktionssteuerung - auch technische Entitäten über diese Kompetenz verfügen. Wenn diese nun in einer Entscheidungssituation im Produktivprozess einem Mitarbeiter neu vorgeben, wie er seinen Arbeitsprozess zu strukturieren und zu organisieren hat, dann ist dies bis auf wenige Ausnahmen eine völlig neue Situation für die Mitarbeiter. Ein neues Gesamtverständnis der Mensch-Maschine-Interaktion muss erschaffen werden und von den Betroffenen, bei denen das Bewusstsein für die Notwendigkeit geschaffen werden muss, verinnerlicht werden. Entsprechende Sensibilisierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen gliedern sich hervorragend in einen ganzheitlichen Wandlungsmanagementansatz ein. Hochspezialisierte flexible Produktionstechnik, eine Tendenz zur prozessorientierten Organisation der Produktion sowie die Forderung nach flexibel skalierbarer Losgrößenproduktion und die damit einhergehenden notwendigen Fähigkeiten der Mitarbeiter auf dem brownfield treiben den Bedarf an Kompetenzen in den produktionstechnischen Prozessen voran und erfordern eine stark individualisierte, wirtschaftliche und sehr Fertigungsprozess nahe Weiterbildung. Mögliche Ansatzpunkte zur Strukturierung der Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen sind gängige Methoden der Kompetenzentwicklung, die sich unter zeitlichen, inhaltlichen und räumlichen Aspekten klassifizieren lassen (Krämer 2007, S. 64). Im Kontext des Qualifizierungsdurchführungsmanagements existiert weiterhin eine Reihe von relevanten Parametern, die es kontextabhängig zu strukturieren gilt, um Industrie 4.0 spezifisch die systematische Auswahl und den zielgerichteten Umgang mit Qualifizierungsmaßnahmen sicherzustellen. Einerseits können darauf aufbauend konkrete individuell-relevante Lernszenarien entwickelt werden und andererseits stellen diese die Grundlage zur kontextsensitiven Modifikation von Qualifizierungsmaßnahmen dar. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, einen Ansatzpunkt zur Strukturierung der relevanten Parameter und ihrer Ausprägungen vorzustellen, der Hilfestellung bei der Entwicklung von realen Lernszenarien und dem Einsatz von Qualifizierungsmaßnahmen leisten soll. Dies geschieht auf Basis Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 59 der Industrie 4.0 spezifischen Herausforderungen an die Kompetenzentwicklung, die im Verlauf dargestellt werden. Ausgehend von der Betrachtung sozio-technischer Systeme sowie relevanter Kompetenzentwicklungsdimensionen wird eine Strukturierung unterschiedlicher Kompetenzfacetten vorgenommen und auf Ansätze der Kompetenzentwicklung eingegangen (Kapitel 2). Darauf folgend werden Herausforderungen bei der Kompetenzentwicklung von Mitarbeitern im Zuge der veränderten Anforderungen durch Industrie 4.0 skizziert, um anschließend die Entwicklung von Lernszenarien näher zu beleuchten und einen möglichen Lösungsansatz darzustellen (Kapitel 3). Darauf aufbauend werden die Anwendung exemplarisch dargestellt und mögliche Szenarien skizziert (Kapitel 4). Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung und das Aufzeigen von weiterem Forschungsbedarf (Kapitel 5). 2 Kompetenzentwicklung im Industrie 4.0-Kontext Rahmenbedingungen und theoretische Grundlagen Die tiefgreifenden Veränderungen, die durch die Durchdringung einer Fabrik mit den konkreten Möglichkeiten des Industrie 4.0-Paradigma entstehen, eröffnen in Bezug auf die Mitarbeiter operativen und strategischen Entwicklungsbedarf. Dieser betrifft sowohl ihre Kompetenzen als auch die allgemeine Sensibilisierung und Motivation. Die zwei wesentlichen Analysebereiche hierzu sind der Kontext und das Individuum (der Mitarbeiter als Objekt und Subjekt der Veränderung). Nachfolgend werden diese Analysebereiche kurz verdeutlicht: Zum Einen werden die Besonderheiten des sozio-technischen Systems im Hinblick auf mitarbeiterrelevante Aspekte vorgestellt (Kontext der Veränderung), um zum Anderen die neue Rolle des Mitarbeiters und die damit verbundene Notwendigkeit der individuellen Weiterentwicklung sowie das passende Methodeninstrumentarium hierzu (Mitarbeiter als Subjekt und Objekt der Veränderung) aufzuzeigen. 2.1 Vernetzte Produktion - Das sozio-technische System Eine zentrale strukturelle Veränderung, die Industrie 4.0 für die Unternehmen mit sich bringt, ist die Einführung neuer autonomer Akteure (Maschinen, Produkte, Informationssysteme) und die Organisation der Beziehungen dieser untereinander und zu dem Menschen im Rahmen von einem dynamischen und offenen sozio-technischen System in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Die beiden Teilsysteme - technisch und sozial (bestehend aus einem personellen und einem organisatorischen Teil) - sind von- 60 André Ullrich, Gergana Vladova einander abhängig, wobei das technische eine einschränkende Rolle auf das soziale in Bezug auf seine Gestaltungsmöglichkeiten ausübt. Andererseits bestehen spezifische arbeitspsychologische und soziale Merkmale, welche sich auf die Funktionen des technologischen Teilsystems auswirken (Hirsch-Kreinsen 2014, S. 11-12, Rice 1963, S. 182, Ulich 2011, S. 198). Der technische Teil beinhaltet die räumlichen und technologischen Bedingungen und schließt Betriebsmittel, Maschinen, Systeme u.ä. ein. Zum sozialen Teilsystem gehören die Mitarbeiter, ihre einzelnen und gruppenspezifischen Bedürfnisse, ihre Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten. Die Verknüpfung der beiden Teilsysteme geschieht durch die Arbeitsrolle, welche die Funktion festlegt, die der Mitarbeiter im Produktionsprozess wahrzunehmen hat sowie die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern bestimmt (Ulich 2011, S. 198). Auch wenn ein Großteil der Prozessvorgänge durch die Einbindung der neuen autonomen Akteure umgestaltet wird, bleibt der Mitarbeiter in der Zukunft weiterhin ein wichtiger Bestandteil des Prozesses. Durch die Standardisierung der Arbeit können die technischen Entitäten ebenso die Entscheidungsfunktion übernehmen, was jedoch nicht bedeutet, dass die Mitarbeiter nur eine passive Rolle ohne wirkliche Handlungskompetenzen einnehmen und einen geistlosen Niedriglohnjob ausführen werden. Eine viel wahrscheinlichere Vision ist, dass sich durch die Veränderungen neue herausfordernde Arbeitsinhalte mit Eigenverantwortung und weitgehende Entfaltungsmöglichkeiten in Bezug auf das Kompetenzmanagement ergeben. Dabei stellen die neuen Technologien den Kontext dar und werden als Unterstützung angesehen (IG Metall 2013, Kurz 2013, S. 32). Im Kontext von Industrie 4.0 soll es dem Menschen ermöglicht werden, unter bestmöglichen Einsatz seiner Kompetenzen Kreativität, Einfühlungsvermögen, Intelligenz sowie Motorik in das komplexe Produktionssystem einzubinden (Gorecky et al. 2014, S. 525; Schließmann 2014, S. 451 ff). Der neue Produktionskontext und die neuen autonomen Akteure erfordern hierzu insgesamt „eine Beherrschung der zunehmenden Komplexität, selbstverantwortliches Arbeiten, dezentrale Führungs- und Steuerungsformen sowie eine neue, kollaborative Arbeitsorganisation“ (Russwurm 2013, S. 33). Neben den manuellen (auch wenn in einer veränderten Form) Aufgaben im Produktionsprozess, kommen für die Mitarbeiter neue koordinierende, planerische und entscheidungstechnische Aufgaben hinzu. Die weitge- Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 61 henden Kompetenzen der neuen technischen Akteure führen dazu, dass sich die Fabrikaufgaben im klassischen Sinne für die Mitarbeiter verringern (Siemens 2013, S. 11-12) und ihre Verantwortungsbereiche künftig darin bestehen werden, Produktionsstrategien vorzugeben, umzusetzen und innerhalb der selbstorganisierten Herstellungsprozesse zu überwachen sowie beim Auftreten von komplexen Problemen die Rolle des kreativen Problemlösers zu übernehmen (Gorecky et al. 2014, S. 526). Weiterhin werden sich durch die veränderten Arbeitsabläufe neue und erweiterte Arbeitsstrukturen und vielfältigere Arbeitsfelder für die Beschäftigten ergeben (Windelband/Spöttl 2011, S. 11). Neben den planerischschöpferischen Aufgaben wird es auch in Zukunft erforderlich sein, vor Ort in die Prozesse einzugreifen, um z.B. Reparaturvorgänge oder Wartungsarbeiten vorzunehmen (Gorecky et al. 2014, S. 526). Die dargestellten positiven Veränderungen in den Qualifikationsgruppen der Hochqualifizierten sowie der Facharbeiter mit ihren Rollenbildern (z.B. Entwickler, Instandhalter, Maschinenbediener, Systemregulierer) werden trotz und aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten nicht für alle Qualifikationsgruppen zutreffen. Vor allem beim Tätigkeitstyp des Maschinenbedieners kann in Einzelfällen auch eine Verarmung der Aufgabenkomplexität und -vielfalt auftreten. Es lässt sich schlussfolgern, dass trotz der veränderten Bedingungen durch die Einführung neuer autonomer technischer Akteure der Rolle des Mitarbeiters im Rahmen des sozio-technischen Systems der Industrie 4.0Fabrik eine entscheidende Bedeutung zuzuschreiben ist. Bei vielen Rollenbildern steigen die Anforderungen an den Menschen, insbesondere in Bezug auf seine Kompetenzen sowie an das Unternehmensmanagement, welches die Rahmenbedingungen für die Qualifizierung, Kompetenzentwicklung und – nicht an letzter Stelle – für die Prozess- und Veränderungsakzeptanz bereitstellen soll. 2.2 Der kompetente Mitarbeiter in der Produktion Aus der Sicht der Kompetenzlehre wird das sichtbare menschliche Verhalten im Wesentlichen durch zwei Bausteine bestimmt: 1.) Die immanent vorhandenen Kompetenzen, die die Grundlage für das potenziell mögliche Ausführen von zielgerichteten Tätigkeiten bilden und lediglich dann voll ausgeschöpft werden können, wenn 2.) die Einstellung in Form der Motivation zur Ausführung einer vorliegenden Tätigkeit vorhanden und auch voll ausgeprägt ist. Wesentliche Einflussfaktoren auf das menschliche 62 André Ullrich, Gergana Vladova Verhalten lassen sich in folgende Modalitäten strukturieren: „Können“ (Fähigkeiten, Fertigkeiten), „Kennen“ (Information, Wissen) und „Dürfen“ (Aufbauorganisation, Ablauforganisation) für die Kompetenzen und das „Wollen“ (Einstellung, Anreize) für die Motivation (vgl. Heinen 2011, S. 25). In der Entwicklungspsychologie beschreibt das Modell der Kompetenzstufenentwicklung (vgl. Oerter/Montada 2002) die Entwicklung von kontextabhängig inkompetenten zu kompetenten Individuen. Dies geschieht über die vier Stufen: unbewusste Inkompetenz, bewusste Inkompetenz, bewusste Kompetenz und unbewusste Kompetenz. Zuerst ist das Individuum nicht in der Lage, die eigenen Defizite wahrzunehmen (vgl. Kruger und Dunning 1999); in einer konkreten Situation kann es Zusammenhänge nicht erkennen (unbewusste Inkompetenz). In der Phase der bewussten Inkompetenz erkennt das Individuum bereits seine Defizite, es ist ihm jedoch noch nicht möglich, einen eigenen Lösungsansatz zu kreieren. In der Phase der bewussten Kompetenz sucht das Individuum nach Möglichkeiten diese Defizite auszugleichen, das eigentliche theoretische und praktische Lernen findet hier statt. Ein hoher bewusster kognitiver Aufwand kennzeichnet diese Phase. Anhand der vielen praktischen Erfahrungen im Kontext der neuen Anforderungen ist das Individuum in der Phase der unbewussten Kompetenz in der Lage, die Ausführung einer vorher neuen vorliegenden Tätigkeit bereits ohne den erhöhten kognitiven Aufwand durchzuführen. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die (Selbst-)Erfahrung. Erfahrungen des Erfolgs nehmen für die kognitive Entwicklung eines Individuums einen anderen Stellenwert ein, als Erfahrungen des Scheiterns, insbesondere beim Auftreten von Fehlern (Schneider/Stern 2010). Greift in diesem Prozess des Scheiterns die Angst in das bewusste Erleben ein, dann nimmt die emotionale Wahrnehmung überhand und beeinflusst die kognitive Verankerung negativ. Ein wiederholtes fehlerinduziertes Scheitern beeinträchtigt das positive Veränderungsvermögen eines Individuums nachhaltig und führt zur Ausbildung einer sekundären Inkompetenz (vgl. zu diesem Kompetenz-Inkompetenz-Zusammenhang Langemeyer 2010). Die drei kurz skizzierten Aspekte (die zwei Modalitäten der Kompetenz, die Stufen der Kompetenzentwicklung sowie die Bedeutung der Selbsterfahrung) spannen einen Rahmen für die kontextspezifische und individuumangepasste Methodenentwicklung und -nutzung im Unternehmen auf. Dieser soll entsprechende Bedingungen schaffen, welche allgemeine mit individuellen Aspekten verknüpfen, um bestehende Kompetenzen der Mitarbeiter zu nutzen oder auszubauen (North/Reinhardt 2005, S. 9) oder Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 63 neue Kompetenzen aufzubauen und somit innovativ und erfolgreich zu bleiben. Abbildung 1 visualisiert den Rahmen für die eigene Methodenentwicklung. Wesentliche Aspekte sind dabei 1) die Einstellung der Mitarbeiter sowie 2) ihre Fähigkeiten - beide beeinflussen 3) das Verhalten - und 4) die kontextspezifischen Anforderungen. Die Anforderungen ergeben sich durch die operativen und strategischen Veränderungen mit Hinblick auf Industrie 4.0 und stellen den Kontext für die Kompetenzentwicklung. Aus diesem Grund sollten diese Anforderungen seitens der Entscheidungsträger und -finder im Unternehmen klar formuliert und verständlich kommuniziert werden. Akzeptanz / Einstellung Verhalten / Performanz Kernkompetenzen Kontextabhängige Kompetenzen Kontextspezifische Anforderungen Abbildung 1: Kompetenzen, Einstellung und Leistungsfähigkeit (Eigene Darstellung) Bei den Kompetenzen wird in Kernkompetenzen sowie kontextabhängige Kompetenzen unterschieden. Wobei die ersten die allgemeinen Kompetenzen eines spezifischen Tätigkeitstyps (bspw. Maschinenbediener, Systemregulierer etc.) repräsentieren und die zweiten die konkreten Tätigkeitstypsspezifischen Antworten auf die kontextspezifischen Anforderungen sind. So stellt z.B. die umfeldspezifische Ausprägung externes Drucks in Form eines geforderten hohen Flexibilitätsgrades der Fertigung bezüglich unterschiedlicher Produkte und Losgrößen für den Maschinenbediener die Notwendigkeit dar, zusätzlich zu seiner Kernkompetenz (Aufrechterhaltung des Produktionsvorgangs der Maschinen) produktdiversifikationsbedingte kleinere Umrüstmaßnahmen (kontextabhängige Kompetenz) selbst durchführen zu können. 64 André Ullrich, Gergana Vladova Das erreichte Kompetenzniveau sowie die eigene Kompetenzwahrnehmung beeinflussen ihrerseits die Einstellung der Mitarbeiter in Bezug auf die neuen Aufgaben sowie ihr Verhalten und ihre Performanz. Die empfundene Unsicherheit in Bezug auf die Kontextanforderungen oder auf die eigenen Fähigkeiten, diesen Anforderungen nicht erfolgreich begegnen zu können, führen zum tatsächlichen Scheitern im Prozessverlauf (negative Performanz) sowie in Folge dessen zu verstärkter Inakzeptanz und Unwilligkeit zur Kompetenzentwicklung. Die Kompetenzen in ihrer Eigen- und Fremdwahrnehmung sollen vor diesem Hintergrund etwas intensiver betrachtet und in Kategorien unterteilt werden, um nachfolgend die Möglichkeiten für Ihre Weiterentwicklung im Kontext von Industrie 4.0 aufzuzeigen. Kompetenzen sind „Fähigkeiten einer Person zum selbstorganisierten, kreativen Handeln in für sie bisher neuen Situationen“ (Erpenbeck 2010, S. 15). Sie sind durch „Wissen fundiert, durch Werte konstituiert, als Fähigkeiten disponiert, durch Erfahrungen konsolidiert und auf Grund von Willen realisiert“ (Erpenbeck/von Rosenstiel 2003, S. 366). Eine zentrale Rolle im Leben sowie im Unternehmenskontext spielt die Handlungskompetenz. Diese ist notwendig, um auf neuartige Anforderungen eingehen sowie erforderliche Aufgaben durchführen zu können. Diese setzt sich aus unterschiedlichen Kompetenzfacetten (Fachkompetenz, personale Kompetenz, Methodenkompetenz etc.) sowie entsprechenden Elementen (Wissen, Fähigkeiten, Selbstständigkeit etc.) zusammen (vgl. Abbildung 2). Im Zuge von Industrie 4.0 erscheinen neue Kompetenzen, wie z.B. Kooperationskompetenz, Organisationskompetenz oder Prozesskompetenz, tätigkeitstypübergreifend erforderlich und genau hier setzen die Notwendigkeiten für Qualifizierungsmaßnahmen an. Kompetenzen der Entitäten Kompetenzmodell und Aufbau Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 65 Kompetenzmodell Industrie 4.0-Fabrik Abbildung 2: Kompetenzmodell (Eigene Darstellung) • Strukturierung und Klassifikation unterschiedlicher Kompetenzfacetten ToDo: der Handlungskompetenz 2.3 Page 10 Ansätze der Kompetenzentwicklung © MetamoFAB Nachdem so-Consortium 23.04.2015die verschiedenen Aspekte von Kompetenzen besprochen wie ein Rahmen für ihre Zuordnung aufgespannt wurde, soll nachfolgend auf verschiedene Ansätze der hop Kompetenzentwicklung werWorks mit GesprächskreisMeeingegangen nsch und Arbeit den. Ziel jeder Kompetenzentwicklungsmaßnahme ist die selbstorientierte Handlungsfähigkeit (Erpenbeck 2007), damit die individuell angeeigneten Kompetenzen ohne äußeres Zutun angewendet werden können. Die Methoden der Kompetenzentwicklung werden anhand von zeitlichen, inhaltlichen und räumlichen Kriterien strukturiert. Anhand der Ursache der Kompetenzentwicklung, wird zwischen into-, along- und out of the jobMaßnahmen unterschieden (Krämer 2007, S. 64). Innerhalb dieser Maßnahmengruppen wird darüber hinaus der räumliche Aspekt zur weiteren Unterteilung herangezogen. Mögliche Ausprägungen sind on the job, near the job oder off the job (vgl. Abbildung 3). 66 André Ullrich, Gergana Vladova Abbildung 3: Klassifizierung der Kompetenzentwicklungsmaßnahmen (i. A. a. Krämer 2007, S. 64) Die into the job-Maßnahmen dienen dem initialen Aufbau von Kompetenzen (Krämer 2007, S. 65) bei Mitarbeitern. Diese Maßnahmen weisen zum Teil eine zeitliche und räumliche Distanz, jedoch weitgehend inhaltliche Kongruenz zu den Aufgaben einer neu zu bekleidenden Position auf und wirken damit vorbereitend (Conradi 1983). Umgesetzt werden diese beispielsweise als Mitarbeiterberatung, programmierte Unterweisung oder Einarbeitung in Form von Vorbereitung des Arbeitsplatzes, Vorführen und Anlernen neuer Tätigkeiten sowie die Weitergabe von notwendigem Wissen an die zukünftigen Kompetenzträger (Scholz 2000). Aufgrund des zeitlichen Umfangs werden die along the job-Maßnahmen als laufbahnbezogene Entwicklungsmethoden bezeichnet und dementsprechend laufbahnbegleitend durchgeführt (Klötzl 1996). Diese befassen sich mit der systematischen Veränderung der Position und der Weiterentwicklung von Kompetenzträgern und können in horizontaler oder vertikaler Richtung wie auch zentral erfolgen (Conradi 1983). Stellvertretend genannt seien: Laufbahnplanung, Erfahrungsgruppen und Fachtrainings. Die out of the job-Maßnahmen gehören dem Zeitverlauf nach zu den abschließenden Entwicklungsmethoden, die das Ausscheiden aus der aktiven Arbeitswelt begleiten. Sie dienen jedoch auch als Vorbereitung auf interne oder externe Arbeitsplatzwechsel (Jung 2006). Beispiele hierfür sind die Ruhestandsvorbereitung, Berater-Pool oder das Outplacement. Kompetenzentwicklungsmaßnahmen, die unmittelbar am Arbeitsplatz stattfinden, werden als on the job-Maßnahmen bezeichnet. Diese weisen eine zeitliche, räumliche und inhaltliche Nähe zu diesem auf. Die Nähe bietet den Vorteil, dass die theoretische Erfahrung und praktische Anwendung direkt miteinander in Verbindung stehen, was den Mitarbeitern jedoch ein hohes Maß der Offenheit abverlangt, sich aktiv am Entwicklungsprozess zu beteiligen. On the job-Maßnahmen können individuell auf den Kompetenzträger zugeschnitten und somit der Lern- bzw. Entwicklungsgeschwindigkeit angepasst werden (Jung 2006). Praktische Umsetzungen Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 67 zeigen sich in Form von Job Rotation, Job Enrichment oder Job Enlargement. Arbeitsplatznahe near the job-Maßnahmen werden in Form von Weiteroder Fortbildung im jeweiligen Unternehmen, jedoch nicht direkt am Arbeitsplatz bspw. in entsprechenden Lehrwerkstätten, durchgeführt. Gängige Beispiele sind Workshops, Projektgruppen oder das Coaching mit dem Ziel, die organisationale Effizienz zu fördern. Off the job-Maßnahmen stellen eine Ergänzung zu den innerorganisationalen Maßnahmen dar. Sie werden außerhalb des Arbeitsplatzes durchgeführt und vermitteln tätigkeitsbezogenes Wissen und spezifische Fähigkeiten zur Durchführung einer Tätigkeit. Teambildungsmaßnahmen oder Intergruppen-Intervention sind mögliche Beispiele. Es können aber auch externe Weiterbildungen dazu gezählt werden. Diese unterschiedlichen Ansätze der Kompetenzentwicklung stellen aufgrund der ihnen immanenten Strukturierung nach zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Kriterien einen Ansatzpunkt für den Einsatz von Qualifizierungsmaßnahmen sowie die Gestaltung von Lernszenarien dar. 3 Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion Es werden zuerst gegenwärtige Herausforderungen des Qualifizierungsmanagements dargestellt, eine Brücke zur Gestaltung prozessbezogener Lernangebote gebaut und abschließend mit dem Morphologischen Kasten ein Ansatz zur Entwicklung von Lernszenarien im Speziellen (in diesem Beitrag verdeutlicht) und im Allgemeinen zum Einsatz von Qualifizierungsmaßnahmen in Unternehmen aufgezeigt. 3.1 Herausforderungen des Qualifizierungsmanagements im Kontext der vernetzten Produktion Im gegenwärtigen Arbeitsumfeld wirken neue Formen der Betriebs- und Arbeitsorganisation, neue Arbeitsinhalte und Tätigkeiten sowie neue Formen der Beschäftigungsverhältnisse auf die Ausgestaltung betrieblicher Arbeit und führen zu neuartigen Anforderungen (vgl. Böhle et al. 2013). Die Entgrenzung zwischen Berufs- und Privatleben in Form einer zunehmenden Auflösung von zeitlichen, räumlichen und sachlichen Strukturen betrieblich organisierter Arbeit aufgrund von Informations- und Kommunikationstechnologien und sich wandelnder Anforderungen fordert eine höhere Flexibilisierung der Arbeit und eine erhöhte 68 André Ullrich, Gergana Vladova (Selbst-) Organisationskompetenz. Darüber hinaus werden vermehrt Arbeiten durchgeführt, deren höherer Zweck vom Arbeiter nicht immer unmittelbar zu erkennen ist. Auch der Interaktivitätsgrad der Arbeit nimmt aufgrund von zunehmend verteilter Arbeit und dem Einsatz von Informationstechnologien vermehrt zu. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Tendenz, dass Mitarbeiter mit ihrer Arbeitskraft zunehmend wie ein Unternehmer umgehen müssen. Eine verstärkte Selbstkontrolle, erweiterte Selbst-Ökonomisierung, Selbst-Rationalisierung sowie eine verbetrieblichte Lebensführung kennzeichnen diesen Typus (Pongratz/Voß 2003). Diese skizzierten Anforderungen (Subjektivierung von Arbeit, unbestimmte Arbeit, interaktive Arbeit und der Arbeitskraftunternehmer) führen dazu, dass sich die Ausprägungen der Kompetenzfacetten der unterschiedlichen Tätigkeitstypen ändern müssen. Bei der Entwicklung des Qualifizierungsangebots und bei der Gestaltung des Qualifizierungsprozesses muss im Unternehmen eine Vielzahl von relevanten Parametern berücksichtigt werden. Die Rahmenbedingungen werden durch den Prozessverlauf festgelegt, die konkreten Schritte, an denen ein Mitarbeiter beteiligt ist, die ablauf- und aufbauorganisatorischen Beziehungen zu und Abhängigkeiten von den anderen menschlichen und technischen Akteuren sowie vom bereits vorhandenen Kompetenzniveau. Der Prozess des Erwerbs und der Ausbau von Qualifikationen verläuft 1.) im Rahmen einer intendierten Qualifizierung (gezielt und mit dem Einsatz von Schulungen und Trainings; oder 2.) einer nicht intendierten Qualifizierung (unbeabsichtigt und häufig unbemerkt im Verlauf der eigentlichen Arbeitstätigkeit (Gronau 2009, S. 131 ff.). Beide Qualifizierungsarten sind mit Vor- und Nachteilen verbunden. Die nicht intendierte Qualifizierung ist mit keinen zusätzlichen Kosten verbunden und bewirkt eine Steigerung der allgemeinen Handlungskompetenz. Die intendierte Qualifizierung dagegen wird von einem gezielten Lernvorgang geleitet und sorgt für einen strukturierten und nachhaltigen Qualifizierungsprozess (ebd.). Dabei sollten die Lerninhalte und -formen auf den Lernenden abgestimmt werden, um diesen erfolgreich in die Lage zu versetzen, Lehrinhalte wahrzunehmen, zu verstehen und zu behalten. So ist es unter anderem sinnvoll, sowohl Schulungen als auch Trainings in das Qualifizierungsangebot von unterschiedlichen Seiten am Lernprozess zu integrieren. Dabei ermöglicht ersteres die primäre Wissensaufnahme und letzteres die Verarbeitung und Anwendung (ebd). Im Zusammenhang mit den dargestellten Anforderungen ergeben sich eine Reihe von Fragen und Herausforderungen, die es zukünftig gemein- Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 69 sam von Theorie und Praxis zu beantworten und zu meistern gilt, um erfolgreiches Qualifikationsmanagement entwickeln, bereitstellen und durchführen zu können. Im Rahmen des Beitrags sind die folgenden relevant: Welche Lernszenarien sind in welchen Prozesssituationen erfolgsversprechend und wie wird Lernerfolg/Weiterbildungserfolg gemessen? Wie kann die Distanz zwischen Weiterbildungsumgebung und Produktivumgebung verringert und wie kann die Weiterbildung in den betrieblichen Kontext gebracht werden? Im Zuge der Beantwortung dieser Fragen entsteht eine Reihe von Herausforderungen, die angegangen werden müssen. Die Autoren sehen als generische Herausforderung die Entwicklung und Anpassung individueller prozessbezogener Weiterbildungsangebote für MitarbeiterInnen und Führungskräfte im Rahmen von Industrie 4.0, sodass diese direkt, prozessorientiert oder -integriert, dezentral und situationsbedingt aus dem betrieblichen Kontext abgeleitet, gestaltet und eingesetzt werden können. In diesem Zusammenhang entstehen weitere Herausforderungen: Entwurf von Methoden zur Ableitung des individuellen Weiterbildungsbedarfs: Ausarbeitung von Methoden zur Ableitung des individuellen Weiterbildungsbedarfs aus den konkreten Kontexten des betrieblichen Ablaufs und darauf aufbauend eine Systematisierung dieser Methoden anhand von Prozessebenen. Entwicklung von Lernaufgaben und -modulen für die individuelle prozessbezogene Weiterbildung: Einerseits ist die Identifikation von relevanten Wissens- und Kompetenzdefiziten sowie andererseits die systematische Erfassung regulärer Prozesse und standardmäßiger Aufgaben in ihren Anforderungsdimensionen und die notwendige Differenzierung von eher untypischen Problemen nötig. Entwicklung und Erprobung von Lernszenarien und Weiterbildungsangeboten: Dadurch wird die Distanz zwischen der Weiterbildungs- und der Produktivumgebung durch prozessorientierte bzw. -integrierte Lernformen verringert und die Weiterbildung in den betrieblichen Kontext eingebettet. Die unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitarbeiter werden systematisch bei der Entwicklung von Lernaufgaben berücksichtigt und ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Selbstmotivation gestärkt. 70 3.2 André Ullrich, Gergana Vladova Gestaltung prozessbezogener Lernangebote Bei der Gestaltung betrieblicher Angebote zur Kompetenzentwicklung und Qualifizierung im Bereich Industrie 4.0 sollen insbesondere der Kontext des betrieblichen Ablaufs, die organisatorischen Abläufe, die Produktionsprozesse sowie die technologischen Besonderheiten der Betriebe berücksichtigt werden, um vor diesem Hintergrund den individuellen Weiterbildungsbedarf ableiten und gestalten zu können. Die Entwicklungspfade adressieren einerseits individuell unterschiedlich verlaufende Weiterbildungsprozesse, sollen jedoch auf generalisierbaren und vielfältig anwendbaren Lernangeboten basieren. Wie bereits dargestellt, verlaufen die Prozesse und Beziehungen im Industrie 4.0-Kontext im Rahmen von sozio-technischen Systemen und die Aufgaben des Menschen entsprechen immer seltener denen eines standardisier- und planbaren Prozessverlaufs, sondern erfordern viel mehr ein komplexes und wissensintensives Arbeitshandeln, wobei insbesondere an der Schnittstelle zu den technischen Entitäten die Varianz und Unvorhersehbarkeit der Arbeitsabläufe steigen. Andererseits werden die Aufgaben für An- und Ungelernte in ihrer Komplexität abnehmen, sodass für diese Qualifikationsgruppe die Notwendigkeit von Weiterbildungsmaßnahmen stark nachlässt. Vor diesem Hintergrund verändern sich auch die Anforderungen an die Weiterbildung, von der Gestaltung von klassischen Lehrangeboten hin zur Förderung der dynamischen, kontinuierlichen Entwicklung individuellen Wissens sowie des präventiven und vorausschauenden Verhaltens. Um den Lernprozess und die Entwicklung von praktischen Kompetenzen und das problembasierte Handeln positiv zu beeinflussen, soll das Weiterbildungsangebot zum großen Teil unmittelbar in den Arbeitsprozess integriert sein (Upadhyay et al. 2011). Dabei sollen fähigkeitsgetriebene, einstellungsgetriebene und kompetenzgetriebene Lernmodelle gleichermaßen berücksichtigt werden (Goldman 2009). Da im Mittelpunkt der Kompetenzentwicklung und Qualifizierung im Industrie 4.0-Kontext verstärkt der Umgang mit den neuen technischen Entitäten steht, sollen die Lernangebote den praktischen Umgang mit der Technik adressieren. Ansätze hierzu finden sich im Bereich Lernen und Wissensmanagement, beispielsweise in Bezug auf die Nutzung von Computerarbeitsplätzen (Griffin 2011, Chatti et al. 2007), sowie auf die Überführung von Lerninhalten in die Praxis in Skillslabs (Schewior-Popp 2005, S.148) oder Virtual Reality-Ansätzen (Lin et al. 2002). Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 71 Neben der Ausdifferenzierung der Lernszenarien nach Anforderungen durch den Arbeitsprozess sind ebenso Besonderheiten in der Belegschaft zu berücksichtigen. Bei der Wahl der Lernmethoden und der technologischen Mittel ist auf unterschiedliche Nutzungsstile zu achten, sodass das Weiterbildungsangebot bestmöglich von den Beschäftigten angenommen wird. Die Lernszenarien müssen weiterhin die Motivation der Mitarbeiter fördern und sie inhaltsübergreifend vorbereiten sowie sie anregen, aktiv und selbstständig an den neuen Lehr- und Lernangeboten teilzunehmen und im Arbeitsprozess proaktiv zu handeln. Wichtig ist die ganzheitliche Betrachtung der Organisation und die Berücksichtigung der Interessen verschiedener Gruppen. Hierzu können bestehende Management- und Wissensmanagementmethoden zur Mitarbeitermotivation in der Prozessgestaltung als Grundlage genutzt werden (vgl. Roehl 2000). 3.3 Morphologisches Tableau zur Entwicklung von Lernszenarien Zur Entwicklung von Lernszenarien wird auf ein Instrument des systematischen Kreativitätsmanagments, das sich zur Konstruktion von Typologien eignet (Zelewski et al. 2008, S. 184), den Morphologischen Kasten, zurückgegriffen. Diese Matrix enthält in der ersten Spalte die relevanten Parameter eines Untersuchungsobjekts. Zu jedem dieser Parameter werden in den entsprechenden Zeilen mögliche relevante und zulässige Ausprägungen eingetragen, sodass sich bei endlichen Parametern eine endliche Menge an möglichen Kombinationen ergibt, die sich wiederum zur Gestaltung – wie im vorliegenden Fall – unterschiedlicher Lernszenarien nutzen lässt. Ausgangspunkte der Identifikation relevanter Parameter sind die Methoden der Kompetenzentwicklung, die jeweilige Rolle im Prozess, digitale Medien, eine betriebswirtschaftliche Perspektive sowie demographische Faktoren, welche in einem Kreativworkshop (klassisches Brainstorming) identifiziert und danach iterativ strukturiert und weiterentwickelt worden sind. Abbildung 4 stellt einen Morphologischen Kasten der Klasse „Qualifikationsdurchführungsmanagement“ dar. Die Anwendung wird am Beispiel von zwei entwickelten Szenarien nachfolgend darstellt. 72 André Ullrich, Gergana Vladova Abbildung 4: Morphologischer Kasten – Qualifikationsdurchführungsmanagement Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 4 73 Anwendung in beispielhaften Einsatzszenarien Die Ausgangssituation betrifft die Entscheidung auf Managementebene, in einem Großunternehmen, einen gesamten Produktionsbereich unter Industrie 4.0-Bedingungen neu einzurichten. Es entsteht ein neuer Prozess, welcher das Zusammenspiel neuer technischer Entitäten mit bereits lange im Unternehmen beschäftigten menschlichen Akteuren verknüpfen muss. Im Mittelpunkt dieses Prozesses stehen neue Industrie 4.0-Aufgaben. Alle relevanten Aufgabenebenen in diesem Produktionsbereich sind vom Wandel betroffen und durch eine gemeinsame Strategie und durchgehende technische Lösungen miteinander verknüpft. Szenario 1 (Erwerb von notwendigem Grundwissen zur Industrie 4.0) Über Kompetenz- und Anforderungsprofile, z.B. über ein Qualifizierungsbuch können im Vorfeld der prozessbezogenen Weiterbildung die notwendigen individuellen Lernziele und Lerninhalte und Weiterbildungspfade festgelegt werden. Auf dieser Grundlage können Mitarbeiter in einem zweistufigen Verfahren weitergebildet werden: statisch zur Schaffung einer Ausgangsbasis, mit Schwerpunkten insbesondere auf die Maschine-zu-MaschineKommunikation sowie Automatisierung und Traceability in der Produktion. In einem zweiten Schritt können unter Anweisung durchgeführte Simulationen sowie Lernspiele den Prozess der Wissensweitergabe ergänzen, um das komplexe Zusammenspiel der einzelnen Akteure, Technologien und die Dynamik der Prozesse greifbar zu machen sowie Fehleranalyse, Dokumentation von Lernerfahrungen und deren schnelle Abrufbarkeit zu ermöglichen. Szenario 2 (Arbeitsprozessintegrierter Wissenserwerb) Die im ersten Szenario erworbenen Grundkompetenzen decken jedoch nicht alle Arbeitssituationen ab, es ist daher notwendig, die Lerngelegenheiten im Arbeitsprozess zu nutzen und damit variables und proaktives Verhalten und Reaktionsfähigkeit zu fördern. Anders als bei der bloßen Informationsaufnahme werden hier Mikrolerneinheiten zur Reflektion, Wiederholung und Vertiefung des Gelernten genutzt. Der Lernort ist hierbei der Arbeitsort. Es werden entweder Situationen genutzt, in denen der Lerner nicht aktiv mit der Maschine interagieren muss oder Situationen, die ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit erfordern, z.B. beim Neueinrichten der Produktionsanlage, bei der Fehlerbehebung oder der Qualitätskontrolle. Über mobile Technologien soll es dem Lernenden möglich sein, 74 André Ullrich, Gergana Vladova individuelle Lernsituationen zu identifizieren und auf entsprechendes Lernmaterial zuzugreifen. Über die Vernetzung der Produktionsobjekte, die breit angelegte Sensorik und die steten Datenflüsse im Produktionsprozess werden mittels Augmented Reality die Lerninhalte in die aktuelle Produktionssituation eingebettet. Hierdurch wird sowohl die Komplexität der Abläufe als auch das individuelle Handeln transparent und führt zum Kompetenzaufbau am individuellen Arbeitsplatz als auch zu einem Verständnis der Position im Gesamtprozess. Der vorgestellte Morphologische Kasten kann zur strukturierten Ausgestaltung dieser zwei Lernszenarien genutzt werden. Abbildung 5 fasst beispielhaft die adressierten Ausprägungen pro Parameter für beide beschriebenen Fälle zusammen. Die Ausprägungen adressieren die Anforderungen und Ausgestaltungsmöglichkeiten beider vorgestellter Ausgangssituationen und dienen der Generierung von entsprechenden Lösungsansätzen zur Gestaltung von Qualifizierungsmaßnahmen. Weiterhin weisen sie direkt auf entsprechende Vorteile der Szenarien hin – wie zum Beispiel im Szenario 2 die Kostenreduzierung durch Schulungen direkt an der Maschine in Produktivzeit sowie die Nutzung positiver Aspekte der sozialen Anbindung und Vermeidung von Unsicherheit durch Schulungen in Anwesenheit eines engeren Kreises direkter Kollegen und in vertrauter Umgebung. Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 75 Abbildung 5: Parameterausprägungen in Lernszenarien 76 André Ullrich, Gergana Vladova 5 Zusammenfassung und Ausblick Das Ziel des vorliegenden Beitrages war es, einen Ansatzpunkt zur Strukturierung der relevanten Parameter des Qualifizierungsmanagements und deren Ausprägungen vorzustellen, der Hilfestellung bei der Entwicklung von realen Lernszenarien und dem Einsatz von Qualifizierungsmaßnahmen leisten kann. Dies geschah auf Basis von Industrie 4.0 spezifischen Anforderungen sowie Herausforderungen an die Kompetenzentwicklung. Das entwickelte Artefakt – der Morphologische Kasten zur Strukturierung der Parameter des Qualifikationsdurchführungsmanagements – wurde exemplarisch angewendet und im Rahmen von zwei Szenarien vorgestellt. Es kann zur Entwicklung von Lernszenarien im Speziellen (in diesem Beitrag verdeutlicht) genutzt werden sowie im Allgemeinen zum Einsatz von Qualifizierungsmaßnahmen in Unternehmen dienen. Ausgehend von der Betrachtung sozio-technischer Systeme sowie relevanter Kompetenzentwicklungsdimensionen wurde darüber hinaus – dem Umfang des Beitrags geschuldet sehr generisch dargestellt – eine Strukturierung unterschiedlicher Industrie 4.0 relevanter Kompetenzfacetten vorgenommen und auf Ansätze der Kompetenzentwicklung eingegangen. Es wurden zwei aktuelle Kernfragen des Qualifizierungsmanagements in der vernetzten Produktion aufgedeckt, die den Anstoß für diesen Beitrag gaben und umfassend in fortlaufender Forschung adressiert werden. Weiterer Forschungsbedarf besteht in der Anwendung des Morphologischen Kastens in realen Produktionsumgebungen und damit einhergehenden gegebenenfalls notwendigen Modifikationen. In einem weiteren Schritt wird die Verknüpfung der Parameter sowie deren Ausprägungen mit konkret zu entwickelnden Kompetenzfacetten angestrebt. Danksagung Dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmenkonzept „Forschung für die Produktion von morgen“ (Förderkennzeichen: 02PJ4040 ff) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Qualifizierungsmanagement in der vernetzten Produktion […] 77 Literatur Böhle, F., Pfeiffer, S., Sevsay-Tegethoff, N. (Eds.), 2013. : Die Bewältigung des Unplanbaren. Springer-Verlag. Chatti, M. A., Jarke M., Frosch-Wilke, D., 2007. : The future of e-learning: a shift to knowledge networking and social software. International Journal of Knowledge and Learning, Vol. 3 (4/5), S. 404-420. Conradi, W., 1983: Personalentwicklung. Enke-Verlag. Erpenbeck, J., 2007.: KompetenzManagement. Methoden, Vorgehen, KODE und KODE-X im Praxistest. Wachsam Verlag, S. 11-164. Erpenbeck, J., Rosenstiel, L. von, 2003. : Handbuch Kompetenzmessung. 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PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen 81 PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller Der technologische und demografische Wandel führt in der Automobil- und Zulieferindustrie zu Herausforderungen im betrieblichen Kompetenzmanagement. Steigende fachliche und methodische Anforderungen in immer kürzer werdenden Innovationszyklen erfordern wandlungsfähige Lösungen zur Kompetenzentwicklung der Beschäftigten. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über vorhandene Konzepte zur Berücksichtigung von Wandlungsfähigkeit in der Kompetenzentwicklung. Anschließend wird der Ansatz des Forschungsprojektes PLUG+LEARN dargestellt, das auf die Bündelung von Kompetenzen und auf Synergieeffekte in der automobilen Wertschöpfungskette ausgerichtet ist. 1 Einleitung Die Industrie gehört zu den wichtigsten Säulen des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Steigende Kundenanforderungen und der technologische Wandel führen jedoch zu großen Herausforderungen, beispielsweise in Form von strukturellen Veränderungen der Produkte und Produktionsverfahren. Besonders betroffen von diesem Prozess ist die Automobilindustrie, die von einer überdurchschnittlich hohen Innovationsgeschwindigkeit geprägt ist (Zentrum für Europäische Wirtschaftsförderung 2011). So führen technische Innovationen wie Elektromobilität oder die Verwendung neuer Werkstoffe zu tiefgreifenden Veränderungen in der gesamten Wertschöpfungskette. Damit gehen neue Anforderungen an die Kompetenzen der Mitarbeiter einher, die einen wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen leisten. Gleichzeitig steht die Branche vor erheblichen demografischen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem sich verschärfenden Fachkräftemangel und Veränderungen in der Altersstruktur der Beschäftigten (Kienbaum Management Consultants 2013; Klöpper/Lenz 2013; Kopel/Weber 2010). Damit die Beschäftigten den steigenden fachlichen Anforderungen in immer kürzer werdenden Innovationszyklen und veränderten Produktionsstrukturen gerecht werden können, ist ein geeignetes Kompetenzmanagement notwendig. 82 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller Das Forschungsprojekt „PLUG+LEARN – wandlungsfähiges, marktplatzbasiertes Kompetenznetzwerk für die Automobil- und Zulieferindustrie“ strebt daher eine Bündelung von Kompetenzen in der automobilen Wertschöpfungskette an, um Synergieeffekte zu realisieren. Das Ziel besteht in der Strukturierung und Entwicklung von wandlungsfähigen Kompetenzmodulen, die einem breiten Anwenderkreis zur Verfügung gestellt werden und aufwandsarm an spezifische betriebliche Anforderungen angepasst werden können. Die Forschungsarbeiten basieren auf dem Prinzip wandlungsfähiger Produktionssysteme (PLUG+PRODUCE), das im Rahmen des Projektes auf den Bereich des Kompetenzmanagements übertragen wird. Der Beitrag stellt zunächst den aktuellen Stand zur Berücksichtigung von Wandlungsfähigkeit als Zielgröße im betrieblichen Kompetenzmanagement dar. Anschließend wird darauf aufbauend das PLUG+LEARNKonzept erläutert. 2 2.1 Wandlungsfähigkeit im betrieblichen Kompetenzmanagement Definition Wandlungsfähigkeit Der Begriff der Wandlungsfähigkeit von Produktionssystemen wird seit etwa Mitte der 1990er Jahre in der wissenschaftlichen Literatur diskutiert (Westkämper et al. 1997). Dennoch ist festzustellen, dass bislang keine einheitliche Definition verfügbar ist. Hernández Morales definiert Wandlungsfähigkeit als „Potenzial einer Fabrik, […] reaktiv oder proaktiv eine zielgerichtete Neu- oder Rekonfiguration der Wandlungsobjekte […] bei geringem Aufwand durchführen zu können“ und zielt damit überwiegend auf die Struktur und Organisation der technischen Systeme einer Fabrik ab (Hernández Morales 2003). Nach Hildebrand charakterisiert sich eine wandlungsfähige Fabrikstruktur dadurch, dass sie Möglichkeiten zu signifikanten Veränderungen bietet (Hildebrand 2005). Westkämper hingegen beschreibt die Fokussierung auf technische Systeme als Wandelbarkeit, während Wandlungsfähigkeit Kreativität und Intelligenz und damit eine soziale Komponente voraussetzt (Westkämper et al. 2000). Als Konsens der wissenschaftlichen Literatur lässt sich Wandlungsfähigkeit als langfristige und umfassende Veränderungsfähigkeit eines Produktionssystems interpretieren, die sich gegenüber der Flexibilität abgrenzt (Jentsch 2015). Reinhart et al. beschreiben diese Abgrenzung beispielsweise dadurch, dass mittels Wandlungsfähigkeit auch eine Anpassung an Veränderungen möglich wird, die bei der Planung noch nicht vorhersehbar waren (Reinhart PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen 83 et al. 2002). Wandlungsfähigkeit bezieht sich dabei auf alle Phasen des Fabriklebenszyklus (Schenk et al. 2014). 2.2 Wandlungsfähigkeit und Kompetenzmanagement Die gezielte Entwicklung von Fachkräften in Unternehmen ist oberstes Ziel zur Sicherung des Humankapitals der deutschen Wirtschaft (Demary et al. 2013). Um der zunehmenden Wissensintensivierung zu begegnen, müssen Fachkräfte in ihren Kompetenzen breit aufgestellt sein. Die dadurch bedingte Flexibilisierung der Anforderungsprofile resultiert im Bedarf nach einer ebenso flexiblen Weiterbildung von Fachkräften im Sinne des lebenslangen Lernens. In der Literatur wird die Verknüpfung von Wandlungsfähigkeit und Kompetenzmanagement überwiegend aus der Perspektive der Entwicklung von individuellen Kompetenzen zur Steigerung der organisationalen Wandlungsfähigkeit betrachtet, d. h. der Fähigkeit von Mitarbeitern, Unternehmensprozesse wandlungsfähig zu gestalten (Wagner et al. 2010). In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff der soziotechnischen Wandlungsfähigkeit geprägt, der das Potenzial von Mitarbeitern zur Durchführung von Wandlungsprozessen umfasst (Heinen 2011). Vor diesem Hintergrund werden auch die Anforderungsprofile der Mitarbeiter in Unternehmen als variabel interpretiert, die flexibel auf Veränderungen angepasst werden: So können beispielsweise Mitarbeiterqualifikationen in eine umfangreiche Basisqualifizierung und eine tätigkeitsspezifische Zusatzqualifizierung eingeteilt werden, um die Reaktionszeit auf Wandlungserfordernisse zu reduzieren (Sehorsch 2012). Holtewert beschreibt in diesem Zusammenhang ein Optimierungsproblem zwischen Vorbereitungs- und Anpassungskosten, also der Kosten für die kompetenzbasierte Qualifizierung vor bzw. bei Eintritt eines Wandels (Holtewert 2012). Darüber hinaus ist Wandlungsfähigkeit in der Kompetenzentwicklung bislang nur teilweise implementiert. Hierbei spielen vor allem die Modularisierung und die Mobilität eine Rolle. Unter Modularisierung versteht man den Aufbau von Bildungsmaßnahmen in Form von Modulen, wobei unter einem Modul ein standardisiertes Lernangebot zum Erwerb spezifischer Kompetenzen verstanden wird, das durch Lernziel- und/oder Lerninhaltsbeschreibungen charakterisiert wird (Deißinger 1996). In der beruflichen Ausbildung bewegt sich die modulare Ausgestaltung im Spannungsfeld zwischen der präskriptiven Formgebung der Berufsbil- 84 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller dungsverläufe und der Wahlfreiheit der Bildungsnachfrager (Frommberger 2009). Hinsichtlich ihrer didaktischen Orientierung wird die Berufsausbildung durch den Umstieg von Unterrichtsfächern auf Lernfelder zunehmend modularisiert (Pahl 2010). Dieser Ansatz lässt sich als Umsetzung des Differenzierungskonzeptes der Modularisierung auffassen, nach dem das Kompetenzprofil eines Bildungsweges in Module zerlegt wird, die jedoch in ihrer Gesamtheit die Gesamtkompetenz des Bildungsweges abbilden (Deißinger 1996). Im Bereich der Weiterbildung wird Modularisierung häufig in Form von aufeinander aufbauenden Komponenten in einem gestuften Modell umgesetzt. Dieser Ansatz folgt dem Fragmentierungskonzept der Modularisierung, das Module als selbstständige Einheiten auffasst (Deißinger 1996). Jedoch ist festzustellen, dass es – im Gegensatz zum Lernfeldkonzept der Berufsausbildung – kaum wissenschaftliche Modularisierungskonzepte für die Weiterbildung gibt. Empirisch spiegelt sich diese Tatsache darin wider, dass immerhin 20 % der nicht weiterbildungsaktiven Unternehmen den Fakt, dass keine passenden Angebote zur Verfügung stehen, als Hemmnis für die Durchführung von Weiterbildungen angeben (Seyda/Werner 2014). Eine stärkere Modularisierung der Angebote kann dazu beitragen, diese Passgenauigkeit zu verbessern (Demary et al. 2013). Die Mobilität der Weiterbildung hinsichtlich Lernorten und Lernzeiten kann unter dem Stichwort des selbstgesteuerten Lernens beschrieben werden (Bünnagel 2012). Beim selbstorganisierten Lernen fällt zusätzlich die Bestimmung der Lerninhalte und Lernziele in die Verantwortung des Lernenden. Die Umsetzung selbstgesteuerter Lernprozesse findet beispielsweise mithilfe von selbstständiger und zeitlich frei eingeteilter Gruppenarbeit in der betrieblichen Ausbildung statt (Rensing et al. 2012). Selbstorganisierte Lernkonzepte geben den Lernenden keine Lerninhalte oder Lernziele vor. Um dennoch eine inhaltliche Orientierung zu bieten, ist es möglich, zentrale Stichwörter herauszuarbeiten, beispielsweise in Form von Begriffslandkarten (Hoberg/Gohlke 2011). Zur Steigerung der Mobilität kommt der Nutzung von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien eine wichtige Rolle zu. Dies ist nicht zuletzt dadurch begründet, dass Globalisierung und technischer Wandel dazu geführt haben, dass Arbeitsprozesse in zunehmendem Umfang computer- bzw. netzgestützt erfolgen (Böhler et al. 2013). Für derartige Lerntechnologien des E-Learning lassen sich verschiedene Entwicklungsstufen unterscheiden (Erpenbeck/Sauter 2013): Der reine Wissensaufbau lässt sich demnach mit formellen Lernprozessen in Anleh- PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen 85 nung an den klassischen Frontalunterricht digitalisieren und anschließend individuell mit dem Computer abrufen. Als weiterer Schritt lassen sich handlungszentrierte und interaktive Lösungen zur Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten (z. B. mithilfe von Simulationen) auffassen. Schließlich lassen sich informelle Komponenten und das gemeinsame Lernen im Netzwerk integrieren. Aus dieser Entwicklung ist mittlerweile eine Vielzahl von Lernformen, wie beispielsweise Augmented Reality, Lernumgebungen in virtuellen 3DWelten und Serious Games entstanden (MMB Institut für Medien- und Kompetenzforschung, 2014). Zwar wird der Nutzung derartiger Instrumente insbesondere künftig eine hohe Bedeutung beigemessen, allerdings gibt es bislang noch wenige wissenschaftliche Transferbeispiele für die Umsetzung im produzierenden Gewerbe. Ausgewählte Ansätze beschäftigen sich beispielsweise mit Konzepten zur Qualifizierung von Produktionsplanern mithilfe von Virtual Reality-Modellen (Abel et al. 2011) oder der Nutzung von Simulationsmodellen für das experimentelle Lernen (Mosblech et al. 2013). Der Vorteil des orts- und zeitunabhängigen Lernens kommt insbesondere beim Mobile Learning zum Tragen (BITKOM Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. 2014). Mobile Learning und E-Learning unterscheiden sich aber nicht nur durch die technologischen Eigenschaften der Endgeräte, sondern insbesondere durch die Kontextualisierung als Qualitätsmerkmal (Witt 2013). Mit der Nutzung mobiler Endgeräte geht die Entwicklung einher, dass Nutzer weniger eigenes Wissen vorhalten und sich stattdessen bedarfsgerecht mit benötigten Informationen versorgen. Daher bietet es sich an, Lerninhalte in kleineren Einheiten anzubieten, die entsprechend der individuellen Anforderungen zusammengestellt werden können (Henning 2015). Untersuchungen zum Transfer in die industrielle Anwendung finden sich beispielsweise im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Mobile Learning für die Ausbildung von Fertigungsmechanikern in der Automobilbranche (Witt 2011). Schließlich ist vor dem Hintergrund der Steigerung der Flexibilität von Weiterbildungslösungen ein Trend zur Individualisierung von Lerninhalten zu beobachten. Adaptive Lernsysteme verfügen über die Möglichkeit der Anpassung an den jeweiligen Benutzer (Seel/Ifenthaler 2007). Wichtige Funktionen adaptiver Lernsysteme umfassen die selbstständige Auswahl von Lerninhalten bzw. dem Schwierigkeitsgrad der Inhalte, die Rückmeldung über den individuellen Lernfortschritt sowie die Möglichkeit zur Individualisierung der Lernoberfläche (MMB Institut für Medien- und Kompe- 86 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller tenzforschung, 2014). Für die Befriedigung individueller Lernbedarfe ist ein dementsprechend variantenreiches Angebot an Lernressourcen erforderlich. Eine Möglichkeit zur Umsetzung adaptiver Lernsysteme wird daher darin gesehen, Lerninhalte für unterschiedliche Lernformen aufzubereiten und bei Bedarf zusätzliche Lerninhalte bereitzustellen (Goertz 2014). 2.3 Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung Allgemein können Weiterbildungsmaßnahmen in Abhängigkeit von ihrem Bezug zum Arbeitsplatz des Mitarbeiters in die Kategorien on-the-job, near-the-job und off-the-job eingeteilt werden (Scholz 2013). Maßnahmen am Arbeitsplatz (on-the-job) bilden eine unmittelbare Verknüpfung von Theorie und Praxis und können z. B. in Form von einer Ausweitung der Arbeitsaufgaben oder einem systematischen Arbeitsplatztausch umgesetzt werden. Die Maßnahmen im Bereich near-the-job finden im nahen Arbeitsplatzumfeld statt, während Maßnahmen off-the-job unabhängig vom Arbeitsplatz erfolgen. Abbildung 1 stellt eine Übersicht zu Maßnahmen der Kompetenzentwicklung dar, wobei im Folgenden Lernfabriken als exemplarisches Instrument vor dem Hintergrund der Wandlungsfähigkeit diskutiert werden. Lernfabriken werden sowohl an Forschungseinrichtungen als auch in Industrieunternehmen verstärkt realisiert (Abele et al. 2012; Kreimeier et al. 2013; Riffelmacher/Westkämper 2009). Sie bilden praxisnahe Betriebsabläufe ab und stellen damit eine erlebnisorientierte und partizipative Lernumgebung dar (Plorin et al. 2013). Durch die Integration von Praxiselementen in eine reale Lernumgebung lassen sich theoretische Wissenselemente anwendungsbezogen vermitteln, wobei durch die direkte Erprobung des Gelernten eine bessere Übertragbarkeit in die Realität angestrebt wird (Abele et al. 2011). PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen 87 Abbildung 1: Auswahl an Maßnahmen der Kompetenzentwicklung, eigene Zusammenstellung basierend auf (Dehnbostel 2012; Richter/Pohlandt 2011; Scholz 2013) Existierende Lernfabriken fokussieren häufig nur ein inhaltliches Kernthema (z. B. Lean Management, Ressourceneffizienz). Die Integration weiterer Anwendungsschwerpunkte ist mit einem äußerst hohen Aufwand verbunden (Kreimeier et al. 2013). Daher ist eine flexible Anpassung an neue produktionstechnische Herausforderungen nicht ohne weiteres möglich. Die Umsetzung von Wandlungsfähigkeit in Lernfabriken bezieht sich bislang ausschließlich auf die physischen Objekte (Steffen et al. 2013), nicht aber auf die Kompetenzentwicklung selbst. Zukünftig kann davon ausgegangen werden, dass die Verschmelzung von Arbeits- und Lernprozessen immer wichtiger wird und die Bedeutung von selbstgesteuertem und selbstorganisiertem Lernen zunehmen wird (Erpenbeck/Sauter 2013). Damit verändert sich auch das Rollenverständnis zwischen Lehrenden und Lernenden, da die Verantwortung für die Gestaltung der Lernprozesse an Lernende übergeht und das Unternehmen den Rahmen und die Begleitung dieses Prozesses übernimmt (Sauter/Sauter 2013). 88 2.4 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller Handlungsbedarf Der aktuelle Stand der Wissenschaft und Technik zeigt insbesondere den Bedarf und Trend hinsichtlich einer zunehmenden Flexibilisierung der Weiterbildung auf. Die Selbstorganisation des Lernprozesses nimmt dabei eine immer bedeutendere Rolle ein, sodass der Lernende in den Mittelpunkt der Konzepte betrieblicher Weiterbildung rückt. Die Verschmelzung von Lern- und Arbeitsprozessen erfordert es, kontextgebundene Informationen zielgerichtet in den Prozess der Arbeit zu integrieren und dadurch individuelle Lernprozesse anzuregen. Diese Entwicklung wird durch die Etablierung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützt und geprägt. Beispiele anwendungsorientierter Forschung oder Umsetzung im produzierenden Gewerbe, und insbesondere in der Automobil- und Zulieferindustrie, greifen diese Entwicklung zwar auf, stützen sich aber überwiegend auf die betriebliche Ausbildung. Während für diesen Bereich die Bildungswege bundeseinheitlich geregelt sind, erfordert die Weiterbildung zunächst die Formulierung des individuellen oder zielgruppenspezifischen Bedarfes nach Kompetenzentwicklung, dem anschließend mit geeigneten Konzepten (Lerninhalte, Lehr-Lern-Methoden und Lernmedien) begegnet wird. Der Handlungsbedarf besteht daher in der Entwicklung einer Methode, die den Bedarf nach Kompetenzentwicklung und ein entsprechendes Angebot zusammenführt und dabei den Anforderungen der Flexibilität Rechnung trägt. 3 3.1 PLUG+LEARN-Konzept Anforderungen und Zielstellungen Wie eingangs dargestellt, ist die Automobil- und Zulieferindustrie von besonderen strukturellen Herausforderungen geprägt, woraus sich die Anforderungen für ein ganzheitliches Kompetenzmanagement ableiten. Ziel des Forschungsprojektes PLUG+LEARN ist es, die Kompetenzen entlang der automobilen Wertschöpfungskette zu bündeln und Synergieeffekte zu realisieren. Das Projekt ist auf die Ausgestaltung eines wandlungsfähigen Kompetenznetzwerkes ausgerichtet, das eine Plattform für das Angebot und die Nachfrage von Kompetenzmodulen darstellt. Grundlage für das Konzept dieses Netzwerkes ist die Entwicklung der PLUG+LEARN-Methode als Vorgehensweise für die Erarbeitung der PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen 89 Kompetenzmodule. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Komponenten des PLUG+LEARN-Konzeptes. Bevor die einzelnen Komponenten erläutert werden, werden die Anforderungen der beteiligten Praxispartner näher beleuchtet, die im Rahmen von ersten Workshops identifiziert wurden. Abbildung 2: Überblick PLUG+LEARN-Konzept Zunächst zeigte sich, dass künftig ein höherer Qualifizierungsbedarf hinsichtlich komplexer Kompetenzen und spezieller Fertigkeiten aufgrund sich ändernder Rahmenbedingungen entstehen wird. Diese umfassen u. a. Anläufe neuer, komplexerer Produkte und dem Einsatz neuer Technologien und Materialien. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung überfachlicher Kompetenzen („soft skills“) weiter zunehmen. Der Qualifizierung kommt dabei die Aufgabe zu, möglichst effektiv anwendungsbereites Wissen punktuell für die entsprechenden Zielgruppen im Unternehmen zu vermitteln. 90 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller Eine große Rolle spielt dabei die Anpassung an verschiedene Zielgruppen. So sind unter anderem die speziellen Bedürfnisse von angelernten Mitarbeitern mit fachfremdem Facharbeiterabschluss zu berücksichtigen. Der demografische Wandel macht es erforderlich, dass bei der Ausgestaltung von Lerninstrumenten Aspekte der Nutzerakzeptanz und Bedienbarkeit im Alter berücksichtigt werden (z. B. bei der Nutzung innovativer Informations- und Kommunikationstechnologien). Um die Anwendungsnähe der Weiterbildungsmaßnahmen zu unterstützen, sollte die Kompetenzentwicklung möglichst arbeitsplatzintegriert oder arbeitsplatzbezogen erfolgen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, dass die Anforderungen der relevanten Akteure (z. B. Meister im Shopfloor) in die Methodenentwicklung einfließen. Zudem ist bei der Planung und Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen Wirtschaftlichkeit anzustreben. Insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen stellt die Weiterbildung der Mitarbeiter einen relevanten Kostenfaktor dar. Hierzu sind Kooperationsmodelle und Methoden des Veranstaltungsmanagements einzusetzen, um beispielsweise eine hohe Auslastung der Lernangebote zu erreichen. Schließlich müssen Anreizsysteme geschaffen werden, damit Unternehmen zu einer Beteiligung am Kompetenznetzwerk motiviert werden. Im Folgenden werden die wesentlichen Komponenten des PLUG+LEARNKonzeptes vorgestellt. 3.2 PLUG+LEARN-Methode Die PLUG+LEARN-Methode stellt eine Vorgehensweise für die Strukturierung und Ausgestaltung von Kompetenzmodulen dar. Der Hintergrund bei der Entwicklung dieser Methode ist es, die Grundsätze der Wandlungsfähigkeit von Produktionssystemen auf den Bereich der Kompetenzentwicklung zu übertragen. Die Implementierung der Wandlungsfähigkeit in die Kompetenzmodule zielt darauf ab, dass sie aufwandsarm an die spezifischen betrieblichen Anforderungen angepasst werden können (z. B. Lernort) und dadurch eine breitere Nutzbarkeit für andere Beteiligte der Wertschöpfungskette aufweisen. Zur Entwicklung der Methode wird zunächst die inhaltliche Definition von Wandlungsbefähigern auf den Anwendungsbereich der Kompetenzentwicklung übertragen, um ein gemeinsames Begriffsverständnis zu erarbeiten. Anschließend werden didaktische Konzepte und Lehr-Lern-Methoden PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen 91 sowie Umsetzungsbeispiele aus Wissenschaft und Industrie hinsichtlich des Einsatzes der Wandlungsbefähiger analysiert. Daraus lassen sich Handlungsempfehlungen für die wandlungsfähige Ausgestaltung von Kompetenzmodulen ableiten. Diese dienen zum einen als Leitfaden für die Entwicklung der PLUG+LEARN-Kompetenzmodule und zum anderen als Ausgangspunkt für die Bewertung der Module als Voraussetzung für die Integration in den PLUG+LEARN-Marktplatz. 3.3 PLUG+LEARN-Marktplatz Die PLUG+LEARN-Kompetenzmodule sollen im Rahmen eines Marktplatzes zur Verfügung gestellt werden, für den im Projekt ein entsprechendes Umsetzungskonzept erarbeitet wird. Ziel ist es, ein offenes Netzwerk zu gestalten, das den Anbietern und Nachfragern von Kompetenzmodulen ein effektives und effizientes Interagieren ermöglicht. Erst durch die wandlungsfähige Gestaltung der Kompetenzmodule und des Netzwerkes ist es möglich, die adaptierbaren Lerninhalte einem breiten Anwenderkreis zugänglich zu machen. Durch die Zusammenarbeit im Netzwerk können materielle und immaterielle Ressourcen der Netzwerkpartner effizienter genutzt werden, wovon insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen profitieren. 3.4 PLUG+LEARN-Demonstratoren Die modellhafte Erprobung des PLUG+LEARN-Prinzips findet an drei Demonstratoren statt. Einer der Demonstratoren wird in der Experimentierund Digitalfabrik der Technischen Universität Chemnitz umgesetzt und in das Gesamtkonzept der advanced Learning Factory integriert (Plorin et al. 2013). Ziel ist es, Kompetenzen zu aktuellen produktionstechnischen Themen (z. B. Industrie 4.0, Energie- und Ressourceneffizienz) bei Planungsbeteiligten der Automobil- und Zulieferindustrie zu entwickeln. 3.5 Aktuelle Forschungsarbeiten im Projekt Als Ausgangspunkt für die Anwendung der PLUG+LEARN-Methode sind die Anforderungsprofile der Zielgruppen zu erheben. Hierfür wird aktuell der Stand der Forschung hinsichtlich Methoden zur Erhebung von Kompetenzprofilen analysiert. Weiterhin werden zur Entwicklung der PLUG+LEARN-Methode geeignete Wandlungsbefähiger beschrieben und mit vorhandenen Konzepten und Methoden abgeglichen, um Handlungs- 92 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller empfehlungen für die wandlungsfähige Gestaltung von Kompetenzmodulen herzuleiten. 4 Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurde zunächst ein Überblick über den aktuellen Stand der Wissenschaft für die Berücksichtigung der Zielgröße Wandlungsfähigkeit in der Kompetenzentwicklung gegeben. Dazu wurden relevante Begrifflichkeiten, Lernkonzepte und Qualifizierungsformate dargestellt. Es zeigt sich, dass vor dem Hintergrund des technologischen und demografischen Wandels die Flexibilisierung der Weiterbildung eine wichtige Voraussetzung zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit darstellt. Bedeutsame Trends sind die Selbstorganisation des Lernens, die Nutzung von Lerntechnologien sowie die Verschmelzung von Lern- und Arbeitsprozessen. Die Automobil- und Zulieferindustrie ist aufgrund des hohen Innovationsdrucks von besonderen strukturellen Herausforderungen geprägt. Während Ansätze zur Steigerung der Flexibilität in der beruflichen Ausbildung bereits teilweise umgesetzt sind, findet in der Weiterbildung bislang keine systematische Berücksichtigung der Wandlungsfähigkeit als Zielgröße statt. An dieser Stelle setzt das Forschungsprojekt PLUG+LEARN an, das auf die Schaffung eines offenen Kompetenznetzwerkes zur Bündelung von Kompetenzen entlang der Wertschöpfungskette abzielt. Kern des Vorhabens ist die Entwicklung der PLUG+LEARN-Methode, die die Prinzipien wandlungsfähiger Produktionssysteme auf den Bereich der Kompetenzentwicklung überträgt. Als Plattform für den Austausch der zu entwickelnden Kompetenzmodule wird ein Konzept für den PLUG+LEARNMarktplatz erarbeitet. Die nächsten Schritte des Projektes liegen in der Definition der entsprechenden Wandlungsbefähiger und der Identifikation von zugehörigen Handlungshilfen zur Steigerung der Wandlungsfähigkeit. Danksagung Das Projekt PLUG+LEARN hat eine Laufzeit von 2014 bis 2017. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und vom Projektträger im DLR betreut (Förderkennzeichen: 01FK14013). Neben der Technischen Universität Chemnitz sind das Volkswagen Bildungsinstitut in Zwickau, Continental Automotive (Standort LimbachOberfrohna), die Ingenieurgesellschaft für Gebäude-, Flächen- und Anla- PLUG+LEARN – Lehren und Lernen mit wandlungsfähigen Kompetenzmodulen 93 genmanagement mbH Chemnitz sowie die HTW Dresden im Projekt engagiert. Literatur Abel, D., Schmitz, M., Wenzel, S., 2011: Nutzung von Virtual Reality zur Personalqualifizierung in der Produktions- und Logistikplanung. In: ZWF Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb, 106. Jg., Nr. 10, S. 721-725. 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(Hrsg.): Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien. 2. Aufl. epubli. Berlin. Bünnagel, W., 2012: Selbstorganisiertes Lernen im Unternehmen – Motivation freisetzen, Potenziale entfalten, Zukunft sichern. Gabler Verlag. Wiesbaden. Dehnbostel, P. 2012: Neue Lernformen und Lernkonzepte in der Arbeit. In: Schwuchow, K., Gutmann, J. (Hrsg.): Personalentwicklung 2013 – Themen, Trends, Best Practices. HaufeLexware. Freiburg im Breisgau. S. 175-185. Deißinger, T., 1996: Modularisierung der Berufsausbildung – eine didaktisch-curriculare Alternative zum „Berufsprinzip“? In: Beck, K., Müller, W., Deißinger, T. (Hrsg.): Berufserziehung im Umbruch – Didaktische Herausforderungen und Ansätze zu ihrer Bewältigung. Beltz Deutscher Studienverlag. Weinheim. S. 189-207. Demary, V., Malin, L., Seyda, S., Werner, D., 2013: Berufliche Weiterbildung in Deutschland – Ein Vergleich von betrieblicher und individueller Perspektive. Forschungsberichte aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Nr. 87. Erpenbeck, J., Werner, S., 2013: So werden wir lernen! Kompetenzentwicklung in einer Welt fühlender Computer, kluger Wolken und sinnsuchender Netze. Springer Gabler Verlag. Berlin, Heidelberg. 94 Manuela Krones, Jörg Strauch, Jens Schütze, Egon Müller Frommberger, D., 2009: Theorie Deutschland – Formen der curricularen Standardisierung und Differenzierung in der beruflichen Bildung in Deutschland. In: Pilz, M. (Hrsg.): Modularisierungsansätze in der Berufsbildung - Deutschland, Österreich, Schweiz sowie Großbritannien im Vergleich. W. Bertelsmann Verlag. Bielefeld. S. 21-34. Goertz, L. (MMB-Institut im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung), 2014: Digitales Lernen adaptiv – Technische und didaktische Potenziale für die Weiterbildung der Zukunft. Gütersloh. URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/ GrauePublikationen/LL_GP_DigitalesLernen_final_2014.pdf (letzter Aufruf 13.04.2015) Heinen, T., 2011: Planung der soziotechnischen Wandlungsfähigkeit in Fabriken. 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Pahl, J.-P., 2010: Fachschule – Praxis und Theorie einer beruflichen Weiterbildungseinrichtung. W. Bertelsmann Verlag. Bielefeld. Plorin, D., Poller, R., Müller, E., 2013: advanced Learning Factory (aLF) – Integratives Lernfabrikkonzept zur praxisnahen Kompetenzentwicklung am Beispiel der Energieeffizienz. In: wt Werkstattstechnik online, 103. Jg., Nr. 3, S. 226-232. Reinhart, G., Berlak, J., Effert, C., Selke, C., 2002: Wandlungsfähige Fabrikgestaltung. In: ZWF Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb, 97. Jg., Nr. 1/2, S. 18-23. Rensing, C., Lüdemann, A., Stübing, B., Schuls, F., 2012: Erfahrungen in der Gestaltung und Umsetzung von selbstgesteuerten Ressourcenbasierten Lernszenarien in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. In: Hoppe, U. H., Kienle, A., Krämer, N., Martens, A., Plötzner, R., Schümmer, T., Malzahn, N. (Hrsg.): Workshop zu Web 2.0 in der beruflichen Weiterbildung im Rahmen der DeLFI 2012 an der FernUniversität Hagen. 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(Hrsg.): Mobile Learning – Potenziale, Einsatzszenarien und Perspektiven des Lernens mit mobilen Endgeräten. Springer Fachmedien. Wiesbaden. S. 13-26. Zentrum für Europäische Wirtschaftsförderung, 2011: Innovationsverhalten der Unternehmen in Deutschland 2011. Aktuelle Entwicklungen – europäischer Vergleich. Berlin. URL: http://www.e-fi.de/fileadmin/Innovationsstudien_2013/StuDIS_03-2013-ZEW.pdf (letzter Aufruf 13.04.2015) Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze […] 97 Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze für eine moderne Arbeitswelt Egon Müller, David Jentsch Im Rahmen des Beitrages wird der Lernort Fabrik mit Hilfe eines systemtheoretischen Modells und dem Ansatz der dynamischen Fähigkeiten zunächst konzeptionell entwickelt. Hierauf aufbauend erfolgt eine Einordnung aktueller Entwicklungen zum betrieblichen Lernen und vielversprechender Lösungen, die eher außerhalb des betrieblichen Kontexts und v. a. der Produktion liegen. Durch die Synthese theoretischer Überlegungen und technischer Lösungsmöglichkeiten wird der individuelle Lernpfad als Kern des Lernortes Fabrik identifiziert. Das entwickelte Modell ist geeignet, neue Entwicklungen und Angebote für produzierende Unternehmen aufzuzeigen. 1 Einleitung Welche Kompetenzanforderung aus dem aktuellen Transformationsprojekt zur Industrie 4.0 für einzelne Mitarbeiter auf dem Shopfloor resultieren, lässt sich im Moment sicherlich kaum absehen. Andererseits verdeutlicht die aktuelle industrielle Revolution, dass der Grundsatz des lebenslangen Lernens ungebrochene Gültigkeit besitzt und Fabriken genau diesen Grundsatz bestmöglich unterstützen sollten, um auch die 5. und alle weiteren Revolutionen zu bewältigen. Entsprechende Lernerfordernisse entstehen jedoch nicht nur aus großflächigen Transformationsprojekten, sondern auch ungebrochene Trends zur Variantenzunahme, Lebenszyklusverkürzung oder volatile Belegschaften bedingen, dass Wissensarbeit (Willke 1998) einen stetig zunehmenden und damit gestaltungswürdigen Anteil industrieller Wertschöpfung ausmacht. Um das abstrakte Objekt Fabrik greifbarer zu gestalten, soll zunächst im Rahmen des zweiten Abschnittes eine system- und ressourcentheoretische Fundierung des Betrachtungsbereichs erfolgen. Hierdurch werden Wirkzusammenhänge und Abhängigkeiten aufgedeckt, die die Unterstützungsforderung für das Lernen in Fabriken näher bestimmen helfen. Der dritte Abschnitt enthält eine Reihe aktueller Entwicklungen innerhalb und 98 Egon Müller, David Jentsch außerhalb des Fabrikkontextes, die zusammen mit den theoretischen Überlegungen genutzt werden, um im vierten Abschnitt den Lernort Fabrik in einer modernen Arbeitswelt konzeptionell zu gestalten und Vorschläge für künftige Entwicklungen aufzuzeigen. 2 2.1 Theoretische Grundlagen zum Lernort Fabrik Implikationen eines systemtheoretischen Modells Der Lernort Fabrik lässt sich mit den grundlegenden Ansätzen der allgemeinen Systemtheorie nach Ropohl (2009) modellhaft fassen. Hierzu bieten sich in einer ersten Näherung die generischen Sichtweisen auf ein System an, die die Hierarchie, Struktur und Funktion des Systems betreffen. Mit der folgenden Abbildung 1 sind diese Sichten für ein allgemeines Produktionssystem zusammengestellt und bieten hierbei eine verbreitete Bezugsebene zur Einordnung betriebswissenschaftlicher Entwicklungen. Produktionssystem Hierarchie Struktur Funktion Produktionsnetz Fertigung Montage Werk offene Systemgrenze Prozesse Gebäude Segment Input Betriebsprozesse Output Unterstützungsp. Organisation Arbeitsplatz Mensch Managementp. Technik Rückkopplung Material-, Informations- und Energieflüsse Abbildung 1: Sichten auf ein Produktionssystem (Jentsch 2015) Für die Detaillierung der hierarchischen Sicht sind die Planungsebenen nach VDI 5200 gewählt, die eine Gliederung vom Produktionsnetz bis zum Arbeitsplatz vorsehen. Aus dieser hierarchischen Sicht resultiert, dass der Lernort damit in seiner elementaren Form am Arbeitsplatz zu finden ist, aber eine Vielzahl weiterer und überlagernder Hierarchieebenen zu beachten ist, deren Adressierung als Lernorte weiterführende Fragestellungen Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze […] 99 abseits des individuellen Lernens aufwirft und somit bspw. auch gruppenspezifische und (inter-)kulturelle Aspekte aufgreift. Crossan et al. (1999) differenziert hierzu die bekannten Lernebenen individuell, gruppenbasiert und organisational, die bspw. durch Chen (2014) auch auf die Netzebene erweitert wird. Die in Abbildung 1 dargestellte strukturelle Sicht auf ein Produktionssystem basiert einerseits auf den betriebsorganisatorischen Unterscheidungen von Mensch, Technik und Organisation (Strohm und Ulich 1998) und andererseits auf den dominierend strukturgebenden Flüssen von Material, Information und Energie in einer Fabrik (Schenk und Wirth 2004). Die primär wertschöpfenden Strukturelemente Fertigung und Montage ergänzen diese zweite Sichtweise. Für den Lernort erwachsen aus dieser Sicht vier Ansatzpunkte. Erstens stehen Lernende in direkter Wechselbeziehung mit organisatorischen Rahmenbedingungen (z. B. lernförderliche Anreize und Arbeitszeitmodelle), die mit technischen Lösungen unterstützt (z. B. Wikis), aber nicht substituiert werden können. Zweitens resultieren aus veränderten Organisationsstrukturen (z. B. virtuelle Teams) und aus der Interaktion mit neuer Technik (z. B. kollaborative Robotersysteme) Anstöße für das Lernen. Hierbei steht drittens der Wertschöpfungsbeitrag für Fertigung und Montage im Vordergrund, der sich allgemein als nutzen- oder umsetzungsorientierter Beitrag von Lernprozessen auszeichnen soll. Hierdurch wird jedoch die sensible Linie zwischen erkundendem (exploration) und nutzendem (exploitation) Lernen adressiert, das in der erst genannten Form keinen direkten Wertschöpfungsbeitrag ausweist, aber für das Überleben eines Systems bei unvorhergesehen Situationen besonders relevant ist (s. Jentsch 2015 für einen Überblick). Viertens bieten die Flüsse des Produktionssystem zentrale Anhaltspunkte für Lerninhalte, wie die energieeffiziente Produktion (Müller et al. 2009) oder die aktuelle Diskussion zu Industrie 4.0 und den damit veränderten Informationsflüssen im Produktionssystem (Unger et al. 2015). Die funktionale Sicht greift die typische Dreiteilung von Betriebs-, Unterstützungs- und Managementprozessen auf (Bititci et al. 2011), wobei Betriebsprozesse auch als Kernprozesse und Managementprozesse als Führungsprozesse nach VDI 2870 bezeichnet werden können. Die Verknüpfung zum Lernort Fabrik besteht für diese Sichtweise im Konzept der dynamischen Fähigkeiten, die nachfolgend erläutert werden. 100 Egon Müller, David Jentsch 2.2 Lernen als Bestandteil dynamischer Fähigkeit Eine Reihe prominenter Beispiele wie KODAKs Verpassen der Digitalfotografie (Lucas und Groh 2009) oder IBMs erfolgreicher Wandel vom Hardwarespezialisten zum Software- und Serviceanbieter (Harreld et al. 2007) illustrieren die Bedeutung von Lern- und Anpassungsprozessen im Sinne der Wandlungsfähigkeit im Management (Jentsch 2015). Mit dem Hintergrund der ressourcenbasierten Theorie entstand in diesem Zusammenhang der Ansatz der dynamischen Fähigkeiten, die als abstrakte Fähigkeit zum Erkennen und Bewältigen von Veränderungen konzeptualisiert sind. Die folgende Abbildung 2 zeigt diesen Prozess in schematischer Form. Externe Impulse Wahrnehmen von Chancen und Bedrohungen Lernen Aneignung neuen Wissens / neuer Kompetenzen Integrieren Verbinden individ. Wissens / Kompetenzen Koordinieren von Aufgaben und (Projekt-) Ressourcen Interne Impulse Umsetzung Ausprägung operativer Ressourcen t0 Ausprägung operativer Ressourcen t0+n Wandel Zeit Abbildung 2: Prozessmodell dynamischer Fähigkeiten (Jentsch 2015, Pavlou und El Sawy 2011) Wesentliche Schritte des dargestellten Prozesses sind das Erkennen von Chancen und Bedrohungen im Umfeld oder innerhalb des Produktionssystems. Aus diesem Prozessschritt folgt, dass zunächst ein individueller Lernprozess einsetzen muss, um sich z. B. mit den Hintergründen von neuen Themen wie der o. g. Industrie 4.0 auseinanderzusetzen. Ein individueller Wissenszuwachs ist für Produktionssysteme jedoch nicht hinreichend, da bspw. mit Blick auf die hierarchische Sicht eines Produktionssystems weitere Ebenen und damit andere individuelle Wissensbestände im Prozess des Integrierens verbunden werden müssen, um für übergrei- Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze […] 101 fende Bereiche des Produktionssystems passende Veränderungen einzuleiten. Das typische Phänomen des Versandens von Veränderungsprojekten (Hallensleben et al. 2011) zeigt beispielhaft, dass erfolgreiche Veränderungen einer angemessenen Koordination bedürfen, bei der Aufgaben und Ressourcen zur Zielerreichung aufeinander abzustimmen sind. Um die Brücke zu den in Abbildung 1 dargestellten Prozessen zu schlagen, bietet sich die Untersetzung dynamischer Fähigkeiten als organisationale Routinen an (vgl. Ziesche 2012). Hierzu schlägt Jentsch (2015) einen Katalog von 33 Routinen und deren Bewertung vor, wodurch dynamische Fähigkeiten im Rahmen von Managementprozessen direkt gestaltbar werden. Beispiele für Routinen sind das Durchführen von Benchmarks, Coaching oder die Nutzung von Unternehmensallianzen. Der Lernort Fabrik ist durch diesen konzeptionellen Schritt direkt in das organisationale Lernen eingebunden und an eine Vielzahl anderer Wissenschaftsbereiche direkt anschlussfähig. 3 Herausforderungen und Lösungsansätze Aus der theoretischen Fundierung des Lernortes Fabrik lassen sich eine Reihe von Bedarfen und Herausforderungen ableiten, die interessanten und sehr dynamischen Entwicklungen z. T. auch außerhalb des Fabrikkontexts gegenüberstehen. Für die Bereiche Produktionsnetz und dem Lernen als dynamische Fähigkeit sollen nachfolgend Beispiele beschrieben werden. Hieraus wird der Ansatz für eine vorausschauende Entwicklung des Lernortes Fabrik entwickelt. Gerade aus dem Umfeld internationaler Konzerne mit global verteilten Standorten wird berichtet, dass es eine Vielzahl von digitalen Schulungsund Trainingsangeboten gibt, die jedoch nicht die gewünschte Breitenwirkung erzielen. Fehlendes Wissen über die Existenz der Inhalte, sprachliche Hürden bzw. fehlende Übersetzungen und mangelnde Möglichkeiten zur Individualisierung der Lerninhalte sorgen noch zu oft für eine geringe Diffusion der Inhalte. Mit der Erfassung, Verbreitung und Nutzung von Wissen beschäftigt sich wiederum der hochgradig interdisziplinäre Zweig des Wissensmanagements mit tausenden Autoren und Publikationen, deren wesentliche Erkenntnisse Ragab und Arisha (2013) in einem Review zusammenfassen: Gerade der Hype um WEB 2.0-Anwendungen führte zu übermäßigen Erwartungen eines IT-basierten Wissensmanagements zur Integration individueller Wissensbestände im Unternehmen, die nicht erfüllt werden konn- 102 Egon Müller, David Jentsch ten. Für das IT-basierte Wissensmanagement existieren neben WEB 2.0Anwendungen weitere Systemklassen, wie bspw. das Dokumentenmanagement, Analyse- und Visualisierungswerkzeuge, E-Learning-Systeme und Expertennetzwerke zur Verbindung individueller Wissensträger (weitere Systemklassen sind Ragab und Arisha (2013) zu entnehmen). Trotz der vielzähligen Werkzeuge wird IT mittlerweile als Katalysator verstanden (Tsui 2005), der neben einer Vielzahl weiterer Faktoren im Wissensmanagement wirkt, aber offensichtlich kein Allheilmittel darstellt. Zur Ergänzung der IT-Sicht seien beispielhaft drei weitere Faktoren genannt, die den Zusammenhang von Mensch, Technik und Organisation in einem Produktionssystem unterstreichen: das Vorhandensein von Anreizen in Organisationen zum aktiven Wissensaustausch (Lam und Lambermont-Ford 2010), die Dezentralisierung von Organisationsstrukturen (Chen und Huang 2007) und das Vorhandensein einer unternehmerischen Einstellung der Mitarbeiter (Suppiah und Sandhu 2011) Abseits betrieblicher Inhalte erleben s. g. Massive Open Online Courses (MOOCs) derzeit einen weltweiten Boom, bei dem Lehrangebote z. T. führender Universitäten weitgehend kostenfrei angeboten werden und hierbei zehntausende und mehr Studierende gleichzeitig an meist englischsprachigen Kursen teilnehmen (Brinton et al 2015). Begleiterscheinung der extremen Teilnehmerzahlen ist eine relativ geringe Quote von durchschnittlich 7,4 % Teilnehmern, die die Kurse tatsächlich abschlie11 ßen . Brinton et al. (2015) zeigen in ihrem Beitrag, wie die Analyse des MOOCNutzerverhaltens, das z. B. an der Betrachtungsdauer von Videos, dem Abschneiden bei Zwischentests und dem Erstellen von Notizen gemessen wird, dazu verwendet werden kann, individuelle Lernpfade während des Kurses zu erstellen. Der Lernpfad ist hierbei das Resultat der Zusammenstellung von bestehenden Lernmodulen mit jeweils unterschiedlichen (ma- 11 Datenbasis von K. Jordan (http://katyjordan.com/MOOCproject.html) mit aktuell 206 Kursen und rund 5,4 Millionen Teilnehmern von 2011 bis 2014; eigene Berechnung, Stand Juni 2015 Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze […] 103 thematischen) Anforderungen an den Lernenden bei grundsätzlich gleicher thematischer Ausrichtung, d. h. dass auf unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen der Nutzer automatisch eingegangen wird. Im Ergebnis der Individualisierung können bessere Lernergebnisse und eine signifikant höhere Nutzerzufriedenheit erreicht werden. Voraussetzung der Individualisierung ist jedoch ein Nutzermodell, in dem personenbezogene Daten ausgewertet werden. Eine einfache Übertragung derartiger Ansätze auf ein betriebliches Umfeld am Lernort Fabrik ist damit eine erhebliche Herausforderung, bei der die technischen Möglichkeiten und Missbrauchsmöglichkeiten bei der Verwendung personenbezogener Daten in Abgleich zu bringen sind. Das Beispiel der MOOCs ist jedoch nicht nur zur Anwendung von Individualisierungsalgorithmen für Lerninhalte ein interessantes Studienobjekt. Vielmehr zeigt das Phänomen selbst, dass sich abseits der Lernortes Fabrik erheblichen Veränderungen in Bezug auf die Vermittlung höherer Bildung vollziehen, die die Entwicklung von Web 2.0-Anwendungen fortschreiben. Versteht man diese Entwicklung als Chance, ließe sich der Lernort Fabrik frühzeitig weiterentwickeln. Parallel zu den digitalen Entwicklungen spielt auch die Vergegenständlichung von Lerninhalten nach wie vor eine große Rolle. Beispielhafte Lösungsbeiträge sind hierzu die Verwendung abstrakter Metaphern mit LEGO-Bausteinen zur Simulation internationaler Standortprojekte (Donath et al. 2014) oder der Einsatz von Lerninseln, Profiräumen und Lehrpfaden als „Best Practice Walk“ zur Qualifizierung von Mitarbeitern. Gerade arbeitsplatznahe Lerninseln werden zunehmend mit tagesaktuellen Problemstellungen aus dem Produktionssystem versorgt, die u. a. durch die Auswertung betrieblicher Informationssysteme entdeckt werden. Die direkte Verknüpfung physischer Objekte mit digitalen Inhalten im Sinne cyberphysischer Lernobjekte (Jentsch et al. 2013) scheint indes noch kaum erfolgt zu sein. Die Auswertung betrieblicher Informationssysteme bietet einen weiteren Ansatzpunkt unter dem Stichwort Gamification. Als Gamification wird die Anwendung von Spielprinzipien auf betriebliche Anwendungsbereiche bezeichnet, bei der psychologische Effekte zur positiven Bestärkung und dem Erzeugen von Emotionen genutzt werden, um individuelle Verhaltensweisen zu beeinflussen und Lernen zu fördern (Robson et al. 2015). Beispielhaft zeigen Magana und Munoz-Organero (2015), das sich ein benzinsparender Fahrstil durch den Einsatz einer GamificationAnwendung im Auto vermitteln lässt und hierbei signifikante Einsparungen 104 Egon Müller, David Jentsch durch die Belohnung von angemessenen Brems- und Beschleunigungsverhalten erzielt werden können. Gerade die Omnipräsenz mobiler Endgeräte und die Akzeptanz sozialer Netzwerke haben dem Einsatz spielerischer Elemente im betrieblichen Umfeld neue Möglichkeiten eröffnet (Robson et al. 2015). Mögliche Ansatzpunkte betreffen: Arbeitsplatzbezogene Anwendung zur Vermittlung von qualitätsorientiertem Verhalten (z. B. Quiz zu Fehlerbildern) Training von energie- und ressourcensparenden Verhaltensweisen (z. B. virtuelle Tagesaufgaben und Wettbewerbe) 4 Lernort Fabrik Mit der folgenden Abbildung 3 sind die benannten Lösungsansätze und die theoretischen Überlegungen zu dynamischen Fähigkeiten zueinander in Relation gebracht. Am Lernort Fabrik sind hierbei das individuelle Lernen und das Integrieren individueller Wissensbestände aus dem Modell dynamischer Fähigkeiten zugeordnet, um den organisationalen Aspekt des Lernens zu unterstreichen. Die Unterscheidung von nutzendem und erkundendem Lernen wird weiterführend genutzt, um primär tätigkeitsbezogene und scheinbar hedonistische Lernmotive gegenüberzustellen. Aus der vorangegangenen Schilderung zur Bedeutung erkundenden Lernens war dessen betriebliche Relevanz jedoch deutlich geworden, so dass der Hedonismus nur einer ersten Unterscheidung dienen kann. Empirische Belege zur Gewährung freier Arbeitszeitanteile für Innovationen (Shum und Lin 2007) unterstreichen den betrieblichen Nutzen derartiger Freiheiten. Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze […] 105 Dynamische Fähigkeiten Wahrnehmen von Chancen und Bedrohungen Nutzendes Lernen Lernen Aneignung neuen Wissens / neuer Kompetenzen Integrieren Verbinden individ. Wissens / Kompetenzen Koordinieren von Aufgaben und (Projekt-) Ressourcen Lernorte, Gamification Betriebliche Wissensmanagementsysteme Tätigkeitsbezogene Lernbedarfe Erkundendes Lernen MOOCs, Soziale Netzwerke Individueller Lernpfad Hedonistische Lernbedarfe Digitale Vermittlung Sicheres Nutzermodell Individuelle Ziele Vorhandene Kompetenzen Bevorzugter Lernmodus Abbildung 3: Individueller Lernpfad als Kern des Lernortes Fabrik Kernaussage der Abbildung ist, dass der individuelle Lernpfad im Vordergrund des Lernortes Fabrik steht und diese Individualisierung durch digitale Vermittlung mit einem Nutzermodell möglich wird. Das Produktionskonzept zur Mass Customization wird somit auf den Lernort Fabrik übertragen. Entlang des individuellen Lernpfades können so bestehende Angebote 106 Egon Müller, David Jentsch bewusst genutzt oder ausgelassen werden, wenn sie nicht für das individuelle Kompetenzniveau geeignet sind. Dies gilt sowohl für betriebliche Lernangebote als auch für externe Möglichkeiten wie die angesprochenen MOOCs. In Analogie zum Hardwaretrend BYOD (bring your own device) vermischt sich so die Verwendung von verschiedenen Lernangeboten im Rahmen der lizenzgemäßen und rechtlichen Bestimmungen. Es resultiert eine Reihe von zentralen Aufgaben durch den vorgeschlagenen Ansatz. An erster Stelle ist das Nutzermodell zu nennen, für das bisher keine allgemein anerkannten Vorschläge im betrieblichen Umfeld vorliegen. Ein entsprechendes Modell sollte mindestens in der Lage sein, nutzerbezogene Lernziele, vorhandene Kompetenzen und den bevorzugten Lernmodus abzubilden. Zur aktiven Anwendung des Nutzermodells sind weiterhin geeignete Erhebungsmethoden und Algorithmen des Nutzerverhaltens notwendig, für die strenge Bestimmungen hinsichtlich des Datenschutzes einzuhalten sind. An zweiter Stelle steht die stärkere Vernetzung der unterschiedlichen Lernangebote. Der in diesem Band von Krones et al. beschriebene PLUG+LEARN-Ansatz zeigt hierbei einen möglichen Weg zur Realisierung auf. Gerade für Unternehmen mit einem großen Bestandangebot von Lerninhalten könnten aber auch Techniken der semantischen Analyse bedeutsam sein, da somit ein automatisches Matching von Lernbedarfen und Angeboten geschaffen werden kann. An dritter Stelle steht eine Integrationsplattform, die sich u. U. über mehrere Teilsysteme erstreckt. In Analogie zu bekannten online Händlern können so unterschiedlichste Lernangebote zusammengefasst und um Komponenten sozialer Interaktion ergänzt werden. 5 Zusammenfassung und Ausblick Fabriksysteme unterliegen ständigen Veränderungen, wodurch sich das lebenslange Lernen als Kernbestandteil betrieblicher Tätigkeiten etabliert hat. Mit Hilfe des Ansatzes der dynamischen Fähigkeiten und der systemtheoretischen Sicht auf Produktionssysteme ließen sich wiederum eine Reihe von inhaltlichen Schwerpunkten wie bspw. der schonenden Umgang mit Ressourcen ableiten. Zusätzlich bestehen eine Reihe organisatorischer Abhängigkeiten z. B. zur Integration individueller Wissensbestände, die sich nicht ausschließlich durch den Einsatz von IT-Lösungen erzielen lassen. Lernort Fabrik – Betriebliche Herausforderungen und aktuelle Lösungsansätze […] 107 Andererseits zeigen gerade neuere Entwicklungen wie die Gamification oder MOOCs, dass digital vermitteltes Lernen zukünftig eine wichtige Rolle spielen wird und hierbei v. a. die Individualisierung von Lernpfaden umfassend ermöglicht wird. Eine massenweise Individualisierung der Lernprozesse durch automatisch evolvierte Nutzermodelle verspricht somit erhebliche Potentiale bei geringen Kosten. Durch die Adressierung der dargestellten Potentiale kann der Lernort Fabrik aktiv weiterentwickelt werden. Wachsende Tätigkeitsinhalte mit Bezug zur Wissensarbeit erfordern letztlich eine Gestaltung des Lernortes Fabrik wie es heute z. B. für Taktzeiten und körperliche Belastungen bereits gegeben ist. Literatur Bititci, U., Ackermann, F., Ates, A., Davies, J., Gibb, S., MacBryde, J., & Shafti, F., 2011.: Managerial processes: an operations management perspective towards dynamic capabilities. Production Planning & Control, 22(2), 157–173. Brinton, C. G., Rill, R., Ha, S., Chiang, M., Smith, R., & Ju, W., 2015.: Individualization for Education at Scale: MIIC Design and Preliminary Evaluation. IEEE Transactions on Learning Technologies, 8(1), 136–148. Chen, X., 2014.: Technological Innovation Capability Evaluation and Decision Support for companies in innovation alliance. Dissertation Technische Universität Chemnitz. 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Lehren und Lernen im Kontext von Industrie 4.0 – Übersicht 111 Lehren und Lernen im Kontext von Industrie 4.0 Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 im Rahmen eines Planspielszenarios – Simulation und Evaluation Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehrund Lernkonzepte der Zukunft Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 113 Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer Dieser Beitrag widmet sich der Frage nach Kompetenzbedarfen aufgrund der Einführung von Industrie 4.0. Da sich Industrie 4.0 noch in der Entwicklung befindet und der Verbreitungsgrad eher noch gering ist, werden hier Tendenzaussagen über Kompetenzanforderungen im Kontext von zwei polar entgegengesetzten Szenarien getroffen. Die tatsächlichen Kompetenzbedarfe dürften davon abhängen, welche zwischen diesen Extremszenarien liegenden Entwicklungsoptionen die Unternehmen wählen. Ausgewählte Anwendungsfälle können dazu dienen, solche Optionen zu beschreiben und in Verbindung mit den Szenarien Aussagen über Kompetenzanforderungen nach unterschiedlichen Qualifikationsebenen zu treffen. 1 Industrie 4.0: Zum Stand der Umsetzung Die Vorstellungen, die derzeit mit der weiteren Digitalisierung in der Industrie und dem Ausdruck „Industrie 4.0“ („I4.0“) verbunden werden, können in etwa gleichgesetzt werden. Diese Vorstellungen – deren Umsetzung zu einer sehr viel flexibleren und dadurch produktiveren Vernetzung von Werkzeugen, Maschinen, Anlagen und Produktionssystemen führen soll – lassen sich anhand einer am Produktlebenszyklus als Wertschöpfungskette orientierten Betrachtungsweise erläutern (vgl. MFW BW/Fraunhofer IPA 2014) (siehe Abbildung 1): 114 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer Abbildung 1: Daten im Produktlebenszyklus (Quelle: MFW BW/Fraunhofer IPA 2014, S. 9, nach Schuh 2006) Die Lebenszyklusphasen der Produktentwicklung, -herstellung, -nutzung und -entsorgung sollen betriebs-, wenn nicht unternehmensübergreifend vernetzt werden. Die Vernetzung soll vor allem durchgängig integriert, ohne (Medien-) Brüche, z. B. aufgrund nicht-kompatibler Softwaresysteme erfolgen (vgl. Lindner; Friedewald 2008, 95-97). Über Durchgängigkeit hinaus setzt die mit „Industrie 4.0“ anvisierte Flexibilität und Produktivität eine echtzeitnahe Synchronisierung der physischen Prozesse mit digitalen Daten und Modellen voraus. Den technischen Ansatz für die durchgängigsynchrone Integration von physischen Prozessen und digitalen Daten bilden – miteinander vernetzbare – „Cyber-Physical Systems“ (CPS). In der Industrie werden vernetzte CPS zur zentralen oder dezentralen Steuerung von Engineering-, Produktions-, Logistik- und Managementprozessen eingesetzt. CPS sind in ihrer Grundstruktur mechatronische, in Objekte oder deren Umgebung „eingebettete Systeme“. Mittels Sensoren können CPS Veränderungen am physischen „Grundsystem“ (z. B. einer Mechanik) oder ihrer Umgebung (Umwelt) erfassen und an eine (digitale) Informationsverarbeitungskomponente weiterleiten. Deren Ergebnisse werden an Aktoren weitergegeben, die entsprechend auf physische Vorgänge einwirken. In Automatisierungssystemen findet eine Kopplung von mit Prozessoren ausgestatteten Informationsverarbeitungskomponenten mit physischen Prozessen schon seit den 1970er Jahren statt. Technisch mitentscheidend für „Industrie 4.0“ ist die fortschreitende Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 115 Verkleinerung und Leistungssteigerung der Mikroprozessoren. Dies ist die Voraussetzung für die Einbettung von Informationsverarbeitungskomponenten mit komplexen Funktionen in kleine Objekte, deren Vernetzung, und damit verteilten Entscheidungen („eingebettete“ und „verteilte“ Systeme). Es wird deutlich, dass die Vorstellungen, die derzeit mit „Industrie 4.0“ bezeichnet werden, sich auf längerfristige Entwicklungen der Informationsund Kommunikationstechnologien (IKT), Automations- und Mikrosystemtechnik beziehen, die nun aber sowohl untereinander als auch mit Elektronik und Mechanik zunehmend stärker integriert werden können. Den konstitutiven Schritt zur „Industrie 4.0“ als „Internet der Dinge in der Industrie“ stellt allerdings die gegebene Vernetzung der „verteilten“ Systeme mit dem Internet dar. Dies stellt erhebliche zusätzliche Anforderungen an die ITSicherheit. Wie deutlich geworden sein dürfte, ist Industrie 4.0 abhängig von zahlreichen Technologien und deren Konvergenz; das heißt davon, inwieweit diese zusammenwachsen, vernetzt werden und interagieren können (sollen), um schließlich autonomes Handeln von Systemen zu erreichen. Neben den Konvergenzen der im Zusammenhang mit CPS genannten Technologien, hängt die weitere – entsprechend schwer vorhersehbare – Entwicklung u.a. von Konvergenzen mit Mensch-Maschine-Schnittstellen, Robotik, Materialien und Künstlicher Intelligenz (KI) ab (vgl. Brand et al. 2009, S. 16, Dworschak et al. 2010). Zwar spielen schon heute viele Elemente auf dem Weg zu selbstkonfigurierenden Systemen, wie beispielsweise intelligente Produktionsanlagen oder Echtzeitüberwachung eine wichtige Rolle. Dennoch scheint I4.0 schon rein technologisch in weiteren Teilen noch stärker in der Entwicklung zu sein, als dies teilweise suggeriert wird, so etwa bei der digitalen Beschreibung von Produktionssystemen. Ein Internet der Dinge in der Industrie, das eine vollautonome Steuerung von Prozessen ermöglicht und als Voraussetzung für selbstkonfigurierende Produktionssysteme genannt wird, könnte nach heutiger Einschätzung erst nach 2020 anwendungsreif sein (Hartmann/Bovenschulte 2013). Ebenso ist der Verbreitungsgrad der heute verfügbaren I4.0-Technologien sowohl in der industriellen Produktion als auch in der Logistik der Unternehmen eher noch gering (vgl. Dworschak et al. 2012). Bisher scheint statt einer „revolutionären“ eher eine schrittweise „Migration“ zu erfolgen. Während laut IHK-Unternehmensbarometer zur Digitalisierung 94 % der Unternehmen eine Beeinflussung ihrer Prozesse durch eine vermehrte Digitalisierung sehen, sieht sich beim Thema I4.0 mit 37 % der Unternehmen mit 116 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer über 500 Mitarbeitern und 26 % der kleineren Unternehmen ein wesentlich geringerer Anteil gut aufgestellt (DIHK 2015). Schließlich werden auch I4.0-Technologien kein bestimmtes Arbeitsorganisationsmodell determinieren. Vielmehr wählen Unternehmen u. a. aufgrund unterschiedlicher Marktund Produktionsanforderungen verschiedene Kombinationen aus Arbeitsorganisations- und Technologieoptionen (vgl. TAB 2008). Somit können Aussagen über weitere Technologie-, Arbeitsorganisationsund damit verbundene Kompetenzentwicklungspfade von Industrie 4.0 in großen Teilen nicht eindeutig getroffen werden. Dies macht szenarienabhängige Einschätzungen erforderlich. Diese werden im Folgenden für die obere, mittlere und untere Qualifikationsebene getroffen. Die auch als Hochqualifizierte bezeichneten Angehörigen der oberen Qualifikationsebene sind Beschäftigte mit einem akademischen bzw. Hochschulabschluss. Die mittlere Qualifikationsebene wird von Fachkräften sowohl mit dualer Berufsausbildung oder Berufsfachschulabschluss als auch mit bundesweit anerkannten Fortbildungsabschlüssen (wie z. B. Meister, Techniker oder Prozessmanager) gebildet. An- und Ungelernte, als die Angehörigen der „unteren“ Qualifikationsebene, werden auch als „Werker“ bezeichnet (womit auch im Folgenden Werkerinnen und Werker gemeint sind). Bisher konnte ein Teil der produktbegleitenden Dienstleistungen in den späteren Phasen des Produktlebenszyklus, wie z. B. Wartung und Instandhaltung oder Servicetechnik oder die „Werkstattprogrammierung“, als Domäne der Fachkräfte der mittleren Qualifikationsebene gelten. Doch unter anderem gerade für diesen Bereich der industriellen Dienstleistungstätigkeiten können aufgrund der offenen Entwicklung der „Industrie 4.0“ keine eindeutigen Einschätzungen getroffen werden. Deshalb werden im Folgenden Einschätzungen in Verbindung mit zwei unterschiedlichen, möglichen Entwicklungsszenarien gegeben. 2 Szenarien und mögliche Entwicklungspfade Um mit der Schwierigkeit umzugehen, dass aufgrund der offenen Entwicklung der „Industrie 4.0“ noch keine eindeutigen Einschätzungen über Technologie-, Arbeitsorganisations- und damit verbundene Kompetenzentwicklungspfade getroffen werden können, werden im Folgenden Einschätzungen in Verbindung mit zwei auf Windelband und Spöttl (2011) zurück gehende Extremszenarien bzw. polar entgegengesetzten Entwicklungsrichtungen gegeben (siehe Abbildung 2). Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 117 Bei der ersten Richtung, dem „Automatisierungsszenario“, wird ein immer größer werdender Teil der Entscheidungen durch die Technik getroffen. Dies würde den Raum für autonome menschliche Entscheidungen und Handlungsalternativen immer weiter einschränken und wäre mit der Entstehung einer Kompetenzlücke verbunden: In einem zunehmend automatisierten System muss der Mensch nur noch in Störfällen eingreifen, aber zumindest die Mitarbeiter der unteren wie auch mittleren Qualifikationsebene könnten die dazu notwendigen Kompetenzen nicht mehr aufbauen. Bei der zweiten Entwicklungsrichtung, die hier als „Spezialisierungsszenario“ bezeichnet wird, dient die Technik zur Unterstützung menschlicher Entscheidungen und somit von Problemlösungen. Im Vergleich mit dem „Automatisierungsszenario“ bleibt hier auch den Produktionsmitarbeitern zumindest der mittleren Qualifikationsebene ein wesentlich größerer Anteil der Entscheidungen überlassen, womit Prozessoptimierungen, Eingriffe bei Störungen und Problemlösungen, und damit vielfältigere, wenn nicht höhere Anforderungen verbunden sind. Im Automatisierungsszenario sollen die Aufgaben von den technischen Teilen des sozio-technischen Systems übernommen werden, in die nur Hochqualifizierte eingreifen können. Im Spezialisierungsszenario sind die Mensch-Technik-Schnittstellen so gestaltet, dass neben den Hochqualifizierten zumindest Fachkräfte der mittleren Qualifikationsebene mit der Technik interagieren können. Im Zuge der Implementation von I4.0-Technologie wird der Anteil der Hochqualifizierten an den Belegschaften in beiden Szenarien steigen, im Automatisierungsszenario allerdings stärker als im Spezialisierungsszenario. Der Anteil der Werker wird in beiden Szenarien sinken, auch wenn er in bestimmten Betriebsarten, die dem Spezialisierungsszenario folgen (wie unten noch erläutert wird), unter Umständen nahezu gleich bleiben könnte. 118 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer Abbildung 2: Entwicklungsrichtungen von Industrie 4.0 (in Anlehnung an Windelband/Spöttl (2011), S. 12) Für die mittlere Qualifikationsebene sind die Wirkungen der möglichen Kombinationen aus I4.0-Technologieoptionen und Arbeitsorganisationsformen wohl am uneinheitlichsten. So könnte ein Teil der Tätigkeiten der Mittelqualifizierten, wie etwa bestimmte Kontroll- und Steuerungsaufgaben, automatisiert werden. Bei anderen Tätigkeiten, wie etwa Dispositionsentscheidungen, könnte das Anforderungsniveau durch Teilautomatisierung reduziert werden (vgl. Lindner/Friedewald 2008). Eine Hauptfrage ist, inwieweit Aufgaben, die ein hohes Erfahrungs- und Prozesswissen erfordern, wie es für Fachkräfte der mittleren Ebene typisch ist, durch die neuen Technologien leichter automatisiert werden können und tatsächlich automatisiert werden. Hierzu gehören anspruchsvolle Instandhaltungsaufgaben. Es ist zu erwarten, dass im Zuge der Implementation der „Instandhaltung 4.0“ in absehbarer Zeit zunehmend Echtzeitdaten über Maschinenzustände vorliegen werden (vgl. Biedermann 2014, S. 26). Wohl auch aufgrund dessen wird der Anteil der ungeplanten Instandsetzungen voraussichtlich abnehmen. Aber vorerst wird noch angenommen, dass die schwer automatisierbare schadensbedingte Instandsetzung an Komplexität zunehmen und die zunehmende Automatisierung mehr Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 119 Wissen verlangen wird, um Störungen schnell zu beheben. An dieser Stelle stellt sich die Folgefrage, ab welchem Komplexitäts- und Automatisierungsgrad von Produktionssystemen die Instandhaltungsaufgaben von den hochschulisch qualifizierten Ingenieuren nicht nur im Automatisierungs-, sondern auch im Spezialisierungsszenario übernommen werden. Zumindest im Rahmen des Spezialisierungsszenarios ist entscheidend, ob die mit I4.0 verbundene Flut von Daten, für die Fachkräfte der mittleren Ebene so aufbereitet werden können, dass sie als richtig ausgewählte Informationen am richtigen Ort vor allem schnell als Entscheidungsunterstützung zur Verfügung stehen. Die Fähigkeit, Daten und Informationen richtig auszuwählen, aufzubereiten und zu interpretieren, stellt eine der wesentlichsten I4.0-Anforderungen dar. Allgemein erscheint wichtig, dass zumindest wohl ein größerer Teil der Unternehmen bisher zur Verfügung stehende Automatisierungspotenziale nicht voll ausgenutzt hat, sondern eher in Richtung einer weiteren Teilautomatisierung geht. Insbesondere gibt es, unter anderem gerade in den Kernbranchen der deutschen Wirtschaft, wie etwa dem Maschinen- und Anlagenbau, Unternehmen, mit in Teilen automatisierten, aber unumgänglich hoch flexiblen Prozessen. Für diese Unternehmen hat sich eine „prozessorientierte“ Arbeitsorganisation in ihrer Kombination aus Flexibilität und Produktivität gegenüber anderen Organisationsformen als vorerst überlegen erwiesen und dort seit den 1990er Jahren verstärkt Einzug gehalten. Die prozessorientierte Arbeitsorganisation ist auf fach- und funktionsübergreifende Prozesse sowie eine Dezentralisierung von Kompetenzen und Verantwortung ausgerichtet. Dementsprechend sind mit einer prozessorientierten Arbeitsorganisation über die Gesamtbelegschaft eines Betriebes hinweg stärkere Anforderungen an Kommunikation, Kooperation und Arbeitsprozesswissen verbunden und breitere Qualifikationsprofile notwendig als zum Beispiel bei einer tayloristischen. Die prozessorientierte Arbeitsorganisation zielt darauf ab, einer besseren Nutzung der Qualifikationspotenziale zugeschriebene Vorteile zu erlangen, zu denen eine höhere betriebliche Anpassungsfähigkeit bzw. Flexibilität gehört (vgl. Schumann 2003; Dorsch-Schweizer/Schwarz 2007). Dies korrespondiert mit dem „Spezialisierungsszenario“ und impliziert, dass die betreffenden Unternehmen in Verbindung mit „Industrie 4.0“ zumindest zunächst wohl eher dieser Entwicklungsrichtung folgen werden. Hierbei würden die Fachkräfte der mittleren Ebene ihre quantitative und 120 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer qualitative Bedeutung in und für die betreffenden Unternehmen bis auf weiteres behaupten. Sowohl bei der prozessorientierten Arbeitsorganisation als auch bei der so genannten Tertiarisierung des industriellen Produktionsprozesses kommt es zumindest bei den Fachkräften der mittleren Ebene unter anderem zu einer „horizontalen“ Erweiterung des Tätigkeitsprofils, das mit zum Beispiel Terminplanung, Arbeitsvorbereitung und Qualitätsprüfung industrielle Dienstleistungstätigkeiten betrifft, die der eigentlichen Produktion vor- und nachgelagert sind. Eine maßgebliche Untersuchung zur Tertiarisierung des industriellen Prozesses von Spöttl et al. (2003) gewinnt an Aussagekraft, indem sie sowohl Fertigungs- als auch Montagebetriebe der Metallindustrie einbezieht (vgl. auch TAB 2008, 53-54). Mit Blick auf die Werkerebene macht die Untersuchung deutlich, dass es selbst in der Metallindustrie Montagebetriebe gibt, in denen das Verhältnis von Fachkräften und Angelernten 20:80 beträgt – und auch bei prozessorientierter Organisation ein Anlernprozess als ausreichend erachtet wird. Dagegen stehen die Fertigungsbetriebe, in denen auch die Mitarbeiter unterhalb der Facharbeiterebene mit Kompetenzanforderungen konfrontiert sind, die über das üblicherweise damit assoziierte Qualifizierungsniveau hinaus gehen – sind sie doch ebenfalls mit „der Sicherstellung der Prozessabläufe, der Teilekoordination, der Kooperation mit der Produktion ‚vorgelagerten’ und ‚nachgelagerten’ Kunden, der Terminkoordination“ (Hecker/Spöttl 2002, 73) befasst. Es sind solche Betriebe, in denen der Anteil der Werker unter Umständen nahezu gleich bleiben könnte. Dies soll allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass „Industrie 4.0“ bei den An- und Ungelernten aller Wahrscheinlichkeit nach insgesamt weiteren Stellenabbau und Beschäftigungsverlust bedeuten wird. 3 Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 Mit Blick auf den Produktlebenszyklus (in Abbildung 1) findet die produktionsnahe Arbeit in der Phase der Produktherstellung statt. „Industrie 4.0“ bedeutet hier hauptsächlich eine sozusagen möglichst (daten- und medien-)bruchlose Integration der Fertigung und Montage mit der Produktionsplanung. Es sei bewusst wiederholt, dass dies in Unternehmen, die eher dem Automatisierungsszenario folgen, von den technischen Teilen des sozio-technischen Systems übernommen werden soll, in die nur Hochqualifizierte eingreifen können. Im Spezialisierungsszenario sind die Mensch- Kompetenzentwicklung in der Industrie 4.0 121 Technik-Schnittstellen so gestaltet, dass neben den Hochqualifizierten zumindest Fachkräfte der mittleren Qualifikationsebene mit der Technik interagieren können. In beiden Fällen ist Prozesskompetenz in zweifacher Hinsicht erforderlich: Zum einen zumindest ein die Phasen der Produktentwicklung und Produktherstellung übergreifendes Prozessverständnis mit überfachlichen Kompetenzen zur Kommunikation und Kooperation. Zum anderen Kompetenzen nicht nur in Bezug auf die physischen, sondern auch auf die digitalen Prozesse. Die fachlichen Anforderungen betreffen ein breites Feld von Kenntnissen und Fähigkeiten über Mechanik und Elektronik, Mikrosystemtechnik, Automatisierung sowie Produktions-IT und vor allem deren Integration. Hinsichtlich der hochschulischen Ausbildung scheinen für Industrie 4.0 derzeit zwei entgegengesetzte Arten von Studiengängen relevant zu sein: einerseits grundständige Studiengänge, wie z. B. Maschinenbau, Elektrotechnik oder Informatik, und andererseits schon auf Bachelorniveau enger spezialisierte Studiengänge, wie z. B. Mikrosystemtechnik, Energietechnik oder IT-Sicherheit. Wie für andere Bereiche, in denen Technologien konvergieren, wird für Industrie 4.0 die Notwendigkeit von stärker interdisziplinär angelegten Studiengängen durchaus gesehen. Zumindest unter dem Blickwinkel der Eignung für Industrie 4.0 gibt es solche Studiengänge bisher jedoch wohl nur vereinzelt (vgl. Die Länder der Bundesrepublik Deutschland/Bundesagentur für Arbeit 2014). Zudem scheint ein breiteres Angebot an solchen Studiengängen vor 2020 eher nicht erwartet zu werden (vgl. BMBF, ohne Jahr). Auf mittlerer Ebene sind über die letzten 15 Jahren die „produktionstechnologischen“ Berufe entstanden, die auf einem integrativen Ansatz beruhen und nicht mehr ausschließlich den Metall-, Elektro- oder IT-Berufen zugeordnet werden können (vgl. Schlausch/Zinke 2009; Zinke/Wasiljew 2011). Neben Mechatroniker/-in handelt es sich hauptsächlich um die Berufe Mikrotechnologe/-in und Produktionstechnologe/-in, wobei für die beiden letzteren Fortbildungsregelungen zum Prozessmanager bzw. zur Prozessmanagerin in verschiedenen Spezialisierungsrichtungen bestehen. Die Ausbildungen der Mikrotechnologen und Prozesstechnologen sind auf Prozessbeherrschung ausgerichtet, wobei ein Schwerpunkt des breiten Profils der Produktionstechnologen in der Tat auf der Verbindung der direkten Produktherstellung mit Planung und Konstruktion liegt. 122 Dieter Spath, Bernd Dworschak, Helmut Zaiser, David Kremer Doch selbst vor dem Hintergrund des Profils der Produktionstechnologen beginnen sich Gründe abzuzeichnen, warum weder die (hoch-)schulischen noch dualen Ausbildungen zur nachhaltigen I4.0-Kompetenzsicherung ausreichen. So decken selbst die produktionstechnologischen Berufe nicht das gesamte, bereits heute für die produktionsnahe I4.0-Arbeit erforderliche Spektrum an Kenntnissen und Fähigkeiten ab. Zudem scheint eine Fortbildung, etwa in Richtung Prozessmanagerebene mit einer Vertiefung von Kenntnissen und Fähigkeiten verbunden zu sein, die eine Spezialisierung bedingt. Den Hochschulstudiengängen scheint die für konvergierende Technologiefelder notwendige interdisziplinäre Ausrichtung zumindest in der Breite noch zu fehlen. Schließlich befindet sich die „Industrie 4.0“ schon rein technologisch nach wie vor in einer offenen Entwicklung. Dies bedeutet, dass die produktionsnahe I4.0-Arbeit zu den Feldern gehört, in denen stetige und anpassungsfähige Weiterbildungsaktivitäten sowohl zur Ergänzung fachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten als auch hinsichtlich der (fach-) bereichsübergreifenden Kooperation notwendig sind. Wenn dies schon auf die Hochqualifizierten und Fachkräfte mit den relevantesten Ausbildungen zutrifft, dann umso mehr auf die großen Teile der Belegschaften, die nicht über neuere Abschlüsse verfügen. Weiterbildung sollte überbetrieblich anerkannte (so z. B. überbetrieblich zertifizierbare) Teile beinhalten, um die Mobilität der Arbeitnehmer/innen und ihrer Kompetenzen auch für die relevanten Wirtschaftsbereiche zu sichern. Kompetenz scheint jedoch am wesentlichsten dadurch entwickelt zu werden, dass Mitarbeiter in den betrieblichen Arbeitsprozessen lernen, Aufgaben zu erfüllen, die sie zuvor noch nicht beherrscht haben (vgl. etwa Bremer 2005, S. 287). Ein Hauptbestandteil eines Weiterbildungskonzeptes, gerade für Felder wie die produktionsnahe I4.0-Arbeit, sollte deshalb ein entsprechend begleitetes und gestaltetes Lernen in und an den Arbeitsprozessen sein (vgl. Dehnbostel 2007; Schneider/Wilke 2005). Literatur Biedermann, H. (2014): Anlagenmanagement im Zeitalter von Industrie 4.0. In: Biedermann, H. (Hrsg.): Instandhaltung im Wandel. Industrie 4.0 – Herausforderungen und Lösungen. Köln, S. 23-32. BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) (Hrsg.) (ohne Jahr): Zukunftsbild „Industrie 4.0“, Bonn. http://www.bmbf.de/pubRD/Zukunftsbild_Industrie_40.pdf Brand, L. et al. (2009): Internet der Dinge. Übersichtsstudie, Zukünftige Technologien Nr. 80, hrsg. v. 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Bonn. https://www2.bibb.de/bibbtools/ tools/fodb/data/documents/pdf/eb_40875.pdf Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 125 Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova Visionäre Konzepte für die Umgestaltung der Fabrik wie Industrie 4.0 oder Generative Fertigungsverfahren („3D-Druck“) benötigten gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die ständig fortschreitende technische Entwicklung erfordert lebenslanges Lernen. Dieser Entwicklung werden herkömmliche Weiterbildungskonzepte längst nicht mehr gerecht. Der Beitrag beschreibt die Anforderungen an eine zeitgemäße Weiterbildung im Kontext Industrie 4.0 und zeigt Wege zu deren Realisierung auf. 1 Einleitung Die Gestaltung komplexer Wertschöpfungsketten mit raschen Technologiewechseln, sich verkürzenden Produktionszyklen und einer Vielzahl von Schnittstellen zwischen den beteiligten Unternehmen und Mitarbeiterinnen 12 und Mitarbeitern erfordert kompetente Fachkräfte, die sich strukturiert und kreativ einbringen. Nur diese können aufgrund ihres umfangreichen Prozess- sowie Fachwissens gezielt und lösungsorientiert zur Optimierung von innerbetrieblichen und unternehmensübergreifenden Strukturen beitragen. Die partizipative Mitgestaltung von Arbeitsbedingungen und prozessen entlang der gesamten Wertschöpfungskette unter Berücksichtigung der Perspektiven von Geschäftsführung und Führungskräften auf der einen Seite und Mitarbeitern sowie Betriebsrat auf der anderen Seite, stellt einen wesentlichen Ansatzpunkt zur Weiterentwicklung der oftmals veralteten Weiterbildungskonzepte dar. Um in diesen komplexen Strukturen ein reibungsloses Arbeiten zu ermöglichen und darüber hinaus innovationsförderliche Freiräume für die Beschäftigten entstehen zu lassen, bedarf es, neben optimierten Prozessketten, bei jedem Mitarbeiter ein hohen Maßes an Verständnis für die 12 Im Verlauf des Textes wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit des Textes die maskuline Form gebraucht. Die Autoren beziehen dabei jedoch immer auch die Mitarbeiterinnen mit ein. 126 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova Arbeitsprozesse und für die Kompetenzen derjenigen, die mit ihm in einer Wertschöpfungskette stehen. Darüber hinaus ist Eigenmotivation in Form von Vermittlungs- und Lernbereitschaft auch über den eigenen Verantwortungsbereich hinaus notwendig, damit Prozesse und der Arbeitsplatz proaktiv gestaltet werden kann. Das erlernte Prozessverständnis ermöglicht es den Beschäftigten zudem, ihre jeweils individuellen Erfahrungen in unterschiedliche Arbeitsprozesse einzubringen und damit sozialverträgliche Innovationen am Arbeitsplatz zu generieren. Gleichzeitig sollten sie Möglichkeiten bekommen, zu lernen, ihr persönliches Kompetenzprofil berufsbegleitend weiterzuentwickeln, sich Qualifikationen angrenzender Berufsfelder anzueignen oder soziale sowie methodische Kompetenzen zu erwerben. Damit kann den Industrie 4.0-induzierten Veränderungen durch neue Qualifikationen bei den Mitarbeitern erfolgreich begegnet werden. Das Verständnis eines umfassenden Kompetenzmanagements orientiert sich entlang der gesamten Wertschöpfungskette, mit Fokus auf Aktivierung und Integration aller intra- und interindividuellen sowie unternehmensspezifischen Kompetenzen. So wird sichergestellt, dass zum einen die Innovationspotenziale der Mitarbeiter erschlossen werden und zum anderen die Akzeptanz der Veränderung durch eine intensive Mitgestaltung gegeben ist. Die zunehmende Vernetzung unterschiedlicher Wissenselemente sowie die örtliche und zeitliche Flexibilisierung des Wissenserwerbs erfordern auch flexible Lernformen. Neuere Ansätze der Gamification tragen dazu bei, die Lernmotivation über ihren Problemlösungs- und Wettbewerbscharakter konstant hoch zu halten. Es gibt bereits gute Erfahrungen mit der Nutzung digitaler Lernspiele. Serious Games finden in Schulen und im Bereich Dienstleistung und Management häufig Anwendung. Bisher unzureichend ist der Sektor des produzierenden Gewerbes betrachtet. Es stellt sich die Frage, wie sich dessen Inhalte in Spielform darstellen lassen. Zudem ist die sehr heterogene Struktur der Mitarbeiter zu beachten, die sich beträchtlich in Bezug auf Vorbildung, Medienaffinität und Lernmotivation unterscheidet. Industrie 4.0 und die Verschmelzung der realen und der virtuellen Welt sind bereits ein Teil unseren Alltags geworden (Dorst 2012, S. 34-37). Die Vernetzung einzelner Gegenstände mit dem Internet, wie beispielsweise Alarmanlagen, Wärmeregulatoren oder Smartphones, ermöglicht einerseits mit diesen Gegenständen zu kommunizieren, andererseits erledigen diese Gegenstände selbstständig verschiedene Aufgaben. Damit dies im Unternehmen umsetzbar wird, sind weitere technische Entwicklungen und Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 127 flächendeckende Vernetzung erforderlich, die eine Integration von eingebetteten Systemen mit den webbasierten Diensten in die Produktionsprozesse erlaubt (Geisberger/Broy 2012, S. 7; Gronau 2014). Auf diese Weise können sich die technischen Entitäten in den Fabriken (gegenseitig) selbstständig regeln und steuern, Entscheidungen treffen, Informationen weiterschicken und aktuelle Umgebungsveränderungen mit einbeziehen. Vor diesem Hintergrund sollen die Geschäftsprozesse so gestaltet werden, dass sie sowohl die Kommunikationsaspekte, wie Machine-to-MachineCommunication (Baum et al. 2013, S. 10-13) und Human-Maschine Interaktion (Gronau, 2014), als auch die individuellen Kundenwünsche berücksichtigen. Neben der Entwicklung von Technologien und der Umstellung der Produktion müssen im organisatorischen Bereich die bestehenden Hemmnisse der Veränderungsfähigkeit erkannt und Wege gesucht werden, diese zu überwinden (Wiendahl et al. 2014, S. 163). Die Qualifikationen der Führungs- und Arbeitskräfte spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, da der Automatisierungsgrad in den Produktionsprozessen zunimmt (Bettenhausen 2014). Notwendige schnelle und qualifizierte Entscheidungen in Störfällen bei Werkzeugen oder Prozessen können nur gut ausgebildete Spezialisten treffen (Hergesell 2014, S. 12-17). Die Ist-Situation in den Fabriken, die restriktiv wirkendenden prozessualen Rahmenbedingungen, stellen oftmals einen determinierenden Ausgangszustand dar. Da nur in den wenigsten Fällen eine Fabrik neu auf der grünen Wiese entstehen kann, führt kein Weg an prozessbezogenen Weiterbildungskonzepten vorbei, die sich hervorragend in inkrementelle Wandlungsvorhaben integrieren lassen. Entsprechend vorhandener Visionen und den Möglichkeiten eines radikalen Neuentwurf des sogenannten „brownfields“ müssen allerdings auch zukunftsfähige Weiterbildungskonzepte für diesen Einsatzzweck kreiert werden. Die Ziele des vorliegenden Beitrags sind es, für einen notwendigen Wandel von Qualifizierungsmaßnahmen zu sensibilisieren und Vorschläge für prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte zu skizzieren. Zu diesem Zweck gliedert sich der Beitrag wie folgt: Zunächst werden relevante Grundlagen zu Industrie 4.0, dem Wandel, der Rolle der Mitarbeiter in der vernetzten Produktion und deren Qualifikationen dargestellt. Anschließend werden zwei sich bezüglich der Einführungsgeschwindigkeit (inkrementeller und radikaler Wandel) unterscheidende Transformationsszenarien dargestellt, die den Ausgangspunkt für mögliche zukünftige Weiterbildungskonzepte bilden. 128 2 2.1 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova Stand der Forschung Industrie 4.0 Industrie 4.0 beschreibt eine Abkehr von der klassischen automatisierten Fabrik, die große Mengen gleichartiger Produkte auf der Basis zentraler Produktionspläne herstellt. Vision ist die selbstorganisierende Fabrik, in der intelligente und teilautonome Objekte interagieren und es gelingt, die zunehmende Individualisierung der Produkte mit den Vorteilen von Großserienproduktion zu verbinden (Mass Customization). Industrie 4.0 stellt innerhalb der Produktionsorganisation und -steuerung moderne Technologien zur Verfügung, um dezentral gesteuerte Produktionsanlagen mit intelligenten und selbststeuernden Elementen in der Werkhalle zu gestalten (acatech 2011). Wesentliche Konzepte von Industrie 4.0 sind cyber-physische Systeme, deren Vernetzung zum Internet der Dinge sowie die verbesserte Mensch-Technik-Interaktion (MTI) bzw. Human Maschine Interaction (HMI). Diese Systeme enthalten eine umfangreiche Sensorik (u. a. AutoID-Technologien und Smart Sensors) und statten Systeme und Produktionsobjekte mit erweiterten Fähigkeiten zur Umgebungserfassung aus. Daraus ergeben sich weitreichende Möglichkeiten zur dezentralen Steuerung und Prozessgestaltung in Fabrikanlagen (Lass und Gronau 2012). Intelligente Objekte mit Fähigkeiten zur Selbstoptimierung, Selbstkonfiguration und Selbstdiagnose realisieren beispielsweise die eindeutige Identifizierung und Lokalisierbarkeit von Produktionsobjekten, besitzen Informationen zu ihrem aktuellen Zustand und zu ihrer Historie sowie über alternative Wege zum gewünschten Zielzustand. Sie können autonom Entscheidungen treffen, indem Umgebungsinformationen aus der Sensorik oder der Kommunikation mit anderen CPS selbsttätig verarbeitet und entsprechende Aktionen ausgelöst werden. Der Mensch ist in der Smart Factory ein wesentlicher Akteur, der durch die gezielte Bereitstellung von Informationen die ansteigende Komplexität der zukünftigen Fertigungsszenarien beherrschen kann. Durch individualisierte Informationssysteme in seinen Fähigkeiten erweitert, wird er vom klassischen Bediener zum Steuernden und Regulierenden, aber auch zum Gesteuerten und Regulierten. Die zunehmende Komplexität von Maschinen und Steuerungssystemen führt zu höheren Anforderungen an das technische Personal. Als Human-Machine-Interaction gewinnen geeignete Interaktionsmöglichkeiten an Bedeutung. Stark ausgeprägt sind selbstverantwortliche Autonomie und dezentrale Führungs- und Steuerungsformen Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 129 sowie eine erweiterte kollaborative Arbeitsorganisation. Langjährige Erfahrung qualifizierter Mitarbeiter zur Beurteilung und Lösung von Ausnahmesituationen, kombiniert mit den informationstechnischen Werkzeugen des Industrie 4.0 Konzepts, ergeben neben hoher Effizienz auch neue Entfaltungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter. Neben dem Menschen existieren weitere Industrie 4.0-relevante Entitätenklassen, wie Maschinen und Anlagen, Produkte sowie Informationssysteme. In diesem Kontext wird oftmals der Begriff der intelligenten Maschine geprägt (Bauerhansl 2014, S. 60f.), welcher durch die Kommunikationsmöglichkeiten der Maschinen zu weiteren Entitäten der Fabrik und deren situationsspezifischer Modifikation von Bearbeitungsparametern gekennzeichnet ist. Das Produkt führt relevante Informationen in Form von z.B. Barcode oder Mikrochips (bspw. RFID-Chip) durch den Bearbeitungs- und Wertschöpfungsprozess mit. Es kann jederzeit selbstständig die Informationen aktualisieren und mit notwendigen Zusatzinformationen versehen, z.B. ein Eilauftrag mit besonderer Bemerkung, sodass diese Information den Mitarbeitern bei Bedarf zur Verfügung steht. Aufgrund der sich abzeichnenden Tendenz der Auflösung der Strukturen der klassischen Automatisierungspyramide (Vogel-Heuser et al. 2009) werden sich auch die Informationssysteme in ihrer Struktur und vor allem in ihren Aufgabenfeldern und Funktionen ändern. Trotz dieser vielschichtigen technologieinduzierten Veränderungen stellt eine menschenleere Fabrik aus technologischen und ökonomischen Gründen keine realistische Perspektive dar. Das nächste wesentliche Element, neben den Akteuren, ist die Organisationsform der Fabrik der Zukunft. Zwei Arten von Organisationen erweisen sich im neuen Kontext als denkbar: Einerseits eine Organisation, die aus hochqualifizierten Experten und technischen Spezialisten auf der dispositiven Ebene besteht, deren Aufgaben streng getrennt sind und auf der ausführenden Ebene Fachkräfte, deren Handlungsspielraum sich weiter limitieren wird. Andererseits eine Organisation die größtenteils aus locker vernetzten hochqualifizierten Fachkräften mit großem Handlungsspielraum auf übergreifender Handlungsebene besteht, deren Aufgaben fachübergreifend sind (HirschKreinsen 2014). Wesentliche Charakteristika hierbei sind ein hoher Grad an Dezentralisierung sowie eine geringe Spezialisierung der Mitarbeiter, was den Anforderungen der tiefgreifenden Vernetzung und Verteilung in Industrie 4.0 entgegenkommt. Darüber hinaus werden zukünftig klassische Entscheidungs- und Eskalationsstufen überholt sein und Mitarbeiter möglicherweise Entscheidungskompetenzen an technische Entitäten verlieren. 130 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova 2.2 Qualifikationen im Kontext von Industrie 4.0 Nach Becker (2005, S. 4) umfassen Qualifikationen Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensmuster eines Individuums. In Abgrenzung zum Qualifikationsbegriff beinhalten Kenntnisse (knowledge) sowohl explizites als auch stillschweigendes Wissen und sind abgegrenzt von den Fähigkeiten (abilities), welche das kognitive, psychische und physische Handlungspotential bilden. Kenntnisse sind abhängig von angeborenen Anlagen und Umwelteinflüssen. Fertigkeiten (skills) werden erlernt. Beeinflusst durch Fähigkeiten, erlerntes Wissen, Motivation, Wille und Erfahrung stellen sie das Können einer Person dar. Das Wissen, Können, Wollen und Dürfen bezogen auf bestimmte Anforderungen wird als Kompetenz bezeichnet. Der beobachtbare Erfolg aus Qualifikation und Kompetenz in Hinblick auf Zielfaktoren (z.B. Effizienz) lässt sich durch den Begriff Performanz, „der tatsächlichen und messbaren Leistung eines Individuums bzw. einer Organisation“ (Becker 2005, S. 11), beschreiben. Qualifikationen sind ein personenbezogenes Arbeitsvermögen, bestehend aus unterschiedlichen Kompetenzfacetten. Bei der Fachkompetenz beispielsweise handelt es sich um die Fachkenntnisse, Arbeitstechniken oder Fertigkeiten. Laut einer Umfrage der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA) sind für die Verwirklichung der Industrie 4.0 in Deutschland die Faktoren Qualifikation, Geschwindigkeit und Infrastruktur von entscheidender Bedeutung (Bettenhausen, 2014), um die erwartete Produktivitätssteigerung und den volkswirtschaftlichen Nutzen aus der angestrebten Technologieentwicklung zu ziehen. Da bei der Industrie 4.0 die gesamte Arbeitsumgebung von Unternehmen betroffen ist, müssen die notwendigen Qualifikationen der unterschiedlichen Entitäten neu definiert werden. Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter sind: interdisziplinäre Fach- und Methodenkenntnisse, steigende sozial-kommunikative Kompetenzen, aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenzen sowie die Beherrschung der zunehmenden Komplexität von Technologien und Arbeitsweisen, selbstverantwortliches Arbeiten und Organisationskompetenz (Böhle et al. 2013). Für die Entwicklung und Einführung neuer Technologien, die auf multidisziplinären, softwaregesteuerten und vernetzen Systemen basieren, sind gut ausgebildete Spezialisten mit fachlichem Know-How, das berufsübergreifend eingesetzt wird, notwendig (Baum et al. 2013, S. 31; Frenz et al. 2012). Da ihre Aufgaben sich ständig ändern, müssen Mitarbeiter für le- Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 131 benslanges Lernen mittels berufsübergreifender Schulungen, Fortbildungsteilzeiten oder Training-on-the-job-Maßnahmen bereit sein (Groche et al. 2014). Das Bildungsangebot wird durch neue duale Angebote sowie Studiengänge wie Wahrnehmung, Robotik oder Kognition erweitert (Botthof/Hartmann, 2015, S. 55). Weiterhin soll die soziale Kompetenz – Soft Skills, wie Zuverlässigkeit, Flexibilität, Zielstrebigkeit, Anpassungsfähigkeit oder Kreativität – weiter entwickelt werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Mitarbeiter zu sensibilisieren, ihre Motivation zum Weiterlernen zu erhöhen sowie fehlendes Wissen und Fähigkeiten zu ergänzen. 3 Transformationsszenarien Für die Festlegung der Qualifikationen der Entitäten ist die genaue Kenntnis über ihre Aufgabenanforderungen und -erfüllungen während der Prozessausführung notwendig. Die Transformation bestehender Fabriken in Fabriken der Zukunft kann einerseits kurz- und mittelfristig mithilfe realer oder fest zu erwarteter Größen beschrieben werden, andererseits bedarf die langfristige Perspektive eine derzeit auf die Industrie 4.0-Vision bezogenen Planung. Dies betrifft insbesondere die unternehmensweiten Prozessverläufe mit allen relevanten Elementen – Ablauf, beteiligte Akteure, Schnittstellen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen die Transformationsszenarien und (hier konkret) die Qualifikationsaspekte unter zwei verschiedenen Betrachtungswinkeln analysiert werden: 1.) Zum Einen sollen in Bezug auf die bereits bekannten und geplanten kurz- und mittelfristigen Veränderungen prozessbezogene Maßnahmen konzipiert und gestaltet werden. Hierzu ist die Rolle der Ansätze des prozessorientiertes Wissensmanagements zu betonen. 2.) Zum Anderen sind visionäre Qualifizierungskonzepte notwendig, die keine konkreten Prozessabläufe adressieren, jedoch die Prozessbezogenheit der Weiterbildung an sich berücksichtigen. Diese zweite visionäre Perspektive wird nachfolgend in Kapitel vier dargestellt. Ausgangspunkt für die Szenariobildung bildet ein Anwendungskontext, der direkt mit technologischen, aufgaben- und prozessbezogenen sowie personellen und individuellen Veränderungen verbunden ist. Diese Veränderungen weisen eine dynamische Natur auf und sind operativ sowie strategisch in der Weiterentwicklung des Unternehmens verankert. Vor diesem Hintergrund sollen folgende zwei Szenarien berücksichtigt werden: 132 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova 3.1 Szenario 1 (Gestaltung einer inkrementellen Veränderung) Auf Managementebene wird in einem großen Unternehmen entschieden, Teile eines Produktionsbereichs als Industrie 4.0-Inseln zu gestalten. Hierzu handelt es sich um ein Aufgabenbereich, der mit der gesamten Produktion verknüpft ist. Beispielhaft sollen dort erstmalig neue Technologien eingeführt, die Aufgaben und Prozesse entsprechend modifiziert und Mitarbeiter diesbezüglich qualifiziert werden. Dieser vom Wandel betroffene Bereich funktioniert bis auf Weiteres unabhängig von den anderen Bereichen, die von der Veränderung zuerst nicht betroffen sind. Es existieren jedoch inselübergreifende prozessrelevante Schnittstellen, die bei der Gestaltung der Maßnahmen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. 3.2 Szenario 2 (Gestaltung einer radikalen Veränderung) Im zweiten Fall wird ebenso auf Managementebene in einem Großunternehmen entschieden, einen gesamten Produktionsbereich unter Industrie 4.0-Bedingungen neu einzurichten. Es entstehen neue Prozesse, in denen das Zusammenspiel neuer technischer Entitäten mit bereits lange im Unternehmen beschäftigten menschlichen Akteuren verknüpft werden muss. Im Mittelpunkt dieses Prozesses stehen neue Industrie 4.0Aufgaben. Alle relevanten Aufgabenebenen in diesem Produktionsbereich sind vom Wandel betroffen und durch eine gemeinsame Strategie sowie durchgehende technische Lösungen miteinander verknüpft, wobei die Schnittstellen entsprechend mitgestaltet werden. Die betroffenen Mitarbeiter werden mit neuen Strukturen und Aufgabenfeldern konfrontiert, die nicht mehr vertraut und unter Umständen noch nicht völlig planbar sind. Das betrifft, wenn auch auf unterschiedliche Weise, beide Szenarien: Für die Betroffenen der radikalen Veränderung (Szenario 2) bedeutet der Wandel ein Umdenken in Bezug auf ihre technischen-, sozialen- und Entscheidungskompetenzen, bedingt durch die neuen technischen Akteure. Weiterhin kann die vermeintliche Vorreiterrolle innerhalb des Unternehmens als zusätzlicher Druck und Unsicherheit empfunden werden, verstärkt durch fehlende Referenzbeispiele und Vergleichsmöglichkeiten. Die Gefahr, dadurch in Isolation zu geraten, steigt. Tatsächliches oder empfundenes Scheitern kann unter Umständen Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 133 ebenso ein Hindernis für die Akzeptanz der Veränderung sein. Ein ständiger Ist-Soll-Vergleich der Strukturen und Strategien sowie die Anpassung von Qualifizierungsmaßnahmen ist für das Aufdecken von Prozess- und Strukturdefiziten und fehlenden Kompetenzen notwendig Positiv bei dieser Art des Wandels ist die Fokussierung aller Maßnahmen und Bemühungen auf ein Ziel und auf die Veränderung. Deren Gestaltung wird zur Meta-Aufgabe, welche unterschiedlichste Herausforderungen adressiert und impliziert. Wichtig vor diesem Hintergrund ist bei der Gestaltung der Maßnahmen genau diese Tatsache in den Mittelpunkt zu stellen und die Entwicklung und nicht lediglich die Auslebung eines neuen Prozesses betont als Ziel zu erklären. Im Unterschied dazu besteht im Szenario der inkrementellen Veränderung die Herausforderung darin, die auf die Industrie 4.0-Insel bezogenen Aufgaben von den anderen potentiell anfallenden Aufgaben dieser Mitarbeiter im Betrieb zu trennen. Durch die Vermischung von alten und neuen Arbeitsfeldern besteht die Gefahr, das neue Konzept nicht zu akzeptieren und im schlimmsten Fall nicht bewusst wahrzunehmen. Die isolierte Einführung erlaubt es unter Umständen nicht, die ganze Industrie 4.0-relevante Breite der Funktionen neuer technischer Entitäten aufzuzeigen und zu nutzen. Entscheidungsbezogene Veränderungen, bei denen den technischen Entitäten relevante Kompetenzen zugeschrieben werden, werden hier ebenso außer Acht gelassen, da bedingt durch die Berücksichtigung der Verknüpfung zu anderen Bereichen mit alten Strukturen nicht alle entscheidungsrelevanten Situationen abgedeckt werden können. Ebenso erschwert der kontinuierliche Vergleich zwischen „alt“ und „neu“ in Problemsituationen die Akzeptanz der neuen Strukturen, bedingt durch psychologische Effekte und das Vorziehen bekannter und erprobter Lösungsmuster, auch wenn die neuen Vorteile mit sich bringen. Die Entwicklung eines Qualifizierungskonzeptes für die betroffenen Mitarbeiter stellt eine weitere Herausforderung dar. Die neuen Qualifikationen gilt es maßgeschnitten zu entwickeln, sodass einerseits der Bezug zu der bisherigen Rolle erhalten bleibt und andererseits die Veränderungen und neuen Aufgabenfelder berücksichtigt werden. In beiden Fällen ist ein durchdachtes und klar kommuniziertes Konzept am Anfang des Veränderungsprozesses unentbehrlich. Kriegesmann et al. (2013) verweisen auf die Bedeutung der Schlüssigkeit des Konzeptes und der Umsetzungsschritte sowie auf die Aufklärung aller Mitarbeiter. 134 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova In diesem Kapitel wurde dargelegt, dass sowohl für radikalen als auch für inkrementellen Wandel die Ausprägungen und Schwerpunkte bei den Maßnahmen unterschiedlicher Natur sind. Zur Steigerung der Akzeptanz der Mitarbeiter ist bei radikalem Wandel in der Anfangsphase die strategische Notwendigkeit der Transformation in den Vordergrund zu stellen. Wohingegen bei inkrementellem Wandel die kontinuierliche Verbesserung der Prozesse und Aufgaben mittels neuer Technologien und deren Unterstützungsfunktion im Arbeitsprozess zu betonen sind. 4 Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte Das prozessorientierte Wissensmanagement kombiniert Ansätze des Geschäftsprozessmanagements (Gronau/Müller 2005, Gronau et al. 2005, Becker et al. 2000, Remus 2002, Hinkelmann et al. 2005, Fettke/Loos 2004, Scheer 1998) und des Wissensmanagements und strebt an, den Wissensaustausch entlang und zwischen den Geschäftsprozessen transparent zu machen und gezielt zu fördern. Dabei werden der humanorientierte und der technologieorientierte Ansatz des Wissensmanagements durch eine Betrachtung entlang der Geschäftsprozesse integriert. Der Mensch als Aufgabenträger im Geschäftsprozess wird bei der Erledigung seiner Aufgaben gefördert, sodass er relevantes Wissen schnell findet und neues Wissen für andere schnell verfügbar machen bzw. aufbereiten kann. Die Betrachtungsperspektive der Wissensträger muss dabei um die neuen technischen Entitäten erweitert werden. Unterschieden wird hierzu zwischen (Amelingmeyer 2004, S. 55ff.): 1. Personen als Wissensträger – Mitarbeiter unterschiedlicher Bereiche und Hierarchieebenen eines Unternehmens. 2. Materielle Wissensträger – dazu gehören Maschinen, technische Geräte oder Produkte, die eine Speicherung und Verarbeitung von Informationen ermöglichen. 3. Beide Arten von Wissensträgern können weiterhin als „kollektive Wissensträger“ aufgefasst und als eine Einheit zusammengefasst werden, wie beispielsweise Teams, Arbeitsgruppen oder Abteilungen. Diese können ein Gesamtwissen aufweisen, das über die Summe des Wissens eines einzelnen Wissensträgers hinausgeht. Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 135 Im Zuge der Veränderungen steigt die Bedeutung einer gezielten Wissensteilung im Unternehmen. Die Digitalisierung und der veränderte Kommunikationsrahmen bezüglich der technischen Entitäten durchdringen Unternehmen jeder Größe. Sowohl erfahrene Mitarbeiter als auch junge Fach- und Führungskräfte müssen sensibilisiert und zusätzlich qualifiziert werden. Die Methoden des Wissensmanagements zielen auf den verbesserten Umgang mit Wissen (vgl. Gronau 2009), beziehen sich aber häufig auf die Etablierung geeigneter organisationaler Strukturen für den Wissenstransfer (z. B. Mentorenprogramm, Communities of Practice, Qualitätszirkel). Doch insbesondere der Mitarbeiter ist eine kritische Größe im Wissenstransferprozess (vgl. Werner 2004, S. 142). Daher müssen dessen Fähigkeiten zur Wissensweitergabe und -aufnahme geschult und die damit verbundenen Kompetenzen gesichert werden. Neben den Qualifikationsinhalten, die für eine erfolgreiche Implementierung von Industrie 4.0 notwendig sind, ändert sich das Setting der Vermittlung und Vernetzung von Wissen zum Aufbau der relevanten Kompetenzen. Ein Zusammenspiel technischer und pädagogischdidaktischer Aspekte kann hierzu besonders nützlich sein und ist mithilfe digitaler Medien möglich. Nachfolgend werden zwei Qualifizierungskonzepte vorgestellt, die das Lernen in innovativen Kontexten sowie für den Umgang mit technischen Entitäten in den Mittelpunkt stellen und dadurch das Industrie 4.0Paradigma adressieren. 4.1 Digitales Bildungsspiel Im Mittelpunkt steht die Entwicklung eines Spielkonzepts zum Aufbau und zur Entwicklung der notwendigen Kompetenzen für den Wissenstransfer. Dadurch wird der Bedarf einer neuen Lerngeneration, den „millennials“ (digitale natives) (vgl. Heiden et al. 2011, S. 460), nach selbstbestimmtem Lernen (vgl. Beck 2011) durch den Einsatz von Kommunikationstechnologien berücksichtigt. Zugleich werden für „digital immigrants“ (vgl. Randers 2012, S. 262) neben den (Wissens-)Transferfähigkeiten auch wichtige Qualifikationen im Informationszeitalter geschaffen (vgl. Leidig 2002). Somit werden die erforderlichen innovationsförderlichen Kompetenzen gezielt aktiviert. Digitale Bildungsspiele (Serious Games) bieten eine nachhaltige Lösung, um die Qualifikationsprofile beider Generationen zu verbessern und den 136 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova effizienten Wissenstransfer von einer zur nächsten Generation sicherzustellen. Weiterhin kommt der Einsatz von digitalen Bildungsspielen insbesondere KMU’s entgegen, da Kapazitäten und Ressourcen für die Präsenzlehre an einem anderen Ort häufig knapp sind (vgl. Heiden 2011, S. 242). Bildungsspiele werden als handlungsorientierte Methode für die Vermittlung komplexer Zusammenhänge immer wichtiger. Lernende übernehmen die Rollen diverser Akteure innerhalb eines vorgegebenen Szenarios und können darin ablaufende Vorgänge selbst erfahren (vgl. Leidig 2002). Ergänzende Informationen und weitere Materialien können ohne großen technischen und zeitlichen Aufwand somit gleich direkt in das Spielgeschehen (Verhandlungen) integriert werden. Zudem können mehr Personen über große Entfernungen eingebunden werden als bei realen Planspielen. Digitale Simulation ermöglicht das tatsächliche Eingreifen in fiktive Systeme durch die Spielenden und lässt komplexe Wirkungsgefüge durch Interaktionen und Immersion durch Eintauchen in das Spielgeschehen erfahrbar und verständlich werden. Blogs, Wikis, Foren sowie die Integration spielerischer Elemente und der Rückgriff auf ggf. gespeicherte Spielstände mit Feedbackfunktion können eine höhere Motivation der Teilnehmer erzeugen (vgl. Krenn et al. 2007, S. 62). In der Erwachsenenbildung werden multimediale Planspiele zur computergestützten Simulation von betriebswirtschaftlichen Verhalten und Abläufen seit geraumer Zeit verwendet (vgl. Blötz 2005). Bisherige computergestützte Bildungsspiele lassen vielfach die persönliche Interaktion und das soziale Lernen unbeachtet und fokussieren die technischen Möglichkeiten (vgl. Rappenglück 2010). Die Berücksichtigung sozialer Interaktion ist jedoch unabdingbar, da die Schulung der Sozialisationsfähigkeit in der Gruppe Bestandteil der zu vermittelnden Lerninhalte ist (vgl. Lattemann et al. 2009). Durch die Kombination aus Einzel- und Teamspielen können die Fähigkeiten des Wissenssenders sowie -empfängers und die Sozialisationsfähigkeit in der Gruppe erhöht werden. Weiterhin sollen Anreize für selbstorganisiertes Lernen in konkreten Arbeitssituationen entwickelt und erprobt werden. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung und Anwendung einer Diagnostikfunktion von Bedeutung, um das für den Spieler relevante Level zu ermitteln und für ihn interessante Spielinhalte anzubieten. Auf diesem Weg werden die für den Lernprozess notwendigen motivationalen Aspekte berücksichtigt und im Spiel umgesetzt. Außerdem wird die metakognitive Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 137 Kompetenz des Einzelnen zum Erkennen eigener Lernnotwendigkeiten gefördert. Dies dient dem Erhalt der Handlungs- und Leistungsfähigkeit. Ungeachtet der Tatsache, dass der Fokus auf den persönlichen Fähigkeiten der Transferbeteiligten liegt, dürfen Aspekte der Teilungs- und Aufnahmebereitschaft nicht vollständig unbeachtet bleiben. Diese sollen durch die Erarbeitung eines Organisations- und Führungskonzepts berücksichtigt werden. 4.2 Hybride Lernfabrik Bei diesem innovativen und hochflexiblen Instrument können sich die am Prozess beteiligten Akteure in einer geschützten Lernumgebung sowohl Fach-, Methoden-, Sozial- und Persönlichkeitskompetenzen weiterentwickeln. So werden zum Einen ihre individuellen Fähigkeiten erhöht. Zum Anderen wird die betriebliche Innovationsfähigkeit erhöht.. Ein Bestandteil des Konzepts ist ebenso die Implementierung und Institutionalisierung eines modularen Werkzeugkoffers als Basis für weitere innovative Lösungen und Ideen in den Bereichen Kompetenz-, Personal- und Organisationsentwicklung. Das Konzept fokussiert zwei Verantwortungsträger für die Zusammenstellung von heterogenen Arbeitsgruppen: Führungskräfte und Mitarbeitervertreter. Diesen werden Werkzeuge an die Hand gegeben, um in einem gemeinsam verantworteten Vorgehen zunächst relevante Kernprozesse in der Wertschöpfungskette zu identifizieren. Im Fokus stehen Prozesse, die auf Grund einer hohen Anzahl an Schnittstellen, Ähnlichkeiten untereinander sowie Chancen für den Wissensaustausch ein besonders hohes Innovationspotenzial bieten. In einem nächsten Schritt werden zur Bildung der Arbeitsgruppen die relevanten Teilnehmer für die Prozesse festgelegt und Prozessmodelle erstellt. Diese Prozessmodelle können zur Gestaltung des Instrumentariums sowie zur späteren Evaluation der Entwicklung von quantitativen und qualitativen Prozesskennzahlen und der Wissens- bzw. Kompetenzstände der Mitarbeiter herangezogen werden. Prozessmodellierung und Aufbau der Arbeitsgruppen gehen immer Hand in Hand. Die Rolle der Mitarbeitervertretung als qualifizierter Partner der Führungskräfte sichert dabei die Balance der Arbeitsgruppe und nachhaltig die Sozialverträglichkeit der zu gestaltenden Prozesse. 138 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova Für die zu erstellenden Arbeitsgruppen müssen die Eingangsgrößen in ausreichender Heterogenität und Ausgewogenheit repräsentiert sein. Dies beschränkt sich in einem ersten Schritt auf die unterschiedlichen Statusgruppen (Werker, Meister, Schichtleiter) mit ihren originären Kompetenzen. Durch die Kombination mehrerer heterogener Arbeitsgruppen wird in einem nächsten Schritt mit den nachfolgend dargestellten Methoden ein Interaktions-, Lern- und Innovationsfeld eröffnet, in dem kooperative und partizipative Lösungsansätze angesichts unterschiedlicher Arbeitsroutinen und -abläufe entwickelt werden müssen. Das Qualifizierungskonzept adressiert zwei Ansätze, anzuwenden innerhalb der heterogenen Arbeitsgruppen: 1.) Erprobung von Methoden und Maßnahmenkombinationen, die auf die Identifikation von Kompetenzbedarfen abzielen und darüber hinaus Kompetenzen prozessbegleitend und arbeitsnah entwickeln und die partizipativen Innovationsaktivitäten fördern. 2.) Die Einrichtung einer hybriden Lernfabrik, welche eine Mischung aus realer Trainingsanlage und Computersimulation darstellt. Beide Ansätze existieren losgelöst voneinander und haben in Wissenschaft und Wirtschaft weite Verbreitung gefunden. Als einzigartige Synthese aus beiden Ansätzen bietet der hybride Ansatz sowohl schnelle Rekonfigurierbarkeit als auch das haptische und visuelle Erleben des Prozesses. In einer Lernsequenz werden die Ausgangsprozesse erfasst und visualisiert. Anschließend werden gemeinsam Prozessvarianten eines typischen Bearbeitungsprozesses getestet und diskutiert. Mit der hybriden Lernfabrik werden partizipative und grenzüberschreitende Innovationsleistungen in einer spielerischen und geschützten Umgebung entwickelt und unter den heterogenen Interessenperspektiven ausgehandelt. Jede Lernsequenz sollte dabei fachkundig unter Kompetenzentwicklungsgesichtspunkten begleitet und beobachtet werden. Hieraus wird eine Gapanalyse erstellt, die mit vorhandenen Methoden bedarfsgerecht abgedeckt wird, um die erforderliche Kompetenzfelder modular und prozessspezifisch anzusteuern. Die gewählte Methodensynthese zielt darauf ab, innerhalb einer Wertschöpfungskette im Sinne eines innovationsförderlichen Kompetenztransfers und Kompetenzaufbaus einen grenzübergreifenden geschützten und hoch fehlertoleranten Lernraum mit moderierten Rahmenbedingungen zu eröffnen. Dieser dient der spielerischen Überwindung entscheidender Hemmnisse und Barrieren des Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 139 Kompetenzflusses. Weiterhin werden Workshops zur kreativen und partizipativen Strategiebildung und zum gezielten Aufbau von innovationsförderlichen und grenzüberschreitenden Sozialund Persönlichkeitskompetenzen durchgeführt. Dies wird im Rahmen von Open-Space-Workshops umgesetzt, bei denen sich heterogene Arbeitsgruppen in selbstdefinierten Themenfeldern zusammenfinden. Die Methode eignet sich insbesondere, weil mit ihr auf partizipative Weise neue und innovative Lösungen für offene Fragestellungen im Wertschöpfungsprozess erarbeitet werden können und sie den Raum für hierarchiefreie und interessengeleitete Kooperationen öffnet. Aus der Erprobung der Instrumente und der Begleitung der Arbeitsgruppen wird ein Kompetenzmanagementmodell entwickelt, das die individuelle und die betriebliche Ebene verbindet. Von besonderer Bedeutung sind dabei Bereiche der Kompetenzüberschneidung, die in der Lernsequenz intensiviert oder verschoben werden sollen. Die Beschäftigten können über diese Art des Self-Assessments ihr persönliches Kompetenzprofil berufsbegleitend weiterentwickeln, sich Qualifikationen angrenzender Berufsfelder aneignen oder soziale sowie methodische Kompetenzen erwerben. Auf der betrieblichen und überbetrieblichen Ebene wird die Kompetenzsynthese durch gegenseitigen Erfahrungsaustausch und gemeinsame Innovation am Arbeitsplatz untersucht. In der Prozess- und Wertschöpfungskette werden dadurch Kompetenzlücken geschlossen und Kompetenzpotenziale genutzt. Das Kompetenzmanagementmodell dient weiterhin als Grundlage für die Einrichtung des modularen Werkzeugkoffers, der die erprobten, validierten und transferierbaren Instrumente in Steckbriefform, als eine Kombination aus individuellem und betrieblichem Kompetenzmanagement, zusammenfasst. 5 Zusammenfassung und Ausblick Durch den Trend hin zur automatisierten und selbstgesteuerten Produktion ergeben sich neue Herausforderungen für die Industrie. Neben den bestehenden physischen Komponenten der intelligenten und vernetzten Fabrik sind in Zukunft neue Qualifikationen und Arbeitsformen bei der Maschinenbedienung und Prozesssteuerung notwendig. Digitale Medien liefern dazu einen Beitrag auf unterschiedlichen Ebenen. Der Beitrag adressiert vor diesem Hintergrund die Planung der Personalentwicklung sowie den Einsatz von multimedialen Vermittlungsformen (Digitale Bildungsspiele, Hybride Lernfabrik). Beide Betrachtungsebenen sind 140 Norbert Gronau, André Ullrich, Gergana Vladova notwendig, um Unternehmen bei der Transformation hin zur Industrie 4.0 zu begleiten und Fachkräfte zu sichern und nachhaltig zu entwickeln. Dabei ist insbesondere die Prozessbezogenheit der Weiterbildung zu betonen, welche idealerweise unmittelbar am Arbeitsplatz und im Rahmen des entsprechenden Arbeitsprozesses verortet ist. Derzeit stehen sowohl Unternehmen als auch Ausund Weiterbildungsträger vor der Frage, welche Qualifikationen für die Einführung und den Betrieb neuer computergesteuerter Produktionssysteme notwendig sind. Insbesondere die Aspekte der Entwicklung in Richtung der Industrie 4.0 verlangen ein breiteres Verständnis, das über die rein technische Qualifikation hinausgeht. Unterschiedliche Mitarbeiter aus den Bereichen Arbeitsorganisation, Logistik und Prozessplanung müssen das neue Produktionssystem gemeinsam implementieren und im laufenden Betrieb unterhalten. Technisches- und methodisches Wissen sowie soziale Kompetenzen greifen dabei ineinander. Da sich die oben beschriebenen Veränderungen der Produktionstechnik teilweise rasant vollziehen, müssen unter Berücksichtigung des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels, nicht nur zukünftige Generationen für die Handhabung vorbereitet werden. Auch die bereits bestehende Belegschaft muss entsprechend qualifiziert werden. Die skizzierten zwei Szenarien weisen zwei alternative Formen der Veränderung zu Industrie 4.0-Fabriken auf - im Zuge eines radikalen oder eines inkrementellen Wandels. Parallel dazu wurden die Weiterbildungskonzepte der Digitalen Bildungsspiele sowie der Hybriden Lernfabrik vorgestellt. Auch wenn der Einsatz beider Konzepte für jedes der beschriebenen Szenarien denkbar ist, würde der Aufbau und Nutzung der Hybriden Lernfabrik im Rahmen der radikalen Veränderung mehr Vorteile mit sich bringen, als das Konzept der Serious Games. Das allumfassende Gesamtkonzept, welches durch die Hybride Lernfabrik angeboten wird, ermöglich eine umfangreiche und fokussierte Vorbereitung auf die Veränderungen. Dies entspricht den Gegebenheiten in Szenario 2, in welchem die neuen Industrie 4.0-Abläufe und Strukturen im Mittelpunkt stehen. Im Unterschied dazu eignet sich das Konzept der Serious Games besser für die Begleitung der inkrementellen Veränderung (beschrieben in Szenario 1). Die spielerische Lernumgebung kann als ein Bestandteil der prozessbezogenen Weiterbildung gesehen werden, durch das die Mitarbeiter allmählich und parallel zu ihren aktuellen täglichen Prozessbezogene und visionäre Weiterbildungskonzepte im Kontext Industrie 4.0 141 Aufgaben für die neuen Aufgaben und auf die neuen Prozesse vorbereitet werden. Die selektive Einbettung digitaler Medien in den Lernprozess führt später zur schnelleren Erlernbarkeit von und einem ungezwungenen Umgang mit neuen Technologien. Um die Lücke in der Medienkompetenz zu überbrücken, ist es notwendig, die Eignung bestehender Vermittlungsmethoden zu überprüfen und um neue Methoden zu ergänzen. Der Schwerpunkt liegt hierbei zunächst auf der Selbststeuerung. Bisherige Aus- und Weiterbildungsangebote sind stark an den Vermittelnden gebunden. In einer Klassenraumatmosphäre oder unter Anleitung des Ausbilders werden bestimmte einzelne Tätigkeiten erlernt und vertieft. Darüber hinausgehende Angebote beziehen häufig eLearning Komponenten mit ein. Diese werden dann individuell bearbeitet. Es sind jedoch Konzepte der Erhöhung der Lernmotivation notwendig, um diese Form des selbstgesteuerten Lernens nachhaltig in den Wissenserwerbszyklus zu integrieren. Danksagung Dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmenkonzept „Forschung für die Produktion von morgen“ (Förderkennzeichen: 02PJ4040 ff) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Literatur acatech, 2011.: Cyber-Physical Systems. Innovationsmotor für Mobilität, Gesundheit, Energie und Produktion (acatech POSITION). Springer. Amelingmeyer, J., 2004.: Wissensmanagement: Analyse und Gestaltung der Wissensbasis von Unternehmen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. 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Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] 145 Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 im Rahmen eines Planspielszenarios – Simulation und Evaluation Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens Mit welchen Kompetenzanforderungen unter Industrie 4.0 sind Ingenieure konfrontiert und wie lassen sich die benötigten Kompetenzen im Rahmen eines Simulationsansatzes am Beispiel von integrierten Produkt-ServiceSystemen (IPSS) zeitlich komprimiert entwickeln? Der vorliegende Beitrag erarbeitet zu dieser Fragestellung zunächst eine Übersicht empirischer Befunde zu den sich wandelnden Kompetenzanforderungen im Ingenieurskontext, wonach vor allem die kognitiven Anforderungen in Kombination mit kommunikativen, vermittlerischen Leistungsanforderungen steigen. Zur Herausforderung der Kompetenzentwicklung werden anschließend die theoretische Modellierung einer eigenen IPSS Business Simulation und die Expertengestützte Validierung des Eingangsszenarios vorgestellt. Die Ergebnisse der Validierung unterstützen die inhaltliche Plausibilisierung der Simulation, wonach periodentypische Bewältigungsstufen spezifische Wissens- und Kompetenzanforderungen stellen, die den Anforderungen des realen IPSS Betriebs in hohem Maße ähnlich sind. Außerdem wird konstatiert, dass durch die Simulation im Eingangsstadium vor allem kognitive und emotionale Prozesse zur Komplexitätsbewältigung auslöst werden. Es zeigt sich, dass bereits das Einstiegsszenario weiterführende Prozesse des reflexiven Wissenserwerbs und eines tiefergehenden Verständnisses über intelligente Integrationsmechanismen von Produkt und Service anstößt. Aufbauend auf diesen Ergebnissen lässt sich mit Hilfe des vollständigen Simulationsszenarios zukünftig eine dezidierte Erfassung des IPSS-spezifischen Kompetenzzuwachses vornehmen. Hierdurch wird ein zielgerichteter Einsatz für die komprimierte Kompetenzentwicklung in Richtung Industrie 4.0 in Lehre und Weiterbildung abgesichert. 1 Industrie 4.0 als Untersuchungsfeld für die Kompetenzforschung Mit dem Wandel der Produktionsarbeit im Kontext von Industrie 4.0 gehen Veränderungen der Arbeitsorganisation und des Personaleinsatzes einher 146 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens (Lee 2001; Cummings/Bruni 2009; Lee/Seppelt 2009; Wilkens et al. 2015). Diese betreffen alle operativen und dispositiven Aufgaben- und Funktionsfelder. Die sich abzeichnenden technologisch bedingten Umwälzungen der Produktionsarbeit fordern mehr planende, steuernde und kontrollierende Funktionen, während rein operative Tätigkeiten im direkten Herstellungsprozess abnehmen (vgl. Ernst 2014). Der Anteil kreativ wertschöpfender Tätigkeiten zur Generierung von Produktionsintelligenz wird bei gleichzeitigem Rückgang geringqualifizierter Repetitivarbeiten insgesamt zunehmen (Spath et al. 2013). Es ergeben sich neue Handlungs- und Autonomiespielräume, die zugleich verbunden sind mit hohen Flexibilitäts- und Kreativitätsanforderungen. Angesichts der Systemkomplexität kann davon ausgegangen werden, dass Aufgaben des „trouble shooting“ deutlich an Bedeutung gewinnen (Uhlmann et al. 2013). Zugleich nimmt in operativen Arbeitsbereichen der Technikdeterminismus teilweise auch zu (Wilkens et al. 2014). Ein wesentlicher Treiber für diese Veränderungen ist die Zielsetzung, die Erbringung kundenindividueller Problemlösungen (Individualisierung) mit den Prinzipien der Massenproduktion (Standardisierung, economies of scale) zu vereinen. Kundenindividualisierte Lösungsangebote werden dann für traditionelle Produktionsorganisationen möglich, wenn diese effektiv auf den wachsenden Ermöglichungsspielraum vernetzter Technologien zurückgreifen. Aus einer Organisationsperspektive heißt dies, dass die Logik des Wertschöpfens und Organisieren damit einer weitreichenden Veränderung unterzogen wird. Der Wandel von einer traditionell goodsdominant logic (GD logic) zu einer kundenintegrierenden service-dominant logic (SD logic) (Kowalkowski 2010) beschreibt unter dem Servicebegriff – im deutschsprachigen Raum auch unter dem Begriff der Dienste – einen neuen Anforderungskontext für die Leistungserbringung. Integrierte Produkt-Service-Systeme (IPSS) werden definiert als “an integrated product and service offering that enables co-created value in use in the customers’ process, in a mutually beneficial way” (Kowalkowski 2010 S. 291). Aus der Integration von Produkt-, Service- und Kundenperspektive in einen lebenszyklusorientierten Innovations- und Lernkontext resultiert ein steigender Bedarf an Überblickswissen und sozialen Kompetenzen, der die Herausforderungen der rein produktdominierten Logik bei weitem übersteigt (siehe auch Hirsch-Kreinsen 2014). Die Integration traditionell eher getrennter Funktionsbereiche potenziert den Interaktionsbedarf verschiedener Personengruppen und Funktionsbereiche. Die hohe Veränderungsdynamik verlangt zudem ein ungewöhnlich hohes Maß an Flexibilität und Problemlösungsfähigkeit, wobei erschwerend hinzukommt, dass sys- Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] 147 temimmanent kaum ein klar definierbarer (End-)Zustand beschrieben werden kann (Wilkens et al. 2014). Entsprechend werden wenig geregelte und mehr informelle, kooperative Formen der Arbeitsprozesse in besonderer Weise gefordert werden (Lee/Seppelt 2009; Cummings/Bruni 2009). Aber wie lassen sich die damit einhergehenden Kompetenzen näher beschreiben und welche Ansätze zu ihrer Entwicklung gibt es? Dieser Beitrag fasst dahingehende Forschungsergebnisse zusammen und veranschaulicht darauf aufbauend die Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung im Rahmen eines Planspielszenarios. 2 Kompetenzbedarfe und Kompetenzentwicklung im Kontext von Industrie 4.0 Angesichts der Aktualität der Entwicklung von Industrie 4.0 werden die damit einhergehenden Kompetenzbedarfe in der einschlägigen Literatur bis dato zumeist auf konzeptioneller Ebene hergeleitet. Dabei bezieht sich die Argumentation auf diejenigen charakteristischen Anforderungen, die sich theoretisch aus dem Szenario der integrierten Produkt-, Service- und Kundenperspektiven ableiten lassen. Stärker empirisch orientierte Unterfütterungen dieser Annahmen sind demgegenüber noch im Aufbau begriffen. Eine Zusammenschau der Studien verdeutlicht das zunehmende Bemühen, einen durch Industrie 4.0 veränderten Arbeitskontext hinsichtlich der Anforderungen und Kompetenzen gleichermaßen eindeutig zu definieren. Insofern liegen erste qualitative und quantitative Befunde vor, denen in diesem Beitrag angesichts der zunehmenden Fokussierung auf IPSS besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Literaturanalyse zu Kompetenzen im Feld von Industrie 4.0 mit Schwerpunkt IPSS Autoren Stichprobe / Forschungsfeld Zusammenfassung der Hauptaussagen Argawal/Selen (2009) Befragung von 380 Mitarbeitern eines großen Telekommunikationsunternehmens und dessen Partnerunternehmen Die Kooperation verschiedener Stakeholder trägt zur Entwicklung übergeordneter dynamischer Fähigkeiten in innovativen Serviceorganisationen bei. Hierzu bedarf es „higher-order skill sets“ der Kollaboration, des Lernens und des Managements kreativer Ideen. Diese „higher-order skills“ werden weiter präzisiert als customer engagement, collaborative agility und entrepreneurial alertness. 148 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens Schleidt (2009) Will-Zocholl (2011) Halbstandardisierte Experteninterviews mit 16 Führungskräften aus dem mittleren Management, anschließende online Befragung mit 121 Teilnehmern, ebenfalls aus der Automobilbranche 42 Experteninterviews von Ingenieuren im Bereich der Entwicklung in der Automobilbranche (ein Massenfertiger, ein Premiumhersteller und ein Zulieferer), gestützt und flankiert durch Dokumentenanalyse Wilkens et al. (2013) Daten der HIS-Studie von 2012, Befragung von 474 berufstätigen Absolventen der Ingenieurwissenschaften in Deutschland Ernst (2014) Daten aus Studie von 2012. Onlinebefragung unter deutschen Unternehmen aus Luft- und Raumfahrt, Automobil- und Automobilzulieferindustrie, Mikrosystemtechnik, Maschinenbau und Elektrotechnik. Unterstützung durch 18 Fallstudien, d.h. Experteninterviews (Zink et al. 2013) Kreative Entwicklungstätigkeiten werden verstärkt durch KommunikationsKoordinationstätigkeiten ersetzt. Gleichzeitig nehmen Dokumentationstätigkeiten und Managementtätigkeiten zu. Sozial-kommunikative Fähigkeiten gewinnen gegenüber fachlichen Fähigkeiten zunehmend an Bedeutung. 1. Fähigkeiten, in einem Kontext mit sich ständig verändernden Strukturen und Verantwortlichkeiten umzugehen 2. Fähigkeit der effizienten Kommunikation und Kooperation bei Unterstützung durch moderne IT-Systeme 3. Fähigkeit, die Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen (z.B. bei der Veränderung von Bestandteilen komplexer technischer Systeme) 4. Fähigkeit, mit einem erhöhten Grad an Unsicherheit umzugehen (Will-Zocholl 2011 S. 174f) Die in der Stichprobe vertretenen Ingenieure aus IPSS-nahen Einsatzfeldern berichten über steigende Kompetenzanforderungen im Bereich: methodische Kompetenzen, soziale Kompetenzen, bereichsspezifisches Wissen, Fachkompetenz und Selbstkompetenz. Neben Fachkompetenz schätzen die befragten Ingenieure vor allem systemisches Denken, Selbstreflexionsfähigkeit sowie Kommunikation und Kreativität als immer wichtiger werdende Kompetenzen ein (Ernst 2014 S. 358). Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] Ulaga/Loveland (2014) Interviews von 38 Führungskräften aus dem Vertrieb eines produktionsorientierten Unternehmens im B2B Geschäft nach den Herausforderungen bei der Lösungs- bzw. Serviceorientierung Wilkens et al. (2015) Voigt (2015) Befragung von 172 Ingenieuren in Deutschland Abgrenzung von IPSS zu produkt- und serviceorientierten Arbeitskontexten 149 Erfolgskritische Fähigkeiten von Vertriebsmitarbeitern bei der Entwicklung hin zu einem serviceorientierten Lösungsangebot 1. Tiefgreifendes Verständnis der Geschäftsmodelle der Kunden erlangen 2. Management von Kundenerwartungen (geschickt „nein“ sagen statt immer zu einem „ja“ zu gelangen) 3. Entwicklung starker Netzwerke mit Kunden und Lieferanten Organisationen 4. Immaterielle Werte greifbar und erlebbar machen Ausweis einer IPSS-spezifischen Kompetenzkonfiguration aus drei Kompetenzfacetten (Wilkens et al. 2015 S. 223f.): 1. Kombination & Vermittlung 2. Umgang mit Komplexität 3. Beteiligung an kollektiven Lernprozessen Aus der Übersicht der bestehenden empirischen Befunde ergibt sich, dass Fähigkeiten zum vorausschauenden Denken und kombinatorischen Handeln in Verbindung mit ausgeprägten kommunikativen und koordinativen Fähigkeiten zentral sind, insbesondere wenn man sich die Kompetenzanforderungen im Ingenieurarbeitskontext vergegenwärtigt. Damit steigen die kognitiven Anforderungen in Kombination mit den kommunikativen, vermittlerischen Leistungsanforderungen. Offensichtlich wird aus der Zusammenstellung empirischer Untersuchungsergebnisse auch, dass diese sich vor allem mit der Ingenieurarbeit befassen, wohingegen die „Qualifikationsanforderungen […] auf den Ebenen des Shopfloor Personals, der Steuerungs- und Planungsexperten, des unteren und mittleren Betriebsmanagements sowie des betrieblichen Leitungssystems insgesamt“ (Hirsch-Kreinsen 2014, S. 36) noch weitestgehend unspezifisch bleiben (Spath et al. 2013). Die Literaturanalyse zeigt zudem, dass insbesondere für das Feld der Kompetenzentwicklung kaum spezifische Ergebnisse vorliegen. Entsprechend kann vermutet werden, dass die individuelle Kompetenzentwicklung im Wesentlichen ein Ergebnis von Selektionsmechanismen im Rahmen 150 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens des Personaleinsatzes oder des erfolgreichen Lernens im Prozess der Arbeit ist (Wilkens et al. 2015). Gegenwärtig lassen sich zumindest keine systematischen Überforderungen bei Ingenieuren feststellen, die in Industrie 4.0-nahen Arbeitskontexten tätig sind (Mänz et al. 20013). Die Annahme einer bislang kaum systematisierten Kompetenzentwicklung ist insofern schlüssig, als dass ohne Präzision der Kompetenzbedarfe auch kaum spezifische Entwicklungsmaßnahmen oder Tools definiert sein dürften. Immerhin finden sich Überlegungen zur Kompetenzentwicklung in verteilten Arbeitsprozessen, die verstärkt auf erfahrungsgeleitetes und selbst gesteuertes Lernen hinweisen (Meil/Heidling 2005). Fragt man allgemeiner danach, welche Personalentwicklungsansätze in entsprechenden Arbeitskontexten als wirksam angenommen werden können, so werden besonders Szenarien, Simulationen, Planspiele, Gamification Elemente oder selbstorganisierte Lernmethoden hervorgehoben (Kriz 2000/Blötz 2003; Werbach/Hunter 2012). Ähnlich lässt sich aktuell vor allem aus dem Forschungsfeld der Servitization of Manufacturing (erstmals dazu Vandermerwe/Rada 1988) ein Trend zu Gamification erkennen, wobei Spielteilnehmer die Anforderungen der Produkt-Service-Integration in realitätsnahen und komplexitätsangepassten Szenarien aktiv erleben und bewältigen können (Laine et al. 2012; Petridis et al. 2014; Shi et al. 2013). Diese Ansätze ermöglichen einerseits einen Kompetenzerwerb im Prozess der Arbeit, erlauben andererseits aber Probehandeln, wobei die Konsequenzen bei Fehlhandlungen oder Scheitern über die Szenarioentwicklung erlebbar sind, jedoch nicht real verantwortet werden müssen. Die Herausforderung besteht nun darin, dass die von Teilnehmern individuell benötigten Handlungsmuster zur Bewältigung der vorgegebenen Herausforderungen zumindest in der akademischen Literatur bisher noch wenig spezifiziert wurden (s.o.), während gleichzeitig noch keine Nachweise darüber zu finden sind, inwieweit die Performanzanforderungen der Szenarien denen der realen Arbeitskontexte hinreichend entsprechen. In diesem Feld muss also zunächst wissenschaftliches Neuland erschlossen werden. In den letzten Jahren sind einige Business Games und Simulationen entstanden, die sich auf den Kontext intelligenter Produkte und Dienstleistungen beziehen; darunter beispielsweise eine Gamestorming Simulation mit Fokus auf das Design und die Entwicklung von IPSS Lösungen (Köster/Sadek 2013) oder das Serious Game namens „iServe“, welches den Transformationsprozess weg von traditionellen produktorientierter Geschäftsmodellen hin zu serviceorientierten Geschäftsmodellen adressiert Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] 151 (Petridis et al. 2014). Neben weiteren Ansätzen wird bereits seit mehreren Jahren das Boardgame „EDIPS“ im Kontext von IPSS eingesetzt, um Nutzer mit der Philosophie integrierter Produkt-Service Lösungen vertraut zu machen und deren Potenzial zu verdeutlichen (Nemoto et al. 2014). Nachfolgend wird eine Business Simulation zur Entwicklung von IPSSspezifischen Kompetenzen für die Produkt-Service Integration vorgestellt (Süße/Wilkens 2014). Diese Business Simulation nimmt Bezug auf die Kompetenzdimensionen von Wilkens et al. (2015). Bei dem Evaluationsmodell wird eine Expertensicht auf die Kompetenzentwicklungsmöglichkeiten entlang von Niveaustufen eruiert, um darauf aufbauend von einer Demonstratorversion zu einem erprobten Tool zu gelangen. 3 Modell einer IPSS-spezifischen Business Simulation Im Rahmen des SFB TR29 wurde eine IPSS-spezifische Business Simulation entwickelt (Süße/Wilkens 2014; Süße/Wilkens 2015). Die Simulation kann für sehr heterogene Zielgruppen in unterschiedlichsten Seminar- und Lehr-/Lernkontexten herangezogen werden. Sie kann sowohl mit Experten aus diesem Feld eingesetzt werden als auch im Sinne einer Grundlagenveranstaltung, um z.B. die „IPSS-Idee“ gegenüber unterschiedlichen Zielgruppen zu verdeutlichen. Bislang wurde die Simulation mit Studierenden der Ingenieurswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum in 2014 pilotiert und getestet. Ergänzend wurde sie auf fachbezogenen Konferenzen mit Experten eingesetzt (z.B. CIRP 2015, AFSMI 2015), um Diskussionen und einen Dialog zur Kompetenzentwicklung unter Industrie 4.0 anzuregen oder neue Forschungsfelder und Forschungsfragen zum Thema IPSS abzuleiten. Die IPSS-Business Simulation fokussiert vor allem auf die Dynamiken der Integrationsanforderungen von Produkt und Services zur Erbringung hochindividualisierte Lösungen für Geschäftskunden. Die Teilnehmer der Business Simulation befinden sich in der Rolle eines IPSS-Management Teams. Ihre Verantwortung erstreckt sich über eine Produkt- und eine Serviceeinheit, um kundenindividuelle IPSS-Angebote profitabel und gleichzeitig mit einem möglichst hohen Kundennutzen anzubieten. Das Bewertungs- und Steuerungssystem der Simulation basiert dabei auf dem durch Abramovici (2013) vorgestellten Key Performance IndiciatorFramework für IPSS. Angelehnt an das Konzept betriebswirtschaftlicher Planspiele erfolgt die Teilnahme an der Business Simulation in mehreren Perioden, wobei nach jeder Periode bzw. Spielrunde ein ausführliches Feedback in Bezug auf die Auswirkungen der getroffenen Entscheidungen 152 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens in der Business Simulation zur Verfügung steht. Durch dieses Setting soll es den Teilnehmern an der Business Simulation ermöglicht werden, komplexe Strukturen und Prozesse studieren, reflektieren und selbst entwickeln zu können (vgl. Kriz 1988 S. 200). Der dramaturgische Ausgangspunkt der IPSS-Business Simulation ist dadurch spezifiziert, dass das in der virtuellen Umgebung simulierte Unternehmen bereits ein IPSS-orientiertes Angebot etabliert hat. Um jedoch die steigenden Integrationsanforderungen des simulierten Organisationskontexts während des Simulationsverlaufs erfolgreich zu bewältigen, müssen die Teilnehmer der Simulation eigene Prozesse, Strukturen und Handlungsmuster etablieren und im Rahmen der virtuellen Organisation institutionalisieren. Folglich wird über die Business Simulation der Verlauf eines Organisationsentwicklungsprozesses hin zu einem IPSS modellhaft dargestellt. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios wurde das 4I-Modell als ebenübergreifendes Framework des organisationalen Lernens (Crossan et al. 1999) herangezogen und auf die Integrationsanforderungen von Produkt und Service in IPSS angewendet. Hieraus wurde durch Süße und Wilkens (2014) ein spezifischer ebenübergreifender Szenarioverlauf für die IPSSBusiness Simulation entwickelt (vgl. Abbildung 1). In Anlehnung an das 4IModell fokussiert die Business Simulation zu Beginn auf die individuelle Ebene der einzelnen Akteure. Der Kontext der virtuellen Organisation, die Gruppenzuteilung zu Produkt oder Service, sowie die Steuerungsmöglichkeiten im Rahmen der Business Simulation müssen zunächst von allen Teilnehmern verstanden und interpretiert werden. Über den weiteren Verlauf der Simulation wird ein zunehmender Austausch und eine zunehmende Interaktion sowie Kooperation und Kommunikation induziert. Auslöser hierfür sind beispielsweise der in der Simulation vorgesehene steigende Grad an Informationsasymmetrie zwischen den beiden Gruppen Produkt und Service oder die auftretenden Zielkonflikte, die sich unter anderem aus der notwendigen Balancierung bereichsspezifischer Kennzahlen ergeben. Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] 153 Abbildung 1: Verlauf der IPSS-Business Simulation auf Basis des 4I-Modells des organisationalen Lernens (Süße/Wilkens 2014; Crossan et al. 1999) Ziel der IPSS-Business Simulation ist es, dass sich bei den Teilnehmern über einen kommunikativen und kollaborativen Feedbackprozess eigens generierte Strukturen, Prozesse und Handlungsmuster herausbilden, die den hohen Integrationsanforderungen der Business Simulation gerecht werden. Hierdurch sollen gleichzeitig Reflexionsprozesse für die Integration von Produkt und Service in realen IPSS-orientierten Organisationskontexten ausgelöst und die in der Simulation etablierten Handlungsmuster auf diese Kontexte transferierbar gemacht werden. Diese Handlungsmuster stellen auf die IPSS-Kompetenzkonfiguration, spezifiziert durch die drei Facetten „Kombination und Vermittlung“, „Umgang mit Komplexität“ sowie „Beteiligung an kollektiven Lernprozessen“ ab (Voigt 2015; Wilkens et al. 2015). 154 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens Tabelle 2: Entwicklungsmöglichkeit der individuellen Kompetenzfacetten entlang des organisationalen Lernprozesses der IPSS-Business Simulation IPSS-spezifische Kompetenzanforderungen Prozess Intuiting Integrating Institutionalizing Organisation Gruppe Interpreting Individuum Ebene Inputs Outputs Erfahrungen Bilder Metaphern Sprache Kognitive Landkarten Konversation / Dialog Geteiltes Verständnis / Gegenseitige Anpassung Interaktives System Routinen Diagnosesysteme Regularien, Prozesse, Strukturen Bewältigungsstufen der Simulation Umgang mit Komplexität Kombination und Vermittlung Beteiligung an kollektiven Lernprozessen Verstehen der Charakteristika von Produkt und Service eher mittel eher gering eher gering Interpretieren der virtuellen Organisation vor dem Hintergrund von Produkt und Service Paradigma eher hoch eher mittel eher gering Verstehen & Reflektieren von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Produkt und Service zur Identifizierung der Integrationsherausforderungen hoch eher hoch eher mittel Entwicklung von Strukturen, Prozessen und Handlungen zur Integration von Produkt und Service sehr hoch Hoch eher hoch Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] 155 Durch die Teilnahme an der Business Simulation werden die erfolgskritischen Handlungsmuster beobachtbar. Sie können dabei durch den in Abbildung 1 dargestellten organisationalen Lernprozess begleitet werden. Dementsprechend steigen mit höheren Anforderungen in der Simulation auch die Kompetenzanforderungen über die einzelnen Runden bzw. Perioden. Das didaktische Konzept und der dramaturgische Verlauf von Interventionen aus der Simulation (z.B. Change Requests des Kunden, die Zielkonflikte zwischen Produktion und Service auslösen) sind so angelegt, dass zu Beginn zunächst nur auf individueller Ebene Handlungen der Komplexitätsbewältigung abgerufen werden. Im weiteren zeitlichen Verlauf werden später zusätzliche Handlungen auf kollektiver Ebene mit Bezug auf die Kombination und Vermittlung (z.B. von Wissen) und die Beteiligung an kollektiven Lernprozessen (z.B. zu Institutionalisierung neuer Strukturen und Prozesse der Kooperation) provoziert. In Anlehnung an das 4IModell ist der Verlauf der Adressierung der IPSS-spezifischen Kompetenzfacetten in Tabelle 2 dargestellt (vgl. auch Süße/Wilkens, 2014). In didaktischer Hinsicht stehen hinter diesem Szenario unterschiedliche Bewältigungsstufen. Für Simulationsteilnehmer geht es im ersten Schritt darum, die Charakteristika von Produkt und Services zu verstehen und in den Kontext von IPSS zu stellen. Auf der zweiten Stufe stehen Interpretationsleistungen im Zentrum und auf der dritten Stufe Reflexionsleistungen hinsichtlich der Veränderung. Auf der vierten Stufe geht es schließlich um die Entwicklung IPSS-spezifischer Handlungsstrategien. Dabei gilt es die kognitiven und die sozialen Fähigkeiten zur Entwicklung neuer Handlungsmuster einzusetzen. 4 Ergebnisse einer Expertenbefragung zur Kompetenzentwicklung im IPSS Business Simulationsszenario In der Simulation bilden vier aufeinander aufbauende Spielrunden die Bewältigungsstufen und Kompetenzanforderungen entsprechend der Sequenzierung des organisationalen Lernprozesses nach den Stufen des 4I Modells ab (vgl. Tabelle 2). Mit Blick auf eine didaktisch fundierte Kompetenzentwicklung liegt ein übergreifender Fragekatalog zum Kompetenzerwerb durch die Teilnahme an der Simulation vor. Dieser Fragenkatalog umfasst acht Indikatoren, die in Tabelle 3 dargestellt sind. 156 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens Tabelle 3: Indikatoren des Kompetenzerwerbs der IPSS-Business Simulation Indikatoren des Kompetenzerwerbs 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Intuitives Erkennen der komplexen Voraussetzungen für den erfolgreichen Betrieb von IPSS Aktives Verfolgen der Dynamiken im Betrieb eines IPSS Wiederholtes Erproben kollaborativer Ansätze zur Strukturierung und Lösung komplexer Aufgaben Aktiver Einsatz effektiver Kommunikation zum Informationsaustausch in Gruppen Verstehen des IPSS Business Models und der Erfolgstreiber in Abgrenzung zu reiner Produkt-, oder Serviceorientierung Verstehen der Bedeutung von reflexiven Lernprozessen für den IPSS Betrieb Erleben von erfolgreicher Kontrolle über die IPSS Erbringung durch institutionalisierte Integration und Kundenorientierung Etablierung des Austauschs reflexiver Wissensinhalte innerhalb von Teams und über Teamgrenzen hinweg Am 20. Mai 2015 konnten im Rahmen des Game Day der 7th CIRP IPSS Conference in St. Étienne (Frankreich) erstmals internationale IPSSExperten aus Wissenschaft und Praxis dafür gewonnen werden, in einer Demonstrationsveranstaltung die Business Simulation als Teilnehmer zu testen. In diesem Rahmen wurden zunächst der durch das Szenario der Simulation generierte Kontext und seine Dynamiken durch zehn Experten reflektiert. Hierzu wurden die Experten mit Hilfe einer Paper-Pencil Befragung gebeten, im Anschluss an die 90-minütige Simulationsdemonstration ihre unmittelbaren Spielerfahrungen aus den ersten beiden Runden der Simulation zu dokumentieren. Dabei galt es anhand der Evaluationsfragen eine Rangordnung der in Tabelle 3 dargestellten Indikatoren des Kompetenzerwerbs vorzunehmen. Im Ergebnis der Evaluation lässt sich ableiten, dass das Einstiegsszenario (die ersten beiden Runden) der Business Simulation aus Sicht der Experten insbesondere dafür geeignet ist, in vergleichsweise kurzer Zeit die Dynamiken eines IPSS-orientierten Kontexts mit Fokus auf die Produkt-Service Integration zu transportieren. Die Ergebnisse der Expertenbefragung bestätigen dabei, dass auf der individuellen Ebene hierzu vor allem ein Verständnis für die Komplexität und Dynamik von IPSS gefordert wird. Auf diese Weise werden durch die Simulation kognitive und emotionale Bewältigungsprozesse ausgelöst. Aus der Spielerfahrung geben die benannten Experten weiterhin an, dass das Einstiegsszenario gezielt kollaborative Problemlöseprozesse auslöst. In Tabelle 4 sind die Ergebnisse der Expertenmeinungen in Ranglisten Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] 157 zusammengefasst. Es wird auch deutlich, dass das Einstiegsszenario bereits Prozesse des reflexiven Wissenserwerbs und eines tiefergehenden Verständnisses über Integrationsmechanismen von Produkt und Service anstößt. Tabelle 4: Evaluationsergebnisse der Experteneinschätzung des Einstiegsszenarios Indikatoren des Kompetenzerwerbs oberhalb Median Prozent unterhalb Median Anzahl Prozent Anzahl Aktives Verfolgen der Dynamiken im Betrieb eines IPSS 80% 8 20% 2 Intuitives Erkennen der komplexen Voraussetzungen für den erfolgreichen Betrieb von IPSS 70% 7 30% 3 Wiederholtes Erproben kollaborativer Ansätze zur Strukturierung und Lösung komplexer Aufgaben 70% 7 30% 3 Aktiver Einsatz effektiver Kommunikation zum Informationsaustausch in Gruppen 60% 6 40% 4 Verstehen des IPSS Business Models und der Erfolgstreiber in Abgrenzung zu reiner Produkt-, oder Serviceorientierung 50% 5 50% 5 Etablierung des Austauschs reflexiver Wissensinhalte innerhalb von Teams und über Teamgrenzen hinweg 40% 4 60% 6 Erkennen der Bedeutung von reflexiven Lernprozessen für den IPSS Betrieb 30% 3 70% 7 Erleben von erfolgreicher Kontrolle über die IPSS Erbringung durch institutionalisierte Integration und Kundenorientierung 20% 2 80% 8 158 Bernd-Friedrich Voigt, Thomas Süße, Uta Wilkens Das Szenario der hier adressierten Business Simulation als Tool der Kompetenzentwicklung basiert auf einem stufenweisen didaktischen Prozess, bei dem zunächst kognitive Grundlagen für das Phänomen intelligenter Produkte und Service sowie die Identifikation mit diesem Kontext unter den Teilnehmenden etabliert werden sollen. Die Ergebnisse der Expertenbefragungen hierzu stützen die Annahme, dass die Simulation diesem Prozess beim Einstieg in das Szenario folgt. Dass beim Durchleben von zwei Spielrunden noch keine auf die Institutionalisierung von IPSS gerichteten Kontrollstrategien entwickelt werden und darauf gerichtete Reflexionsprozesse noch nicht an Intensität gewonnen haben, überrascht nicht. Die weiteren Spielrunden der Simulation sind darauf ausgelegt, eben diese Entwicklungsprozesse auszulösen. Um das dahingehende, bereits von Experten konstatierte, Potenzial der Simulation zu evaluieren, sind weitere und längere Testphasen erforderlich. 5 Zusammenfassung und Ausblick Zum Aspekt der Kompetenzentwicklung im Kontext von IPSS finden sich in der Literatur und Praxis erste Entwürfe aus dem Bereich von Planspielen und Business Simulationen (z.B. iServe, EDIPS, Gamestorming). Mit der hier vorgestellten Business Simulation wird diese Entwicklung fortgesetzt. Die didaktischen Möglichkeiten einer Differenzierung von Bewältigungsstufen auf theoretischer Basis des 4I Modells mit dem Ziel der Gestaltung von Szenarien einzelner, aufeinander aufbauender Spielperioden konnten mit den vorliegenden Evaluationsergebnissen in ersten Ansätzen demonstriert werden. Danach eignet sich das Szenario, um IPSSspezifische Kompetenzen auszubauen. Die Ergebnisse unterstützen die inhaltliche Plausibilisierung der Cover-Story und das Simulationsszenarios, wonach die Bewältigungsstufen im Rahmen der Simulation spezifische Wissens- und Kompetenzanforderungen stellen, die den Anforderungen des realen IPSS Betriebs in hohem Maße ähnlich sind. Aufbauend auf diesen Ergebnissen lässt sich zukünftig eine dezidierte Erfassung des Kompetenzzuwachses im Simulationsverlauf durch Eingangs- und Ausgangsbefragung vornehmen. Hierdurch wird ein zielgerichteter Einsatz für die IPSS-spezifische Kompetenzentwicklung in Lehre und Weiterbildung abgesichert. Indem die hier vorgestellte Simulation die Entwicklung wichtiger Kompetenzkonfigurationen ähnlich wie beim Lernen im Prozess der Arbeit erlaubt, nur unter risikoarmen Voraussetzungen, erwächst für Unternehmen und Mitarbeiter, die sich in einer Transformation in Richtung Industrie 4.0 und integrierten Produkt-Service-Systemen be- Entwicklung von Kompetenzen für Industrie 4.0 […] 159 finden, ein wichtiger Vorteil: Man muss sich zukünftig nicht mehr nur auf einen natürlichen Selektionsmechanismus bei der Frage verlassen, mit welchen Mitarbeitern man die zukünftigen Herausforderungen erfolgreich bewältigen möchte, sondern kann die Bewältigung gestiegener Kompetenzanforderungen mit Hilfe geeigneter Kompetenzentwicklungstools systematisch und proaktiv unterstützen. Literatur Abramovici, M.; Jin, F.; Dang, H.B., 2013.: An indicator framework for monitoring IPS² in the use phase. In: Proceedings of the 5th International Conference on Industrial Product-Service Systems (IPS²), 14.-15. 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Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 163 Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehrund Lernkonzepte der Zukunft Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari Megatrends wie die Globalisierung, der demografische Wandel oder die Digitalisierung beeinflussen die verschiedensten Bereiche in Unternehmen und stellen diese vor immer neue Herausforderungen. Die Mitarbeiter im Unternehmen werden durch diese Trends ebenfalls beeinflusst. Ihre Fähigkeit, flexibel auf unvorhergesehene technologische und organisatorische Änderungen zu reagieren, lässt sie zu einem zentralen Erfolgsfaktor werden. Um auch zukünftig als Wandlungsbefähiger im Unternehmen aktiv werden zu können, müssen die Mitarbeiter für die Ausführung dieser Rolle qualifiziert werden. Die für die betriebliche Weiterbildung existierenden Lehr- und Lernkonzepte berücksichtigen jedoch häufig nicht die neuen Anforderungen, die sich aus den bestehenden Megatrends ableiten. Der vorliegende Beitrag zeigt die sich aus den Megatrends ableitenden Herausforderungen für die Entwicklung zukünftiger Lehr- und Lernkonzepte auf und stellt ein beispielhaftes Konzept für einen ganzheitlichen Lernansatz vor. 1 Einleitung Ständige Veränderungen der Arbeitswelt, insbesondere in den Bereichen der Technologie und Organisation erfordern ein verstärktes Maß an Flexibilität von Unternehmen. Megatrends wie die Globalisierung, die Mobilität, die Ressourceneffizienz oder auch die Digitalisierung stellen Unternehmen immer wieder vor neue Herausforderungen (Spath et al. 2013). Wie Abbildung 1 zu entnehmen ist, sind bei der Analyse der Auswirkungen von Megatrends auf Unternehmen nicht nur die Gestaltungsfelder Technologie und Organisation eines Unternehmens zu berücksichtigen. Insbesondere der Erfolgsfaktor Mensch bzw. Mitarbeiter als Teil eines jeden Unternehmens spielt hierbei aufgrund seiner Fähigkeit, flexibel auf unvorhergesehene technologische und organisatorische Änderungen zu reagieren, eine herausragende Rolle, denn auch er wird durch Megatrends beeinflusst. Den Mitarbeiter zu einem Wandlungsbefähiger zu machen, rückt daher immer mehr in den Betrachtungsmittelpunkt der Unternehmen. Er muss für die Ausführung dieser Rolle qualifiziert werden (Nyhuis et al. 2013). Aus 164 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari diesem Grund fokussiert der vorliegende Beitrag die Bedeutung von betrieblichen Lehr- und Lernkonzepten zur Qualifikation von Mitarbeitern vor dem Hintergrund antizipierter Megatrends. Der Mitarbeiter soll dazu befähigt werden, die durch Veränderungen immer wieder neu entstehenden Aufgaben effizient zu lösen. Da zur Lösung dieser durch die Megatrends hervorgerufenen, sich kontinuierlich ändernden neuen Aufgaben die Qualifikation über die Erstausbildung oftmals nicht ausreicht, soll mithilfe neuer Lehr- und Lernkonzepte ein lebenslanger Lernprozess initiiert werden (Henkel/Schwarz 2003). Dass die Qualifizierung für Unternehmen und insbesondere für die Mitarbeiter von großer Bedeutung ist, wird unter anderem durch die Vielfalt der auf dem Markt bestehenden Weiterbildungsangebote, die auf dem Angebot und Nachfrage-Prinzip beruhen, deutlich. Hierbei liegt nicht nur thematisch ein großes Portfolio an unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten vor, die in den Weiterbildungen vermittelt werden. Auch methodisch weisen diese Weiterbildungen eine große Bandbreite an genutzten Lehr- und Lernkonzepten für die Mitarbeiterqualifizierung auf (BA 2015). So existieren neben Weiterbildungen, die sich auf die Erweiterung von Fachkompetenzen wie dem Umgang mit Tabellenkalkulationsprogrammen oder MRP-Systemen fokussieren, auch eine Vielzahl an Weiterbildungen, die die Erhöhung sozialer Kompetenzen wie der Teamoder der Konfliktfähigkeit zum Ziel haben. Diese Inhalte können beispielsweise durch Seminare, Schulungen oder Lehrvideos vermittelt werden. Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 165 Arbeitswelt Klimawandel Ressourceneffizienz Trends Mobilität Unternehmen Globalisierung Digitalisierung Demografischer Wandel Mensch Technik Einfluss Trends Organisation Gestaltungsfelder Fokus des Beitrags Abbildung 1: Einflüsse von Trends auf die Gestaltungsfelder eines Unternehmens Die für die betriebliche Weiterbildung existierenden Lehr- und Lernkonzepte berücksichtigen jedoch häufig nicht die neuen Anforderungen, die sich aus den bestehenden Megatrends ableiten. Daher müssen neue Lehr- und Lernkonzepte entwickelt werden, die den sich aus den Trends ableitenden wechselnden Anforderungen und Rahmenbedingungen sowie den Bedürfnissen verschiedener Zielgruppen in den Unternehmen gerecht werden. 2 Megatrends und ihre Auswirkungen auf Lehren und Lernen Bei der Analyse der Auswirkungen von Megatrends auf zukünftige betriebliche Lehr- und Lernkonzepte werden in diesem Beitrag Megatrends betrachtet, die aus Sicht der Autoren einen besonderen Einfluss auf den Mitarbeiter im Unternehmen aufweisen. Zunächst erfolgt eine kurze Definition von Megatrends, bevor auf die wichtigsten Eigenschaften und Folgen des jeweiligen Trends eingegangen wird. Aufbauend auf den definierten Folgen werden abschließend Anforderungen für zukünftige betriebliche Lehr- und Lernkonzepte herausgearbeitet. 166 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari 2.1 Megatrends Megatrends sind Trends, die global und langfristig wirken (Schröder et al. 2011). Sie ziehen nachhaltige gesellschaftliche, ökonomische und technologische Veränderungen nach sich und haben dadurch einen prägenden Einfluss auf die Zukunft (Fontius 2013). Nach Schröder et al. (2015) beträgt die Halbwertszeit eines Megatrends ca. 50 Jahre. In der Literatur und in den Medien wird eine Vielzahl von Megatrends thematisiert (Fontius 2013). Neu aufkommende Trends sind in ihren Auswirkungen und in ihrer Dauer noch nicht einzuschätzen und werden daher nicht überall als Megatrends geführt. Die Differenzierung zwischen „einfachen“ Trends und Megatrends unterscheidet sich daher von Autor zu Autor (Fontius 2013), (Schröder et al 2015). Die Definition von Megatrends wird in der Forschungslandschaft oftmals kritisch hinterfragt (Fontius 2013). Zweifelsfrei existieren aber unstrittige globale Entwicklungen. Ob diese tatsächlich in die Kategorie der Megatrends oder der „einfachen“ Trends gehören, spielt vor dem Hintergrund dieses Beitrages eine eher untergeordnete Rolle. Im Folgenden wird daher der Begriff Trend genutzt, der sämtliche globale Entwicklungen umfasst. Zu den hier betrachteten Trends gehören in erster Linie die Globalisierung, die Digitalisierung und der demografische Wandel, deren wichtigste Eigenschaften und Folgen nachfolgend skizziert werden. 2.2 Globale Trends und ihre Folgen Der Trend der Globalisierung beschreibt die zunehmende Verflechtung unterschiedlicher Lebensbereiche von Volkswirtschaften auf der ganzen Welt. Durch diese Verflechtungen entstehen Abhängigkeiten zwischen einzelnen Staaten, aber auch neue Freiräume für diese. Unternehmen gewinnen beispielsweise neue Absatzmärkte, da der Zugang zu Kunden auf der ganzen Welt vereinfacht wird (Abele 2011). Aufgrund der Globalisierung sehen sich Unternehmen einer wachsenden Anzahl von Wettbewerbern gegenüber. Produkte und Technologien sind allerorts zugänglich, können leicht kopiert werden und stellen längst keine Garantie mehr für eine längerfristige Wettbewerbsfähigkeit dar (Grigori 2014). Die kürzeren Entwicklungszyklen lassen Technologien immer schnelllebiger werden. Eine ständige Anpassung an diese Entwicklung impliziert für Unternehmen einen großen finanziellen Aufwand, der nicht immer in ausreichend guter Relation zum Nutzen steht. Daher ist es oft- Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 167 mals nicht zielführend für Unternehmen, beständig in neue Technologien zu investieren. Zentral für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit ist zudem die Fähigkeit von Unternehmen, flexibel und schnell auf die sich ständig wechselnden Rahmenbedingungen, insbesondere vor dem Hintergrund eines sich verstärkenden Wettbewerbs- und damit einhergehenden Innovationsdrucks, zu reagieren. Dies zieht eine Anpassung der bestehenden Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen nach sich (Priddat 2010). In diesem Zusammenhang wird der Mitarbeiter zunehmend wichtiger und zum Erfolgsfaktor eines Unternehmens. Mit seinem Wissen, Wollen und Können trägt er nicht nur aktiv zu den notwendigen Wandlungsprozessen im Unternehmen bei, er initiiert diese sogar und ist maßgeblicher Treiber von Produktinnovationen (WEF 2015), (Papmehl/Tümmers 2013). Neben der Globalisierung hat auch die Digitalisierung großen Einfluss auf den Mitarbeiter im Unternehmen. Im engeren Sinne umfasst Digitalisierung die Überführung analoger Informationen in eine digitale Form (Fontius 2013). Im weiteren Sinne kann Digitalisierung in diesem Beitrag als Teil der Entwicklung „Durchdringung mit neuen Technologien“ verstanden werden. Beispielsweise ziehen mechatronische Systeme in den unternehmerischen Alltag ein und werden dort für die Gestaltung und Unterstützung von Produktionsprozessen herangezogen. Dadurch werden unter anderem manuelle Tätigkeiten reduziert und Prozessschritte automatisiert (Spath et al. 2013). In Deutschland wird im Zusammenhang mit der Digitalisierung häufig der Begriff Industrie 4.0 verwendet. Durch die Einführung cyber-physischer Systeme wird eine Veränderungswelle in Unternehmen initiiert. Diese cyber-physischen Systeme umfassen eine Vernetzung realer und digitaler Komponenten unterschiedlicher Systeme. Dadurch wird eine Kommunikation zwischen diesen verschiedenen Systemen möglich. Produkte und Prozesse können sich somit zukünftig eigenständig steuern (Spath et al. 2013). Der demografische Wandel beschreibt die Veränderung der grundlegenden Altersstruktur einer Gesellschaft (Abele 2011). Dieser Wandel wird in Deutschland durch zwei unterschiedliche Faktoren bedingt. Einerseits gehen die Geburtenraten zurück, was zu einer Abnahme der Bevölkerungszahlen führt. Anderseits steigt die Lebenserwartung unter anderem durch eine bessere medizinische Versorgung, wodurch die Bevölkerung durchschnittlich altert (Abele 2011). Diese beiden Faktoren führen auch in den Unternehmen zu einer Änderung der Altersstruktur. Einerseits altert die Belegschaft. Die zurückgehenden Geburtenraten haben einen Einfluss 168 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari auf die Anzahl gut ausgebildeter Fachkräfte am Arbeitsmarkt. Diese werden zukünftig in den Unternehmen fehlen (Abele 2011). Durch den mangelnden Nachwuchs droht zudem ein Wissensverlust in den Unternehmen, da ausscheidende Mitarbeiter oftmals nicht ersetzt und deren Erfahrungswissen nur schwer konserviert werden kann. Der entstehende Fachkräftemangel wird zukünftig noch stärker ins Gewicht fallen, wenn die durch die Globalisierung und Digitalisierung hervorgerufenen Veränderungen der Arbeitsinhalte relevant werden. Neue Technologien werden in den Unternehmen eingeführt, für deren Handhabung qualifizierte Mitarbeiter benötigt werden. In Kombination mit den zurückgehenden Geburtenraten führt dies dazu, dass teilweise schon heute freie Arbeitsplätze nicht mehr mit dafür ausreichend qualifizierten Arbeitskräften besetzt werden (Deller 2008). Verschärft wird diese Folge nach Opaschewski (2013) in Deutschland zusätzlich durch den Mangel an gut ausgebildeten Zuwanderern. Diese wandern eher nach Nordamerika oder Australien aus. Unternehmen müssen daher schon heute in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren, um diesen Fachkräftemangel abzufangen und Lücken der Erstausbildung zu schließen. Dies geht einher mit einer Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter. Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung sowie Digitalisierung und der damit verbundenen zunehmenden Bedeutung des Mitarbeiters für Unternehmen können es sich diese nicht leisten, auf das Wissen und die Erfahrung insbesondere älterer Arbeitnehmer zu verzichten (WEF 2015). • • • • Fachkräftemangel Alternde Belegschaft Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter rückt in den Vordergrund etc. Globalisierung • • • • Hoher Wettbewerbsdruck Hoher Innovationsdruck Schnelllebige Technologien etc. Digitalisierung • • • • Digitalisierung von Wissen Automatisierung Industrie 4.0 etc. Demografischer Wandel Abbildung 2: Megatrends und ihre Folgen Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 169 Die Herausforderung, die damit einhergeht, umfasst einerseits die gezielte Nutzung des vorhandenen Wissens und andererseits die Befähigung älterer Mitarbeiter zur Entwicklung von Innovationen sowie zur Gestaltung von und Teilnahme an Wandlungsprozessen in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt (Deller 2008). Die aus den Megatrends entstehenden Folgen sind in Abbildung 2 auszugsweise zusammengefasst. 2.3 Wechselwirkungen zwischen Trends und ihre Folgen für Lehren und Lernen Wie diese kurze Darstellung globaler Trends zeigt, können diese nicht immer klar gegeneinander abgegrenzt werden. Oftmals beeinflussen diese sich gegenseitig. Eine isolierte Betrachtung einzelner Trends und deren Auswirkungen ist daher nicht sinnvoll (Rump 2011). Ein Beispiel für die gegenseitige Abhängigkeit stellt die enge Verknüpfung der Trends Globalisierung und Digitalisierung dar. Die Globalisierung wird durch die Digitalisierung vorangetrieben und beschleunigt, da die Digitalisierung von Wissen und die Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien den Austausch von Wissen und Produkten im Arbeitsumfeld vereinfacht. Bei der Gestaltung von betrieblichen Lehr- und Lernprozessen muss in diesem Kontext berücksichtigt werden, dass die verschiedenen Generationen mit unterschiedlichen Medien und Technologien aufgewachsen sind, die sie für ihre Lernprozesse nutzen (de Witt/Czerwionoka 2013). Darüber hinaus lernen diese Generationen auch unterschiedlich schnell, was bei der Konzeption neuer Lehr- und Lernkonzepte berücksichtigt werden muss (Abele 2011). Das zu vermittelnde Wissen muss dementsprechend so aufbereitet und in das Lehr- und Lernkonzept eingebettet sein, dass auch die Bedürfnisse dieser Zielgruppe berücksichtigt werden. Darüber hinaus zieht die Digitalisierung technologische Veränderungen nach sich, die direkten Einfluss auf die Arbeitswelt haben und tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitsorganisation hervorrufen (Papmehl/ Tümmers 2013). Insbesondere ändern sich durch die Digitalisierung Organisationsstrukturen und die Rolle des Mitarbeiters in den Unternehmen. Die Reduzierung manueller Tätigkeiten durch Automatisierung führt dazu, dass sich zukünftige Arbeitsinhalte nicht nur auf die Ausführung einfacher Tätigkeiten beschränken, sondern dass die Mitarbeiter Aufgaben erhalten, für die sie die Wirkungen ihres Handels bewerten und diese im Entscheidungsprozess berücksichtigen müssen. Der Mitarbeiter muss somit nicht nur dazu befähigt werden, neue Technologien zu bedienen, sondern vielmehr lernen, Prozesszusammenhänge zu verstehen und zukünftige Aus- 170 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari wirkungen seiner Entscheidungen zu antizipieren (Spath et al. 2013). Er wird mehr und mehr zum Entscheider und somit unter anderem zum Initiator von Wandlungsprozessen. Diese Auswirkungen der Digitalisierung sind weitaus umfassender als die reine Einführung neuer Technologien und die Digitalisierung von Wissen. Der Mitarbeiter im Unternehmen erhält eine vollkommen neue Rolle, die bisher noch nicht endgültig skizziert werden kann (Spath et al. 2013). Hierfür werden qualifizierte Mitarbeiter benötigt, die durch den Fachkräftemangel nicht in ausreichendem Umfang auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sind die heutigen Ausbildungen eher funktional orientiert. Es steht die Vermittlung des spezifischen Fachwissens im Fokus (Schelten 2010). Dies verstärkt den Mangel an qualifizierten Fachkräften. Unternehmen müssen daher ihre Mitarbeiter dabei unterstützen, selbstständig zu lernen und sich neue Sachverhalte eigenständig zu erschließen, um mit den zukünftigen, bisher noch nicht bekannten Herausforderungen umgehen zu können. An dieser Stelle müssen betriebliche Lehr- und Lernkonzepte ansetzen, die einerseits Kompetenzen zur Bewältigung dieser Herausforderungen vermitteln und anderseits die Lernmotivation steigern. Letztere bildet die Grundlage für kontinuierliches Lernen und führt dazu, dass Mitarbeiter bereit sind, sich beständig mit neuen Inhalten und Anforderungen auseinanderzusetzen und Wandlungsprozesse zu initiieren. In einer Gesellschaft, in der sich der aktuelle Stand des Wissens kontinuierlich und rasch wandelt und immer neue Qualifikationen und Kompetenzen für die Bewältigung der sich oftmals ändernden Arbeitsaufgaben relevant sind, reicht die Erstausbildung in der Regel nicht aus, um auch den zukünftigen beruflichen Anforderungen ein Leben lang gerecht zu werden (Bosch 2009). Hierdurch wird deutlich, dass der Mitarbeiter dazu befähigt werden muss, lebenslang zu lernen. Das bestehende Wissen muss vor diesem Hintergrund kontinuierlich erweitert und aufgefrischt werden (Bosch 2009). Um unternehmensspezifisches und -relevantes Wissen bei den Mitarbeitern zu entwickeln, wird es für die Personalentwicklung in Unternehmen immer wichtiger, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten (Bosch 2009). Das bedeutet, dass Unternehmen für ihre Mitarbeiter lernförderliche Umgebungen schaffen müssen. Lebenslanges Lernen als Prozess muss daher in den Unternehmen fest verankert werden (Papmehl 2013). Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 3 171 Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft Die durch die Megatrends initiierten Folgen für Unternehmen und insbesondere Mitarbeiter müssen bei der Gestaltung neuer betrieblicher Lehrund Lernkonzepte berücksichtigt werden. Lebenslanges Lernen wird angesichts seiner Bedeutung für die Erhaltung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens auch im betrieblichen Kontext immer wichtiger. Daher ist es nur logisch, dass auch Unternehmen, wie bereits eingangs skizziert, ein steigendes Interesse an der Weiterbildung ihrer Mitarbeiter entwickeln (Bilger et al. 2013). 3.1 Lehren und Lernen in der Gegenwart Die Relevanz betrieblicher Weiterbildung spiegelt sich in der Anzahl der angebotenen Bildungsveranstaltungen wider. Derzeit werden in Deutschland über 1,2 Mio. Veranstaltungen von rund 18.000 Bildungsanbietern angeboten (BA 2015). Aufgrund des wachsenden Interesses an Weiterbildungen werden Bildungsmärkte daher als Wachstumsmärkte bezeichnet (Priddat 2013). Die Weiterbildungsveranstaltungen unterscheiden sich, wie eingangs erwähnt, sowohl inhaltlich als auch methodisch voneinander. Das methodische Vorgehen kennzeichnet dabei die Art des Lehrkonzepts und baut auf einer zugrundeliegenden Lerntheorie auf (Reinmann 2013). Ziel des Lehrkonzepts ist es, sowohl Lernen zu initiieren und zu unterstützen als auch die Lernergebnisse zu sichern (Einsiedler 2011). 172 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari synchron Präsenzlehre Gleiche Zeit – gleicher Ort Gleiche Zeit – anderer Ort Beispiel Beispiel Planspiele Teletutoring Nicht ortsgebunden ortsgebunden andere Zeit – gleicher Ort andere Zeit – anderer Ort Beispiel Beispiel Computer Labore Digitale Lernspiele Fernlehre asynchron Abbildung 3: Kategorisierung von Lehrkonzepten (in Anlehnung an (Myrach/Montandon 2008)) Die Kategorisierung der Lehrkonzepte kann anhand der Orts- und Zeitgebundenheit des Lernenden vorgenommen werden. In der betrieblichen Weiterbildung wird so zwischen Präsenz- und Fernlehre unterschieden (Myrach/Montandon 2008). Abbildung 3 verdeutlicht diese Untergliederung und gibt einige Beispiele für Lehrkonzepte. Präsenzlehre erfordert von Lehrenden und Lernenden eine physische Anwesenheit am Ort der Bildungsveranstaltung. Die Erarbeitung der Lerninhalte erfolgt durch die Interaktion von Lehrenden und Lernenden sowohl mit- als auch untereinander. Fernlehre ermöglicht dem Lernenden ein zeitund ortsunabhängiges Lernen, bei dem wenig bis gar keine Interaktion mit dem Lehrenden erfolgt. Der Lernende lernt zudem nur für sich und steht während des Lernprozesses oftmals in keiner Interaktion mit anderen Lernenden (Zaugg 2008). Einige Vor- und Nachteile der beiden Lehrkonzepte werden in Abbildung 4 aufgezeigt. Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft Präsenzlehre Vorteile • • • Nachteile • • • 173 Fernlehre Lerngegenstand kann in einen praktischen Handlungskontext eingebettet werden Interaktion mit anderen Lernenden schult zusätzliche Kompetenzen etc. • Örtliche und zeitliche Bindung Gestaltung eines individuellen Lernprozesses nur bedingt möglich etc. • • • • • Orts- und zeitunabhängiges Lernen möglich Lernende hat mehr Freiheiten in der Gestaltung seines individuellen Lernprozesses etc. Kaum Ausbildung sozialer Kompetenzen durch fehlende Interaktion mit anderen Lernenden Digitale Vermittlung erschwert den Transfer des Wissens in die Praxis etc. Abbildung 4: Vor- und Nachteile von Präsenz- und Fernlehre (de Witt/Czerwionoka 2013) In der Präsenzlehre werden die Lehr- und Lernkonzepte unter anderem durch ihre Sozialformen bestimmt. Maßgeblich ist hierbei der Interaktionsgrad zwischen Lehrenden und Lernenden sowohl mit- als auch untereinander. Unterschieden wird zwischen Frontalunterricht, Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit sowie Gesprächen (Schelten 2010). Vor allem die Gruppenarbeit kann sehr unterschiedlich gestaltet werden und weist verschiedene Ausprägungsformen auf (Schelten 2010). Ein typisches Beispiel für Gruppenarbeit sind Plan- und Rollenspiele. Planspiele als Form der Gruppenarbeit lassen sich im betrieblichen Kontext gut in Lernfabriken integrieren. Diese realitätsnahen Lernumgebungen erleichtern durch ihren praktischen Bezug den Transfer des vermittelten Wissens in die Praxis und sind daher fester Bestandteil der betrieblichen Aus- und Weiterbildung sowie Forschung (Kreimeier 2013), (Micheau 2014). Lernfabriken liegt ein handlungsorientierter Lehr- und Lernansatz zugrunde. Für einen erfolgreichen Lernprozess müssen die zu vermittelnden Lerngegenstände in einem konkreten Situationsbezug stehen. Das träge, sonst nur passiv aufgenommene Wissen wird dadurch aktiviert. Es erfolgt eine intensive Auseinandersetzung des Lernenden mit dem Lerngegenstand. Dieser wird zudem in einen situationsbezogenen Kontext gesetzt. Dadurch wird die Übertragbarkeit des Wissens in die Praxis erleichtert und die Lösung realer Probleme gefördert (Schelten 2010). Der große Vorteil der Fernlehre ist die Ermöglichung des zeit- und ortsunabhängigen Lernens. Dieses kann beispielsweise über das E-Learning erfolgen. E-Learning umschreibt jegliche Art des computergestützten Ler- 174 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari nens mittels Informations- und Kommunikationstechnologien (Myrach/Montandon 2008). Somit profitiert E-Learning von dem Megatrend Digitalisierung. Trotz des Vorteils des zeit- und ortsungebundenen Lernens hat der Hype um E-Learning stark abgenommen. Mittlerweile wird zunehmend versucht, traditionelle und neue Lehr- und Lernkonzepte miteinander zu verbinden, um die jeweiligen Nachteile aufzuheben (Mrach/ Montandon 2008). Dies wird auch als Blended Learning bezeichnet (Zaugg 2008). 3.2 Die Rolle der Lernmotivation Die Gestaltung der Lernumgebung trägt maßgeblich zur Lernmotivation und somit zum Lernerfolg des Lehr- und Lernkonzeptes bei. Die Bedeutung der Lernumgebung lässt sich aus dem handlungsorientierten Lehrund Lernansatz ableiten, da der situationsbezogene Kontext für die Aktivierung des Wissens beim Lernenden eine entscheidende Rolle spielt. Dieser Aspekt wird vor allem in der Lernfabrik mit ihrer realen Lernumgebung berücksichtigt. Die Lernumgebung zum Beispiel in Form von genutzten Medien kann die Lernmotivation sowohl positiv als auch negativ beeinflussen (Schelten 2010). Daher ist es zwingend notwendig, bei der Ausgestaltung der Lernumgebung auf motivationale Rahmenbedingungen zu achten. Die zunehmende Bedeutung der Aufrechterhaltung von Lernmotivation begründet sich ebenfalls in dem Ziel des lebenslangen Lernens. Gerade die Erwachsenenbildung erfordert eine hohe intrinsische Motivation vom Lernenden, da dieser keiner Bildungspflicht untersteht und somit selbstbestimmt und freiwillig lernt (Henkel/Schwarz 2003). Dies ist vor allem deshalb von Relevanz, da der Erwachsene oftmals neben der Ausübung seiner eigentlichen Tätigkeit lernt und somit durch das Lernen die ihm zur Verfügung stehende „Freizeit“ reduziert wird. Um lebenslanges Lernen zu initiieren, sollten daher vom Unternehmen lernförderliche Umgebungen bereitgestellt werden. Eine weitere Möglichkeit zur Erhöhung der Lernmotivation ist die Instrumentalisierung von Spielen für didaktische Zwecke. Dies wird auch als Gamification bezeichnet (Kerres 2009). Hierfür werden spielfremde Inhalte in einen spieltypischen Kontext gesetzt, um den Lernenden durch spielerische Elemente wie High-Scores, Preise und Wettbewerbe zum Lernen zu motivieren (Sailer 2013). Dieser Ansatz kommt sowohl in der Präsenz- als Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 175 auch in der Fernlehre in unterschiedlichen Ausprägungen zur Anwendung. Beispiele hierfür sind Lernfabriken oder digitale Lernspiele. Die Herausforderung bei dem Design von Lernspielen liegt vor allem darin, Spielen und Lernen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. So soll verhindert werden, dass weder die Motivation durch einen zu hohen theoretischen Anteil gehemmt, noch der Transfer des Erlernten durch die Erschaffung einer zu abstrakten Spielwelt vermindert wird (Kerres 2009). 3.3 Anforderungen an Lehr- und Lernkonzepte Aus den skizzierten Megatrends lassen sich Anforderungen an zukünftige betriebliche Lehr- und Lernkonzepte ableiten. Diese müssen darüber hinaus mit den Anforderungen der Unternehmen vereinbar sein, damit eine Eingliederung in den betrieblichen Alltag erfolgen kann. Allen Anforderungen zugrunde liegt die Annahme, dass der Mitarbeiter am besten lernt, wenn nicht nur theoretisches Wissen vermittelt, sondern dieses Wissen zusätzlich durch die Einbettung in einen situationsbezogenen Kontext aktiviert wird. Dadurch entsteht ein Handlungsbezug und sowohl die Verinnerlichung als auch der Transfer des theoretischen Wissens werden verbessert. Der Mitarbeiter wird somit dazu befähigt, reale Probleme zu lösen und sein Wissen situationsgerecht anzuwenden. Die Globalisierung fordert betriebliche Lehr- und Lernkonzepte, die die Mitarbeiter dazu befähigen, mit den sich aus den Trends ergebenden wechselnden Anforderungen umzugehen und sowohl Innovationen als auch Veränderungen eigenständig zu initiieren. Daher müssen Lehr- und Lernkonzepte entwickelt werden, die den Mitarbeiter zu einem kontinuierlichen bzw. lebenslangen Lernen anregen. Durch die Bereitschaft, lebenslang zu lernen, nimmt auch die Angst vor Veränderungen ab, denn Lernen bedeutet gleichzeitig Veränderung, da der Mitarbeiter akzeptiert, dass sein Wissen ständig an die wechselnden Rahmenbedingungen angepasst werden muss. Hierfür ist es zwingend notwendig, dass die zukünftigen Lehrund Lernkonzepte dem Mitarbeiter Hilfe zur Selbsthilfe bieten, um theoretisches Wissen anschließend in die Praxis zu übertragen. Das Ziel der Befähigung beinhaltet also in erster Linie nicht nur die Vermittlung konkreten Fachwissens zur Lösung spezifischer Probleme, sondern soll den Mitarbeiter auch befähigen, Problemstellungen selbstständig zu analysieren und zu lösen. Die Digitalisierung erfordert die Integration neuer Informations- und Kommunikationstechnologien in zukünftige Lehr- und Lernkonzepte. Dies begründet sich einerseits in der zunehmenden Relevanz die- 176 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari ser Technologien für den betrieblichen Alltag. Anderseits werden dadurch auch die Anforderungen verschiedener Zielgruppen berücksichtigt. Gerade jüngere Generationen greifen vermehrt auf neue Medien zurück, um sich spezifisches Wissen anzueignen. Aus dem demografischen Wandel ergeben sich spezielle Anforderungen an die zu entwickelnden Lehr- und Lernkonzepte. Dadurch, dass Unternehmen einerseits mit einem Fachkräftemangel und andererseits mit einer alternden Belegschaft konfrontiert werden, können sie es sich für die Entwicklung zukünftiger Innovationen nicht mehr leisten, nur auf jüngere Mitarbeiter zurückzugreifen, die beispielsweise neues Wissen mit in das Unternehmen bringen. Unternehmen müssen aktiv den Wissensschatz ihrer aktuellen Belegschaft erweitern und auch älteren Mitarbeitern die Teilnahme an Weiterbildungen ermöglichen. Dies hat zur Folge, dass die zu entwickelnden Lehr- und Lernkonzepte möglichst flexibel in Bezug auf die Zielgruppe gestaltet werden müssen. Zusätzlich zu den Anforderungen, die sich aus den Trends ableiten, fordern Unternehmen von Lehr- und Lernkonzepten eine leichte Vereinbarkeit von Lernen mit den betrieblichen Abläufen. Die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen bedeutet für Unternehmen in der Regel, dass Mitarbeiter vom Tagesgeschäft freigestellt werden müssen. Dieser Aspekt soll nach Möglichkeit auf ein Minimum reduziert werden, um so die betrieblichen Abläufe nicht zu stören. Darüber hinaus ist es für Unternehmen wichtig, den Lernerfolg auch messbar zu machen. Dies hilft bei der Bewertung von Weiterbildungsmaßnahmen. Zur Initiierung lebenslangen Lernens spielt die Aufrechterhaltung der Lernmotivation zudem eine zentrale Rolle für Unternehmen. Die Mitarbeiter sollen durch die Lehr- und Lernkonzepte dazu angeregt werden, sich auch außerhalb ihres betrieblichen Umfeldes mit den Inhalten auseinanderzusetzen, um so einen kontinuierlichen Lernprozess voranzutreiben. 3.4 Ausblick auf weitere Forschungstätigkeiten Zukünftige betriebliche Lehr- und Lernkonzepte stehen im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen der Mitarbeiter und denen der Unternehmen vor dem Hintergrund der durch die globalen Trends hervorgerufenen Veränderungen. Ein zeit- und ortsunabhängiges Lernen, welches unter anderem durch das E-Learning ermöglicht wird, ist insbesondere für Unternehmen interessant, birgt jedoch auch oftmals die bereits genannten Nachteile wie mangelnde soziale Interaktion oder den Verlust der Lernmotivation Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 177 durch geringe Rückkopplung von Lernerfolgen. Durch Lernen in Lernfabriken erhalten Lernende die Möglichkeit, Wissen zu erfahren und direkt anzuwenden. Dadurch wird der Transfer des theoretischen Wissens in die Praxis erleichtert. Aufgrund des hohen Zeitaufwandes sowie der Ortsgebundenheit der Lernfabrik eignet sich dieses Konzept alleine nicht für die Initiierung von lebenslangem Lernen. Darüber hinaus ist es häufig nur mit dem Einsatz großer finanzieller Ressourcen möglich, Lernfabriken zu erweitern bzw. an wechselnde Rahmenbedingungen anzupassen und veränderte betriebliche Abläufe darzustellen. So verliert die Lernfabrik ihre Aktualität und führt nach einer Sättigungszeit zu einer mangelnden Lernmotivation bei den Mitarbeitern. Reale Lernumgebungen Virtuelle Lernumgebungen Vorteile durch die Kopplung realer und virtueller Lernumgebungen für… …Mitarbeiter • • • • • • • Erfahrbares Lernen Risikoloses Erproben Intrinsische Motivation durch spielerischen Charakter Entwicklung verschiedener Kompetenzen Zeit- und ortsungebundenes Lernen Berücksichtigung individueller Anforderungen und Kenntnissstände etc. …Unternehmen • • • • • Erhöhung der Transferleistung Berücksichtigung von Betriebsdaten Zeit- und ortsungebundenes Lernen Reduktion von Ausbildungskosten etc. Abbildung 5: Darstellung eines möglichen Lehr- und Lernkonzepts der Zukunft Ein möglicher Lösungsansatz für die Aufrechterhaltung der Lernmotivation und die Aufhebung der genannten Nachteile ist in Abbildung 5 dargestellt. Konzeptionell wird hier auf den Ansatz des Blended Learning zurückgegriffen. Dieser umfasst die Kopplung verschiedener Lehr- und Lernkonzepte aus der Präsenz- und Fernlehre, erweitert um die skizzierten Anforderungen. Hierfür werden vor allem diejenigen Konzepte berücksichtigt, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Im Fokus steht die Erhöhung des Transfers des theoretischen Wissens in die Praxis, die Aufrechterhaltung der Lernmotivation sowie die Berücksichtigung der Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen. 178 Peter Nyhuis, Vivian Katharina Bellmann, Sarah Majid Ansari Für die Erhöhung des Transfers des theoretischen Wissens in die Praxis werden realitätsnahe Lernumgebungen gestaltet. Aus der Präsenzlehre eignet sich hierfür die Lernfabrik, die eine Abbildung realer Prozesse ermöglicht und so einen Anwendungsbezug für den Lernenden herstellt. Für das zeit- und ortsungebundene Lernen wird die reale Lernfabrik in eine virtuelle Lernumgebung übertragen. Diese Lernumgebung soll zudem in einen spielerischen Kontext eingebunden werden. Durch den Einsatz spieltypischer Elemente wie Wettbewerbe und Preise soll so die Lernmotivation aufrechterhalten werden. Darüber hinaus ermöglicht die virtuelle Abbildung realer Prozesse eine schnelle Anpassung an wechselnde Rahmenbedingungen. Die virtuelle Lernumgebung kann somit immer die tatsächliche Realität im Unternehmen möglichst genau abbilden und erhöht dadurch die Transferleistung. Zudem ermöglicht die Kopplung der verschiedenen Lernumgebungen auch die Berücksichtigung der Anforderungen der unterschiedlichen Zielgruppen. Diese können individuell auswählen, welches Lernmedium sich für sie besser eignet, und so ihr Wissen erweitern. In beiden Lernumgebungen ist eine Anwendung des theoretischen Wissens ohne weitreichende monetäre oder strukturelle Folgen möglich. Mitarbeiter werden dazu befähigt, Zusammenhänge zu erkennen und diese zu analysieren. Somit lernen sie, Konsequenzen zu antizipieren und fundierte Entscheidungen zu treffen. Die beiden Lernumgebungen werden zudem über digitale Schnittstellen miteinander verknüpft werden. Der Mitarbeiter hat dann die Möglichkeit, sein Wissen sowohl virtuell als auch real zu testen und die Folgen seiner Entscheidungen zu erleben, da durch die digitalen Schnittstellen cyberphysische Systeme entstehen, durch die ein Datenaustausch zwischen den beiden Lernumgebungen möglich wird. Unternehmen haben so die Möglichkeit, auch reale Betriebsdaten in die reale und virtuelle Lernumgebung einfließen zu lassen. Dadurch werden die Lernumgebungen noch realitätsnaher und der Transfer der Theorie in die Praxis erleichtert. 4 Zusammenfassung und Ausblick Die Analyse der Auswirkungen globaler Trends ergibt, dass sie Veränderungen in den Gestaltungsbereichen Organisation, Technologie und Mensch nach sich ziehen. Diese Veränderungen bedingen sich gegenseitig, wodurch Folgen der Trends verstärkt werden können. Auch in den Unternehmen schärft sich das Bewusstsein für eine ganzheitliche Betrachtung der Auswirkungen von Trends. So wird in diesem Zusammenhang vermehrt der Fokus auf den Mitarbeiter und seine Rolle im Auswirkungen von globalen Trends auf die Lehr- und Lernkonzepte der Zukunft 179 Gesamtgefüge Unternehmen gelegt. In der heutigen Zeit rückt der Mitarbeiter als Wandlungsbefähiger und zentraler Entscheidungsträger immer mehr in den Fokus der Unternehmen. Dies ist unter anderem bedingt durch die zunehmende Komplexität von Prozessen und Strukturen. Aber auch der vereinfachte Zugang zu Technologien und digitalisiertem Wissen aufgrund von Trends wie der Globalisierung und der Digitalisierung führt dazu, dass Unternehmen aus verschiedenen Ländern auf ähnliche Ressourcen zurückgreifen können. Wettbewerbsvorteile lassen sich somit vor diesem Hintergrund vor allem durch das Wissen, Wollen und Können der Mitarbeiter erzielen, da diese nicht replizierbar sind und nicht in jedem Unternehmen die gleichen Voraussetzungen herrschen. Um der zunehmenden Relevanz des Mitarbeiters gerecht zu werden, müssen Rahmenbedingungen geändert und an die Anforderungen der Mitarbeiter angepasst werden. Dies betrifft auch Lehr- und Lernkonzepte, die den Mitarbeiter dazu befähigen sollen, zukünftige Innovationen zu generieren und Folgen seiner Entscheidungen antizipieren zu können, um langfristig zur Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner eigenen Beschäftigungsfähigkeit beizutragen. Um diese Ziele zu erreichen, müssen daher Lehr- und Lernkonzepte entwickelt werden, die einerseits die Folgen globaler Trends berücksichtigen, aber auch anderseits den Mitarbeiter als zentralen Wandlungsbefähiger mit seinen individuellen Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellen. Vor diesem Hintergrund wurde in diesem Beitrag auf die drei Trends Globalisierung, Digitalisierung und Demografischer Wandel und deren Auswirkungen auf Lehr- und Lernkonzepte eingegangen. Darüber hinaus wurden daraus Anforderungen an diese Konzepte abgeleitet. 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Schröder, S., Förster, M., Schmicker, S., 2015. : Anforderungen an eine individuelle berufsund lebensbiografische Arbeitsgestaltung. In: PERSONALquarterly, 1. S. 20-24. Spath, D., Ganschar, O., Gerlach, S., Hämmerle, M., Krause, T., Schlund, S., 2013.: Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0. Fraunhofer Verlag. World Economic Forum (WEF), 2015.: The Human Capital Report 2015. World Economic Forum. Zaugg, R. J., 2008.: Nachhaltige Personalentwicklung. Von der Schulung zum Kompetenzgewinn. In: Thom, N., Zaugg, R. J. (Hrsg.): Moderne Personalentwicklung. Mitarbeiterpotenziale erkennen, entwickeln und fördern. Springer Gabler. S. 19-39. Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 183 Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Die Veränderung der Produktionssysteme infolge von Industrie 4.0 wird vor allem durch die technologischen Entwicklungen getrieben, hat aber auch maßgebliche Auswirkungen auf die Gestaltung von Arbeit. Der vorliegende Beitrag legt den Fokus auf die Veränderungen, die sich für die Mitarbeiter, ihre Arbeitsumgebung und die Qualifikationsbedarfe ergeben. Es wird deutlich, dass das Lernen zunehmend in den Arbeitsprozess verlagert wird und somit eine Integration von Lern- und Assistenzsystemen erforderlich ist. Der Beitrag stellt ausgewählte Lösungen vor, die in der Industrie im Einsatz sind und skizziert notwendige Bedarfe für die Gestaltung lernförderlicher und gesunder Arbeitssysteme. 1 1.1 Veränderung der Produktion durch Industrie 4.0 Industrie 4.0 Industrie 4.0, Internet der Dinge, Cyber Physical Systems, Smart Factory, Smart Products – all diese Schlagworte und noch viele mehr werden derzeit geprägt, wenn es um die Gestaltung der Produktionssysteme im Rahmen von Industrie 4.0 geht. In zukünftigen Produktionssystemen werden Maschinen und Produkte zunehmend autonom miteinander kommunizieren, Daten und Informationen austauschen und so flexibel auf aktuelle Anforderungen reagieren. Der Mensch wird in diesem Prozess stärker als bisher mit den Maschinen kollaborieren (Mensch-Maschine-Kollaboration) und für die Steuerung und Überwachung der Systeme verantwortlich sein. »Eines ist dabei besonders wichtig: Technik ist nicht Selbstzweck, sondern nur eine Basis für die Industrie 4.0. Künftig werden reale und virtuelle Welt miteinander verschmelzen und ganzheitlich miteinander vernetzt sein. Das ermöglicht vollkommen neue Formen der Produktion und Zusammenarbeit.« (Soder, 2015). Bei der Gestaltung der Produktionssysteme wird es maßgeblich darauf ankommen, wie der Mensch in diesen Prozess eingebunden wird und wie 184 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann seine Rolle im Arbeitssystem definiert ist. Klar ist schon heute: auch im Rahmen von Industrie 4.0 wird der Mensch der entscheidende Faktor sein, der über den Erfolg des Produktionssystems entscheidet. »Der Trend zur zunehmenden Informatisierung der Arbeitswelt [hat] potenziell starke Auswirkungen auf die Beschäftigten und deren Situation in den Betrieben generell und spezifisch auf Formen der Arbeitsorganisation […] Dies betrifft insbesondere die Qualität der Arbeit – einschließlich Faktoren wie Arbeitszufriedenheit und Gesundheit – sowie das allgemeine Qualifikationsniveau wie auch die spezifisch notwendigen Qualifikationen und Kompetenzentwicklungsprozesse.« (Botthof 2015, S. 5) Bei der Gestaltung der Arbeitsprozesse wird es darauf ankommen, sinnstiftende und lernförderliche Arbeitsplätze zu schaffen, die das Arbeiten unter angemessenen physischen und psychischen Belastungen ermöglichen. Dazu wird es erforderlich sein, die Aufgaben so zu gestalten, dass „geistig mehr (z. B. Problemlösen) und weniger (z. B. Routineaufgaben) anspruchsvolle Operationen in einem angemessenen Verhältnis erforderlich sind« (Botthof 2015, S. 11). Das geht zurück auf das Konzept der vollständigen Tätigkeit / Handlung nach Hacker und Volpert (Hacker 1973; Volpert 1974). Demnach sollten die Aufgaben der Beschäftigten nicht nur ausführende, sondern in gleichem Maße organisierende, planende und kontrollierende Tätigkeiten umfassen. Im Folgenden wird näher beschrieben, wie sich die Arbeitssysteme unter dem Einfluss von Industrie 4.0 verändern werden, bevor anschließend mögliche Szenarien für die Veränderungen der Mitarbeiter gegenübergestellt werden. 1.2 Veränderung der Arbeitssysteme in der Produktion Arbeitssysteme sind soziotechnische Handlungssysteme im Mikro- und Makrobereich von Produktion und Logistik, in denen der Mensch zur Erfüllung einer bestimmten Aufgabe in einem definierten Arbeitsablauf mit Produktionsmitteln zusammenwirkt. Die Qualität des erreichbaren Ergebnisses eines intelligenten Arbeitssystems wird durch die Durchgängigkeit des Informationsaustauschs bei sich ändernden Umgebungsbedingungen und durch den Grad der Adaptivität beteiligter Sensor-Aktor-Systeme bestimmt. Die Intelligenz des Arbeitssystems besteht wesentlich darin, sich definiert, zeitnah und verlustarm auf Änderungen der Aufgabenstellung und der Umgebungsbedingungen einzustellen. Vor allem in der Automobilindustrie findet das Lean Management eine breite Anwendung. »Erklärtes Ziel des Lean Managements ist die Steige- Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 185 rung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens durch die Verschlankung aller Geschäftsprozesse, bei deren gleichzeitiger Ausrichtung am Kunden.« (Maas/Weidner 2014). Kern des Lean Managements ist es, die in Abb. 1 dargestellten Verschwendungsarten zu vermeiden und die Prozesse so zu gestalten, dass sie einen direkten Kundennutzen stiften. Die sieben traditionellen Verschwendungsarten wurden um die sogenannte ungenutzte Kreativität der Mitarbeiter ergänzt. Diese beschreibt den Einfluss, den Mitarbeiter auf die Verbesserung nehmen können, wenn sie sich in das Unternehmen einbringen und gezielt an der Reduktion der anderen Verschwendungsarten beteiligen. (Maas/Weidner 2014) Im Rahmen von Industrie 4.0 wird diese Kreativität einen zunehmenden Stellenwert bekommen. Es bedarf daher Methoden und Technologien, um das Wissen der Mitarbeiter zu erschließen und für die Optimierung der Prozesse zu nutzen. Abbildung 1: Arten der Verschwendung im Lean Management (Maas/Weidner 2014) 186 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Das Lean Management kommt auch im Maschinen- und Anlagenbau zum Einsatz, dann unter dem Begriff Lean Production. Vor allem in KMU werden oft nur einzelne Maßnahmen aus dem Konzept zur Anwendung gebracht, z. B. Total Productive Maintenance. In Abb. 2 ist ein Arbeitssystem nach REFA dargestellt, ergänzt um die Zuordnung der Verschwendungsarten des Lean Management. Abbildung 2: Arbeitssystem nach REFA mit Zuordnung von Verschwendungsarten (in Anlehnung an REFA2015) Damit diese Verschwendungen in der Fabrik der Zukunft reduziert werden, muss der Mensch in die Lage versetzt werden, die zunehmend unvorhersehbaren Prozesse steuern und überwachen zu können. Dabei wird er durch Assistenzsysteme verschiedener Ausprägungen unterstützt werden. Um diese nutzen zu können, wird daher von den Mitarbeitern eine Qualifizierung für die Bedienung der informationstechnischen Systeme erforderlich sein. (Reinhart 2015) Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 1.3 187 Szenarien für die veränderten Anforderungen an die Mitarbeiter Mit den oben beschriebenen technologiegetriebenen Entwicklungen der Produktionsprozesse verändern sich auch die Aufgaben- und Anforderungsprofile der Beschäftigten. Während in vielen Veröffentlichungen zum Thema »Industrie 4.0« bzw. »Cyber Physical Systems« überwiegend die technologischen Potentiale der Automatisierung herausgestellt werden, werden in einer Studie des Fraunhofer-Instituts IAO unter Beteiligung von 661 befragten Unternehmen die absehbaren Veränderungen der menschlichen Aufgaben, Funktionen und Positionen in den Szenarien künftiger Produktionsprozesse analysiert. Demnach werden die Fachkräfte künftig zwar in die technischen Systeme eingebunden, ggf. unter Nutzung mobiler Endgeräte, ihre spezifischen Fähigkeiten zur Reflexion und Entscheidungsfindung bleiben als kreatives Potential in den kontinuierlichen Verbesserungsprozessen aber unverzichtbar vgl. (Ganschar et al. 2013, S. 54). Eine ähnliche Position vertreten Gorecky u.a. wenn sie mit Bezug auf die Funktionsweisen sozio-technischer Systeme auf Aspekte der Autonomie und Entscheidungsbefugnisse verweisen (Gorecky et al. 2014, S. 526). Dabei kann der Mensch in cyber-physischen Systemen sowohl unmittelbar in physische als auch über eine Benutzerschnittstelle in virtuelle Komponenten intervenieren: Abbildung 3: Cyber-physisches Gefüge, in Anlehnung an Zamfirescu, 2012, zitiert nach (Gorecky et al. 2014, S. 525) 188 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Die singuläre Rolle des Menschen bzw. Beschäftigten wird von den Autoren mit Hinweis auf die erforderliche Varietät in der Kybernetik begründet. Mit steigender Handlungsvarietät kann ein Teilsystem entsprechend mehr Störungen in Steuerungsprozessen ausgleichen (vgl. ebenda). Damit wird der Mensch als flexibelstes Element des Systems und entsprechend höchster Handlungsvarietät zur »übergeordneten Steuerungsinstanz«. (Gorecky et al. 2014, S. 526) Auf dieser allgemeinen Beschreibungsebene werden die Beschäftigten planerische, steuernde, kontrollierende und problemlösende Aufgaben wahrnehmen, vgl. Abb. 4. Abbildung 4: Der Mensch als Überwacher der Produktionsstrategie und letzte Instanz im Entscheidungsprozess (in Anlehnung an Gorecky et al. 2014, S. 526) Eine vom Institut für Innovation und Technik (iit) des VDI/VDE Innovation und Technik GmbH herausgegebene Studie skizziert den aktuellen Stand der Diskussion um Chancen und Risiken dieser Entwicklung (Botthoff und Hartmann 2015a). Die Herausgeber beschreiben zusammenfassend die Punkte, zu denen überwiegend ein Konsens festzustellen ist. (vgl. Botthoff und Hartmann 2015b). Sie erwarten, dass die unter dem Stichwort »Industrie 4.0« adressierten technologischen Innovationen die Arbeitssysteme der Zukunft über den industriellen Sektor hinaus wesentlich beeinflussen. Die Arbeitssysteme der Zukunft sind „…gestaltbar und gestaltungsbedürftig … paradigmatisch am Konzept des soziotechnischen Systems mit den Dimensionen »Mensch«, »Organisation« und »Technik« …« (Botthoff und Hartmann 2015b, S. 161). Die Dimension der »Organisation« wird dabei als der zentrale Ansatzpunkt verstanden, über die Ausgestaltung von Strukturen und Prozessen - sowie daraus folgend der Arbeitsteilung - die Qualität der Arbeit für die Fachkräfte hinsichtlich Persönlichkeits- und Lernförderlichkeit zu beeinflussen. Die Technikgestaltung soll sich demnach an den aufeinander bezogenen Zieldimensionen Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 189 der »organisationalen Strukturen« sowie der »Qualität der Arbeit für den Menschen« orientieren (vgl. ebenda S. 161). Hinsichtlich der Bedeutung des demografischen Wandels betonen die Autoren einen Konsens zu zwei Anforderungen an die Arbeitsgestaltung. Das ist zum einen die Entlastung der Beschäftigten von physischen und psychischen Fehlbeanspruchungen sowie zum anderen die lernförderliche Gestaltung der Arbeitsprozesse (vgl. ebenda S.162). Mit Bezug auf die technologischen Potentiale wird herausgestellt, dass die »…mit Begriffen wie Virtualisierung und Augmentierung bezeichnete Verschränkung und Integration natürlicher und virtueller Realitäten« (Botthoff und Hartmann 2015b, S. 162) neue Konzepte der Beschreibung und Gestaltung der Mensch-Technik-Organisation erfordern. Auf Grundlage dieser Einschätzungen werden in der Studie u.a. die folgenden offenen Fragen für weitere Forschung gestellt: »… Inwieweit und wie können Assistenzsysteme bei anspruchsvollen Tätigkeiten menschliche Experten in ihrer Expertise – und der weiteren Entwicklung ihrer Expertise – unterstützen? …« »Wie genau soll die Qualifikations- und Kompetenzentwicklung in der und für die Arbeit umgesetzt werden? In welchem Verhältnis stehen dabei Modelle des Lernens in der Arbeit unmittelbar – lernförderliche Arbeitsorganisation – und arbeitsnahe Formen des Lernens, wie etwa Lernfabriken? « (ebenda S.163) 2 Lernen und Assistenz In der Fabrik der Zukunft wird der Grad an Automatisierung zunehmen, gleichzeitig werden die Produktionsprozesse komplexer. Die menschenleere Fabrik, wie sie lange im Rahmen des Computer Integrated Manufacturing (CIM) proklamiert wurde, ist auch im Rahmen von Industrie 4.0 nicht zu erwarten, da der Mensch Kompetenzen und Eigenschaften besitzt, die nicht auf Maschinen übertragbar sind, indem er z. B. auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren, Erfahrungswissen generieren und mit seiner Umwelt kommunizieren kann. Zur Rolle des Menschen in den sich verändernden Prozessen sagt Professor Kagermann: »Es wird immer mehr Bereiche geben, die so hoch automatisiert sind, dass sie weitestgehend ohne menschliche Interaktion ablaufen. Natürlich führen Mitarbeiter auch weiterhin physische Tätigkeiten 190 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann aus. Sie werden aber noch mehr unterstützt durch physische Assistenzsysteme, die als Fähigkeitsverstärker dienen. Das verschafft erweiterte Entscheidungs- und Beteiligungsspielräume. Neue IKT-Technologien werden enorm zur Entscheidungsunterstützung beitragen, zum Beispiel durch maschinelle Extraktionen von Informationen aus unstrukturierten Daten, explorative Suche in riesigen Datenmengen oder Fusionen von Sensordaten. Die letzte Entscheidung wird aber nach wie vor der Mensch treffen. « (Ganschar 2013) Lernen und Assistenz werden dabei ineinander übergehen, was sich z. B. am Grad der Assistenz spiegeln wird, der sich an die Kompetenz, Erfahrung und kognitiven Fähigkeiten des Bedieners anpassen wird. Im Folgenden sollen Formen der Assistenz vorgestellt werden, die den Mitarbeiter in der Fabrik zum einen entlasten werden, insbesondere bei physisch anspruchsvollen Tätigkeiten, und seine Fähigkeiten zum anderen stärken, z. B. bei Entscheidungsfindungen und beim Problemlösen. 2.1 Assistenz- und Serviceroboter Insbesondere für die physische Unterstützung kommen Assistenzroboter zum Einsatz, die im Arbeitsraum des Menschen agieren und mit ihm zusammenarbeiten. Dabei steht unter anderem die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen im Vordergrund. Eine Verletzung des Menschen muss in jedem Fall ausgeschlossen werden. Assistenzroboter zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie mit Hilfe von Sensoren und intelligenten Algorithmen in der Lage sind, ihre Umwelt sowie Personen wahrzunehmen, mit Menschen multimodal zu kommunizieren, gegebenenfalls autonom zu navigieren und selbstständig Entscheidungen zu treffen. Deshalb stehen neben der Sicherheit Themen wie Navigation, Kognition und multimodale Interaktion im Fokus aktueller Entwicklungen. 2.2 Assistierende Mess- und Prüfsysteme Im Rahmen der Qualitätssicherung werden assistierende Mess- und Prüfsysteme benötigt. Während in der Serienfertigung zu großen Teilen automatisierte Lösungen zum Einsatz kommen, macht die zunehmende Individualisierung von Produkten mit hoher Bauteilvarianz und kleinen Losgrößen Assistenzsysteme erforderlich, bei denen Mensch und Maschine Hand in Hand arbeiten. Typischerweise werden diese Mess- und Prüfsysteme in der Montage eingesetzt. Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 191 Die optische Montageprüfung bildet hier eine Kernfunktion. »Sie umfasst die Überprüfung verschiedener Montagezustände eines einzelnen Bauteils in Bezug auf eine komplette Montagebaugruppe. Typische zu überprüfende Montagezustände sind Anwesenheit, Richtigkeit und Lage. Der SollMontagezustand wird durch ein 3D-CAD-Modell definiert, der IstMontagezustand mit optischer Sensorik erfasst. Dazu kommen dreidimensional messende Verfahren, wie die Stereo-Bildverarbeitung, das Lichtschnittverfahren oder die Streifenprojektion zum Einsatz. Die resultierende 3D-Punktwolke kann mit dem 3D-CAD-Modell verglichen werden und gibt Aufschluss über den jeweiligen Montagezustand. Da üblicherweise Kameras in diesen optischen Sensorsystemen zum Einsatz kommen, stehen ebenfalls orientierte Bildinformationen für einen Soll-Ist-Vergleich zur Verfügung. Die dazu erforderlichen Soll-Informationen werden auf der Grundlage von Modellinformationen über das Bauteil und über die Messfunktionalität des Prüfsystems durch die Berechnung synthetischer Prüfdaten berechnet.« (Berndt et al. 2014). 2.3 Kognitive Assistenz Im Unterschied zu Maschinen und Anlagen verfügt der Mensch über kognitive Fähigkeiten. Dazu zählen z. B. das Problemlösen, die Kreativität und das Lernen. Im Rahmen der kognitiven Assistenz soll der Mitarbeiter in der Produktion bei diesen Fähigkeiten unterstützt werden. So werden die zunehmend unvorhersehbaren Prozesse es dem Bediener erschweren die richtige Entscheidung zu treffen. Es werden daher Assistenzsysteme benötigt, die die Vielzahl der Daten aus den Produktionsanlagen auswerten und dem Bediener in aufbereiteter Form bereitstellen, damit dieser daraus die korrekten Schlüsse ziehen kann. Die Aufbereitung erfolgt in vielen Fällen visuell, z. B. über virtuelle 3DModelle oder mit Hilfe der Augmented Reality. Dabei werden dem Nutzer die erforderlichen Informationen in seiner Arbeitsumgebung bereitgestellt. Dies erfolgt auf Bildschirmen, die an der Linie montiert sind und zunehmend auch über mobile Geräte und sogenannte Wearables. Unter Wearables versteht man Computersysteme, die während der Anwendung am Nutzer befestigt sind und ihn bei der Durchführung realer Tätigkeiten unterstützen. Am bekanntesten sind hier die Datenbrillen (z. B. Google Glass) und die Armbanduhren (z. B. iWatch). Der Entwicklung dieser Geräte ist jedoch noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie in der Produktion zum Einsatz kämen. Hinsichtlich der Ergonomie und Sicherheit beim Ein- 192 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann satz im Arbeitsprozess besteht hier weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Neben der Auswertung von Big Data werden dem Bediener Informationen übermittelt, die nur schwer formalisierbar sind wie z. B. das Erfahrungswissen. Es existieren bereits heute Tele-Maintenance-Lösungen, die es dem Experten ermöglichen, die Handgriffe des Kollegen über ein Kamerasystem zu verfolgen und ihn bei der Durchführung seiner Tätigkeit zu unterstützen. Für zukünftige Systeme ist es denkbar, dass dieses Expertenwissen dokumentiert und aufbereitet wird und dann unabhängig von der Verfügbarkeit des Experten genutzt werden kann. 2.4 Virtuell Interaktive Lernsysteme Lernsysteme werden bisher vorwiegend begleitend zum Produktionsprozess eingesetzt. Die Gründe dafür liegen vor allem in der mangelnden Verfügbarkeit der Anlage bzw. deren Stillstand bei der Nutzung für Qualifizierungsmaßnahmen. Zudem sind die zu lernenden Prozesse aufgrund der zunehmend autonomen Prozesse der Anlagen schwer vorhersehbar, vielfältig und damit nur bedingt steuerbar. Die erforderlichen Daten für die Gestaltung von Lernsystemen liegen in der digitalen Fabrik bereits vor. Deren durchgängige Nutzung entlang des Produktlebenszyklus, wie es durch die Methoden des Digital Engineering realisiert wird, und die damit ermöglichte frühzeitige Verfügbarkeit der Daten für die Entwicklung der Qualifizierungslösungen erlaubt es, die Mitarbeiter bereits in einer frühen Phase des Produktlebenszyklus zu qualifizieren (siehe Abb. 5) und so die Inbetriebnahmezeiten der Anlage zu verkürzen. Abbildung 5: Vorverlagerung der Qualifizierung im Produktlebenszyklus durch Methoden des Digital Engineering (Quelle: Fraunhofer IFF) Bei der Gestaltung der virtuell interaktiven Qualifizierungslösungen steht der Aspekt der Handlungsorientierung im Vordergrund. Da die Lernumge- Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 193 bung neben der Vermittlung von Faktenwissen und prozeduralem Wissen vor allem dem Kompetenzerwerb dient, ist es erforderlich komplexe Arbeits- und Lernsituationen erlebbar zu machen. In virtuellen Lernumgebungen kann dieser Erfahrungsraum geschaffen werden, indem der Lerner mit seiner Arbeitsumgebung interagiert. Dabei basiert ein wesentlicher Bestandteil der Lerninhalte auf dem Erfahrungswissen der Experten. Dieses Wissens ist zu großen Teilen implizit, d.h. der Träger ist sich dessen nicht bewußt und kann es nur schwer verbalisieren. Es bedarf daher Methoden und Technologien, wie dieses Wissen transferiert werden kann. Die wissenschaftliche Community vertritt unterschiedliche Meinungen über die Explizierbarkeit impliziten Wissens. Während (Nonaka et al. 2012) mit ihrem Prinzip der Wissensspirale eine Explikation für möglich halten, vertritt (Fischer 2007) die Meinung, dass implizites Wissen nicht explizierbar ist und sagt: „Wenn sich implizites Wissen nicht explizieren lässt, so müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, unter denen es sich erfahren lässt.“ Virtuelle Lernwelten können diese Rahmenbedingungen des gemeinsamen Arbeitens und Lernens und damit des Wissenstransfers bieten. (Haase et al. 2013) (Haase et al. 2014) Dafür werden die Lernumgebungen nach dem Prinzip der vollständigen Handlung gestaltet und ermöglichen dem Lerner so die Bearbeitung des vollständigen Prozesses von der Planung, über die Durchführung bis zur Bewertung. Der Lernprozess wird außerdem durch den Aspekt der Immersion unterstützt. Verschiedene Lernumgebungen können beim Lerner der Gefühl des „integriert-seins“ in die Arbeitsumgebung unterstützen. So z.B. das Lernen in einem 360° Grad Projektionssystem wie dem ElbeDom. (Schenk / Schumann 2008) Abb. 6 zeigt den Aufbau eines Planspiels, das die verschiedenen Lernwelten (analog, mobil und immersiv) und ihre individuellen Vorteile integriert. 194 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Abbildung 6: Planspiele als Integration analoger und digitaler Lernwelten (Quelle: Fraunhofer IFF) Der Transfer dieser Lösungen in die Industrie und die Schaffung von Weiterbildungsinhalten im Bereich Industrie 4.0 ist die Kompetenz des cedemo EDUCATION. (cedemo 2015) Die beschriebenen Veränderungen in der Produktion durch Technologien der Industrie 4.0 bieten weitreichende Potentiale für die Weiterentwicklung des Lernens als einen die Produktion begleitenden Prozess, der in den Arbeitsprozess integriert ist. 2.5 Integration von Lernen und Assistenz am Arbeitsplatz Die im vorhergehenden Absatz beschriebenen Technologien der Virtual Reality als Lernsysteme im Rahmen von simulierten Arbeitssystemen können durch die Datenintegration in CPS-Umgebungen erhebliche Entwicklungspotentiale erschließen. Neben der Gestaltung von expliziten Qualifizierungsszenarien gewinnen aber insbesondere das Lernen im Prozess der Arbeit und damit die lernförderliche Gestaltung der Arbeit an Bedeutung. Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 195 Der Einsatz von CPS wird sich auf die Tätigkeitsprofile der in der Produktion Beschäftigten unterschiedlich auswirken. Das gilt einerseits für die planerischen Tätigkeiten bei Konzipierung, Entwurf und Entwicklung von Maschinen und Anlagen. Absehbar werden aber auch die technischgewerblichen Fachkräfte in der Produktion zunehmend regulierende und steuernde Aufgaben wahrnehmen. Damit kommen sie zunehmend in die Rolle von Entscheidern mit gesteigerten Anforderungen an Problemlösungskompetenz, Selbstorganisation und Kommunikation (Ganschar et al. 2013, S. 53 ff.). Neben der Entlastung von physischen Belastungen durch die Assistenzsysteme steigen mit diesen Anforderungen tendenziell die psychischen Belastungen der Beschäftigten. Es wird zunehmend schwerer, die komplexen autonomen Systeme aus der Distanz von Steuerungseinheiten oder Leitwarten zu verstehen, Störungen zu analysieren oder zu beheben und insgesamt die Verantwortung für einen reibungslosen Systembetrieb zu übernehmen. Aus dieser zentralen Rolle des Menschen in cyber-physischen Systemen als „übergeordnete Steuerungsinstanz“ können Anforderungen an die Ausgestaltung von Assistenzsystemen als lernförderliche Systeme abgeleitet werden. Dabei sind grundsätzlich die Erkenntnisse der Arbeitspsychologie und Arbeitswissenschaft hinsichtlich der Gestaltung von soziotechnischen Arbeitssystemen oder der Bedeutung vollständiger Handlungsstrukturen als Basis einer lernförderlichen Arbeitsorganisation weiterhin zu berücksichtigen. Allerdings ändern sich die Bedingungsfaktoren für die Arbeitsgestaltung unter den Vorzeichen von Industrie 4.0. Während bisherige Automatisierungsmuster überwiegend sequentielle Funktionen und ex ante optimierte Abläufe adressierten, sollen künftig intelligente, dezentrale Systemkomponenten Funktionen auch autonomer Optimierung und Selbstanpassung übernehmen können (Hirsch-Kreinsen 2014, S. 6). Die lernförderliche Arbeitsgestaltung mit einer angemessenen Berücksichtigung auch des Erfahrungswissens der betrieblichen Experten aus dem Anlagenbetrieb und insbesondere des Störungsmanagements ist also der zentrale Ansatz für die Integration von Assistenz und Lernen. Die hohe technologiegetriebene Entwicklungsdynamik fordert jedoch eine entsprechende Bearbeitung des Paradoxons zwischen der Notwendigkeit, Erfahrungswissen und entsprechende Handlungs- und Reflexionsmuster zu 196 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann bewahren, andererseits diese aber auch bewusst zu überwinden, um sich neue Denkmuster aneignen zu können. Für eine Orientierung auf bestimmte Muster der Gestaltung lernförderlicher Assistenzsysteme kann die oben genannte zusammenfassende Analyse von Forschungsergebnissen zu aktuellen Entwicklungstendenzen der Produktionsarbeit von Hirsch-Kreinsen herangezogen werden. Dort wird zwischen zwei idealtypischen Polen der Arbeitsorganisation unterschieden (vgl. ebenda S. 23 ff.). Bei dem als „polarisierte Organisation“ bezeichneten Muster wird zwischen einer dispositiven Handlungsebene mit hochqualifizierten Akteuren mit hohem Handlungsspielraum sowie einer operativen Ebene mit einfachen Tätigkeiten und eher gering qualifizierten Beschäftigten mit einfachen Überwachungstätigkeiten und geringem Handlungsspielraum unterschieden. Der als „Schwarm-Organisation“ bezeichnete andere Pol strebt die Zusammenfassung der dispositiven und operativen Ebenen als eine vernetzte Organisation hoch qualifizierter und annähernd gleichberechtigt handelnden Beschäftigten an. Einfache Tätigkeiten werden bei diesem Modell möglichst weitgehend von automatisierten Systemkomponenten übernommen. Die skizzierten Szenarien sind einerseits als „Pole“ divergierender Entwicklungsrichtungen zu betrachten, andererseits wird es vielfältige Ausprägungen der Arbeitsorganisation geben, die zwischen diesen Extremen zugeordnet werden können. Die hier adressierten Beispiele orientieren sich an kooperativen, Aufgaben- und Kompetenzprofile integrierenden Ansätzen der Arbeitsgestaltung. Die physischen Belastungen der Beschäftigten sollen durch technische Assistenz reduziert werden. Eine psychische Fehlbeanspruchung der Beschäftigten soll durch adaptive Anforderungsprofile vermieden werden, die die Mitarbeiter zum Weiterlernen anregt und dauerhafte Überforderung vermeidet. Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 3 197 Ausgewählte Lern- und Assistenzsysteme Im Folgenden werden ausgewählte Referenzprojekte vorgestellt, in denen Lern- und Assistenzfunktionen in unterschiedlichem Maße ausgeprägt sind. 3.1 STROBAS – Das stationäre Roboter-Assistenzsystem Ein Fokus physischer Assistenzsysteme liegt in der Entlastung des Menschen bei gefährlichen, körperlich anspruchsvollen und unergonomischen Arbeiten. Im Projekt STROBAS (Schäfer 2014) wurde ein handgeführter Roboter entwickelt, der den Bediener beim Zusammenfügen von Druckgussformen unterstützt. Bisher wurde diese Tätigkeit manuell durchgeführt und war für den Bediener sehr beanspruchend, weil die Formteile viele Male aufeinandergedrückt werden mussten. Aufgrund des Gewichts der Druckgussformen stellte dies eine erhebliche Belastung für den Bediener dar. Im Rahmen eines von der Investitionsbank Sachsen-Anhalt geförderten Forschungsprojektes entwickelte das Fraunhofer IFF für die Metall- und Formenbau-GmbH Sachsen-Anhalt ein Roboter-Assistenzsystem zur Unterstützung des Menschen bei dieser Tätigkeit. Das stationäre Roboter-Assistenzsystem umfasst einen Industrieroboter mit 45 kg Traglast, in dessen »Handgelenk« ein Kraft-Moment-Sensor montiert ist, der die auf den Greifer einwirkenden Kräfte erkennt. Als Eingabegerät dient ein Lenkrad, das zwischen Sensor und Greifer montiert ist. Über dieser Anordnung ist das vom Fraunhofer IFF entwickelte Projektionssystem installiert, das zur optischen Arbeitsraumabsicherung genutzt wird. »Die Bedienung des Systems ist denkbar einfach. Der Werker setzt die Unterseite der Druckgussform in einen Halter auf der Werkbank. Dann legt er die Oberseite – die er normalerweise viele Male per Hand auf die Unterseite drücken müsste – irgendwo auf der Werkbank ab. Per Tastendruck erkennt der Roboter mithilfe der Kameras das Bauteil, hebt es vollautomatisch auf und reicht es dem Werker an. Nun kann der Bediener die schwere Druckgussform bearbeiten und sie bei Bedarf mithilfe des Lenkrads in eine beliebige, für ihn ergonomisch günstige Position bewegen. Da der Roboter die vom Bediener auf das Lenkrad ausgeübte Kraft mit sei- 198 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann nem Kraft-Moment-Sensor misst und seine Bewegungen entsprechend regelt, fühlt sich die Druckgussform wie schwerelos an: Der Bediener kann das schwere Bauteil ohne jede Anstrengung bewegen. Hat der Bediener die Bearbeitung des Werkstücks abgeschlossen, muss die gegriffene Formhälfte zum Überprüfen der Dichtheit auf die Gegenform aufgelegt werden. Hierfür drückt er eine Taste auf dem Bedientablet, worauf der Roboter die Oberseite der Form vollautomatisch mit definierter Kraft auf die Unterseite drückt. « (Schäfer 2014) Um neben der physischen Entlastung auch die Sicherheit des Bedieners zu unterstützen, wurde das Lenkrad mit der am Fraunhofer IFF entwickelten Taktilsensorik überzogen. Diese erkennt, ob der Bediener das Lenkrad mit beiden Händen greift. Ist das nicht der Fall, hält der Roboter an und verhindert so, dass der Mensch die Hand in die Roboterkinematik führt und sich dabei verletzt. (Schäfer 2014) Abb. 7 zeigt die Handhabung des Roboters. (a) (b) Abbildung 7a: Das Lenkrad erkennt beide Hände des Werkers und gibt den Roboter zur Führung frei. Abbildung 7b: Der Werker überschreitet den Schutzbereich des Projektionssystems. Der Roboter hält an. (Fotos: Fraunhofer IFF) Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 3.2 199 Assistierende Mess- und Prüfsysteme im Flugzeugbau Ähnlich wie in der Automobilindustrie ist auch der Flugzeugbau von einer zunehmenden Individualisierung geprägt. Die Vielzahl an Varianten ergibt sich z. B. durch die Anordnung der Sitzreihen und die individuelle Anordnung von Monitoren, Gepäckfächern und Lüftungsanlagen im Flugzeug. »All diese Wünsche führen zu einer individualisierten Produktion mit Tausenden Klein- und Kleinstelementen, die an den jeweiligen Großbauteilen stets aufs Neue positioniert und montiert werden müssen.« (Berndt et al. 2014) Diese Individualität erschwert sowohl die Montage als auch die Qualitätskontrolle. Bisher dienen dazu weiterhin Papierunterlagen, aus denen die Vorgaben entnommen werden und die am Flugzeug mit dem IST-Zustand abgeglichen werden. Dieser Aufwand ist beträchtlich; am A380 sind bis zu 40.000 Nieten an jeder der zwanzig Rumpfschalen zu prüfen. Zusätzlich müssen etwa 2.500 Anbauteile auf richtige Montage und korrekte Lage geprüft werden. Das bedeutet einen hohen manuellen Aufwand und enorme Kosten im Falle einer nachträglichen Korrektur. Um hier eine höhere Flexibilität zu erreichen und die Kosten langfristig zu reduzieren, wurde ein Mess- und Prüfsystem auf der Basis eines modellbasierten Ansatzes entwickelt. Dieses nutzt die digitalen Geometriemodelle und die physikalischen Funktionsmodelle der interagierenden Komponenten und Funktionsmodule. »So kann ein Funktionsmodul zur Prüfung zum Beispiel die digitalen 3D-CAD-Modelle des zu prüfenden Bauteils und des Prüfkopfes selbst sowie ein physikalisches Funktionsmodell des Prüfkopfes nutzen, um die Prüfung zu simulieren. Auf dieser Grundlage sind dann Arbeitsschritte wie die Prüfplanung und die Bereitstellung von SollZuständen vollautomatisch und damit effizient durchführbar, auch für eine Stückzahl von Eins. Klassische Prüfsysteme – basierend auf GoldenSample- oder lernbasierten Ansätzen – sind hierfür meist nicht effizient einsetzbar. Durch die kontinuierliche Veränderung der Prüfaufgabe wäre ein stetiges manuelles Einlernen der zugrunde liegenden Sollvorgaben mit extrem hohem Aufwand verbunden.« (Berndt et al. 2014) 200 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Abbildung 8: Prüfaufbau an einer Flugzeugrumpfschale (Foto: Fraunhofer IFF) Im praktischen Einsatz hat sich gezeigt, dass durch den modellbasierten Prüfansatz die Qualität der Prüfung verbessert werden konnte. Die Prüfergebnisse sind sehr zuverlässig und reproduzierbar, die Fehlerrate liegt jetzt bei <1%. Falsch montierte Bauteile werden frühzeitig erkannt. Es konnte so erreicht werden, dass bei der Endmontage die Fehlerrate falsch vormontierter Teile auf null reduziert wurde. Die Prüfdauer kann durch den Einsatz des Assistenzsystems derzeit nicht verbessert werden. Die Ursachen hierfür liegen z.B. in der schlechten Erreichbarkeit vieler Bauteile, was dann wiederum eine manuelle Prüfung erforderlich macht. Hier besteht weiterer Entwicklungsbedarf. Die Auslieferqualität konnte durch den Einsatz modellbasierter Prüfverfahren aber nachweislich verbessert werden. 3.3 Assistenzsystem zum Monitoring und zur Bewertung von Sensordaten an Logistikknoten Logistikknoten werden in der Regel durch Sensorinfrastrukturen, bestehend aus Kamerasystemen und funkbasierten Ortungssystemen, überwacht. Die sensorische Erfassung von Bewegungen von Personen und Objekten sowie der Performanz dieser Infrastrukturen in Echtzeit schaffen die Voraussetzungen für die Gestaltung intelligenter Logistikräume mit einer verhaltensbasierten Analyse und Steuerung von Prozessen. (Schenk Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 201 et al. 2012) Die Informationen, die über diese Sensoren geliefert werden, sind für den Menschen aufgrund ihrer Vielzahl, Dynamik und Anordnung schwer zu erfassen und in einen räumlichen Kontext zu setzen. Aus den realen Videodaten kann eine sogenannte virtuelle Draufsicht generiert werden. Dazu werden die Einzelansichten entzerrt und in einer Gesamtansicht zusammengefügt und ermöglichen so die räumliche und zeitliche Bewertung der Daten in einer Art Birdview in Echtzeit. (Borstell et al. 2012) Integriert man diese Daten in ein echtzeitfähiges 3D-Modell des Logistikknotens, wird das räumliche Zusammenwirken der Sensorinformationen für den Betrachter transparent und nachvollziehbar. Zudem kann in diesem Modell interaktiv navigiert werden und eine visuelle Überprüfung durch den Menschen erfolgen. Diese Form der Datenaufbereitung kann auch in der Produktion zur Anwendung kommen und dort z. B. zur Überwachung von logistischen Prozessen oder der Freiheit von Flucht- und Lieferwegen genutzt werden. Die Nutzung der realen Videobilder, die aus datenschutzrechtlichen Gründen oft nicht möglich ist, wird so umgangen. Objekte, wie z. B. Betriebsmittel, die mittels Analyse der Videodaten erkannt werden, werden im virtuellen Modell visualisiert. Bei Bedarf kann aus dem virtuellen Modell auf die virtuelle Draufsicht und folgend auf die realen Einzelansichten und die zugehörigen Sensoren geschlossen werden. Das beschriebene Assistenzsystem steigert die Awareness der Mitarbeiter für die Einhaltung und Überprüfung relevanter Qualitätskriterien. Damit werden die Prozessqualität und -sicherheit langfristig gesichert. 3.4 Virtual Reality-basiertes Lernsystem in der Prozessindustrie Die Firma Fangmann Energy Services GmbH & Co. KG aus Salzwedel hat eine mobile Freiförderanlage für Erdgasbohrungen entwickelt, die bei der Unterstützung der Produktion bei der Erdgasförderung eingesetzt wird. Für die Gewährleistung des sicheren Anlagenbetriebes ist die Qualifizierung der Bediener von besonderer Bedeutung. Diese umfasst drei wesentliche Anforderungen: (vgl. Edeling et al. 2013) 1. Prozess- und Anlagenverständnis der Freiförderanlage 2. Vermittlung von Kenntnissen zur Bedienung der Freiförderanlage 3. Sammlung von Erfahrungen zur Bedienung der Freiförderanlage bereits vor der Fertigstellung 202 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann Die Vermittlung dieser Lerninhalte kann nur sehr eingeschränkt im praktischen Betrieb erfolgen. Bereits während der Entwicklung sollten die zukünftigen Bediener qualifiziert werden und darüber hinaus ihre Erfahrungen in die Entwicklung mit einbringen. Dazu wurde ein Lernsystem entwickelt, das auf der Basis der aktuellen Konstruktionsdaten die Handlungsanweisungen für die Montage, Inbetriebnahme, Betrieb und Instandhaltung der Anlage vermittelt und bedarfsgerecht zur Verfügung stellt. Die Nutzung des Lernsystems sollte vor Ort im Arbeitsprozess erfolgen. Dazu wurde die Anwendung im Leitstand verfügbar gemacht und mit dem Prozessleitsystem gekoppelt (siehe Abb. 9) Die Entwicklungszeit der Anlage konnte durch die Unterstützung des VRgestützten Design-Reviews, u.a. mit den verantwortlichen Behörden, und der Möglichkeit der frühzeitigen begleitenden Mitarbeiterqualifizierung um ca. 25 % verkürzt werden. So waren die Mitarbeiter bei der Inbetriebnahme bereits qualifiziert, was zu einer Verkürzung der Inbetriebnahmephase um ca. 20 % führte. Abbildung 9: Lernsystem im Leitstand (Foto: Fraunhofer IFF / Dirk Mahler) Integrierte Lern- und Assistenzsysteme für die Produktion von morgen 4 203 Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurden die Veränderungen der Produktionssysteme im Rahmen der Entwicklungen der Industrie 4.0-Initiative betrachtet. Dabei liegt der Fokus des Beitrags auf der Betrachtung des Menschen und seinen Anforderungen an lernförderliche und gesunde Arbeit. Anhand ausgewählter Beispiele werden Lösungen für Lern- und Assistenzsysteme vorgestellt, die in der Industrie bereits im Einsatz sind. Ziel ist es, diese vorhandenen Ansätze in einem ganzheitlichen Lern- und Assistenzsystem zu integrieren. Dazu wird in dem vom BMBF geförderten Forschungsprojekt ProcessAssist (BMBF 2015) ein CPPS-basiertes Assistenzsystem für die Prozessindustrie entwickelt werden, dessen Ergebnisse dann auch auf Produktionsanlagen übertragbar sind. Ziel des Projektes ist es, die Auslastung bestehender prozesstechnischer Anlagen zu erhöhen und die Zeiten für Wartung und Instandsetzung zu reduzieren, um dadurch eine verbesserte Wirtschaftlichkeit der Anlagen zu erzielen. Im Rahmen von ProcessAssist werden Sensordaten der Anlage erfasst und auf ein einheitliches Datenmodell übertragen, das die Grundlage für die zu implementierenden (mobilen) Assistenzfunktionen bietet (siehe Abb. 10). Die vier Anwendungsszenarien von CPPS in KMU aus dem Bereich der Prozessindustrie sind die Chemie, Erdgasförderung, Energie und Raffinerie. ProcessAssist soll den Anwendern (Anlagenbetreibern) folgende Mehrwerte schaffen: Reduzierung ungeplanter technisch bedingter Stillstandzeiten im Betrieb befindlicher prozesstechnischer Anlagen. Dies führt unter anderem zur Erhöhung der Energie- und Ressourceneffizienz, der Anlagenverfügbarkeit sowie der Anlageneffektivität Automatische Dokumentation von Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten (Compliance). 204 Tina Haase, Wilhelm Termath, Marco Schumann externe Dateninfrastrukturstruktur ContextWissen Fehlerlisten Daten Anwenderzentrierte Assistenzsysteme Homogenisierung (mobil und stationär) 3D-Anlagenmodell Individuelle Entwicklung Abbildung 10: Prinzipskizze eines anwenderzentrierten Assistenzsystems in ProcessAssist (Quelle: Fraunhofer IFF) Literatur Berndt, Dirk; Sauer, Steffen; Trostmann, Erik (2014).: Baugruppen im Montageprozess prüfen. 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Lehren und Lernen mit Lernfabriken – Übersicht 209 Lehren und Lernen mit Lernfabriken Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt Horst Meier, Bernd Kuhlenkötter, Dieter Kreimeier, Sebastian Freith, Björn Krückhans, Friedrich Morlock, Christopher Prinz InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität Martin Schmauder, Martin Erler, Christian Fabig, Christian Friedrich, Daniel Gröllich, Anja Günther, Gritt Ott Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 211 Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt Horst Meier, Bernd Kuhlenkötter, Dieter Kreimeier, Sebastian Freith, Björn Krückhans, Friedrich Morlock, Christopher Prinz Das Ziel jeder Lerneinheit ist, dass die Teilnehmer ihr Wissen über die Lehrveranstaltung hinaus anwenden können. Im Mittelpunkt steht der Transfer des Erlernten in den eigenen Arbeitsalltag. Vor diesen Herausforderungen stehen insbesondere Unternehmen bei der Schulung von Mitarbeitern, wie auch Hochschuleinrichtungen bei der studentischen Lehre. In den letzten Jahren wurden hierzu zunehmend Lernfabriken entwickelt und zur praxisorientierten Wissensvermittlung eingesetzt. Der prinzipielle Ansatz von Lernfabriken besteht darin, die komplexen Geschäftsprozesse in einem verständlichen Maße zu übertragen und Methoden und Konzepte zu entwickeln, um Verbesserungsmaßnahmen und Einsparungspotenziale in Bezug auf den Ressourceneinsatz zu identifizieren. In der frühen Anfangsphase der Lernfabriken wurde der Fokus insbesondere auf die Bereiche Lean-Management und Prozessverbesserung gerichtet. Zusätzlich hat sich durch einen steigenden Bedarf an Ressourcen ein weiteres Themenfeld für den Einsatz von Lernfabriken ergeben. Der Lehrstuhl für Produktionssysteme (LPS) unterstützt diese Ansätze, wobei folgende drei Teilbereiche abgedeckt werden: Lean-Management, Ressourceneffizienz, Management und Organisation (betriebliche Mitbestimmung). Dieser Beitrag soll hierzu zeigen, wie eine Lernfabrik mit der gleichen Infrastruktur für unterschiedliche Themen angewandt werden kann. Zudem soll beschrieben werden, wie diese Themenbereiche durch praxisorientierte LernfabrikLerneinheiten zur Schulung von Studenten und Industrieteilnehmern genutzt werden kann. 1 Einleitung Bei einer Lernfabrik handelt es sich um die Kombination aus einer Schulungsfläche, die der Vermittlung von theoretischem Wissen dient, und einem realen Produktionsumfeld, das zur Vertiefung der erlernten Methoden an einem realen Produkt herangezogen wird. Gerade in der studentischen Lehre erfreuen sich Lernfabriken immer größerer Beliebtheit, was nicht zuletzt aus der realitätsnahen Vermittlung von theoretischen Inhalten an 212 Meier et al. einem praktischen Fertigungsprozess resultiert (Abele et al. 2007), (Riffelmacher et al. 2009). Durch die Lernfabrik werden den Lernenden reale Betriebsstrukturen zur Verfügung gestellt, die nicht durch einen klassischen Frontalunterricht abgedeckt werden können (Zinn 2014). Dabei kann die Fertigungsumgebung der Lernfabrik individuell auf die Bedürfnisse des jeweils zu vermittelnden Themenblocks abgestimmt werden. Die Möglichkeit der individuellen Anpassung der Lernumgebung ermöglicht es zusätzlich für unterschiedliche Interessentenklassen aus der Industrie spezifische Schulungen zu einem Themenfeld anzubieten. Aktuell beschäftigen sich verschiedene Zusammenschlüsse (Initiative of European Learning Factories, Cirp Working Group on Learning Factories, Netzwerk innovativer Lernfabriken) mit unterschiedlichen Fragestellungen hinsichtlich Definition, Klassifizierung, Anwendung, Kooperation, etc. von Lernfabriken. Der Lerneffekt und die Wissensreproduktion können durch das didaktische Konzept der Lernfabrik nachhaltig durch die integrative Kombination aus theoretischem Methodenlernen und praktischen Anwendungsfall gesichert werden (Zinn 2014). Des Weiteren wird durch die individuellen Industrieschulungen und die direkte praktische Anwendung des Gelernten die Akzeptanz der Mitarbeiter für die Einführung neuer Methoden erhöht (Derr et al. 2010). In der Anfangsphase der Lernfabriken wurde der Fokus besonders auf die Prozessverbesserung gerichtet. Der Lean Management-Ansatz als zentrales Element der Prozessverbesserung wurde hier insbesondere adressiert. Zusätzlich hat sich durch eine weltweit steigende Nachfrage an Ressourcen ein weiteres Themenfeld für den Einsatz von Lernfabriken ergeben (Kreimeier et al. 2014b). Die Lernfabrik des Lehrstuhls für Produktionssysteme deckt folgende Bereiche ab: Lean-Management, Ressourceneffizienz, Management und Organisation sowie Industrie 4.0. Diese unterschiedlichen Themenschwerpunkte sollen in der Produktion eines realen Produkts in der Lernfabrik kombiniert werden. Dieser Beitrag soll zeigen, inwiefern diese unterschiedlichen Bereiche in eine Lernfabrik integriert werden können. Somit kann eine produktionstechnische Infrastruktur für unterschiedliche Themen genutzt werden. Zusätzlich soll in diesem Beitrag beschrieben werden, wie die konkreten Lerneinheiten dieser Themenbereiche konzipiert sind. Durch die steigende Bedeutung des Themas Lernfabrik haben sich in den letzten Jahren Netzwerke zu diesem Thema entwickelt. Die LPS-Lernfabrik ist sowohl Mitglied im europäischen Netzwerk für Lernfabriken als auch im Projekt NIL, welches durch den deutschen Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 213 akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert wird und die Kooperation zwischen den führenden Universitäten im Bereich Lernfabriken unterstützt soll. 2 Bedarf zum Einsatz von Lernfabriken Arbeitsumgebungen haben sich durch steigende Konkurrenz auf den Weltmärkten und zunehmende Komplexität der Produktionssysteme stark verändert. Hoch qualifizierte Mitarbeiter haben in Unternehmen einen entscheidenden Stellenwert eingenommen. Um die Kompetenzen der Mitarbeiter weiterentwickeln zu können, müssen verschiedene Lernplattformen entwickelt werden (Abele et al. 2012). Der Performance-Beitrag unterschiedlicher Lernmuster lässt sich anhand der Effektivität (z.B. Lernmotivation, Anwendungsnähe) und Effizienz (z.B. Lernkosten, Lernaufwand) vergleichen (Ehrenmann 2015). Das Lernen innerhalb von Pilot-/Lernfabriken ist die Kombination aus hoher Lerneffizienz und -effektivität (Abbildung 1). Planspiele werden seit mehreren Jahren in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt. Dennoch hat sich gezeigt, dass durch eine fehlende an die vorherrschenden Bedingungen angelehnte Arbeitsumgebung die Ergebnisse aus den Planspielen nicht ausreichend auf den eigenen Bereich übertragen werden können. Auch die Rolle der Mitarbeiter in einem Verbesserungsprozess wird auf diese Weise nicht berücksichtigt (Badurdeen et al. 2010). Diese Lücke wird durch den Einsatz von Lernfabriken zunehmend geschlossen (Abele et al. 2012). Meier et al. Lerneffektivität 214 IDEAL NORMAL Lernen durch tun Pilot-FactoryKonzept Praktizieren Lernen durch testen Prototyping Lernen im Modell Simulieren Lernen am Modell Imitieren FATAL NORMAL Lerneffizienz Abbildung 1: Differenzierung unterschiedlicher Lernmuster (Ehrenmann 2015) Die Übertragung der gewonnenen Kenntnisse aus den Übungen wird durch reale Arbeitsbedingungen gefördert. Maßnahmen zur Prozessoptimierung können ohne jegliches Risiko und Kostendruck entwickelt und trainiert werden (Abele et al. 2007). Der Trend zum Aufbau von Lernfabriken stellt kein rein universitäres Phänomen dar, sondern wird zunehmend auch in Industrieunternehmen beobachtet (Abele et al. 2012), (Badurdeen et al. 2010), (Riffelmacher et al. 2009), (Kreimeier et al. 2013). Durch eine stetige Nachfrage an Lernmethoden wird eine steigende Anzahl an Lernfabriken prognostiziert (Abele et al. 2010). Die Vorteile von Lernfabriken lassen sich jedoch auch für die studentische Ausbildung nutzen. Durch den Praxisbezug und den Transfergewinn lassen sich somit universitäre Lehrinhalte durch die Studenten im späteren Berufsleben einfacher anwenden. Hierdurch wird eindeutig der Praxisbezug im Studium erhöht. Im Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 215 folgenden Beitrag wird nicht mehr zwischen Studenten und Industrieteilnehmern unterschieden, da beide Gruppen Teilnehmer der Lernfabrikübungen sein können. 3 Das Konzept der Lernfabrik am LPS Der Lehrstuhl für Produktionssysteme gründete seine Lernfabrik im Jahre 2009 (Kreimeier et al. 2013). Im Anfangsstadium wurden die Themen Prozessverbesserung und Lean-Management in der Lernfabrik bearbeitet. Durch neue Herausforderungen in der Produktentwicklung und globale Veränderungen folgten weitere Themen. Insbesondere die steigenden Kosten für Ressourcen wie Material und Energie und die Forderung nach Umweltschutz geben dem Thema Ressourceneffizienz einen besonderen Stellenwert. Auch die Bereiche Management und Organisation von Arbeit sowie die steigende Einbindung der Mitarbeiter werden berücksichtigt. Die weltweite Finanzkrise hat gezeigt, dass Deutschland mit einem einzigartigen System von Gewerkschaften im Vergleich zu anderen Ländern deutlich schwächer von den Auswirkungen getroffen wurde. Die zukünftige Herausforderung besteht darin diese Position zu stärken und Mitarbeiter aus der Industrie und Studenten in den genannten Bereichen auszubilden. In Kapitel 2 wurde bereits die zentrale Bedeutung der praxisorientierten Lernumgebung von Lernfabriken hervorgehoben. Gleichfalls ist es möglich die Schulungen hinsichtlich der einzelnen Anwendungsgruppen zu individualisieren und für die unterschiedlichen Interessensgruppen spezifische Lösungen für Fortbildungen anzubieten. Die spezifischen und unterschiedlichen Bedürfnisse von z.B. Mitarbeitern im Management im Vergleich zu Mitarbeitern auf der Shopfloorebene lassen sich so berücksichtigen und lerngruppenspezifische Konzepte entwickeln. Durch diesen individuellen Lernweg sollen größere Lernerfolge generiert werden. Neben diesen interessengruppenspezifischen Konzepten erlaubt das flexible Fertigungsumfeld einer Lernfabrik ebenfalls die individuelle Anpassung der Fertigung und somit der Produktionsstruktur an die verschiedenen fokussierten Themenstellungen die im Rahmen der Schulungen vermittelt werden sollen. Diese individuelle und somit optimal unterstützende Fertigungsumgebung ermöglicht ebenfalls eine spezifische Anpassung der Lehr- sowie Lerneinheiten und soll ebenfalls den individuellen Lernerfolg erhöhen. Aus Gründen der Effizienz sowie der Effektivität wird innerhalb der Lernfabrik des Lehrstuhls für Produktionssysteme eine One-Product-Logic für die einzelnen Themenfelder genutzt. Dies soll bei den Studenten aber auch bei den Seminarteilnehmern zu Wiedererkennungseffekten führen 216 Meier et al. und so ebenfalls den Lernerfolg erhöhen. Gleichzeitig sorgt ein einheitlicher Produktionsprozess für geringe Aufbau- sowie Vorbereitungszeiten. Dennoch sind unterschiedliche Anpassungsmaßnahmen des Fertigungsprozesses für die einzelnen Themenfelder notwendig. Die Integration von neuen Themenfeldern führt an dieser Stelle zu einer deutlichen Zunahme der Anzahl an unterschiedlichen Fertigungsprozessen, was wiederum die Vorbereitung verkompliziert. Um ebenfalls dem hohen Maß an Flexibilität gerecht werden zu können sind zunächst hohe Investitionen in die Ausstattung einer Lernfabrik zu tätigen, die sich in letzter Konsequenz allerdings durch eben dieses Maß an Flexibilität rechtfertigen. Außerdem lassen sich durch ebendiese Nutzung von einem Beispielprodukt die Entwicklungs-, die Produktions- und die Umsetzungskosten bei der Entwicklung einer Lernfabrik reduzieren. Der Lehrstuhl für Produktionssysteme ist kontinuierlich bestrebt neue Themengebiete in der Lernfabrik zu erarbeiten. Die drei bisher integrierten Themenkomplexe und deren Umsetzung sowie die Entwicklung eines vierten Themenkomplexes werden als Beispiele nachfolgend erläutert. Abbildung 2: Integrierte Themenfelder der LPS Lernfabrik Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 3.1 217 LPS Lernfabrik für Prozessoptimierung Methoden der Prozessoptimierung, wie beispielsweise Lean ManagementMethoden, verursachen bei Mitarbeitern häufig erste Ablehnungen. Dabei spielen die Mitarbeiter – wie bei allen Veränderungsprozessen – eine Schlüsselrolle für die Unternehmen. Prozessverbesserungsmethoden sind insbesondere bei der Problemlösung im Unternehmen von großer Bedeutung (Liker et al. 2007). Fehlende Kenntnisse über schlanke Produktionen und unzureichendes Training sind Ursachen für ablehnende Haltungen (Dombrowski et al. 2008). Hierauf muss durch schnelle und erkennbare Verbesserungen reagiert werden. Für die Qualifizierung bedeutet dies, dass theoretisches Wissen zeitnah angewendet werden soll (Derr et al. 2010). Praktische und aktionsorientierte Ansätze (z.B. Planspiele) werden hierzu beispielsweise auf Grund ihrer Überzeugungskraft auf allen Ebenen der Mitarbeiterweiterbildung eingesetzt (Womack et al. 1997). Die LPS Lernfabrik für Prozessoptimierung wurde 2009 als erste Lernfabrik am LPS eingeführt. Die Problematik der praxisorientierten Vermittlung von Inhalten aus dem Industrial Engineering und dem Lean Management für Studenten und Mitarbeitern aus der Industrie, begegnet der LPS mithilfe einer eigenen Lernfabrik. Der Einstieg des mehrstufigen Lehrkonzepts erfolgt durch ein Planspiel mit LEGO®-Fahrzeugen, um die Hemmschwelle durch einen „spielerischen Ansatz“ zu verringern. Die Teilnehmer montieren in zwei Gruppen in mehreren Runden die LEGO®-Bausätze, wobei intuitiv Methoden zur Prozessverbesserung angewendet werden. Erst nach dem Durchlauf werden die Methoden explizit genannt und durch theoretisches Wissen ergänzt. Bei der Implementierung von Ganzheitlichen Produktionssystemen bzw. Lean Produktionssystemen wird meist die 5S Methode in Unternehmen zuerst umgesetzt, da sie einfach anzuwenden ist und häufig mit bestehenden Inhalten verknüpft werden kann. Durch die integrierte Lernumgebung in einer Lernfabrik kann dieses Themengebiet in der zweiten Lerneinheit den Teilnehmern an realen Arbeitsplätzen vermittelt werden. Die Teilnehmer haben dann unter anderem die Aufgabe, ein 5S-Audit durchzuführen. Somit werden neben der Methode 5S die Themen und Techniken wie Audits, Reifegrad, Verschwendung, WasteWalk und Kreidekreis vermittelt. In einem anschließenden Schritt werden die Grundlagen der Arbeitssystemgestaltung vermittelt. Hierzu hat sich das Methods-Time Measurement (MTM)-Verfahren in der Industrie durchgesetzt. Den Ursprung hat das MTM-Verfahren in der Zeitwirtschaft. Durch die Einflussgrößen manueller Montagetätigkeiten eignet sich das Verfahren jedoch auch für die Arbeitssystemgestaltung. Grundlage ist die geziel- 218 Meier et al. te Unterteilung der Arbeitsschritte in Prozessbausteine, denen eine definierte Prozessdauer hinterlegt ist. Auf diese Weise können Arbeitsplätze und Vorgabezeiten sowohl im laufenden Betrieb als auch prospektiv in der Planungsphase gestaltet und geplant werden. Im Rahmen der Lernfabrik wird ein realer Monatearbeitsplatz von den Teilnehmern mit dem MTMVerfahren optimiert. Mithilfe einer erstellen MTM-Analyse lassen sich Verbesserungen hinsichtlich Zeit, Kosten und Ergonomie realisieren. Nachdem in den ersten Lerneinheiten der Einstieg in die Prozessverbesserung und die Arbeitsplatzoptimierung im Fokus stand, soll mit den Lerneinheiten zur Wertstromanalyse ein Überblick über die Verkettung von Arbeitsstationen mit gemeinsamen Material- und Informationsflüssen erfolgen. Mit der Betrachtung des Wertstroms können Verbesserung am Gesamtsystem realisiert werden. Dazu wird die Herstellung eines realen Produktes (Flaschenverschluss) herangezogen. Der Flaschenverschluss besteht sowohl aus Bauteilen, die durch die mechanische Fertigung hergestellt werden, als auch Zukaufteilen. Anhand von selbst erstellten Wertstromanalysen sowie zu entwickelnden Soll-Wertströmen werden die Teilnehmern auch mit Lean-Methoden wie Supermarkt, Kanban, Pull und Just in Time (JIT)/Just in Sequence (JIS) konfrontiert. Die erarbeiteten Veränderungen in den Wertströmen können in der Lernfabrik ohne Risiko praktisch umgesetzt werden. Die Wirksamkeitsprüfung der Verbesserungsmaßnahmen erfolgt anhand von KPIs (Key Performance Indicators). Hiermit können Verbesserungen und eventuelle Verschlechterungen visualisiert werden. Dies hat einen wichtigen Beitrag für den Lernerfolg der Teilnehmer zufolge. Durch den Einbezug von virtuellen Simulationsmodellen können Aussagen über komplexere „Was-wäre-wenn“ Szenarien getroffen werden. Im Rahmen der Schulung lernen die Teilnehmer die Durchführung von Simulationsstudien nach VDI 3633. Auf Basis der realen Lernfabrik werden Maschinen und Prozessschritte abstrahiert, um das virtuelle Modell zu generieren sowie zu parametrieren. Der komplette Durchlauf der Norm steht im Fokus des Schulungsteils, da jeder Teilnehmer die notwendigen Schritte von realen Produktionsschritten hin zum virtuellen Abbild durchführen soll. Die anschließende Optimierungsphase verdeutlicht den Teilnehmern die Vor- und Nachteile von ergänzenden virtuellen Simulationsmodellen im Rahmen der realen Lernfabrik. In der abschließenden Lehreinheit Prozessoptimierung erfolgt eine Gesamtzusammenfassung der vermittelten Methoden. Durch die Simulation eines Auftragsdurchlaufs vom Kunden bis zum Versand unter Hinzunahme von Zulieferern und indi- Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 219 rekten Abteilungen wird ein großer Teil des Unternehmens im realen oder virtuellen Umfeld simuliert. Zusammenfassend bietet das mehrstufige Lernkonzept einen „spielerischen“ Einstieg in das Themengebiet Prozessoptimierung. Theoretisch vermittelte Inhalte können mit den Methoden der Toolbox (Abbildung 3) direkt in praktischen Einheiten angewendet und geübt werden. Abbildung 3: Lerninhalte der Lernfabrik für Prozessoptimierung 3.2 Lernfabrik für Ressourceneffizienz Besonders für das produzierende Gewerbe ist es bereits aus betriebswirtschaftlichen Gründen unabdingbar, den Blick auf Energie- und Ressourceneffizienz zu richten. Denn nicht nur die politischen Rahmenbedingungen, sondern vielmehr die steigenden Ressourcenpreise und der wachsende Wettbewerb auf internationaler Ebene machen Energie- und Ressourceneffizienz zu wettbewerbsentscheidenden Faktoren (Kreimeier et al. 2013b). In Zukunft gilt es für Unternehmen ihren Blick nicht ausschließlich auf Zielgrößen wie Zeit, Kosten und Qualität zu lenken, sondern verstärkt weiteren Kriterien, wie Energie- und Materialeffizienz sowie die Verringerung der CO2-Emissionen, Aufmerksamkeit zu schenken (Bakir et al. 2013). Der Bereich der Ressourceneffizienz wird bereits von zahlreichen Consulting-Agenturen in Seminaren behandelt, wobei eine praktische Implementierung in Lernfabriken noch weitestgehend fehlt, aber von zunehmender Wichtigkeit für die gezielte Schulung von Mitarbeitern in diesem Bereich ist. 220 Meier et al. Hier schafft die Lernfabrik für Ressourceneffizienz (LRE) des Lehrstuhls für Produktionssysteme Abhilfe. Die Lernfabrik für Ressourceneffizienz ist das Abbild einer realen Produktionsumgebung mit einem realen Produkt. Die fokussierten Mitarbeiter umfassen dabei alle Unternehmensebenen vom Management- bis zur Shopfloorebene. Alle beteiligten Mitarbeiter können durch Lernfabriken, in einer praxisnahen Umgebung, einen Blick über den eigenen Arbeitsplatz hinaus erlangen. Der Fokus liegt dabei auf der Gesamtheit aller Prozesse und somit auf dem betrieblichen Gesamtzusammenhang. Den Teilnehmern werden dabei Werkzeuge und Methoden gezielt an einem realen Produkt vermittelt. Mit den vermittelten Werkzeugen und Methoden werden die Mitarbeiter in die Lage versetzt, eigenständig betriebliche Verschwendungen zu erkennen und zu eliminieren (Abbildung 4). Hierbei wird ebenfalls das Verständnis des Informationsflusses von der Aufnahme von Messsignalen über die Generierung von KPIs bis hin zur Ableitung von Optimierungspotenzialen fokussiert. Abbildung 4: Lerninhalte der Lernfabrik für Ressourceneffizienz Der praktische Teil der Schulung beginnt mit einem Gespräch der Teilnehmer mit dem Kunden, in dem das zu produzierende Produkt (Halter f. Flaschenverschluss) näher erläutert wird und Anforderungen an eine besonders ressourcenschonende Produktion festgelegt werden. Im nächsten Schritt analysieren die Kursteilnehmer das Produkt und den Materialfluss in der Produktionsumgebung. Während der Analysephase werden die Methoden Wertstrom- und Materialflussaufnahme angewendet. Im dritten Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 221 Schritt werden Messwerte mit den installierten Messsystemen aufgenommen und alle Eingangs- und Ausgangsgrößen für jeden Prozessschritt ermittelt. Mit den gesammelten Messwerten können die einzelnen Herstellungsprozesse bewertet werden. Insbesondere die Verteilung der Sensoren und die Zuteilung der Messpunkte spielen eine wichtige Rolle bei der Bildung eines Betrachtungsraumes und der Generierung von KPIs. Abbildung 5: Datenerfassungssystem innerhalb der Lernfabrik für Ressourceneffizienz Aus diesem Grund wird bei der Schulung besonderer Wert auf die Datenerfassung und Datenauswertung gelegt, sodass die Teilnehmer alle relevanten Informationen aus den Prozessen erhalten und in einer SankeyAnalyse HotSpots mit besonderem Optimierungspotenzial identifizieren können (Meier et al. 2013). Eine Speicherung und Auswertung der Daten in einem MES (Manufacturing Execution System) wird vorgestellt, welches zusätzliche Möglichkeiten für spätere Anpassungen der Abläufe bietet. In der Lernfabrik für Ressourceneffizienz werden ebenfalls die Werkzeuge der Digitalen Fabrik genutzt, um den Ressourceneinsatz von großen Produktionsnetzwerken über einen längeren Zeitraum zu simulieren. Die Simulationsprogramme Plant Simulation und Enterprise Dynamics werden innerhalb der Schulung eingesetzt. Zur Parametrierung der virtuellen Mo- 222 Meier et al. delle spielen die Aufnahme der IST-Situation und Abstraktion der Messwerte eine entscheidende Rolle. Die Teilnehmer lernen valide Eingangsdaten für die Simulation zu erhalten, sodass die Optimierungsergebnisse die geforderte Qualität besitzen. Die erkannten Optimierungspotenziale werden abschließend in Handlungsmaßnahmen festgehalten und notwendige Investitionen monetär bewertet. 3.3 Lernfabrik für Management und Organisation Der Fokus der Lernfabrik für Management und Organisation liegt vor allem auf dem Personal. Als ein wichtiger Pfeiler des Spannungsfeldes TechnikOrganisation-Personal (T-O-P) spielen Mitarbeiter eine zentrale Rolle in Unternehmen. Das Ingenieursstudium in Deutschland ist allerdings sehr technisch orientiert, sodass angehende Führungskräfte mit dieser Thematik nicht ausreichend vertraut sind. Aus diesem Grund hat der Lehrstuhl für Produktionssysteme ein interdisziplinäres Seminar in Kooperation mit der Fakultät für Sozialwissenschaften und der gemeinsamen Arbeitsstelle RUB/Industriegewerkschaft Metall erarbeitet. Das Seminar zielt darauf ab, die angehenden Industrial Engineers (IE) im Umgang mit betrieblich mitbestimmungsrelevanten Inhalten zu schulen. Schließlich hat Deutschland ein weltweit einmaliges System der Mitbestimmung sowohl auf Gewerkschafts- als auch auf betrieblicher Ebene, welches in den Zeiten der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre dafür gesorgt hat, dass die deutsche Wirtschaft diese Krisen mehr oder weniger schadlos überstehen konnte. Zunächst gilt es in den Seminaren durch formelles Lernen den Teilnehmern ein theoretisches Wissen zu vermitteln und dieses aufzubauen. Erweitert um die Übungen in der Lernfabrik wird dieses Wissen durch informelles Lernen mit Erfahrungswissen erweitert und führt somit zu einer langfristigen Erfolgschance, das Erlernte zu verinnerlichen (Kreimeier et al. 2013a). Das Seminar beinhaltet die Module PPS-Strategie, Tätigkeitsstrukturanalyse (TSA), Change Management sowie betriebliche Mitbestimmung. Wichtig bei diesen Modulen ist es, dass sich die Teilnehmer während der Übungen mit ihren Rollen als Mitarbeiter eines Unternehmens identifizieren. Grund hierfür sind die betrieblichen mitbestimmungsrelevanten Fragestellungen, die sich in den Übungen wiederspiegeln. Zunächst erhalten die Teilnehmer einige Grundlagen zum Thema Prozessoptimierung. Hierbei geht es um die Verbesserung des gesamten Produktionsflusses, nicht um die Verbesserung einzelner Arbeitsplätze. Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 223 Gleichzeit werden Teilnehmer auf die Einflüsse auf Mitarbeiter, welche sich durch die Umstrukturierung ergeben, aufmerksam gemacht. In der nachfolgenden Übung (TSA) werden Mitarbeiter bei Ihrer Arbeit beobachtet und ihre Arbeit nach den Kern-, Neben- und organisatorischen Tätigkeiten aufgegliedert, um sie danach zu bewerten. Dabei wird den Teilnehmer nicht nur die Methode zur erfolgreichen Identifizierung von Verschwendung vermittelt, sondern vielmehr auch die notwendige soziale Kompetenz, um diese Prozess im Unternehmen durchzuführen. So bedingt eine TSA in der Regel die Benachrichtigung des Betriebsrates (sofern vorhanden), da hier Zeiten von Mitarbeitern aufgenommen werden. Der Fokus liegt hier auf den Mitarbeiter und auf einzelnen Arbeitsplätzen. Abbildung 6: Lerninhalte der Lernfabrik für Management und Organisation In der dritten Übung führen die Teilnehmer einen vollständigen Veränderungsprozess (Change Process) durch. Auch hier gilt es einerseits die verschiedene Methoden wie z.B. Einsatz von Key User und Entwicklung von Kommunikationsstrategien (Doppler et al. 2002) anzuwenden und ganz bewusst die Phasen von Veränderungsprozessen nach Lewin (unfreezing, moving und refreezing) (Lewin 1947) zu durchlaufen und zu analysieren. In der letzten Übung sollen die Teilnehmer einen Veränderungsprozess unter der realitätsnahen Bedingungen aus Sicht von Arbeitnehmer (direkt und indirekt Beteiligte), Betriebsräten, Management, Planungs- und Steuerungsmitarbeitern, Beobachtern, Lieferanten und Logistikern erleben 224 Meier et al. und in diesem agieren. Auf diese Weise wird die spezielle Gesetzeslage in Deutschland gelehrt und die Teilnehmer lernen die Verantwortlichkeiten von allen Seiten kennen (Schreyögg 2008). 3.4 Entwicklung einer Lernfabrik für Industrie 4.0 Neue Entwicklungen aus der Kommunikations- und Informationstechnologie ermöglichen Cyber-physische Systeme (CPS), welche die Vernetzung der physikalischen Welt (Sensoren/Aktoren) und der cyber Welt (netzbasierte Dienste, die Daten zu Situationen interpretieren und auf die die physikalische Welt einwirken können) (Geisberge et al. 2012). Diese werden zunehmend in die Produktion integriert und ermöglichen somit für die Produktion eine flexibilisierte Automatisierung von Maschinen und Anlagen. Damit entstehen, hochkomplexe Cyber-physische Produktionssysteme (CPPS), welche über die gesamte Automatisierungspyramide dezentral agieren und untereinander kommunizieren (VDI/VDE 2013), (Haußner et al. 2010), (VDI 5600 2007). Diese Entwicklungen werden unter dem Begriff Industrie 4.0 zusammengefasst und führen zu erheblichen Veränderungen in der Produktion und in der Zusammenarbeit mit Kunden und Zulieferern (acatech 2013), (Bauernhansl et al. 2014). Die Notwendigkeit von Lernfabriken im Zusammenhang mit Industrie 4.0 wird durch die Aussagen von SPATH gestützt, nach dem in naher Zukunft noch keine vollständige Autonomie dezentraler, sich selbst steuernder Objekte in der Produktion vorherrschen (Spath et al. 2013) und somit auch der Mitarbeiter nach wie vor eine große Rolle in der Produktion spielen wird (Ciupek 2013). Ziel von Industrie 4.0 ist nämlich nicht die menschenleere Produktion wie beim Ansatz des Computer Integrated Manufacturing (CIM) aus den 1980er Jahren, sondern eine integrierte Lösung, in der Mitarbeiter eine große Rolle spielen (Kreimeier, D. et al. 2015). Da das Konzept der Lernfabrik ein hohes Maß an handlungsorientiertem Lernen enthält, sollte gerade dieser praxisorientierte Ansatz auch für das Thema Industrie 4.0 genutzt werden, um Mitarbeitern dieses zu vermitteln (Kreimeier et al. 2014). 3.4.1 Audit-/Reifegradmodell Durch die vielfältigen Vorteile von Industrie 4.0, wie beispielsweise eine höhere Flexibilität, eine bessere Vernetzung innerhalb der Produktion und einer höheren Datentransparenz, versuchen viele Unternehmen in den letzten Jahren ihre Produktion in Richtung Industrie 4.0 zu entwickeln. Dabei stehen die Firmen jedoch vor der Herausforderung, die richtigen Entwicklungsschritte einzuleiten. Hierzu sind notwendige Unterstützungen Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 225 durch Migrationsmodelle erforderlich. Als ersten Schritt ist stets die Analyse des Ausgangszustands notwendig. Ein Industrie 4.0-Audit kann hier einen wertvollen Beitrag leisten. Dabei werden die Gestaltungsfelder Technik-Organisation-Personal der Produktion hinsichtlich ihrer Industrie 4.0-Reifegrade untersucht. Die Durchführung dieses Audits kann in der Lernfabrik geschult werden. Dafür analysieren die Teilnehmer den bestehenden Stand einer Produktion in der Lernfabrik und lernen wie Bewertungen durchgeführt werden. Durch die selbstständige Auditierung in der Lernfabrik wird somit die Analysefähigkeit der Teilnehmer geschult. Zudem erfolgt eine Sensibilisierung für das Themenfeld Industrie 4.0 und deren Potentiale. 3.4.2 Assistenzsysteme Im Rahmen des Verbundprojektes APPsist – „Intelligente Wissensdienste für die Smart Production“, welches vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert wird, soll ein Assistenzsystem, basierend auf Wissensdiensten, entwickelt werden. Assistenzsysteme werden aufgrund der immer höheren Komplexität von Werkzeugmaschinen und des durch Industrie 4.0 ausgelösten Innovations- und Technologiesprung immer mehr an Bedeutung gewinnen (Kreimeier et al. 2014a). Dahingehend sind zwei Zukunftsszenarien für die Entwicklung in der Fertigung denkbar: zum einen das Automatisierungsszenario und zum anderen das Werkzeugs-/ Assistenzszenario (Windelband 2013). Das erste Szenario verfolgt einen weitgehest autonom, automatisierten Prozesse, in dem die Mitarbeiter gering qualifiziert ausgebildet sind und wenig komplexe Aufgaben erfüllen. Das zweite Szenario, welche auch im Rahmen von APPsist verfolgt wird, strebt nach der Ausbildung von hochqualifizierten Mitarbeitern, welche intelligente Systeme nutzen, um Arbeitsprozesse durchzuführen, zu planen und zu steuern. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig die Mitarbeiter in den durch Industrie 4.0 hervorgerufenen Veränderungsprozess zu integrieren und diese auf die Möglichkeiten und Risiken von Industrie 4.0 vorzubereiten. Dieses Lernfabrikmodul sieht aus diesem Grund eine Einführung in die Ergebnisse des Forschungsprojektes vor. Wenn dieses Modul entwickelt ist, dann wird es den Teilnehmern entsprechendes Wissen über die Möglichkeiten von Assistenzsystemen in Industrie 4.0, die Schnittstellenproblematik und die Anbindung von Assistenzsystemen in Unternehmensinfrastruktur, Möglichkeiten von Applikationen, Methoden zu 226 Meier et al. Kompetenzermittlung sowie dem Wissensmanagement vermitteln (siehe Abbildung 7). 3.4.3 Lernsysteme Im Rahmen des Verbundprojektes DigiLernPro – „Digitale Lernszenarien für die arbeitsplatz-integrierte Wissens- und Handlungsunterstützung in der industriellen Produktion“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, soll ein intelligentes Lernsystem entwickelt werden. Die zur Verfügung gestellten Lerninhalte sollen innerhalb dieses intelligenten Wissenssystems an der Maschine zur nachhaltigen Wissenssicherung genutzt werden. Auf diese Weise wird eine neue Form des Lernens am Arbeitsplatz ermöglicht. Neben der reinen Assistenz der Mitarbeiter an der Maschine steht im Rahmen dieses Forschungsprojektes das Lernen, also die nachhaltige Wissenssicherung, im Fokus der Betrachtung. Ziel ist es dabei, die Mitarbeiter zu motivieren, Lernbedarf zu erkennen, passende Lerninhalte zu erstellen und anderen Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen. Hierzu sollen die Mitarbeiter in die Lage versetzt werden, die benötigten Prozessschritte multi-modal, also über Video, Text und Ton, aufzunehmen. Durch ein intelligentes Autorentool, das ebenfalls im Rahmen des Projektes entwickelt wird, wird das Vorhandensein aller notwendigen didaktischen Methoden sichergestellt. Die im Rahmen des Forschungsprojektes entwickelten Methoden und Tools werden im Rahmen eines eigenen Seminarblocks ebenfalls in die Lernfabrik integriert werden. 3.4.4 Cyber-Physical System Im Rahmen des Verbundprojektes SOPHIE – „Synchrone Produktion durch teilautonome Planung und humanzentrierte Entscheidungsunterstützung“, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, soll die echtzeitfähige Verknüpfung der realen Fabrik mit der Digitalen Fabrik realisiert werden. Dies erfolgt insbesondere über die Verknüpfung von MES, welches aktuelle Daten aus der Produktion bereithält und Simulationsprogrammen. Eine Informationsplattform, welches durch ein Agentensystem realisiert wird, dient als Datendrehscheibe und stellt benötigte Daten und Informationen verschiedenen Zielgruppen rollen- und kontextgerecht bereit (Kreimeier et al. 2015a). Die Anwendung dieses Systems ist nur bei einer frühzeitigen Einbindung und Schulung der späteren Nutzer erfolgreich. Daher werden Schulungen für verschiedene Nutzergruppen in der Lernfabrik ausgearbeitet. Darin erhalten die Teilnehmer Lernfabrik zur praxisorientierten Wissensvermittlung für eine moderne Arbeitswelt 227 einen Einblick in die Anwendung des Systems und lernen die Schnittstellen zu den anderen Systemen kennen. Interaktionen mit dem System sind direkt in der realen Produktionsumgebung in der Lernfabrik sichtbar. Dies fördert das Lernen und verdeutlicht den Teilnehmern die eigene Rolle im Produktionssystem mit der Anwendung des SOPHIE-Systems. Abbildung 7: Lerninhalte der Lernfabrik für Industrie 4.0 4 Zusammenfassung und Ausblick Diese Abhandlung verdeutlicht die Motivation und den Mehrwert von Lernfabriken in einer praxisorientierten Weiterbildung von Studenten und Mitarbeitern. Der Aufbau und Betrieb einer Lernfabrik stellt zunächst einen großen finanziellen Aufwand dar. Der Ansatz des Lehrstuhls für Produktionssysteme hat allerdings gezeigt, dass verschiedene Themenfelder parallel in einer Lernfabrik mit einem Produkt effizient bearbeitet werden können. Die bestehende Lernfabrikfläche erlaubt zusätzlich zu den bereits bestehenden Lernfabriken die schnelle und umfassende Integration weiterer Themenbereiche in die Fertigungsumgebung. Der zunehmende Trend der Vernetzung von Produktionsmaschinen führt auch hier zu einem steigen- 228 Meier et al. den Bedarf an Lerninhalten in diesem Bereich. So ist es in Zukunft am Lehrstuhl für Produktionssysteme der Ruhr-Universität Bochum geplant auch diesem Umstand Sorge zu tragen und die Themen der Industrie 4.0 im Rahmen einer weiteren Lernfabrik umzusetzen und in das bestehende Schulungskonzept zu integrieren. Danksagung Dieser Artikel im Rahmen des Forschungsprojektes „rebas – Ressourceneffiziente Entwicklung und optimierter Betrieb von Abfüllanlagen in der Lebensmittelindustrie durch den Einsatz einer neuartigen Simulationssoftware“ das vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV) finanziert wird. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts „APPsist - Intelligente Wissensdienste für die Smart Production“, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie unter dem Kennzeichen 01MA13004C gefördert und vom DLR-Projektträger betreut wird. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Verbundprojekts „Digitale Lernszenarien für die arbeitsplatz-integrierte Wissens- und Handlungsunterstützung in der industriellen Produktion“, das vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Kennzeichen 01PD14007E gefördert wird. Literatur Abele, E., Bechtloff, S., Chachay, J., Tenberg, R., 2012.: Lernfabriken einer neuen Generation – Entwicklung einer Systematik zur effizienten Gestaltung von Lernfabriken. Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb. Abele, E., Eichhorn, N., Brungs, F., 2007.: Mitarbeiterqualifikation in einer realen Produktionsumgebung - Langfristige Prozessverbesserungen durch praxisnahe Lernformen. Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb. Abele, E., Tenberg, R., Wenemer, J., Cachay, J., 2010.: Kompetenzentwicklung in Lernfabriken für die Produktion. 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InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität 233 InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität Martin Schmauder, Martin Erler, Christian Fabig, Christian Friedrich, Daniel Gröllich, Anja Günther, Gritt Ott Im Rahmen eines geförderten Projektes wurde ein Lehrangebot an Studierende entwickelt, in dem durch projektorientiertes Arbeiten in einem interdisziplinären Team Innovationskompetenz erworben und verbessert wird. Es ist eine Möglichkeit, das bereits erworbene umfangreiche Fachwissen in einer realistischen fächerübergreifenden Projektarbeit schon während des Studiums anzuwenden. Bei einem fiktiven Automobilzulieferer sollen die studentischen Teams einen innovativen Herstellungsprozess einführen. Dafür gestalten sie Fertigung, Montage, Logistik, Personaleinsatz sowie Fabriklayout und betrachten dabei arbeitswissenschaftliche, betriebswirtschaftliche und technische Aspekte in ihrem Zusammenwirken. Innerhalb des Gesamtprojektes ist jeder Teilnehmer mit seinem spezifischen Fachwissen für bestimmte Bereiche der Lösung verantwortlich. Durch intensive Kooperations- und Abstimmungsprozesse wird daraus eine ganzheitliche Lösung entwickelt, die abschließend präsentiert und bewertet wird. 1 Einleitung Unternehmen erwarten mehr Verantwortungsübernahme und Mitdenken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie höhere Flexibilität bezüglich Arbeitsaufgabe und Arbeitsanforderungen, um erfolgreiche Innovationsprozesse realisieren zu können. Daraus ergeben sich andere, zusätzliche Qualifikationsanforderungen an Beschäftigte, die in Innovationsprozesse eingebunden sind. In erster Linie geht es dabei um ganzheitliches Denken, Innovationsfähigkeit und um Prozessverständnis. Abgleitet aus der Notwendigkeit zu lebenslangem Lernen bedarf es außerdem vermehrt der Befähigung zum selbstständigen Lernen, der Fähigkeit sich bedarfsorientiert neues Wissen anzueignen und in komplexe bereits bekannte Zusammenhänge einzuordnen. Das Thema der Innovationskompetenz spielt in der universitären Ausbildung allerdings bisher kaum eine Rolle. Mit der „InnoFab“ der TU Dresden 234 Martin Schmauder et al. 13 wurde daher im Rahmen eines von der SAB geförderten Projektes ein praxisnahes Lernangebot entwickelt und erprobt, das die späteren Innovationsakteure nun bereits während ihres Studiums gezielt darauf vorbereitet. 2 Vorgehen Zunächst wurden die konkreten Bildungsziele formuliert und darauf aufbauend das konkrete pädagogische Konzept zu deren Umsetzung erarbeitet. Leitgedanke ist das selbstgesteuerte Lernen (Bünnagel 2012) mit dem Ziel des Erwerbs von Handlungskompetenz. Gelernt wird nicht nach Wissensgebieten oder nach Fachdisziplinen, sondern nach dem jeweiligen Anwendungsbezug in selbstgesteuerter Lernprozessen. In selbstständiger und zeitlich frei eingeteilter Gruppenarbeit organisieren sich die Lernenden selbst. Die persönliche Innovationskompetenz eines Beschäftigten setzt sich aus mehreren Teilkompetenzen zusammen (vgl. Abbildung 1). Die Vermittlung von Fachwissen ist dabei im konkreten Zusammenhang kein Teil der InnoFab, sondern erfolgt in den regulären Lehrveranstaltungen des Fachstudiums, so dass die Fachkompetenz als gegeben vorausgesetzt wird. Abbildung 1: Teilkompetenzen der Innovationskompetenz im Verständnis der InnoFab Die InnoFab fokussiert stattdessen 13 die Kombination von Methodenkompetenz mit vorhandenem Fachwissen (Fachwissen anwenden), den Erwerb und die Anwendung von Problemlösefähigkeiten (konkrete Aufgaben im realitätsnahen Kontext lösen), Das Projekt InnoFab wurde von der SAB Sächsischen Aufbaubank - Förderbank des Freistaates Sachsen, im Rahmen des ESF-Programms gefördert, wofür gedankt wird. InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität 235 die Befähigung zu ganzheitlichem Denken (komplexe Projekte gezielt bearbeiten) sowie die Befähigung zu fach- und bereichsübergreifender Zusammenarbeit. Im zweiten Schritt wurde die Story der InnoFab formuliert. Die InnoFab wird als projektorientiertes Rollenspiel für die Dauer eines Semesters organisiert. Die Geschäftsführung des fiktiven Automobilzulieferer EFFEKT AG (repräsentiert durch ein Betreuer-Team aus wissenschaftlichen Mitarbeitern) beauftragt ein Innovationsteam (bestehend aus 5 bis 7 Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen) mit den Planungen zur Umsetzung des Kundenauftrags an einem sonst zu schließenden Standort des Unternehmens. Dieser Kundenauftrag basiert auf einem durch die firmeneigene F&EAbteilung entwickelten Verfahrens zur Herstellung eines LeichtbauFederdoms. Es konnte ein Kundenauftrag akquiriert werden, der die Lieferung einer Bauteilgruppe aus dem Leichtbau-Federdom mit entsprechendem Leichtbaufahrwerk in vorgegebener Stückzahl umfasst. Die Aufgabe für das Innovationsteam/die Studierenden besteht darin: serienreife Lösungen für die innovative, bisher nur prototypisch existierende Fertigung der Bauteile zu entwerfen, die Montage der Baugruppe zu planen sowie den bestehenden Fabrikbetrieb mit vorhandenen Logistik- und Personalstrukturen unter Beachtung betriebs- und arbeitswissenschaftlicher Gesichtspunkte für die Fertigung des neuen Produkts zu reorganisieren. Dabei sind vorgegebene Kundenparameter sowie betriebswirtschaftliche Vorgaben (Gewinnspanne, Investitionskosten, Stückzahl pro Jahr) zu berücksichtigen. Die Lösung dieser Hauptaufgabe erfordert Fachwissen aus verschiedenen Disziplinen (vgl. Abbildung Abbildung 22 links). Dazu nehmen die Studierenden innerhalb ihres Teams eine fachspezifische Arbeitsteilung vor – gleichzeitig müssen sie bezüglich der übergreifenden Gesamtzielstellung zusammenarbeiten (sich informieren, kollaborieren und kooperieren, vgl. [Bair 1989]). 236 Martin Schmauder et al. Die Aufgabe ist lösbar, aber eine in jeder Hinsicht optimale Lösung kann es nicht geben. Das zu lösende Problem ist komplex und basiert zum Teil – wie bei realen Planungsprozessen – auf unvollständigen Informationen. Das Team kann jederzeit Anfragen an verschiedenen Abteilungen oder die Geschäftsführung des fiktiven Unternehmens stellen, um weitere Daten zu erhalten und Teillösungen strategisch abzustimmen. Jedes Team arbeitet also projektorientiert und problembasiert zusammen [Günther 2012]. Die Lehrkräfte (Coaches) nehmen während der Bearbeitung gegenüber den studentischen Teams unterschiedliche Rollen ein: im Sinne des Rollenspiels die Funktion der Geschäftsleitung mit unterschiedlichen Fachgebieten, die über das Investitionsvorhaben zu entscheiden hat, die des Coaches bei Fragen der Aufgabenbearbeitung und bei Problemen im Team sowie die Rolle der Suchmaschine, um benötigte Informationen für die Ausarbeitung der Lösung bereitzustellen. Abbildung 2: Rollenverteilung Um die Konzentration der Studierenden auf die interdisziplinäre Bearbeitung der Aufgabenstellung und weg von der Beschaffung technischer Detailinformationen zu lenken, wurden für das Produkt und die einzelnen Herstellprozesse zahlreiche Daten zusammengetragen und Unterlagen zu fachspezifischen Lösungstools zusammengestellt. InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität 237 Fachinhalte waren bereitzustellen für die Herstellung des Federdoms, die Beschaffung benötigter Zukaufteile, die Montage der Baugruppe, die Fabrikplanung und Logistik des Gesamtprozesses sowie zu Arbeitsschutz, Arbeitsplatzgestaltung, Personaleinsatz und Kostensituation. Im Folgenden wird die Einbindung der Fachinhalte in die Aufgabenstellung erläutert. 2.1 Herstellung des Federdoms Federdom Federbein Abbildung 3: Baugruppe aus innovativem Leichtbau-HGTT-Federdom und Leichtbaufahrwerk Im Rahmen eines vorangegangenen Forschungsprojekts entstand am Institut für Werkzeugmaschinen und Steuerungstechnik der TU Dresden ein neuartiger Fertigungsprozess zur vollautomatisierten Herstellung von mehrlagigen, faserwinkelgerechten, glasfaserverstärkten Thermoplastverbundbauteilen aus Hybridgarn-Textil-Thermoplast (HGTT) am Beispiel eines Demonstratorbauteils von der Geometrie eines Federdoms [Großmann]. Ausgangspunkt für die Fertigung des Federdoms ist ein textiles Flächengebilde aus Hybridgarn (35 % Glasfaser, 65 % Polyprophylen), welches als Rollenware vorliegt. Die Prozesskette gliedert sich in die Herstellung einer textilen Preform aus der Rollenware sowie die anschließende Umformung und Konsolidierung der Preform zum Fertigteil. Entsprechend dieser Struktur wird der Prozess durch zwei Bearbeitungszentren (BAZ) umgesetzt (vgl. Abbildung 4a). 238 Martin Schmauder et al. Im ersten BAZ (vgl. Abbildung 4b), dem Preformzentrum, erfolgt nach Zustellung des Materials zunächst der Zuschnitt einzelner Lagen mit einem Plasmabrenner. Anschließend werden die Einzellagen faserwinkelgerecht zur Preform gestapelt und mittels Ultraschallpunktschweißen fixiert. Als Bewegungseinrichtung kommt ein Hexapod zum Einsatz. Im zweiten BAZ (vgl. Abbildung 4c), dem Konsolidierungszentrum, wird aus der Preform durch Umformung und Konsolidierung in einem variothermen Pressprozess das Fertigteil hergestellt. Dabei schmilzt der PolyprophylenFaseranteil des Hybridgarns auf und bildet die Matrix des Fertigteils. Das automatisierte Handling der biegeschlaffen, luftdurchlässigen Preform sowie des heißen, soliden Fertigteils übernimmt ein Industrieroboter mit einem speziellen Greifersystem bestehend aus Nadelgreifern und Vakuumsauggreifern. Abbildung 4: Prozesskette des EFFEKTProzesses, a: Gesamtprozess, b: Preformherstellung, c: Umformung und Konsolidierung Der Prozess ist durch zahlreiche neue Technologien gekennzeichnet. Im Vergleich zu den bisherigen Verfahren findet die Herstellung automatisiert, schnell sowie energieeffizient statt und ermöglicht neben der Aufbringung von Verstärkungspatches vor allem die Erzeugung mehrlagiger Preforms mit unterschiedlichen Faserwinkeln in den Einzellagen. Erstmals kommt das Plasmastrahlschneiden durch eine indirekte Plasmaerzeugung auch für nichtleitende Materialien zum Einsatz [Machova et al. 2011]. Somit wird es möglich, die Glasfasern verschleißfrei zu trennen. Weiterhin erfolgt einseitiges Ultraschallpunktschweißen für HGTT zur Fixierung der Preform sowie das Handling biegeschlaffer luftdurchlässiger Materialien mit Vakuumsauggreifern. InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität 239 Innerhalb der InnoFab wird der EFFEKT-Fertigungsprozess dem Innovationsteam durch eine „Forschungsabteilung“ als prototypischer Prozess vorgestellt, der zur „Serienreife“ weiterentwickelt werden muss. Dazu gilt es, neben der betriebswirtschaftlichen, arbeitswissenschaftlichen, logistischen und fabrikplanerischen Betrachtung des Prozesses diesen durch Umgestaltung und Effizienzsteigerung auf eine den vorgegebenen Stückzahlen entsprechende Fertigungszeit zu bringen. Voraussetzung für diesen Schritt ist das vollständige Verständnis des komplexen Prozesses durch die Studierenden. Wie die Aufgabe schließlich gelöst wird, ist freigestellt, sofern die gestellten Randbedingungen eingehalten werden. So ist es ausdrücklich erlaubt, Teilprozesse umzugestalten, zu parallelisieren oder bisherige technische oder konstruktive Lösungen komplett in Frage zu stellen und neu zu entwerfen. Dadurch ergeben sich zahlreiche Lösungsvarianten und es bleibt ausreichend Raum für innovative Ideen durch das Projektteam. Die Lösung muss neben der skizzenhaften Prinzipdarstellung vor allem die Machbarkeit sowie die Einhaltung der Randbedingungen durch rechnerische, experimentelle und/ oder konstruktive Arbeiten plausibel darlegen sowie gegenüber alternativen Lösungen überzeugen. Die Herstellung der weiteren Komponenten für das Federbein durch mechanische Bearbeitung wird weitgehend abstrahiert und auf seine Schnittstellen (Stückzahl, Fläche, Kosten, Personal, Gefährdungen etc.) reduziert, da der Bereich wenig technisch neuartige Elemente beinhaltet und der Umfang des fertigungstechnischen Teils der Aufgabenstellung durch den EFFEKT-Prozess ausreichend abgedeckt ist [Schmauder et al. 2012]. 2.2 Montage Die Planung der Montage umfasst neben dem Entwurf eines effektiven Prozesses die Identifizierung der zu verwendenden Ressourcen und deren Anwendungsarten sowie die Ermittlung von Vorgehensweisen und Steuerungsmechanismen. Um diesen iterativen Prozess effizient innerhalb des Bearbeitungszeitraums lösbar zu machen, wurde der Umfang zeitintensiver Teilaufgaben, wie z. B. die Ermittlung von Verrichtungszeiten, die Layout und Feinplanung, die Variantengenerierung sowie die Dokumentation, soweit wie möglich komprimiert und deren Bearbeitung durch die Bereitstellung geeigneter Werkzeuge simplifiziert. Somit bleibt trotz der Reduktion der Arbeitsumfänge die Gesamtkomplexität der Planungsaufgabe be- 240 Martin Schmauder et al. stehen. Dies ist wichtig, um die Konnektoren zu den anderen Bereichen, wie z. B. über Kostenanteile zur Betriebswirtschaft oder über Flächenanteile zur Fabrikplanung, zu erhalten. Entfernungsfaktor Grundzeit Beispielsweise wurde aus dem verbreiteten MTM-UAS®-System zur Arbeitsablauf-Zeitanalyse ein vereinfachtes Zeitermittlungssystem abgeleitet und den Studierenden bereitgestellt. Es basiert auf einer Grundzeit und einem Entfernungsfaktor, welche beide für drei verschiedene Schwierigkeitsgrade vorliegen. Der Schwierigkeitsgrad wird anhand einer Tabelle mit Fragebogencharakter ermittelt (vgl. Abbildung 5). Leicht: 0 – 1 Punkte Mittel: 2 Punkte Schwer: 3 -4 Punkte Erforderliche Kraft Keine Gering hoch Vorhandene Passung Spiel- und Übergangspassung mit Fügehilfe (z. B. Trichter) Spielanpassung ohne Hilfe, Übermaßanpassung mit Hilfe Übermaßanpassung ohne Hilfe Fügegenauigkeit Lage und Orientierung nur grob vorgegeben Lage und Orientierung genau vorgegeben Lage und Orientierung genau vorgegeben Bewegungsraum Uneingeschränkt zugängig Leicht zugängig Schwer zugängig Kontrollaufwand Teil liegt vollständig in Hand, kann in Rotationsachse und Masseschwerpunkt gegriffen werden, kein/sehr geringer Kontrollaufwand Kann nicht zentral gegriffen werden, erfordert geringen Kontrollaufwand Schwer zu halten, rutscht, stark asymmetrische Haltung, mittlerer/hoher Kontrollaufwand Tragen Ohne zusätzliches Gewicht mit geringem Gewicht mit Kontrollaufwand, mit mittlerem Gewicht ohne Kontrollaufwand mit schwerem Gewicht, mittlerem Gewicht mit Kontrollaufwand Abbildung 5: Bewertungsschema für den Schwierigkeitsgrad einer Verrichtung Mit der so erhaltenen Grundzeit und dem Entfernungsfaktor für die jeweilige Verrichtung kann die Verrichtungsdauer berechnet werden. Dies kann beispielsweise ein zurückzulegender Weg oder die Greifentfernung zum Aufnehmen eines Bauteils sein. Die Auswahl geeigneter Fertigungshilfsmittel und die Ausstattung eines Montagebereichs wird üblicherweise durch Systemlieferanten oder Kata- InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität 241 logauswahl mit Abgleich der Anforderungen erledigt. Um die Iterationen zwischen Planung der Objekte und ihrer Anordnung zu vereinfachen, wird ein weitgehend simplifizierter Katalog mit allen relevanten Objekten bereitgestellt. Montagetechnik, die in mehreren Ausführungen verfügbar sein muss, ist parametrierbar hinterlegt. Über einen Kostenfaktor und einen Grundpreis erfolgt die Berechnung des Gesamtpreises für das benötigte Objekt. Die Anordnung der Objekte kann grob mit Hilfe von geometrischen Primitiven erfolgen, die sich mit den Maßen der Kalkulation decken. Für die Detailplanung sind präzisere Layouts erforderlich, da nur so deren Ausrichtung und exakte Anordnung geplant werden kann. Außerdem sind konkrete Ausgestaltungen für arbeitswissenschaftliche Beurteilungen notwendig [Schmauder et al. 2012]. 2.3 Fabrikplanung und Logistik Die Aufgabenstellung besteht in der Umplanung und Erweiterung eines bestehenden Fabrikgebäudes, so dass zukünftig das neu entwickelte Produkt in Serie gefertigt werden kann. Im Rahmen der InnoFab sind Aufgaben der Konzeptplanung auf den Ebenen Arbeitsplatz, Produktionsbereich und Gebäude zu bearbeiten (vgl. Abbildung 6). Abbildung 6: Phasenmodell des Fabrikplanungsprozesses [VDI 2011] Die Ergebnisse der vorgelagerten Phasen „Zielfestlegung“ und „Grundlagenermittlung“ dienen als Ausgangspunkt und werden durch die Aufgabenstellung vorgegeben. Insbesondere sind die Personalressourcen sowie die vorhandenen und am Markt verfügbaren Betriebsmittel wie Maschinen, Transport- und Lagermittel sowie vorhandene Grundstücke und Gebäude definiert. Weiterhin werden sowohl monetäre als auch nichtmonetäre Parameter des Umplanungsprojekts vorgegeben. Aus konkurrierenden Projektzielen und Restriktionen auf den einzelnen Planungsebenen resultiert eine hohe Planungskomplexität. Die Studierenden müssen folgende Teilaufgaben iterativ bearbeiten (vgl. [VDI 2011]): Strukturplanung (Festlegung der Produktionsstruktur auf den Planungsebenen Gebäude und Produktionsbereich), Dimensionierung (Kapazitätsauslegung der Betriebsmittel und die Ermittlung des Flächenbedarfs), 242 Martin Schmauder et al. Layoutplanung (Erzeugung und Bewertung von Layout- und Gebäudevarianten unter Einbeziehung aller Restriktionen). Analog zur Montageplanung erfolgt auch hier eine Simplifizierung und Reduzierung, um die Bearbeitung innerhalb des vorgegebenen Zeitraums zu ermöglichen. Ausgangspunkt der fabrikplanerischen Aufgaben sind die bereitgestellten Dokumente. Diese bilden das Ergebnis der Phase „Grundlagenermittlung“ nach. Die Dokumente umfassen die erforderlichen technischen Daten für eine Dimensionierung und Layoutplanung. Es werden maßstäbliche Zeichnungen der bestehenden Gebäude sowie Grundrisse vorhandener und am Markt verfügbarer Betriebsmittel bereitgestellt. Grundrisse können aus einer Bibliothek in die Gebäudezeichnung importiert werden, so dass die Erstellung mehrerer Varianten rasch möglich ist. Zusätzlich steht ein Berechnungswerkzeug zur räumlichen Strukturierung der Produktionsbereiche innerhalb des Gebäudes zur Verfügung. Mittels eines heuristischen Aufbauverfahrens kann näherungsweise eine transportleistungsminimale Anordnung der Produktionsbereiche auf freien Standorten errechnet werden. Durch die bereitgestellten Dokumente werden zeitaufwendige Katalogrecherchen durch die Studierenden vermieden. Da die Abstimmung konkurrierender Projektziele und Restriktionen verschiedener Produktionsbzw. Fachbereiche innerhalb der Konzeptplanung ein iteratives Vorgehen erfordert, sind insbesondere die Teilaufgaben Dimensionierung und Layoutplanung mehrmals zu bearbeiten. Hierfür werden Werkzeuge und Hilfsmittel bereitgestellt, mit denen die notwendige interdisziplinäre Zusammenarbeit des Projektteams unterstützt wird [Schmauder et al. 2012]. 2.4 Arbeitswissenschaft Im Rahmen der InnoFab sollen die Studierenden lernen, wie die Sachverhalte der Arbeitswissenschaft bereits in frühen Planungsphasen nachhaltig berücksichtigt werden können. Diese sind der sich abzeichnende demografische Wandel, die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben sowie gesundheitliche Aspekte bezogen auf die individuelle berufliche Situation. Im Fokus steht einerseits die Vorbeugung bzw. Reduzierung längerfristiger Arbeitsausfälle auf Grund altersbezogener chronischer Erkrankungen durch eine angemessene betriebliche Gesundheitspolitik. InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität 243 Abbildung 7: Aufgabenfelder des Arbeitswissenschaftlers in der InnoFab Andererseits gilt es, bei der Arbeitssystemgestaltung neben der Prozessoptimierung auch die organisatorischen und persönlichen Belange des Arbeitens zu berücksichtigen, um physische und psychische Fehlbeanspruchungen zu vermeiden. Nachweislich besteht ein enger Zusammenhang zwischen ergonomischer Arbeitsplatzgestaltung und erzielbarer Wirtschaftlichkeit. Ergonomisch einwandfrei gestaltete Tätigkeiten und Arbeitsplätze sind wirtschaftlicher als solche, die den diesen Ansprüchen nicht gerecht werden [Lotter, Hartung 2012]. Dies beinhaltet sowohl aus ergonomischer als auch wirtschaftlicher Sicht u. a. eine geeignete Gestaltung der Materialbereitstellung und der notwendigen Werkzeuge. Die Studierenden sollen auf diese Sachverhalte angemessen reagieren und im Rahmen des Planungsprozesses eine flexible Arbeitsorganisation entwerfen, die menschliche Arbeit und Automatisierungstechnik human sowie wirtschaftlich, verbindet. Hierfür sind sowohl die klassischen Aufgaben des Arbeitsschutzes anzuwenden, insbesondere in Bezug auf die eingesetzten neuartigen Verfahren wie das Plasmastrahlschneiden von Glasfasern, aber auch neueste Erkenntnisse aus der Forschung und Entwicklung auf den Gebieten Ergonomie, Human Resources Management sowie der Arbeitsorganisation einzubringen (vgl. Abbildung 7). Es ist dabei freigestellt, auch neue unkonventionelle Wege zu gehen, um Aufgabeninhalt, Arbeitsaufteilung, Art der Materialbereitstellung, Materialanforderungen, Lager-, Transportmöglichkeiten, Prozesseffektivität, Ressourcenschonung oder auch die Arbeitszeit- und Schichtsystemgestaltung auszulegen. Durch die Interdisziplinarität der Maßnahmen sind bei deren Planung alle Teilbereiche der InnoFab zu berücksichtigen. Dies fördert ganzheitliche Betrachtungs- und Lösungsweisen – eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Innovationen [Schmauder et al. 2012]. 244 3 Martin Schmauder et al. Ablauf der InnoFab Zu Beginn erhalten die Studierenden eine Einweisung in Ziel und Inhalt der InnoFab. In einer Vorlesung zum vernetzten Denken wird ihnen zusätzliches Wissen zum Lösen komplexer Aufgabenstellungen vermittelt. Daran schließt sich ein Termin für die Demonstration der Teilprozesse im entsprechenden Versuchsfeld an. Dabei können die Teams bereits konkrete Informationen sammeln bzw. Fragen mit den Coaches klären. Danach arbeiten die Studierenden selbstständig an der Lösung der Aufgabenstellung. Ihnen stehen Coaches zur Seite, die ihnen zusätzliche Informationen liefern, für Fragen ansprechbereit sind bzw. die vorgelegten Arbeitsstände der Teams prüfen. Als Meilensteine der Bearbeitung wurden definiert: Abbildung 8: Meilensteine innerhalb der InnoFab Die Bearbeitung der InnoFab endet für die Teams mit einer Dokumentation ihrer Lösung, der Präsentation der Lösung sowie der Präsentation der Zusammenarbeit vor den Coaches. Abbildung 9: Eindrücke aus Durchführung der InnoFab InnoFab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität 245 Die Bewertung der studentischen Leistungen in der InnoFab ist insofern schwierig, da die Aufgabe bewusst ergebnisoffen gestaltet ist und jedes Team andere Schwerpunkte in seiner Planung setzt. Gleichwohl sind bestimmte Fachinhalte prägend für die InnoFab und damit zwingender Bestandteil der studentischen Planungen. Folgende Bewertungspunkte fließen ein: Fachkompetenz: bewertet werden fachliche Richtigkeit und Vollständigkeit eingereichter Unterlagen zu Detaillösungen, Bsp.: Stückzahlnachweis, Arbeitsplatzgestaltung, Investitionskosten; Ganzheitliches Denken: bewertet wird der Innovationsgrad und die Abgestimmtheit der Detaillösungen, Bsp.: innovative Ideen zur Prozessgestaltung, Flexibilität bei Stückzahländerungen; Zusammenarbeit: bewertet wird die Konsistenz und Ganzheitlichkeit der Gesamtlösung, Bsp.: Erfüllung übergreifender Ziele (Investitionskosten, Stückzahl, Vorbildwirkung im Arbeitsschutz, …), Variantenvergleiche, Projektplanung, Präsentation vor der Geschäftsführung. 4 Zusammenfassung und Ausblick Mit der InnoFab wird ein neues Lehr- und Lernkonzept vorgestellt, welches das Ziel verfolgt, Innovationskompetenz und die Fähigkeit zu ganzheitlichem Denken zu fördern und damit die Innovationsfähigkeit der Teilnehmer zu erhöhen. Die Teilnehmer erarbeiten in einem interdisziplinären Projektteam unter Betreuung von Tutoren eine Lösung für die Einführung eines innovativen Fertigungsprozesses in einem bestehenden fiktiven Unternehmen. Die alleinige Abarbeitung der beschriebenen Fachinhalte entsprechend der Disziplinen würde innerhalb der InnoFab zu keiner sinnvollen Lösung führen. Erst wenn die fachspezifischen Einzelleistungen im Rahmen der übergeordneten Hauptaufgabe zusammengeführt werden, entstehen tragfähige Gesamtkonzepte, die vor der (fiktiven) Geschäftsführung präsentiert werden können. Die bisherigen Teilnehmer haben das neuartige Konzept der InnoFab sehr positiv aufgenommen. Zitat eines Teilnehmers: „Das ist das Beste, was ich in den acht Semestern meines Studiums bisher gemacht habe.“ 246 Martin Schmauder et al. Nach einer Testphase wurde die InnoFab in das reguläre Lehrangebot aufgenommen. Im Rahmen der Lehrevaluation wird die Innofab überprüft und ggf. optimiert werden. Literatur Bair, J.H., (1989).: Supporting Cooperative Work with Computers: Adressing Meeting Mania.COMPCON Computer Society of the IEEE,San Francisco Bünnagel, W., 2012.: Selbstorganisiertes Lernen im Unternehmen – Motivation freisetzen, Potenziale entfalten, Zukunft sichern. Gabler Verlag. Wiesbaden. Günther, A. (2012).: Entwicklung fachübergreifender Kompetenzen durch projektorientiertes Arbeiten. HDS Journal – Tagungsedition (2012) 1, S. 56-62 Großmann, K.; Ott, G.; Friedrich, C.; Geller, S.; Kötter, H.; Machova, K.; Niemand, T.; Riedel, M.; Schenke, C.; Zhao, N., (2011).: Endkonturnahe Thermoplastverbundbauteile: Neuartiger Fertigungsprozess zur effizienten Herstellung. ZWF 106 (2011) 10, S. 752–757 Machova, K.; Zschetzsche, J.; Füssel, U.;Friedrich, C. ; Riedel, M.; Schuster, H.; Rückert,R., (2011).: Innovatives Schneiden technischer Textilien mittels Plasmastrahl. Technische Textilien (2011) 5. VDI 5200-1: Fabrikplanung – Planungsvorgehen, 2011 Lotter, B.; Hartung, J., (2012). : Altersneutrale und wirtschaftliche Gestaltung von Montagearbeitsplätzen contra Leistungswandel. Betriebspraxis und Arbeitsforschung – Zeitschrift für angewandte Arbeitswissenschaft 212 (2012). Schmauder, M., Erler, M., Fabig, C., Friedrich, C., Gröllich, G., Günther, A., Ott, G. (2012).: Innofab – Innovationsfabrik als Lehr- und Lernform einer Universität. ZWF Zeitschrift für wirtschaftliche Fertigung 107(2012)11 Universitäre Ausbildungskonzepte – Übersicht Universitäre Ausbildungskonzepte Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung im Rahmen der universitären Lehre Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny 247 Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität 249 Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze Die moderne Arbeitswelt ist u.a. durch einen Wandel von der ressourcenzur wissensbasierten Produktion sowie den Wandel von Linearität zu Komplexität gekennzeichnet. Um erfolgreich mit der zunehmenden Komplexität von Produktionssystemen umgehen zu können, wird der Aufbau von System- und Problemlösungskompetenz zunehmend wichtiger. Im folgenden Beitrag werden zwei studentische Ausbildungskonzepte zum Aufbau der genannten Kompetenzen vorgestellt. Sie basieren auf dem Konzept des hybriden Lernens, d.h. dem Lernen durch Informationsaufnahme und durch Erfahrung. 1 Kompetenzen für den Umgang mit zunehmender Systemkomplexität Die zunehmende Globalisierung und die rasanten technologischen Entwicklungen prägen die moderne Arbeitswelt vieler Unternehmen und stellen sie vor große Herausforderungen. Der Manufuture Report „A Vision for 2020“ hebt die ursächlichen Entwicklungstendenzen hervor. Sie bestehen u.a. aus einem Wandel von einer ressourcenbasierten zu einer wissensbasierten Produktion und von Linearität zu Komplexität. Beide Entwicklungslinien konstatieren sich deutlich in der aktuell evolvierenden vierten industriellen Revolution (Industrie 4.0). 1.1 Zunehmende Systemkomplexität durch Industrie 4.0 Industrie 4.0 zeichnet sich durch den vermehrten Einsatz vollautomatisierter, sich situativ selbststeuernder Maschinen und Anlagen in der industriellen Produktion aus (Kagermann et al. 2013; Wahlster 2011). Diese zunehmende Handlungs- und Kommunikationsautonomie innerhalb der Produktion wird durch eine zunehmende Verbreitung sogenannter CyberPhysischer-Systeme unterstützt, deren Ziel die weitreichende Vernetzung der Maschinen, Anlagen sowie Produkte darstellt. Diese dezentrale Selbstorganisation der Produktion bewirkt eine Steigerung der produktionsinternen Variabilität. So durchlaufen Produkte bspw. variierende Rou- 250 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze ten je nach Auslastungsgrad der Maschinen und Anlagen. Aus systemorientierter Sichtweise bewirkt dieser Variabilitätsanstieg eine Erhöhung der Dynamik und somit der Komplexität des Systems. Über die zunehmende systeminterne Variabilität hinaus resultiert aus dem steigenden Technologieeinsatz eine Abnahme der Transparenz in der Produktion. Ursache dafür ist das fehlende Verständnis der Funktionsweise verteilter, vernetzter, softwarebasierter Systeme seitens der Nutzer. Dadurch sind eintretende Maschinenzustände wie bspw. Störungen durch den Produktionsverantwortlichen schwer identifizierbar und geeignete Reaktionen bleiben ggf. aus. Die fortschreitende Implementierung Cyber-Physischer-Systeme führt zudem zu einem kontinuierlichen Wachstum industrieller Datenbestände. Diese großen Datenmengen schaffen – sofern nutzbar aufbereitet – vielfältige Möglichkeiten. Ein Beispiel stellt die Chance zur Realisierung verstärkt rechnergestützter, datenbasierter und damit schnellerer PDCA-Zyklen bzw. multikriterieller Versuche dar (Deuse et al. i.V.). Die zunehmende Vernetzung birgt jedoch die große Gefahr, dass der Mensch das Verständnis für den Ist-Zustand des Produktionssystems verliert. Dieses Verständnis ist für die Gestaltung und Verbesserung von Produktionssystemen unabdingbar (Richter/Deuse 2011; Rother 2009) und Bestandteil der Systemkompetenz. 1.2 Aus der Systemkomplexität resultierende Kompetenzanforderungen Aus fachlich-methodischer Sicht ist für die Gestaltung und Verbesserung von Produktionssystemen der Dreiklang aus Methoden-, System- und Problemlösungskompetenz erforderlich (ifaa 2010; Richter/Deuse 2011; Kuhlang/Sihn 2012; Steffen/Deuse 2014). Die Methodenkompetenz beinhaltet die Fähigkeiten zur Auswahl, Anwendung und Weiterentwicklung der vielfältigen Methoden der Produktionssystemanalyse und -gestaltung. Ein Verständnis übergeordneter Gestaltungsprinzipien, wie Standardisierung und kontinuierlicher Fluss, und deren Umsetzbarkeit durch verschiedene Methoden und damit verbundene Auswirkungen auf die operativen Ziele, wie Produktivität, Durchlaufzeit oder Qualität, stellt die Schnittmenge zwischen der Methoden- und Systemkompetenz dar. Der Systemkompetenz kommt im Rahmen von Systemkomplexität eine besondere Bedeutung zu. Die Systemkompetenz umfasst das systemische und damit ganzheitliche Verständnis für die Produktion in Wertschöpfungsketten. Das Verständnis eines Produktionssystems ist insbesondere erforderlich, um Verbesserungsaktivitäten aufeinander auszurichten und nicht das Subsystem, wie Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität 251 einen einzelnen Arbeitsplatz, sondern das gesamte System bspw. i.S. einer Durchlaufzeitenverkürzung zu verbessern. Die Systemkompetenz umfasst verschiedene Bausteine, die zum Produktionssystemverständnis und zur Zielorientierung zusammengefasst werden können (Abbildung 1). Abbildung 1: Elemente der Systemkompetenz Autonom gesteuerte und zunehmend komplexe Produktionssysteme bergen das Risiko, dieses Verständnis zu verlieren und können damit ein „loss of situation awareness“ (Cummings/Bruni 2009) bedingen. Diese Gefahr bestätigen erste Umsetzungsbeispiele. Der Einsatz flexibler, sich selbst steuernder Fertigungsmodule führt bspw. zu stark schwankenden Durchlaufzeiten und Systemverfügbarkeiten. Die Ursachen bleiben aufgrund des fehlenden Ist-Verständnisses jedoch i.S. einer „Black-Box“ ohne entsprechende Analysen unklar. Eine Möglichkeit, dieses Verständnis aufzubauen und Verbesserungen zu vollziehen, stellen neben Analysen auch entdeckende wissenschaftliche Experimente dar. Die Fähigkeit zu ihrer Durchführung ist Bestandteil der Problemlösungskompetenz. Sie umfasst das strukturierte wissenschaftliche Experimentieren nach der PDCA-Systematik (Plan-Do-Check-Act) (vgl. Shewhart/Deming 1939; Deming 1986). PDCA bietet eine Möglichkeit, die von Böhle (2013) beschriebene intuitive und subjektive Arbeitsweise bei Problemen an komplexen Anlagen stückweit zu routinisieren. Im Rahmen der zunehmend digitalisierten Arbeitswelt sind jedoch zwei erfor- 252 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze derliche Veränderungen anzunehmen: Zum einen bieten neue Technologien der Datenaufnahme, -speicherung und -auswertung die Chance, PDCA stärker datenbasiert und durch virtuelle Abbildungen und Simulationen schneller durchzuführen. Das Experimentieren in der realen Welt sollte jedoch aufgrund möglicher Fehler in Simulationsmodellen nicht gänzlich verdrängt werden (keine „Bildschirm statt Gemba Mentalität“). Zum anderen muss davon ausgegangen werden, dass die zunehmend komplexeren Wirkbeziehungen und korrelierenden Variablen multivariate Experimente fordern statt der Ein-Faktor-Versuche des klassischen PDCA. Für die universitäre Ausbildung zukünftiger Industrial Engineers kann damit ein erhöhter Bedarf an System- und Problemlösungskompetenz (insbesondere auf Basis multivariater Experimente) festgehalten werden. 2 Hybrides Lernen zur Kompetenzentwicklung Kompetenzen lassen sich durch verschiedene formelle und informelle Lernprozesse, bspw. durch den Besuch verschiedener Lehrveranstaltungen im Rahmen der universitären Ausbildung, den Umgang mit Kommilitonen oder durch das täglichen Nutzen digitaler Medien, entwickeln (Dimitrova 2007). Der Erfolg eines Lernprozesses ist dabei wesentlich von der Gestaltung der Rahmenbedingungen abhängig. Verschiedene Autoren verweisen darauf, dass ein Lernender nur ca. 20% dessen, was er liest, ca. 30% dessen, was er hört, und ca. 90% dessen, was er selber aktiv tut, hört, liest und sieht, erfassen und verarbeiten kann (u.a. Nowitzki 2006, S. 221). Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei Lernmodelle differenzieren – einerseits das passive und theoretische Lernen durch Informationsaufnahme nach Coleman und andererseits das aktive und erfahrungsbasierte Lernen nach Kolb. 2.1 Lernen durch Informationsaufnahme Das Lernen durch Informationsaufnahme (Coleman et al. 1973) ist dadurch charakterisiert, dass dem Lernenden Informationen durch ein Medium wie bspw. Lehrbücher, Vorlesungen oder Lehrfilme zur Verfügung gestellt werden. Der Lernende befindet sich daher in einer passiven Rolle und üblicherweise werden wenige Sinnesorgane angesprochen. Die Informationen werden durch den Lernenden aufgenommen, verarbeitet und generalisiert. Durch mögliche Übungsaufgaben werden sie auf konkrete Problemstellungen angewendet und vertieft. Bei einem erfolgreichen Lernen sind die Informationen dadurch soweit verarbeitet und verstanden worden, dass eine Veränderung des Wissensstands und des Verhaltens Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität 253 stattfindet. Dieses Lernmodell ist im universitären Kontext durch Vorlesungen und Übungen sehr weit verbreitet. Ein bekannter Nachteil dieses Lernprozesses liegt in einer kurzen Erinnerungsrate. Vorteile stellt dagegen die schnelle und strukturierte Wissensvermittlung dar. 2.2 Erfahrungsbasiertes Lernen In dem Lernmodell von Kolb (1984) finden ebenfalls vier aufeinanderfolgende Schritte statt. Üblicherweise startet das erfahrungsbasierte Lernen mit einer konkreten Situation und daraus resultierenden Erfahrungen für den Lernenden. Diese Erfahrungen werden im zweiten Schritt reflektiert und anschließend in allgemeine Konstrukte abstrahiert. Diese Konstrukte können im vierten Schritt in bestimmten Situationen angewendet werden. Dadurch findet ein aktives Experimentieren und Überprüfen der allgemeinen Konstrukte in konkreten Situationen statt. Die dabei gemachten Erfahrungen bilden wiederum den Ausgangspunkt eines neuen Lernzyklus. Ein erfahrungsbasierter Lernprozess bietet im Vergleich zur Informationsaufnahme komplementäre Vor- und Nachteile. Die Erinnerungsrate steigt aufgrund des aktiven Handelns und den vielen gleichzeitig angesprochenen Sinnesorganen. Als nachteilig können im Kontext der universitären Ausbildung die Dauer des Lernprozesses und der Aufwand zur Gestaltung einer erfahrungsbasierten Lernumgebung genannt werden, insbesondere bei einer großen Anzahl von Studierenden. 2.3 Umsetzungsmöglichkeiten für hybrides Lernen Das „hybride Lernen“ stellt eine Verknüpfung beider Lernmodelle dar und bietet dadurch die Möglichkeit, die Vorteile beider Modelle zu verbinden. Dabei bildet das Lernen durch Informationsaufnahme die erste Phase. Durch Seminare und Vorlesungen ist es möglich, den Studierenden in kurzer Zeit strukturiert Grundlagenwissen zu vermitteln. Dieses Wissen wird anschließend durch konkretes Experimentieren und Sammeln von Erfahrungen vertieft und angereichert. Neben dem erweiterten Wissen entwickelt sich ein fundiertes Verständnis, einhergehend mit Anwendungserfahrung und damit fachlich-methodischer Kompetenz. Das erfahrungsbasierte Lernen beginnt dabei meist nicht mit dem ersten Schritt im Modell von Kolb, sondern mit dem vierten Schritt und damit dem aktiven Experimentieren (Hempen et al. 2010). Abbildung 2 fasst das hybride Lernkonzept zusammen. Als Beispiel ist die Beidhandarbeit zur Reduktion der Zykluszeit eines manuellen Montageprozesses abgebildet. 254 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze Abbildung 2: Hybrides Lernen (i.A.a. Coleman et al. 1973 und Kolb 1984) Ein verbreitetes Konzept zur Umsetzung des erfahrungsbasierten Lernens ist die Gestaltung von Lernprozessen in sogenannten „Lernfabriken“. Aufgrund der Vielzahl neuer Lernfabriken wurde eine Morphologie zu deren Charakterisierung und zum Vergleich entwickelt (Steffen et al. 2014a und Steffen at al. 2014b). Einen Vorteil bieten Lernfabriken durch das Lernen in einer realitätsnahen, jedoch simulierten Produktionsumgebung. Durch das geschützte Umfeld können die Studierenden aus Fehlern lernen. Eine Simulationsumgebung stellt jedoch gleichzeitig eine Grenze in Bezug auf die Lernziele für Systemkompetenz dar. Lernfabriken sind hinsichtlich der Komplexität im Vergleich zu einer realen Fabrik stets begrenzt. Sie stellen ein geschlossenes System mit einer begrenzten, meist geringen Anzahl an Prozessen bzw. Arbeitsplätzen dar. Auch die Einbindung anderer Unternehmensfunktionen wie der Entwicklung, der Arbeitsvorbereitung, dem Qualitätsmanagement, dem Einkauf oder dem Vertrieb sind bisher kaum realisiert. Um die Entwicklung der zunehmend erforderlichen Systemkompetenz ausreichend zu unterstützen ist ein Lernprozess in einer realen Produktion sinnvoll. Die Umsetzung von hybridem Lernen unter Einbezug realer Produktionsumgebungen zum Umgang mit Systemkomplexität ist derzeit Gegenstand der Weiterentwicklung studentischer Ausbildung am Institut für Produktionssysteme (IPS) der Technischen Universität Dortmund. Zwei konkrete Beispiele werden nachfolgend erläutert. Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität 3 255 Multiperspektivisches Lernen im realen Produktionsbetrieb (Umsetzungsbeispiel 1) Im Projekt „Multi real – Multiperspektivisches Lernen im realen Produktionsbetrieb“ wird am IPS derzeit eine neue Lehrveranstaltung konzipiert, die zwei innovative Aspekte zur Kompetenzentwicklung integriert – einerseits die Gestaltung der Lernprozesse in einem realen Betrieb mitsamt der Komplexität, die es heutzutage zu bewältigen gilt und andererseits das Lernen in heterogenen Gruppen aus Studierenden sowie Fach- und Führungskräften der Industrie (Abbildung 3). Das Konzept soll damit dem Anspruch des höchstmöglichen Praxisbezugs sowie der Förderung der Beschäftigungsfähigkeit angehender Industrial Engineers gerecht werden. Abbildung 3: Multi real - Multiperspektivisches Lernen im realen Produktionsbetrieb Aktuell existieren kaum geeignete Lehrkonzepte, die die reale Komplexität abbilden und die zur Bewältigung erforderliche „Systemkompetenz“ ausreichend entwickeln. Lernfabriken, Planspiele und Rollenspiele eignen sich zum Aufbau der Systemkompetenz i.d.R. weniger, da sie in einem Modell nur einen Teilbereich der realen Komplexität simulieren können. Am Beispiel der Verbesserungen eines Arbeitssystems wird der Handlungsbedarf in Abbildung 4 verdeutlicht. 256 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze Abbildung 4: Ansätze zur Entwicklung von Systemkompetenz Zum reinen Erlernen der Verbesserungsroutine PDCA existieren hingegen bereits vielfältige, gut funktionierende Planspiele. Auch „on-the-job“Schulungen wie bspw. bei der Firma WILO SE zum Erlernen von PDCA in realen Produktionsprozessen werden erfolgreich umgesetzt. Beide Beispiele konzentrieren sich jedoch auf einen einzelnen isolierten Prozess, ohne das Gesamtsystem, in dem dieser Prozess eingebunden ist, zu betrachten (lokale Optimierungen). Erste Versuche diese systemische Sichtweise einzubinden haben bereits im IE-Training Centre des IPS stattgefunden. Hierzu wurde ein Ziel-Zustand einer Montagelinie bestehend aus vier Arbeitsplätzen definiert. Jeder Arbeitsplatz wurde mittels PDCA einzeln verbessert und anschließend wieder in die Linie integriert. Beobachtet wurde, dass Einzeloptimierungen nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung des Gesamtsystems führen. Die Trainingsumgebung ist jedoch durch wenige einfache und sehr ähnliche Prozesse in einer simulierten Umgebung gekennzeichnet. Der Handlungsbedarf besteht daher in der Entwicklung einer Lernumgebung zum Aufbau von Systemkompetenz im realen Betrieb. Der Bedarf an Systemkompetenz wurde neben der studentischen Ausbildung auch verstärkt bei produzierenden Unternehmen konstatiert (Deuse et al. 2014). Insbesondere die Verknüpfung des Policy Deployment Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität 257 mit Verbesserungsmaßnahmen stellt große Herausforderungen dar. Hier geht es darum, die Frage „Was müssen wir tun, um unsere Ziele zu erreichen?“ anstatt „Was können wir tun, um Verschwendung zu reduzieren?“ (Steffen/Deuse 2014). Die Lernziele für die Lehrveranstaltung umfassen daher verschiedene Aspekte der Systemkompetenz (vgl. Abbildung 1). Das übergeordnete Richtlernziel lautet: „Die Teilnehmer gestalten und verbessern Produktionssysteme (PS) auf Basis entwickelter Systemkompetenz.“ Dazu sind u.a. folgende Groblernziele zu erreichen: Die Teilnehmer können zusammen PS analysieren und PSVerständnis aufbauen (z.B. durch Wertstromanalysen, REFAZeitaufnahmen, MTM-Analysen, Taktzeitdiagramme oder Engpassanalysen) Die Teilnehmer können zusammen den Ist-Zustand eines PS bewerten und interpretieren. Dies beinhaltet das Verständnis des idealen PS und die Kenntnis der Unternehmensziele (von der Unternehmensvision bis zu den operativen, kurzfristigen Werkszielen). Die Teilnehmer können zusammen Wertstromdesigns und ZielZustände aus Systemsicht erarbeiten. Dies beinhaltet die Berücksichtigung der vertikalen Zielkaskade (langfristige Unternehmensvision bis kurzfristige, operative Ziele), der vor- und nachgelagerten Prozesse, die Berücksichtigung anderer Funktionen wie der Logistik, der Instandhaltung oder der Arbeitsvorbereitung sowie die Berücksichtigung der Fabrikphysik und Engpässe. Die Teilnehmer können zusammen einzelne Methoden zum Erreichen der definierten Ziel-Zustände implementieren. Die Teilnehmer hinterfragen Verbesserungsaktivitäten hinsichtlich ihrer Wirkung auf die kurzfristigen, operativen Ziele sowie auf den langfristigen Beitrag zur Annäherung an die Unternehmensvision. Konsequenterweise werden für die konkreten zu implementieren Methoden (vorletzt genanntes Lernziel) stets andere konkrete Inhalte erforderlich sein. Hier muss die Lehrveranstaltung eine hohe Flexibilität aufweisen, um sich den aktuellen Bedarfen des Unternehmens anpassen zu können. Daher sind in Vorbereitung der Veranstaltung jeweils aus Systemsicht 258 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze sinnvolle Projekte zu definieren. Der gemeinsame Kern besteht jedoch insbesondere in einer logischen, möglichst datenbasierten Argumentation, warum dieses Projekt aus Systemsicht zielführend ist und welche Erwartungen an die Auswirkungen auf die operativen Ziele sowie die Unternehmensvision zu stellen sind. Eine erste Stakeholderanalyse hat ergeben, dass eine 6-wöchige Blockveranstaltung von Anfang Oktober bis Mitte November mit definierten Phasen die verschiedenen Anforderungen der Studierenden, Industrievertreter und Betreuer am besten gerecht wird (Abbildung 5). In der ersten Phase ist je nach den Vorerfahrungen der Teilnehmer in Bezug auf die Projektinhalte Grundlagenwissen zu vermitteln. In den Wochen zwei bis fünf soll die eigentliche Projektarbeit stattfinden. Die Ergebnisse sind abschließend i.S. eines Management Summary aufzubereiten und zu präsentieren. Aus Sicht der Studierenden sollte zudem eine Anrechenbarkeit der erfolgreichen Teilnahme als Studienleistung ermöglicht werden. Für die begleitende Entwicklung sozial-kommunikativer Kompetenz werden in der Vorbereitungsphase zudem Spielregeln des Umgangs miteinander definiert. Um trotzdem aufkommende Konflikte reflektieren und frühzeitig beheben zu können, ist geplant nach 2 Wochen das erste Feedbackgespräch durchzuführen. Dies umfasst neben den Ergebnissen der IstAnalyse die Reflektion des Gruppengefüges, der Zusammenarbeit und Kommunikation. Am Ende ist ein offenes Feedback zur gesamten Veranstaltung von Bedeutung, um diese kontinuierlich zu verbessern. Abbildung 5: Geplanter Zeit- und Arbeitsplan für die Veranstaltung Die geplante Veranstaltung bietet damit das Potenzial basierend auf dem Konstrukt des hybriden Lernens aktiv die Entwicklung der Systemkompetenz von Studierenden als auch erfahrenen Fach- und Führungskräften der Industrie zu unterstützen. Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität 4 259 Six Sigma-Green Belt Zertifizierung (Umsetzungsbeispiel 2) Seit dem Jahr 2013 bietet das IPS in Kooperation mit dem Lehrstuhl für computergestützte Statistik der TU Dortmund Studierenden der Fakultäten Maschinenbau und Statistik die Möglichkeit der Zertifizierung zum Six Sigma Green Belt. Diese Qualifizierungsmaßnahme erfolgt gemäß eines hybriden Lehrkonzeptes, welches durch eine Kombination aus universitärer Lehrveranstaltung und industriellen Praxisprojekten geprägt ist. Ziel der Lehrveranstaltung ist dabei die Vermittlung von Grundlagenwissen über das Themengebiet Six Sigma, wodurch die Befähigung der Studierenden zur eigenständigen Lösung von Problemstellungen erreicht wird. Das Lernen innerhalb dieser Ausbildungsphase erfolgt dabei gemäß dem Prinzip des Lernens durch Informationsaufnahme nach Coleman. Die industrielle Anwendungsphase ist in Form individueller Verbesserungsprojekte ausgeprägt, in deren Rahmen eine praktische Umsetzung des Vermittelten gefordert ist. In realen Industriebetrieben wird durch eine Konfrontation mit realen Produktionsumgebungen und der damit verbundenen Komplexität gemäß dem Prinzip des erfahrungsbasierten Lernens die Entwicklung von Problemlösungs- und Systemkompetenz aktiv forciert. In Abbildung 6 ist die Struktur der Lehrveranstaltung in zusammengefasster Form dargestellt. Der schnelle und strukturierte Aufbau von Grundlagenwissen zur Problemlösung im Rahmen der Lehrveranstaltung „Einführung in Six Sigma“ erfolgt innerhalb eines Zeitrahmens von ca. vier Monaten. In dieser als Frontalvorlesung durchgeführten Veranstaltung werden die Methoden des Lean Six Sigma vermittelt, indem ein passiver Lernprozess bei den Teilnehmern initiiert wird. Lean Six Sigma als anerkannter Prozessmanagementprozess stellt ein Werkzeug zur Prozess- bzw. Produktverbesserung dar und wird durch die DMAIC-Phasen strukturiert. Das Akronym DMAIC (Define, Measure, Analyze, Improve, Control) steht dabei für die sequentiell zu durchlaufenden Phasen, um eine Prozess- bzw. Produktqualitätserhöhung auf ein stabiles Six Sigma-Niveau zu realisieren. In dieser ersten Phase der Green Belt Zertifizierung wird den Teilnehmern somit das Handwerkszeug in Form von Problemlösungsmethoden und Werkzeugen zur Umsetzung eines Six Sigma-Verbesserungsprojekts an die Hand gegeben. Abschließend ist durch die Studierenden ihre Qualifikation für die eigenständige Bearbeitung eines Verbesserungsprozesses in der zweiten Ausbildungsphase, in Form einer erfolgreichen Teilnahme an einer Abschlussprüfung, zu bestätigen. 260 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze Abbildung 6: Six Sigma-Green Belt Zertifizierung Die zweite Phase des hybriden Ausbildungskonzepts ist, nach dem Prinzip des erfahrungsbasierten Lernens nach Kolb, durch eine eigenständige Bearbeitung individueller Six Sigma-Verbessungsprojekte in realen Industriebetrieben geprägt. Im Rahmen dieser Projekte ist die in der ersten Phase theoretisch vermittelte Problemlösungsmethodik DMAIC mit ihren Werkzeugen zu nutzen, wobei auf die Entwicklung von Systemkompetenz abzielend ein besonderer Fokus auf der Durchführung multivariater Experimente liegt. Zu begründen ist diese Priorisierung dadurch, dass insbesondere multikriterielle Analysemethoden i.S. entdeckender Experimente zu einer Entwicklung eines ganzheitlichen, systemischen Verständnisses der jeweiligen Problemstellung bzw. des zu betrachtenden Systems beitragen. Unterstützt wird dieser Aufbau von Systemkompetenz durch die in den realen Industriebtrieben vorherrschende Komplexität. In simulierten Lernumgebungen wäre eine derartige Entwicklung von Systemkompetenz kaum zu erreichen. Die individuelle Betreuung der Studierenden während der verschiedenen Verbesserungsprojekte erfolgt durch einen Master Black Belt. Die Betreuung dient dazu, eine zielgerichtete strukturierte Vorgehensweise innerhalb der Projekte seitens der Studierenden zu sichern, indem die durchgeführten Arbeitsschritte und die daraus resultierenden Ergebnisse innerhalb der Gruppe diskutiert werden. Hybrides Ausbildungskonzept für den Umgang mit Systemkomplexität 261 Das hybride Ausbildungskonzept der Six Sigma Green Belt-Zertifizierung gewährleistet somit die kombinierte Entwicklung von Problemlösungs- und Systemkompetenz. Im Hinblick auf die durch den verstärkten Technologieeinsatz im Rahmen von Industrie 4.0 hervorgerufenen veränderten Kompetenzanforderungen, ist dieses Ausbildungskonzept gegenüber üblichen universitären Lehrveranstaltungen somit als zu priorisierender Ansatz zu wählen. 5 Zusammenfassung und Ausblick Nicht zuletzt in der evolvierenden Industrie 4.0 lassen sich die Entwicklungstrends der modernen Arbeitswelt deutlich beobachten. Sie bestehen u.a. aus einer zunehmenden Komplexität von Produktionssystemen. Um trotz Komplexität und Intransparenz das Systemverständnis aufzubauen oder zu erweitern, sind vor allem System- und Problemlösungskompetenz erforderlich. Ein effektives und effizientes Lernkonzept zum Kompetenzaufbau stellt das hybride Lernen dar, welches die Vorteile des Lernens durch Informationsaufnahme sowie durch Erfahrung kombiniert. Im Beitrag wurden zwei auf dem Ansatz des hybriden Lernens basierende Lehrveranstaltungen der TU Dortmund zum Aufbau von System- und Problemlösungskompetenz vorgestellt. Das Projekt „Multi real – Multidimensionales Lernen im realen Produktionsbetrieb“ fokussiert den Aufbau von Systemkompetenz und stärkt durch das Lernen in heterogenen Gruppen aus Studierenden und Industrievertretern in besonderem Maße die Beschäftigungsfähigkeit. Die Veranstaltung befindet sich derzeit in der Entwicklung und soll im WS 2015/2016 pilotiert werden. Die Six Sigma-Ausbildung fokussiert die Problemlösungskompetenz i.S. einer Erweiterung der EinFaktor-Versuche des klassischen PDCA zu multivariaten Versuchsreihen. Sie wird bereits seit 2012 erfolgreich den Studierenden der Fakultäten Maschinenbau und Statistik angeboten. Danksagung Das Projekt „Multi real – Multidimensionales Lernen im realen Produktionsbetrieb“ wird im Rahmen des Programms „Exzellente Lehre“ durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und die Caspar Ludwig Opländer Stiftung gefördert. Ferner danken wir der WILO SE für die enge Kooperation und die erfolgreiche Zusammenarbeit im Rahmen beider Lehrveranstaltungen. 262 Jochen Deuse, Marlies Achenbach, David Lenze Literatur Böhle, F., 2013.: Subjektivierendes Arbeitshandeln. In: Hirsch-Kreinsen, H./Minssen, H. (Hg.): Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. Berlin, S. 425-430. Coleman, J. S., Livingston, S. A., Fennesey, G. M., Edwards, K. J., Kidder, S. J. 1973. The Hopkins Games Program: Conclusions from Seven Years of Research In: Educational Research , 2 (8), S. 3-7.Cummings, M., Bruni, S., 2009.Collaborative Human-Automation Decision Making. In: Nof, S. (Hg.): Handbook of Automation. Berlin, S. 437-447. 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Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 265 Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung im Rahmen der universitären Lehre Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz Mit der Einführung von Konzepten wie der Digitale Fabrik, der Umsetzung von Simultaneous Engineering und durchgängiger Systeminteroperabilität in den Unternehmen werden auch Gestalten, Verstehen und Erleben von kollaborativen interdisziplinären Arbeitsprozessen und die Vermittlung von Kollaborationskompetenz zwingend Bestandteile der universitären Lehre. Dies impliziert, dass in der Fabrikplanung interdisziplinäre Zusammenarbeit, disziplinübergreifende Denkweisen sowie ein kollaboratives Planen, Modellieren und Experimentieren in gleichem Maße gefördert werden müssen wie Fach-, Methoden- und IT-Kompetenz. Der folgende Beitrag erläutert ausgehend von einer kurzen Diskussion des Kollaborationsbegriffs Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung, die am Fachgebiet für Produktionsorganisation und Fabrikplanung (pfp) der Universität in Kassel zurzeit umgesetzt werden oder bereits Eingang in die Lehre gefunden haben. 1 Einleitung Mit der Einführung der Konzepte zur Digitalen Fabrik (vgl. VDI 4499 2008, Bracht et al. 2011) werden unter anderem eine Verkürzung der Entwicklungs- und Planungszeiten, ein schnellerer Produktionsanlauf und eine signifikante Beschleunigung der Einführung neuer Produkte am Markt verbunden. In diesem Kontext bezeichnet das Simultaneous Engineering "die gemeinsame, zeitlich parallele Entwicklung eines Produktes und der dafür benötigten Produktionsanlage" (vgl. Bracht et al. 2011, S. 52-53). Allgemeiner formuliert Wiendahl (2010), dass das Simultaneous Engineering eine Vorgehensweise kennzeichnet, bei der sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus mehreren Abteilungen zu Teams zusammenschließen, um gemeinsam ein Problem zu bearbeiten. Simultaneous Engineering ist somit durch eine zielgerichtete und interdisziplinäre Zusammen- und Parallelarbeit mehrerer Abteilungen 266 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz geprägt. Eine weitere wichtige Säule im Kontext der Digitalen Fabrik stellt die Systeminteroperabilität dar. "Interoperabilität bezeichnet allgemein die Fähigkeit der Zusammenarbeit unterschiedlicher Systeme, zu denen technische oder EDV-technische Systemen sowie Organisationen sowohl auf administrativer als auch auf personeller Ebene zählen." (vgl. Bracht et al. 2011, S. 172). Sowohl Simultaneous Engineering als auch Interoperabilität implizieren eine Zusammenarbeit zwischen Personen, Gruppen, Systemen und/oder Organisationen. Kollaboration (co-laborare; lat.), d. h. mitbzw. zusammenarbeiten, bezeichnet eben genau diese Zusammenarbeit von mindestens zwei Akteuren zum Zwecke der Erreichung gemeinsamer Ziele (vgl. hierzu auch Alt 2003, Kersten et al. 2003, Haas 2004 und Bernhard 2009). Die Akteure arbeiten in Echtzeit gemeinsam an einem Teil des Ergebnisses. Dies grenzt die Kollaboration von der einfachsten Form der Zusammenarbeit, der Kommunikation, die als reiner Informationsaustausch zwischen Personen verstanden werden kann, und der Koordination (z. B. von gemeinsam zu nutzenden Ressourcen) ab. Bei der ebenfalls als Zusammenarbeit möglichen Kooperation arbeiten Personen oder auch rechtlich selbstständige Unternehmen arbeitsteilig an einem Ergebnis und sind für unterschiedliche Teile der Ergebnisse verantwortlich (vgl. Bernhard 2009, Meyer und Treichel, 2004, Schwarz 1979). Kollaboration als höchste Form der Zusammenarbeit erfordert von den beteiligten Akteuren selbstständiges Arbeiten, Erkennen der eigenen notwendigen Fach- und Methodenkompetenzen, Kompetenzen zum Umgang mit den erforderlichen Medien, die grundsätzliche Bereitschaft zur Teamarbeit und zur Anerkennung disziplinübergreifender Sichtweisen, aber auch die Erkenntnis, ein gemeinsames gutes Ergebnis erreichen zu wollen. Im Rahmen dieses Beitrags wird der Fokus auf die Kollaboration gelegt und anhand von Aufgaben in der Fabrikplanung die Frage diskutiert, mit welchen Modellen das kollaborative Planen, d. h. "die verteilte operative Zusammenarbeit von verschiedenen Akteuren innerhalb einer gemeinsamen Planungsaufgabe" (vgl. Bernhard 2009, S. 13) in der universitären Lehre vermittelt werden kann. Die zu betrachtenden Modelle unterscheiden sich unter anderem nach der für sie bei der Erstellung verwendeten Beschreibungsform. So werden konkrete, physische Modelle einerseits und abstrakte formale Modelle wie mathematische Modelle (Gleichungssysteme), graphische Modelle (Gra- Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 267 phen, Diagramme) und Computermodelle differenziert (für eine umfassende disziplinübergreifende Klassifikation vgl. Stachowiak 1973). Für den hier zu betrachtenden Kontext ist die Differenzierung in physische (vgl. Kapitel 2) und digitale Modelle (vgl. Kapitel 3) von Relevanz. Die Vermittlung technischer, ökonomischer und ökologischer Inhalte einer ganzheitlichen Fabrikplanung und eines integrativen Systemverständnisses, die Vermittlung von Kenntnissen zur Planung von ITArchitekturen für Lösungen zur Digitalen Fabrik, zur Definition von Nutzungskonzepten und zur organisatorischen Umsetzung oder auch die Ausbildung in Methoden- und Werkzeugkenntnissen einschließlich Bewertungsfähigkeit hinsichtlich Effizienz und Effektivität ihres Einsatzes stehen nicht im Fokus dieses Beitrags; sie sind mit den dargelegten Modellen in Teilen aber auch möglich. Um Produktions- und Logistikkomplexität zu verstehen, eigenständige Entscheidungen in der Gruppe zu treffen und selbstorganisiert zu handeln, erlauben grundsätzlich didaktische Konzepte wie Planspiele (Blötz 2015) das Erleben und Erlernen von Zusammenhängen, das Erfahren des eigenen Handels in der Gruppe und das Vermitteln systemisches Denken sowie ergebnisorientiertes Handeln. Im Verlauf eines Spiels wird in der Regel deutlich, dass oft ein mangelndes Interesse an einer Zusammenarbeit besteht und die beteiligten Akteure sich eher mit der Verbesserung ihrer eigenen Ergebnisse beschäftigen und den Blick für das Ganze verlieren. Planspiele sind in Gruppen erlebbar, als Brettspiele umgesetzt oder aber auch computerbasiert auf der Basis von Modellen realisiert (z. B. Beergame, vgl. www.beergame.org). Da Planspiele eine eigene Klasse zur Unterstützung von Kollaborationskompetenz darstellen und sowohl mit physischen als auch mit digitalen Modellen umgesetzt sein können, würden die Ausführungen hierzu den Rahmen des Beitrags sprengen. Auf eine detaillierte Betrachtung wird daher an dieser Stelle verzichtet. 2 Kollaboration unter Nutzung physischer Modelle Um die dynamischen Zusammenhänge einer Fabrik besser nachvollziehen zu können, werden in Forschung und Lehre zunehmend an sehr vielen Universitäten physische Modell(lern)fabriken eingesetzt (Ausführungen zu Modelllernfabriken vgl. beispielsweise Enning et al. 2006, Krause und Cech 2007). Diese bieten einerseits die Möglichkeit, Szenarien zu gestalten und ausgewählte Szenarien zu demonstrieren. Andererseits ermöglichen sie in Abhängigkeit von Konzept und Detail- 268 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz lierungsgrad der Modellierung, Änderungen an der Produktionssteuerung physisch erlebbar zu machen. Je nach gewähltem Detaillierungsgrad des physischen Modells lassen sich zudem Verbesserungspotentiale erkennen, die in einem digitalen Modell, beispielsweise aufgrund von getroffenen Vereinfachungen und eines hohen Abstraktionsgrades, unter Umständen nicht erkannt werden können. Bei der Planung und Ausgestaltung von Fertigungslinien stellt darüber hinaus der Einsatz der 3P-Methode ("Production Preperation Process") ein Höchstmaß an Qualität bei gleichzeitiger Vermeidung von Verschwendung sicher. Ziele sind vor allem die Reduzierung der Produktionszeit, des Platzbedarfs, der notwendigen Investitionen und der Aufwendungen für Logistik (Molitor und Berner 2008). Im Rahmen dieser 3P-Workshops befasst sich ein interdisziplinäres Team mit der Suche nach Möglichkeiten, die oben genannten Ziele zu erreichen. Dabei wird zwischen 3P-Produkt- und 3P-Prozessworkshops unterschieden. Während Produktworkshops das Design des Produkts verbessern und seine Produzierbarkeit sicherstellen, befassen sich Prozessworkshops mit der Untersuchung und Verbesserung des Herstellprozesses (Molitor und Berner 2008). Dabei werden Arbeitsplätze aus Pappe und Stützstrukturen (beispielsweise aus Holz) nachgebaut und die Montageabläufe der späteren Serienproduktion mit originalgetreuen Teilen getestet. Auf Basis der Erkenntnisse werden Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet und die Arbeitsplätze verbessert. Besonders verbreitet sind 3P-Prozessworkshops in der Automobilindustrie (Eggert 2008). Hier wird ein hoher Stellenwert auf eine kollaborative Planung gelegt, bei der verschiedene Planungsabteilungen zusammenarbeiten. Dazu gehören beispielsweise die Produktentwicklung, die Fabrikplanung und die Logistikplanung (Wack et al. 2011). Diese Form der kollaborativen Planung mit Modellen aus Pappe hat sich in der Fertigungsplanung seit einigen Jahren bewährt. Während das Layout am Rechner geplant und simuliert wird, werden in anschließenden Untersuchungen mit physischen Modellen aus Pappe Feinheiten besser erkannt (Volkswagen AG 2007). Außerdem lässt sich die Ergonomie des Arbeitsplatzes besser bewerten, beispielsweise beim Greifen von Teilen oder bei der Montage von Baugruppen. Neuere Verfahren arbeiten mit ausgedruckten 3D-Modellen, die vorab am Rechner als digitale Modelle erstellt wurden. Die physischen Modelle können dann im Team auf einer Grundfläche, auf der das Hallen- Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 269 layout aufgedruckt ist, verschoben werden. In der Diskussion in der Gruppe werden verschiedene Varianten ausprobiert, verglichen und eine möglichst optimale Lösung gefunden. Vorteile dieses Konzeptes sind geringe Anforderungen an die Vorkenntnisse der Beteiligten, da sie sich nicht in eine Software einarbeiten müssen, und die Tatsache, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der betroffenen Fertigungsbereiche ihren Arbeitsplatz mitgestalten können, so dass eine hohe Akzeptanz der Planungsergebnisse bei den Werkern erreicht werden kann (Siemens AG 2009). Ein Beispiel für eine erfolgreiche Umsetzung dieses Ansatzes stellt die Planung der "Legacy 500 Flügel Montagelinie" der Firma Embraer dar. Hier werden die zu montierenden Flugzeugflügel in ihren verschiedenen Fertigstellungsgraden und die Produktionsanlagen ausgedruckt und in einem 3P-Workshops zu einer Produktionslinie angeordnet, so dass die Ziele einer Lean Produktion (z. B. eine "just in time"-Anlieferung der Teile) erfüllt werden können (De Carvalho et al. 2012). Die beiden folgenden Abschnitte behandeln zwei neuere Konzepte zur Unterstützung der Kollaboration in der Fabrikplanung unter Nutzung physischer Modelle. In Abschnitt 2.1 wird eine LEGO-Modellfabrik, die zurzeit am Fachgebiet pfp umgesetzt wird, kurz vorgestellt; in Abschnitt 2.2 werden die Erfahrungen mit dem Einsatz von Modellen aus einem 3D-Drucker in der Lehre beschrieben. 2.1 Die LEGO-Modellfabrik Ziel der am Fachgebiet pfp im Aufbau befindlichen LEGOModelllernfabrik im Maßstab 1:5 ist, den Studierenden zu helfen, fabrikplanerische Fragestellungen zu verstehen und eigenständig in Teams Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. Der Fokus der Modelllernfabrik liegt dabei auf der planerischen Gestaltung und Steuerung der logistischen Prozesse; die für die Lernfabrik notwendigen Produktionsprozesse sind daher nur beispielhaft, die Transport- und Lagerprozesse hingegen detailliert umgesetzt. Zum jetzigen Zeitpunkt sind ein automatisches Hochregallager und mehrere fahrerlose Transportfahrzeuge, die jeweils eine autonome Steuerung besitzen und untereinander und mit einem zentralen Steuerungssystem kommunizieren, realisiert. 270 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz Abbildung 1: Modell eines fahrerlosen Transportfahrzeugs ohne und mit Last (© Universität Kassel, pfp) Die technische Umsetzung der einzelnen Modellelemente basiert auf realen Systemelementvorgaben und erfolgt mit LEGO-Mindstorms. Beispielsweise seien an dieser Stelle die fahrerlosen Transportfahrzeuge (vgl. Abbildung 1) genannt, die sich an einer auf dem Boden aufgebrachten farbigen Spur mittels zweier nebeneinander angebrachter Farbsensoren orientieren. Unterschiedliche Sektionen sind ebenso wie Ausfahrten durch verschiedene Farben gekennzeichnet. Ein Ultraschallsensor reduziert bei einer Erkennung eines Hindernisses die Geschwindigkeit und stoppt bei kritischem Abstand das Fahrzeug ganz. Die Ladefläche ist mit angetriebenen Rollen ausgestattet, so dass Paletten auf- und abgeladen werden können. Die Modellelemente werden von LEGO-Mindstorms-EV3-Systemen gesteuert und tauschen mit einem zentralen Steuerungsrechner Daten per WLAN aus. Jede einzelne Einheit funktioniert autark; beispielsweise erhalten die Fahrzeuge lediglich die Information, an welcher Station sie Ladung aufnehmen und wo sie diese wieder abgeben sollen. Die Steuerungen der einzelnen EV3-Systeme sind mit Java realisiert, der Steuerungsrechner nutzt eine C#-Anwendung. Die Modelllernfabrik wird im Rahmen einer Praktikumsveranstaltung eingesetzt, in der sich Studierende in Gruppen die Funktionsweise und Steuerung der Anlage durch Beobachtung selbst erarbeiten, um Verbesserungspotentiale zu erkennen und Lösungsvorschläge zu entwerfen, um die gesamte Anlage effizienter zu gestalten. Eine Vorgabe zur Organisation dieses gruppendynamischen Prozesses wird nicht gegeben. Um für alle Gruppen die gleiche Ausgangssituation bereitzustellen, gibt es Steuerungen mit "vorgefertigten" Defiziten. Die erarbeiteten Vorschläge werden diskutiert und von den Studierenden in Java umgesetzt und getestet. Eine erneute Beobachtungsphase erlaubt die Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 271 Prüfung, ob sich mit den angepassten Steuerungen die gewünschten Verbesserungen erreichen lassen oder weitere Maßnahmen notwendig werden. Grundsätzlich können die Studierenden nur einzelne Parameter einer Steuerung oder eingeschränkte Steuerungslogiken anpassen. Aus Sicherheitsgründen sind die direkten Zugriffe auf Motoren und Sensoren durch spezielle Programmlogiken gekapselt; auch die Initialisierung der einzelnen Modellelemente ist nicht durch die Studierenden änderbar. Die bisherige Evaluation des Konzeptes hat gezeigt, dass aufgrund der Heterogenität der Studierendengruppen hinsichtlich ihrer Vorbildung (Studium im Praxisverbund im Unternehmen oder berufliche Vorerfahrung) die Zusammenarbeit und die Abwicklung der einzelnen Aufgaben unterschiedlich systematisch und kontrolliert stattfinden. Zudem werden eigene berufliche Erfahrungen implizit eingebracht. Insgesamt zeigen sich die Studierenden aber durchaus in der Lage, sich schnell und effektiv abzustimmen. So muss beispielsweise in der Beobachtungsphase zunächst koordiniert werden, wie die Beobachtung überhaupt zu organisieren und zu dokumentieren ist. Aufgrund der bestehenden Vorerfahrungen einzelner Studierenden erfolgt oftmals eine diesbezügliche fachliche Aufgabenzuteilung. Das gemeinsame Erarbeiten der Verbesserungsvorschläge führt dazu, dass mögliche Fehler und Nachteile frühzeitig erkannt und diskutiert werden. Insgesamt kann die gemeinsame Arbeit an der Modellfabrik daher als kollaborationskompetenzfördernd bewertet werden. Die umgesetzten Maßnahmen werden nach Ende des Praktikums mit den Studierenden hinsichtlich Effizienz und Effektivität evaluiert. Diese Bewertung erlaubt Aussagen zum Erfolg und zur Qualität der umgesetzten Maßnahmen, fördert aber gleichzeitig auch Kritikfähigkeit und einen kritischen Umgang mit den eigenen Leistungen. Zusätzlich wird die Zusammenarbeit der Studierenden untereinander bewertet, wobei nicht relevant ist, dass bestimmte Absprachen, sondern dass überhaupt Absprachen im Hinblick auf Herangehensweise und Arbeitsaufteilung getroffen werden. 2.2 Kollaboration in der Layoutplanung mit Modellen aus dem 3D-Drucker Zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz lassen sich auch die in der Industrie im Einsatz befindlichen Methoden im Bereich 3D-Druck für die universitäre Lehre adaptieren. Da auch Studierende darauf hinwiesen, dass eine rein digitale Planung oftmals nicht anschaulich 272 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz genug sei, hat das Fachgebiet pfp zur Erhöhung der Anschaulichkeit einerseits, aber auch zur Vermittlung erweiterter Methodenkompetenz andererseits eine mit Modellen aus dem 3D-Drucker unterstützte Layoutplanung in eine im konsekutiven Master angebotene Lehrveranstaltung integriert. Im Rahmen der Veranstaltung erhalten die Studierenden verschiedene aufeinander aufbauende Aufgaben mit dem Gesamtziel, eine Produktion für ein gegebenes Produkt zu planen und abschließend zu simulieren. Die Rahmenbedingungen und die Systemvorgaben orientieren sich an realen Gegebenheiten, so dass eine hohe Praxisnähe gegeben ist. Zu den Aufgaben gehören Auslegung und Auswahl eines Maschinenparks, eine Layoutplanung und -bewertung sowie die Erstellung eines Simulationsmodells mit Durchführung von Simulationsexperimenten. Die Layoutplanung ist zweistufig aufgebaut. In einem ersten Schritt wird ein Groblayout unter Einsatz der bereits erwähnten ausgedruckten 3D-Maschinenmodelle geplant. Diese Grobplanung wird im zweiten Schritt in die Software visTABLE (vgl. auch Abschnitt 3.1) übertragen. Im Anschluss wird das entwickelte Layout im Hinblick auf Flächenbedarf und Transportaufwand bewertet. Als gedruckte 3D-Modelle stehen Maschinen im Maßstab 1:87 zur Verfügung. Dieser Maßstab entspricht der Nenngröße H0, so dass Teile, die sich aufgrund ihrer Feinheit oder ihres Detaillierungsgrades nicht mit dem 3D-Drucker erstellen lassen, wie z. B. ein Gabelstapler und Werker mit Handhubwagen, zugekauft werden können. Der gedruckte Maschinenpark umfasst eine Auswahl an Maschinen für unterschiedliche Fertigungsbereiche (z. B. Drehen, Fräsen oder Stanzen), die je nach Fertigungsprinzip farblich unterschiedlich sind. Die Maschinenmodelle werden zusammen mit den zugekauften Teilen sowie einer laminierten Unterlage mit Quadratmeterraster, die auch beschriftet werden kann, für die Studierenden bereitgestellt. Die Studierenden planen in der Gruppe das Layout für ihren zuvor ausgelegten Maschinenpark. Änderungen sind durch ein Verschieben der Maschinenmodelle einfach möglich; durch die Laminierung der Grundfläche können auch Markierungen und Beschriftungen schnell korrigiert werden (vgl. Abbildung 2). Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 273 Abbildung 2: Beispielmodell aus gedruckten 3D-Elementen und unterlegtem Grundriss (© Universität Kassel, pfp) Die Planung auf einem freistehenden Tisch ermöglicht allen Gruppenmitgliedern, eigene Ideen einzubringen. Spezifische Kenntnisse in Bezug auf Software oder Medieneinsatz (z. B. Bedienung eines interaktiven Whiteboards oder Planungstisches) sind nicht erforderlich. Das Planungsergebnis wird am Ende fotografiert und dokumentiert, so dass es als Basis für die weiteren Planungsschritte dient. Abbildung 3 zeigt eine NC-Drehmaschine, die mit dem 3D-Drucker erstellt wurde, sowie die zugekauften Werker mit Handhubwagen und ebenfalls selbstgedruckte Euro-Paletten im Maßstab 1:87. Abbildung 3: Modell einer NC-Drehmaschine mit Werkern (© Universität Kassel, pfp) 274 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz Tabelle 1: Fragebogen und Auswertung Nr. Aussage stimme voll zu stimme eher zu lehne eher ab lehne völlig ab 1 Das Ziel der Methodenanwendung war uns schnell klar. 11 1 0 0 2 Die Methode half uns dabei, das Planungsziel schnell zu erreichen. 10 2 0 0 3 Änderungen am Layout können schnell umgesetzt werden. 9 3 0 0 4 Im Vergleich zu einer 2D-Planung konnte ich mir die Maschinen besser vorstellen. 7 4 0 0 5 Den Medienbruch bei der Digitalisierung habe ich dabei als störend empfunden. 0 3 4 5 6 Ich kann mir die Situation besser vorstellen als bei einer 3D-Planung am Computer. 1 6 5 0 7 Alle Gruppenmitglieder Ideen einbringen. 8 4 0 0 8 Durch die Diskussion in der Gruppe wurden die Planungsergebnisse verbessert. 7 5 0 0 9 Die Arbeit in der Gruppe war einfacher als bei der Planung am Rechner. 5 6 1 0 10 Die Gruppe war nicht auf Hilfestellung durch den Dozenten angewiesen. 0 11 1 0 11 Die Methode erfordert kein Vorwissen über Methoden in der Fabrikplanung. 5 6 1 0 12 Ich habe bei der Anwendung etwas über Layoutplanung gelernt. 3 8 1 0 13 Ich halte den Einsatz der Methode in der Lehre für sinnvoll. 10 2 0 0 14 Ich halte den Einsatz der Methode in der beruflichen Praxis für sinnvoll. 9 2 1 0 15 Das Verhältnis von Nutzen zu Aufwand bei Anwendung der Methode ist positiv. 5 6 1 0 konnten ihre Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 275 Im Rahmen einer außerplanmäßigen Lehrevaluation wird die Nutzung der gedruckten 3D-Modelle für die Layoutplanung mittels Fragebogen mit 15 Fragen (Antwortmöglichkeiten von "stimme voll zu" bis "lehne völlig ab") bewertet; zwölf Studierende nehmen an der Evaluation teil. Die Fragen und die Anzahl der gegebenen Antworten sind Tabelle 1 zu entnehmen. Bei der vierten Frage sind nur elf Antworten abgegeben worden. Die Auswertung zeigt ein insgesamt positives Feedback. Allen Studierenden ist das Ziel der Methodenanwendung klar; das Planungsziel kann erreicht, Änderungen am Layout können umgesetzt werden. Somit können in kurzer Zeit verschiedene Varianten erarbeitet werden, von denen nur die beste im Anschluss digitalisiert wird. Auch im Vergleich zu einer 2D-Planung wird die Arbeit mit physischen gedruckten 3D-Modellen positiv bewertet. Allerdings ist das Meinungsbild gespalten in Bezug auf die Frage, ob die Situation anhand der physischen Modelle besser vorstellbar ist als in einer 3D-Planungssoftware am Computer. Der Medienbruch, der bei der manuellen Digitalisierung zur Weiterverarbeitung der Planungsergebnisse auftritt, wird nicht als problematisch eingeschätzt. Ob dieser auch bei Personen, die regelmäßig Fabriklayouts planen, ebenfalls so unkritisch bewertet würde, ist anzuzweifeln und müsste in weitergehenden Forschungsarbeiten untersucht werden. Sehr positiv ist das Feedback in Bezug auf die Kollaboration in der Gruppe. Alle Befragten sehen gute Möglichkeiten, sich und ihre Ideen einzubringen. Die Ursache liegt unter anderem darin begründet, dass die Grundfläche und die Modelle auf einem freistehenden Tisch bereitgestellt werden, so dass alle Gruppenmitglieder freie Sicht auf die Arbeitsfläche haben und eigenständig eingreifen können. Bei der Frage nach der erforderlichen Hilfestellung durch den Dozenten sehen zwar elf Befragte eher keinen Bedarf für eine Unterstützung, allerdings wird diese Aussage nie völlig abgelehnt. Als Grund wird angegeben, dass die Maschinenmodelle nicht beschriftet seien und somit in einigen Fällen der Maschinentyp nicht sofort eindeutig identifizierbar sei. Insgesamt hat sich allerdings die Einschätzung der Literatur, dass eine Planung mit physischen Modellen keine Vorkenntnisse erfordert, in der Befragung bestätigt. Elf Teilnehmer geben an, dass die Anwendung der Methode in der Grobplanung kein Vorwissen erfordert. Wiederum elf Studierende bestätigen, etwas über Layoutplanung gelernt zu haben. 276 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz Der Einsatz der Methode in der Lehre wird als sehr sinnvoll erachtet. Ebenfalls positiv ist die Einschätzung der Sinnhaftigkeit in der betrieblichen Praxis. Auch das Verhältnis von Aufwand zum Nutzen wird positiv eingeschätzt. Hierbei ist zu bedenken, dass die Studierenden nur die Anwendung kennengelernt haben. Die notwendigen Vorarbeiten zur Erstellung der 3D-Modelle, deren Druck, die Beschaffung von ergänzendem Material und die Konzeption haben im Vergleich zur reinen Durchführung einen erheblich größeren Aufwand verursacht. Diese Vorarbeiten lohnen sich nur, wenn die Modelle regelmäßig in der Lehre Anwendung finden. Bei einer Nutzung in einem Unternehmen ist zu prüfen, inwieweit eine Wiederverwendung realistisch ist. Insgesamt ist erkennbar, dass die Methode die Kollaboration in Studierendenteams fördert, eine für alle gleichberechtigte Zusammenarbeit erlaubt und Studierende ohne methodische Vorkenntnisse nicht benachteiligt. Möglicherweise ist es sinnvoll, eine Lösung zur Beseitigung des Medienbruchs zu finden, um die Automatisierung in der Planung zu fördern. Eine Lösung für das Problem der fehlenden Übertragbarkeit in weiterverarbeitende Software hat die Firma Siemens erarbeitet. Dabei wird das physische Layout fotografiert und mit Hilfe einer speziellen Software automatisch digitalisiert (Rohling 2012). Dieser Ansatz könnte das Problem des Medienbruchs lösen und zukünftig auch Eingang in die Lehre finden. 3 Kollaboration auf Basis digitaler Modelle Digitale Modelle haben bereits heute eine wichtige Stellung bei der Zusammenarbeit im Unternehmen, die von der fachübergreifenden Planung von Produktion und Produktionsabläufen bis hin zur nutzergerechten Darstellung von Unternehmensabläufen zur Steuerung und Überwachung im Fabrikbetrieb reicht. Zentraler Begriff in diesem Zusammenhang ist die bereits in Kapitel 1 erwähnte Interoperabilität, d. h. die Fähigkeit der Zusammenarbeit verschiedener Systeme mit dem Ziel eines zweckdienlichen Austausches von Daten und Informationen zur Nutzung und Weiterverarbeitung im eigenen Nutzungskontext (vgl. Bracht et al. 2011). Die Kollaboration sieht darüber hinaus auch einen gemeinsamen Nutzungsprozess von verschiedenen Systemen vor. Für die Erkenntnisgewinnung und Kenntnisvermittlung werden in der universitären Ausbildung sowie in der Personalqualifizierung vor allem die Simulation als eine der wichtigsten digitalen Planungsmethoden Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 277 und 3D-Visualisierungsverfahren oder auch Virtual Reality (VR) (vgl. Wenzel und Bockel 2007; Abel et al. 2011) eingesetzt. Über den zusätzlichen gemeinsamen Zugriff der Akteure beispielsweise über das Internet lassen sich physische Anwesenheitszeiten reduzieren oder ganz vermeiden. Allerdings führen diese Modelle durch eine Projektion von 3D auf 2D und ein fehlendes haptisches Feedback teilweise zu Akzeptanzproblemen in der Anwendung. VR-Modelle versuchen diese Defizite auszugleichen, indem sie eine zeitliche und räumliche Vorstellung sowie durch entsprechende Ein- und Ausgabemedien auch haptisches Feedback zulassen. Zentrale Fragestellung des computermodellbasierten Lernens und Lehrens ist die nach der Verkürzung des Weges von der Innovation zur Instruktion, d. h. die Frage, wie eine schnellere Integration von neuen wissenschaftlichen und anwendungsorientierten Erkenntnissen in die praktische Umsetzung eines Studiums gewährleistet werden kann. Der Einsatz experimentierbarer digitaler Modelle, wie z. B. simulierter Fabrikabläufe, erlaubt in diesem Zusammenhang eine intensive und nachhaltige Beschäftigung mit den zu vermittelnden Inhalten des Studiums. Konzepte für die Lehre in Form von interaktiven, multimedialen Lehrund Lernkonzepten, z. B. in Form von digitalen Modellen und digitalen Musterfabriken, müssen dabei einerseits die Anforderungen einer Präsenzveranstaltung berücksichtigen, sie sollen aber auch im E- bzw. Mobile Learning zum Einsatz kommen. Somit sind die digitalen Modelle zum einen für eine Kollaboration an einem Ort, z. B. einem Planungslabor aufzubereiten (vgl. Abschnitt 3.1), in dem Studierende gemeinsam an einem Modell arbeiten können. Zum anderen müssen die Modelle aber auch verteilt nutzbar sein. In diesem Fall arbeiten Studierende an verschiedenen Orten, über das Internet miteinander verbunden, an einem digitalen Modell (vgl. Abschnitt 3.2). 3.1 Ortsgebundene Kollaboration Im Rahmen der Präsenzlehre bietet sich die Einrichtung eines Labors an, das die rechnertechnische Ausstattung bereitstellt und die Studierenden adäquat auf die kollaborativen Nutzungsprozesse des in der Industrie geforderten Technologie- und Methodenwissens im Kontext der digitalen Fabrik vorbereitet. Die Studierenden können sich gemeinsam in Übungen und Praktika Fabrikplanungsaufgaben in der Industrie 278 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz er- und bearbeiten. Zentrales Element ist ein Werkzeug zur Darstellung vernetzter Modelle, das deren Visualisierung als 2D- oder 3DModell sowie deren interaktive Manipulation durch die Studierenden erlaubt. Eine geeignete Kombination in diesem Kontext stellt ein interaktives Whiteboard verbunden mit beispielsweise der Fabrikplanungssoftware visTABLE dar. Elektronische Whiteboards oder auch Planungstische erlauben technisch gesehen die direkte Manipulation der dargestellten Inhalte (beliebiger Softwarewerkzeuge), die Software bietet eine manipulierbare 2D-Ansicht zur Planung und parallel dazu eine 3D-Ansicht zur Verfolgung der Planung im dreidimensionalen Raum. Abbildung 4 zeigt eine typische Planungssituation. Ergänzend zu einem Whiteboard lassen sich VR-Modelle auch über stereoskopische Projektionswände als begehbare Fabrikmodelle mit intuitiver Bedienung präsentieren. Zudem können diese digitalen Planungsmodelle um kontextabhängige, möglicherweise in Abhängigkeit von den Nutzern auch individuelle Wissenseinheiten ergänzt werden, so dass in der Gruppe gearbeitet wird, ein Anwender aber auch gleichzeitig individuell und gezielt seine eigenen Informationsdefizite verringern kann (vgl. Abel et al. 2011). Abbildung 4: Planung mit einem interaktiven Whiteboard (oben links), 3D stereoskopische Projektion (oben rechts), 2-Seiten-Projektionsanlage (unten) (© Universität Kassel, pfp) Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 3.2 279 Verteilte Kollaboration Bei einer verteilten Kollaboration, d. h. bei einer Form der Kollaboration, bei der sich die Beteiligten an unterschiedlichen Orten mit möglicherweise verschiedenen Zeitzonen befinden, ist zunächst zwischen einer synchronen und einer asynchronen Nutzung digitaler Modelle zu unterscheiden. Die synchrone Nutzung geht von einer Arbeit an einer Aufgabenstellung mit zugehörigen Modellen aus, die z. B. mit Hilfe webbasierter Kollaborationswerkzeuge zur gemeinschaftlichen Nutzung bereitgestellt werden. Die asynchrone Nutzung von Modellen sieht vor, dass alle Studierenden ihre eigene Modellkopie erhalten, mit der sie unabhängig voneinander arbeiten können. Tritt der Erkenntnisgewinn bei der synchronen Nutzung durch das gemeinsame Arbeiten an digitalen Modellen ein, so wird dies bei der asynchronen Nutzung durch die Bereitstellung von Modellen zur eigenen unabhängigen Nutzung erreicht. Das Ziel der asynchronen Nutzung von Modellen ist zunächst der Erkenntnisgewinn durch das eigene Arbeiten und Experimentieren mit dem Modell. Sie empfiehlt sich daher nicht oder nur sehr bedingt zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz, da die einzelnen Studierenden für sich alleine auf ihren Modellkopien arbeiten. Im Rahmen der synchronen Nutzung erlauben virtuelle Seminarräume den Studierenden, synchron gemeinsam Themen und Inhalte zu erarbeiten und zu vertiefen. Dozenten erhalten mit den virtuellen Seminarräumen eine zusätzliche Möglichkeit, mit den Studierenden in Kontakt zu treten und zu arbeiten. Zwei Repräsentanten für Werkzeuge, mit denen sich die erwähnten virtuellen Seminarräume aufbauen lassen, sind Adobe Connect und TeamViewer. Abbildung 5 zeigt eine typische Arbeitssituation an einem Simulationsmodell in Adobe Connect. Die Nutzung dieser Kollaborationswerkzeuge erlaubt aus didaktischer Sicht verschiedene Szenarien der Nutzung, die von einem Frontalunterricht, d. h. der reinen Präsentation eines für eine Aufgabenstellung repräsentativen Modells und seiner Variations- und Parametrisierungsmöglichkeiten durch einen Dozenten, bis hin zur gemeinsamen Erarbeitung einer Lösung auf der Basis gemeinsamer Modellnutzung durch alle Beteiligten reicht. Im ersten Szenario gibt der Dozent lediglich sein Modell zur Betrachtung frei. Die Manipulation des Modells übernimmt er selbst. Die Aufbereitung der genutzten Modelle richtet sich dabei ausschließlich nach didaktischen Gesichtspunkten; die technische Realisierung bleibt von 280 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz der Nutzung unberührt. Hierbei steht es ihm frei, inwieweit er die Studierenden moderierend in einen gemeinsamen Modellierungsprozess einbezieht. Eine typische Anwendung für dieses Szenario ist die Einführung in ein neues Modellierungswerkzeug. Die Förderung von Kollaborationskompetenz ist in diesem Szenario eher zweitrangig. Abbildung 5: Kollaboration über Adobe Connect (© Universität Kassel, pfp) Im zweiten Szenario agieren die an der Kollaboration beteiligten Studierenden gleichberechtigt, d. h. sie präsentieren wechselseitig ihre Lösungen für eine gemeinsame Aufgabenstellung. Hierbei ist nicht zwangsläufig davon auszugehen, dass alle Beteiligten das gleiche Modellierungswerkzeug nutzen. Genauso wie der Vergleich von Lösungen, die mit dem gleichen Werkzeug erarbeitet werden, ist auch der Vergleich von Lösungen, die aus der Arbeit mit verschiedenen Werkzeugen entstehen, durchaus sinnvoll. Steht bei gleichen Werkzeugen der Vergleich der Kreativität der Modellierer im Vordergrund, kann bei Werkzeugen nur des gleichen Typs, z. B. unterschiedlicher Simulationswerkzeuge, deren Leistung verglichen werden oder bei der Nutzung verschiedener Werkzeugtypen im Rahmen einer Arbeitsteilung, z. B. zur Gestaltung von Arbeitsplätzen und Fahrwegen, die verschiedenen Modellierungsergebnisse in der Kollaborationsphase zusammengetragen werden. Den drei Fällen gemeinsam ist der direkte Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den Beteiligten; ggf. können sogar Hinweise von den Beteiligten während der Sitzung direkt Modelle zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz in der Fabrikplanung […] 281 interaktiv umgesetzt werden. Wichtig ist jedoch, dass die Zusammenarbeit moderiert wird und dass sich alle Beteiligten an gemeinschaftlich abgestimmte Regeln für die Zusammenarbeit halten. Insofern werden mit dem Einsatz moderner Kollaborationswerkzeuge nicht nur die fachspezifische Methodenkompetenz für ein Simultaneous Engineering, sondern auch die soziale Kompetenz im Hinblick auf eine moderne Arbeitsteilung in der globalisierten Welt geschult. 4 Zusammenfassung und Ausblick In der heutigen Fabrikplanung ist eine effiziente und ergebnisorientierte Zusammenarbeit gefordert. Der Beitrag hat vor diesem Hintergrund verschiedene Konzepte unter Nutzung physischer und digitaler Modelle erläutert und den Bezug zur Vermittlung von Kollaborationskompetenz dargelegt. Physische Modelle besitzen im Vergleich zu Computermodellen den Vorteil, dass sie aufgrund des haptischen Erlebens ein oftmals schnelleres Erfassen von Situationen und Zusammenhängen zulassen. Nachteilig sind der Aufwand bei der Modellerstellung, die in der Regel eingeschränkte Flexibilität in Bezug auf Änderungsanforderungen sowie das teilweise erschwerte Messen von zeitlich abhängigen Modellkenngrößen. Alle mit diesem Modell arbeitenden Akteure müssen zudem zwingend physisch anwesend sein. Digitale Modelle (wie graphische 2D- oder 3D-Modelle, Simulationsmodelle, VR-Modelle) hingegen erlauben die Darstellung beliebig flexibel gestaltbarer virtueller Szenen und in Abhängigkeit vom jeweiligen Modelltyp auch die Integration von umfassenden Bewertungs- und Auswertungsmethoden. Mit digitalen Modellen als gemeinschaftliches Untersuchungsobjekt wird daher ein sehr flexibles und individuell adaptierbares Konzept angeboten, das einen wesentlichen Beitrag auch im E- und Mobile Learning leisten kann. Aktuelle Entwicklungen, Implementierungen in der Lehre sowie durchgeführte Evaluationen zeigen, dass beide Modellarten in Abhängigkeit von der Aufgabenstellung in der Lehre ihren Platz haben. Über moderne Softwarewerkzeuge wird zudem der Medienbruch zwischen physischen und digitalen Modelle mittelfristig aufgelöst, so dass in der Lehre die Durchgängigkeit der Planung unter Nutzung unterschiedlicher Modellarten umgesetzt werden kann. Mit diesen Konzepten lassen sich dann auch Aspekte zu Industrie 4.0 nachvollziehbar lehren. 282 Sigrid Wenzel, Ulrich Jessen, Tim Peter, Markus Schmitz Danksagung Die hier vorgestellten Konzepte wurden aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft, aus Mitteln zur Verbesserung der Qualität der Studienbedingungen und der Lehre der Universität Kassel sowie aus Mitteln des Hochschulpaktes 2020 finanziert. Literatur Abel, D., Schmitz, M., Wenzel, S., 2011: Nutzung von Virtual Reality zur Personalqualifizierung in der Produktions- und Logistikplanung. In: ZWF 106 (2011) 10, S. 721725. Alt, R., 2003: Collaborative Computing – der nächste Schritt im Business Networking. In: Beyer, L., Frick, D., Gadatsch, A., Maucher, I., Paul, H. 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Vielmehr muss das Gewinnen und Halten, aber besonders auch die (Weiter-)Entwicklung kompetenter Mitarbeiter in den Fokus rücken. Besondere Relevanz hat vor diesem Hintergrund die Kompetenzentwicklung von Mitarbeitern bereits in der Hochschulausbildung. Im vorliegenden Artikel werden daher die sich verändernden Arbeitsbedingungen in produzierenden Unternehmen bezüglich Anforderungen, Ressourcen und Belastungen und die Reaktion darauf fokussiert. Diese Faktoren werden im Studiengang AIM, welcher das Erfahrbare Lernen in den Mittelpunkt stellen soll, besonders berücksichtigt. Daher werden die konkrete Ausgestaltung des Studiengangs sowie der Beitrag des Instituts für Fabrikbetriebslehre und Unternehmensforschung (IFU) der TU Braunschweig vorgestellt. Ein entscheidender Grundstein dieses Studiengangs ist das AIM-Lab am IFU, welches eine Modellfabrik darstellt und somit direkt zur praxisnahen Wissensvermittlung in einer spielerischen Umwelt dient. Aus diesem Grund werden das AIMLab sowie dessen Beitrag zur Vermittlung von Kompetenzen und Methoden in der Hochschulausbildung erörtert. 1 Einleitung Unternehmensspezifische und globale Veränderungen wirken sich vielfältig auf die Arbeitsbedingungen aus. Unternehmensspezifische Herausforderungen können grob durch die drei Zieldimensionen Qualität, Kosten und Zeit zusammengefasst werden. Globale Veränderungen sind durch Megatrends wie den demografischen Wandel oder die Individualisierung beeinflusst. Für produzierende Unternehmen ergeben sich daraus im Wesentlichen kürzer werdende Produktlebenszyklen, die Forderung nach 286 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny einem kundenindividuellen Produktangebot, Schwankungen der herzustellenden Losgrößen sowie steigende technologische Anforderungen. Insgesamt nimmt hierdurch die Komplexität innerhalb der Produktion zu. Diese Komplexität ist dabei im Wesentlichen durch das Zusammenspiel einer großen Anzahl hochtechnologischer, miteinander verketteter Prozesse beschrieben (Weinrauch, 2005) S. 104. Darüber hinaus ergibt sich eine zunehmende Miniaturisierung der Prozesstechnik und mit der verstärkten Digitalisierung durch Industrie 4.0 eine Vernetzung zwischen Menschen, Maschinen und Produkten (Kagermann, 2013). Aber auch Sprünge in Technologien oder Innovationen in den Materialwissenschaften führen dazu, dass stetig neue Produkte oder Verfahren möglich oder erforderlich sind. Dies ist exemplarisch bei der Elektromobilität ersichtlich, bei denen neue Qualifikationen an die Mitarbeiter durch den Verbau von Hochvolttechnik gestellt werden. Zudem erfordern neue Verbundwerkstoffe, wie CFK-Werkstoffe, komplett neue, wirtschaftlichere und beherrschbare Fertigungsprozesse, die bislang noch nicht in Serienreife existieren (Haka, 2011, S. 95/96). In diesen Fällen müssen durch Schulungskonzepte und Fertigungs-Know-how effiziente Prozesse erarbeitet und im Unternehmen integriert werden. Für die Zukunft zeigt sich, dass effiziente Prozesse durch optimierte Maschinen und Anlagen nicht mehr ausreichend sind, um wettbewerbsfähig zu sein. Vielmehr muss das Gewinnen und Halten, aber besonders auch die (Weiter-)Entwicklung kompetenter Mitarbeiter in den Fokus rücken. Besondere Relevanz hat dabei die Kompetenzentwicklung. Unter Kompetenzen wird die Fähigkeit verstanden, „in offenen, unüberschaubaren, komplexen, dynamischen und zuweilen chaotischen Situationen kreativ und selbst organisiert zu handeln“ (Erpenbeck/Sauter, 2013) S. 32. (Heinen et al. 2013) S. 145, (Tisch et al. 2014) S. 587 Bei der Kompetenzentwicklung gilt es die veränderten Arbeitsbedingungen, denen Mitarbeiter in produzierenden Unternehmen ausgesetzt sind, zu berücksichtigen. Darunter zu verstehen sind Anforderungen, die an den Mitarbeiter zur Erfüllung der Arbeitsaufgaben gestellt werden, Ressourcen, die dem Mitarbeiter zur Verfügung stehen und Belastungen, denen der Mitarbeiter ausgesetzt ist (Bamberg et al. 2012) S. 125. Mitarbeiter in produzierenden Unternehmen müssen daher befähigt werden, auf diese neuen Anforderungen, Ressourcen und Belastungen angemessen zu reagieren. Dazu sind Vorgehensweisen notwendig, die eine zielgerichtete, effektive und lebenslange Weiterentwicklung der Kompetenzen der Mitarbeiter ermöglichen. Bisher fehlen ausreichende Lösungen hierfür. Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 287 (Tisch et al. 2014) S. 587 Insbesondere werden von Praktikern bereits im ingenieurwissenschaftlichen Studium Ansätze zur Entwicklung überfachlicher Kompetenzen gefordert (Brall, 2010) S. 34. 2 Veränderte Kompetenzanforderungen an Ingenieure Werden die verschiedenen Kompetenzanforderungen, welche an Universitätsabsolventen der Ingenieurwissenschaften gestellt werden, näher betrachtet, sind neben fachlichen zunehmend überfachliche Kompetenzen von Bedeutung. Um Universitätsabsolventen der Ingenieurwissenschaften auf das Berufsleben ausreichend vorzubereiten, muss diese überfachliche Kompetenzentwicklung im Studium fest verankert werden. Die Hochschulen kommen dieser Kompetenzvermittlung allerdings nur unzureichend nach. (Heyse, 2014) S. 201–212, (Brall, 2010) S. 34 Zur Ableitung notwendiger fachlicher und überfachlicher Kompetenzen werden im Abschnitt 2.1 die sich verändernden Arbeitsbedingungen in produzierenden Unternehmen analysiert um darauf aufbauend in Abschnitt 2.2 notwendige Handlungsfelder zu beschreiben. 2.1 Veränderte Arbeitsbedingungen in produzierenden Unternehmen Wie zuvor beschrieben haben die unternehmensspezifischen und globalen Veränderungen erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt und damit die Arbeitsbedingungen. Wie in Abbildung 1 dargestellt, können die Arbeitsbedingungen durch die Anforderungen, die Ressourcen und die Belastungen näher beschrieben werden. Um Handlungsfelder für die universitäre Ausbildung der Ingenieurwissenschaften ableiten zu können, werden im Folgenden die sich verändernden Arbeitsbedingungen näher beschrieben. 288 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny Arbeitsbedingungen 2 1 Anforderungen Ressourcen Komplexität Vollständigkeit Variabilität Handlungs- und Zeitspielraum Soziale Unterstützung 3 Belastungen Arbeitsumgebung Arbeitsbedingungen Arbeitsaufgaben Abbildung 1: Struktur der Arbeitsbedingungen nach (Bamberg et al. 2012) S. 125 2.1.1 Anforderungen Die Anforderungen beschreiben Prozesse und Inhalte, die von den Arbeitenden durch die gestellte Arbeitsaufgabe verlangt bzw. gefordert werden. Diese beziehen sich auf das Verhalten, bestimmte Teilhandlungen oder Operationen, die zur Erfüllung der gestellten Arbeitsaufgabe notwendig sind. Dabei sind die Komplexität, die Vollständigkeit und die Variabilität der Anforderung zu unterscheiden. (Bamberg, Mohr, & Busch, 2012) S. 126 Komplexität: Komplexität bezieht sich auf Entscheidungen, die bei der Arbeit getroffen werden müssen. Abhängig von vorhandenen Kompetenzen und den gestellten Anforderungen wirkt sich diese unterschiedlich auf die Mitarbeiter aus. Experten können Entscheidungen automatisiert, im Sinne einer Routinetätigkeit, treffen, sodass der Komplexitätsgrad in diesem Fall niedrig ist. Für andere Mitarbeiter stellt die gleiche Entscheidungssituation eine hohe Anforderung dar, sodass diese Mitarbeiter einen hohen Komplexitätsgrad wahrnehmen. (Fischbach/Antoni, 2008) S. 289 Vollständigkeit: Um eine vollständige Arbeitsaufgabe handelt es sich, wenn der Mitarbeiter die Ausführung seiner Tätigkeit selbst plant, sich zwischen Ausführungsalternativen entscheiden kann, die Tätigkeit ausführt Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 289 und deren Ergebnis reflektieren kann. (Dombrowski/Wagner 2014) S. 351355, (Ulrich/Wülser, 2015) S. 256 Variabilität: Je unterschiedlicher die Aktivitäten für eine gegebene Arbeitsaufgabe sind, desto höher ist deren Variabilität. Bspw. ist eine Arbeitsaufgabe, die das Kommissionieren, das Montieren und die Instandhaltung des Betriebsmittels beinhaltet, deutlich variabler als eine Arbeitsaufgabe, die allein das Montieren beinhaltet. (Fischbach/Antoni, 2008) S. 289 Zu unterscheiden ist dabei, ob die Arbeitsaufgaben denselben oder einen höheren Komplexitätsgrad besitzen. (Schlick et al. 2010) S. 506-507 2.1.2 Ressourcen Ressourcen erleichtern grundsätzlich den Umgang mit Anforderungen und Stressoren bzw. Belastungen. Direkt mit einer Arbeitsaufgabe verbundene Ressourcen sind, wie in Abbildung 1 dargestellt, der zur Verfügung stehende Handlungs- und Zeitspielraum. Die zweite wichtige Kategorie der Ressourcen ist die soziale Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte. (Bamberg et al. 2012) S. 126 Handlungs- und Zeitspielraum: Der Handlungsspielraum beschreibt allgemein den Spielraum, in dessen Rahmen ein Mitarbeiter selbstbestimmt (autonom) und variabel arbeiten kann. Das grundlegende Konzept des Handlungsspielraums umfasst zwei Dimensionen: Horizontale Dimension (Tätigkeitsspielraum) Vertikale Dimension (Entscheidungs- und Kontrollspielraum) Während der Tätigkeitsspielraum die Vielfalt der Arbeitstätigkeiten meint, beschreibt der Entscheidungs- und Kontrollspielraum die Möglichkeiten einer eigenständigen Arbeitsgestaltung (Sichler, 2006) S. 97. Der Zeitspielraum bezieht sich darauf, inwiefern der Mitarbeiter über zeitliche Aspekte der Arbeit selbst entscheiden und den zeitlichen Ablauf strukturieren kann. Er erfasst den Einfluss auf die Zeiteinteilung und die Arbeitsgeschwindigkeit. (Hellert, 2001) S. 137 Somit kann der Zeitspielraum als Unterkategorie des Entscheidungs- und Kontrollspielraums angesehen werden. Soziale Unterstützung: Die soziale Unterstützung stellt eine wichtige Ressourcenkategorie des Menschen dar, welche dabei hilft, kritische Lebenslagen und belastende Alltagsanforderungen zu bewältigen. Als For- 290 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny men der sozialen Unterstützung werden die „Informationelle Unterstützung“, die „Instrumentelle Unterstützung“ und die „Emotionale Unterstützung“ unterschieden. Bei der informationellen Unterstützung handelt es sich z. B. um einen guten Rat oder die Bereitstellung wichtiger und hilfreicher Informationen. Unter der instrumentellen Unterstützung wird bspw. eine Hilfestellung durch das Erledigen von Arbeiten verstanden. Die emotionale Unterstützung bezieht sich auf unterstützende Gefühle, wie z. B. Trost, Zuneigung, Bewunderung, Respekt und Zuspruch (Kienle et al. 2010) S. 108. 2.1.3 Belastungen Die Belastungen beschreiben Stressoren, die von außen auf die Mitarbeiter in einem Unternehmen einwirken. Insgesamt werden dabei Faktoren zusammengefasst, die eine negative Auswirkung auf die Gesundheit sowie die Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit haben. (Bamberg et al. 2012) S. 127 Arbeitsumgebung: Belastungen, wie Strahlung, Gase, Hitze, Kälte, Lärm, Staub oder Licht, können für eine ungewünschte Arbeitsumgebung sorgen (Bamberg et al. 2012) S. 127. Arbeitsbedingungen: Arbeitsbedingungen, die sich aus der Lebenslage der Mitarbeiter, der Wirtschaft oder des Unternehmens ergeben, können eine Belastung darstellen. Zu nennen ist hier z. B. die Arbeitsplatzunsicherheit oder Nacht- und Schichtarbeit. Aber auch der flexible Einsatz von Mitarbeitern führt zu einer steigenden Belastung. Wenn sich Mitarbeiter auf ständig wechselnde Arbeitsinhalte und Arbeitsorte einstellen müssen, führt dies zu einer emotionalen Beanspruchung, da grundsätzlich ein Bedürfnis nach Bindung, Orientierung und Kontrolle besteht. (Peters & Ghadiri, 2010) S. 72 Arbeitsaufgaben: Zuletzt lassen sich Belastungen hinsichtlich der gestellten Arbeitsaufgaben zuordnen. Darunter fallen zum Beispiel Arbeitsunterbrechungen oder die Überforderung der Mitarbeiter. Bspw. wird durch kurzzyklische Wechsel der Arbeitsaufgaben das Reaktionsvermögen und damit Sinne und Nerven stark beansprucht. (Bamberg et al. 2012) S. 127, (Dombrowski/Wagner 2014) S. 352 Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 2.2 291 Neuen Arbeitsbedingungen in der universitären Ingenieurausbildung begegnen Auf Basis dieser beschriebenen veränderten Arbeitsbedingungen sollen im Folgenden neue Handlungsfelder in der universitären Ingenieurausbildung abgeleitet werden. 2.2.1 Anforderungen Komplexität: Zur Erfüllung der Arbeitsaufgaben müssen Mitarbeiter im Ingenieurbereich zukünftig mit einer steigenden Prozesskomplexität umgehen können. Diese Komplexität ergibt sich im Wesentlichen durch eine zunehmende Variantenvielfalt, um individuelle Kundenwünsche erfüllen zu können sowie die daraus resultierenden komplexen Fertigungsprozesse. So kommen verstärkt eine hohe Anzahl neuer Produkttechnologien und hochtechnologischer, miteinander verketteter Betriebsmittel innerhalb der Fertigung zum Einsatz. Verstärkt wird dies durch die zunehmende Digitalisierung bzw. die Vernetzung zwischen Menschen, Maschinen und Produkten. (Conrad, 2006) S. 35-36, (Kagermann, 2013), (Bahmann, 2013) S. 215 Vollständigkeit: Es verändert sich stark die Bedeutung der Facharbeit in der Industrie. Waren technologieorientierte Berufskonzepte wie Maschinen- und Anlagenbauer, Elektroingenieure, Mess- und Automatisierungstechniker bisher auf ausgewählte Prozessschritte spezialisiert, werden zunehmend technologieunabhängige, prozessorientierte Kompetenzen von Bedeutung sein. (Heinen et al. 2013) S. 146 Insgesamt ist damit von einer zunehmenden Vollständigkeit der Arbeitsaufgaben auszugehen. Daraus folgend ist zu erwarten, dass überfachliche Kompetenzen neben fachlichen Kompetenzen stark an Bedeutung gewinnen. So müssen Mitarbeiter zunehmend situationsübergreifend auf unvorhersehbare, dynamische und komplizierte Situationen eigenständig und systematisch reagieren können. (Dombrowski/Wagner 2014) S. 351-355, (Tisch et al. 2014) S. 587 Variabilität: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen produzierende Unternehmen ihre Produktionsprozesse permanent an technologische, ökonomische, politische und gesellschaftliche Entwicklungen anpassen. (Heinen et al. 2013) S. 145 Hierdurch verändern sich die Prozesse innerhalb der Produktion in immer wiederkehrenden Abständen, wodurch von dem Mitarbeiter ein lebenslanges Lernen gefordert wird. Zusätzlich wird sich die Variabilität durch eine steigende Vollständigkeit der Arbeitsaufga- 292 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny ben erhöhen. Hierdurch ist zu erwarten, dass es zukünftig keine fest bestimmten Arbeitsplätze mit vorgegebenen Arbeitsabläufen geben wird. Vielmehr werden variierende Anforderungen und Tätigkeiten in veränderlichen Arbeitsteams an unterschiedlichen Arbeitsorten bis zumeist befristeten Arbeitsverhältnissen die Folge sein. (Niemeier/Lebsack, 2014) S. 270 2.2.2 Ressourcen Handlungs- und Zeitspielraum: Zukünftig wird die Arbeitswelt deutlich flexibler werden und durch flache Hierarchien, größere Selbstbestimmung und Individualisierung der Arbeitnehmer sowie neue Chancen für Ältere gekennzeichnet sein. Die Mitarbeiter werden zunehmend selbst entscheiden wo und wann sie arbeiten wollen. (Niemeier/Lebsack, 2014) S. 270, (Schritt, 2013) S. 64-71 Soziale Unterstützung: Die beschriebenen Marktveränderungen verlangen zunehmend kollaborative Arbeitsformen zwischen einzelnen Geschäftseinheiten und externen Partnern. Durch eine derartige soziale Unterstützung können unterschiedliche Organisationsmitglieder oder Partner mit unterschiedlichen Informations- und Wissensständen, Perspektiven, Prioritäten und Interessen in die Zielerreichung einbezogen werden. Dabei steht besonders die Entwicklung neuer Managementsysteme unter Berücksichtigung von Web2.0-Technologien im Fokus. (Goepel, 2014) S. 205-208 Neben dieser Informationellen Unterstützung bieten neue Technologien der mobilen Kommunikationstechnik auch eine Instrumentelle Unterstützung. So können diese eine direkte und übersichtliche Darstellung der von den Mitarbeitern benötigten Informationen ermöglichen. (Dombrowski/Wagner 2014) S. 352, (Kienle et al. 2006) S. 108. 2.2.3 Belastungen Arbeitsumgebung: Durch einen steigenden Grad an Automatisierung und der Kooperation zwischen Mensch und Maschine wird es zu einer Entlastung der Mitarbeiter kommen. Daher ist zu erwarten, dass die zuvor genannten Belastungen durch die Arbeitsumgebung wie Lärm oder Staub zurückgehen werden. (Dombrowski/Wagner 2014) S. 352-353 Arbeitsbedingungen: Wie bereits mehrfach erläutert müssen Organisationen und damit die Mitarbeiter immer flexibler werden (Spath 2013) S. 68. Die starke Verbreitung neuer, flexibler Arbeitsformen wird nicht den Wünschen aller Mitarbeiter entsprechen (Spath 2013) S. 3. So ist bspw. vermehrt mit befristeten Arbeitsverhältnissen in variierenden Arbeitsteams an Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 293 unterschiedlichen Arbeitsorten zu rechnen (Niemeier/Lebsack, 2014) S. 270. Zusammen mit dem Zwang zu einer erhöhten Flexibilität, stellt der steigende Verantwortungsdruck eine Hauptursache für das Risiko psychischer Erkrankungen dar (Eichhorst et al. 2013) S. 11. Arbeitsaufgaben: Durch kurzzyklische Wechsel der Arbeitsaufgaben werden zukünftig das Reaktionsvermögen und damit Sinne und Nerven stärker beansprucht. Zukünftig verändern sich auch die Arbeitsinhalte durch hinzukommende problemlösende und überwachende Tätigkeiten. Hierdurch wird ein höheres Maß an Kreativität gefordert. (Dombrowski/Wagner 2014) S. 352 3 3.1 Ganzheitliche Produktionssysteme – Grundgerüst der Produktion Ganzheitliche Produktionssysteme als Rahmenwerk zur Gestaltung von Arbeit Bei einem Ganzheitlichen Produktionssystem (GPS) handelt es sich um ein unternehmensspezifisches, methodisches Regelwerk, welches eine umfassende und durchgängige Gestaltung der Produktion ermöglicht. Grundsätzliches Ziel eines GPS ist die Verbesserung von Qualitäts-, Zeitund Kostenzielen. Hierfür gilt es den eingangs genannten Veränderungen unter Berücksichtigung organisatorischer, personeller und wirtschaftlicher Aspekte zu begegnen. (Dombrowski et al. 2005) S. 9, (VDI 2870-1, 2012) S. 2-3 GPS bilden dabei einen umfassenden, langfristigen Ansatz zur Gestaltung der Produktion, wodurch sie sich von anderen Rationalisierungsansätzen unterscheiden (Dombrowski/Mielke 2012). Beispiele hierfür sind die Optimierung von Herstellungsprozessen, die Sicherung der Produktqualität, die Steigerung der Anlagenverfügbarkeit, die Senkung des Energieverbrauchs oder die Einhaltung der Arbeitssicherheit. Zur Erreichung dieser Verbesserungen existiert durch die VDI-Richtlinie 2870 eine einheitliche Struktur (vgl. Abbildung 2). An der Spitze der Struktur sind die strategischen Ziele des Unternehmens. Diese bestimmen die maßgebliche Ausprägung des GPS, wobei die Unternehmensprozesse auf die Erreichung der strategischen Ziele ausgerichtet sind. Zur Zielerreichung unterstützen die Gestaltungsprinzipien des GPS. Als Gestaltungsprinzipien in einem GPS sind nach VDI 2870 folgende zu nennen: 294 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Standardisierung, Null-Fehler Prinzip, Fließprinzip, Pull-Prinzip, kontinuierliche Verbesserung, Mitarbeiterorientierung und zielorientierte Führung, Visuelles Management und Vermeidung von Verschwendung. Diese Gestaltungsprinzipien bilden einen Rahmen für inhaltlich ähnliche Methoden und Werkzeuge. Methoden sind als definierte Vorgehensweisen oder Abläufe in GPS zu verstehen, während Werkzeuge physisch vorhandene Mittel sind. Werkzeuge dienen dabei der Umsetzung von Methoden. (VDI 2870-1, 2012) S. 6-7 Ziele Unternehmensprozesse Gestaltungsprinzipien Methoden Werkzeuge Abbildung 2: Struktur von GPS (VDI 2870-1, 2012) S. 6 3.2 Das GPS unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungstrends Derzeit wird das Zusammenspiel von GPS und der zunehmenden Digitalisierung stark diskutiert. Im Zuge der Digitalisierung verschmelzen digitale und reale Welt durch die Vernetzung von Cyber Physical Systems und bilden eine Produktionsumgebung, in der intelligente Produkte mit intelligenten Maschinen und Menschen kommunizieren und sich dezentral or- Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 295 ganisieren. Häufig wird von einer sogenannten Smart Factory gesprochen. (Lucke et al. 2008) S. 138–142 Wie in Abschnitt 3.1 beschrieben, wird in einem GPS die Erreichung der Unternehmensziele durch die Umsetzung von Gestaltungsprinzipien und den jeweils zugeordneten Methoden und Werkzeugen innerhalb definierter Unternehmensprozesse angestrebt. Durch die Auswahl entsprechender Gestaltungsprinzipien werden die anzuwendenden Methoden und Werkzeuge bestimmt und ein abgestimmtes Gesamtsystem entwickelt, indem die Methoden und Werkzeuge den ausführbaren Teil eines GPS darstellen. (VDI 2870-1, 2012) S. 2-11 Die Organisation der Produktion wird auch zukünftig nach GPS-Prinzipien erfolgen. So können die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien genutzt werden, um ein GPS technologisch zu unterstützen. Beispielsweise wird der Mensch auch in der zukünftigen Produktion ein entscheidender Faktor sein (Spath, et al., 2013) und als kreativer Akteur und Entscheider in Prozessen agieren (Schlick et al. 2012) S. 3, sodass Prozesse standardisiert, transparent und für den Menschen nachvollziehbar gestaltet und kommuniziert werden müssen. Intelligente Werkerassistenzsysteme teilen dem Mitarbeiter den aktuellen Standard mit, können neue, potenziell optimierte Standards aufnehmen, evaluieren und ggf. zeitaktuell weltweit verbreiten. Dies führt zu einer Dynamisierung der Standardisierungsprozesse, wodurch die Hemmnisse zur kontinuierlichen Verbesserung bzw. zur Definition von Standards reduziert werden. Das Gestaltungsprinzip der Standardisierung wird somit zukünftig weiterhin relevant sein. (Dombrowski et al. 2015) S. 53-56. Daher gilt es, die etablierten Gestaltungsprinzipien eines GPS sowie deren Methoden und Werkzeuge mit den Technologien der Industrie 4.0 zu verbinden, um die Unternehmensziele zu erreichen. 4 Erfahrbares Lernen im AIM-Studiengang Kompetenzen können allein durch ein kreatives Handeln bei neuartigen, offenen und realen Problemsituationen aufgebaut werden (Tisch et al. 2014), (Kuhlmann/Auter, 2008). Universitäten müssen sich auf die veränderten Kompetenzanforderungen einstellen und den Kompetenzerwerb der Lernenden entsprechend fördern. Dabei haben sich Lernfabriken als vielversprechender Lösungsansatz etabliert. Durch deren entsprechende Ausgestaltung wird ein unmittelbares, erfahrbares Lernerlebnis mit Rückmeldungen möglich. Ein erfahrbares Lernen in der Lernsimulation kann die Studierenden auf Praxissituationen im Berufsleben optimal vorbereiten. 296 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny Dieser Ansatz der Lernfabriken wird durch die Kombination mit dem AIMStudiengang erweitert. Auf diese Weise wird der Fokus nicht nur auf die theoretische Wissensvermittlung gelegt, sondern durch den AIMStudiengang auch auf Problemstellungen der industriellen Praxis. Diese Problemstellungen werden den Studierenden sowohl in der theoretischen Lehrstoffvermittlung mittels Vorlesungen näher gebracht, als auch durch den konkreten Einbezug von Industrietätigkeiten in das Curriculum des Studiengangs. Im Folgenden werden der AIM-Studiengang, die Vermittlung von notwendigen Kompetenzen im Studium sowie das AIM-Lab des IFU näher erläutert. 4.1 Der AIM-Studiengang Wie in Kapitel 2 dargelegt, müssen Qualifikationssysteme in Betrieben und Hochschulen die Studierenden befähigen, mit neuen und stetig wechselnden Arbeitsbedingungen umgehen zu können. Besonders bei Ingenieuren, die in produzierenden Unternehmen häufig Führungspositionen einnehmen, findet keine gezielte Vorbereitung auf diese sich wechselnden Arbeitsbedingungen statt. Um dies zu ermöglichen, soll ein neuer Masterstudiengang entstehen, der Ingenieure gezielt auf Führungsaufgaben vorbereitet. Studium Industrietätigkeit Universitätsabschluss Universitätsabschluss Master of AIM Training on the Job Bachelor Master Strukturierte Vorbereitung auf eine Führungsposition (Industrietätigkeit) Unstrukturierte, zufällige Vorbereitung auf eine Führungsposition Industrietätigkeit Führungsposition Δ Zeit Führungsposition Δ Qualität = Benötigte Qualifikationen Abbildung 3: Strukturierte Vorbereitung auf Führungsaufgaben Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 297 Der Master of Advanced Industrial Engineering and Management (AIM) soll ein flexibles Studieren in ganz Europa ermöglichen, ohne jegliche Restriktionen bei der Anerkennung von Studienleistungen an anderen Universitäten. Hierbei sollen aber nicht nur Studierende das Masterprogramm absolvieren können, vielmehr soll dieses Masterprogramm auch berufsbegleitend angeboten werden. Abbildung 3 zeigt wie im Masterprogramm AIM eine strukturierte Vorbereitung durchgeführt wird, um junger Ingenieure schneller für eine Führungsposition zu befähigen. Auf diese Weise kann ein solcher Masterstudiengang unterstützend dazu beitragen, die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln. Eine wesentliche Voraussetzung, um auf die sich ändernden, neuen Arbeitsbedingungen reagieren zu können, ist die Möglichkeit zum berufsbegleitenden Studium. Daher müssen Weiterbildungsmöglichkeiten auch an Universitäten entstehen, die ein Studium auch neben einer Vollzeitstelle ermöglichen. Hierfür sind vor allem räumliche und zeitliche Flexibilität notwendig. Die räumliche Flexibilität gewinnt zunehmend an Bedeutung, da immer weniger Ingenieure langfristig an einem Standort bleiben. Die zeitliche Flexibilität sollte es den Studierenden ermöglichen, den gleichen Master sowohl als Vollzeitstudium als auch in einzelnen Modulen über mehrere Jahre absolvieren zu können. Das Studium des Masters AIM vereint diese Anforderungen in einem innovativen Studienkonzept. Hierbei können Studierende mit unterschiedlichsten Bildungsbiografien in Voll- oder Teilzeit einen Universitätsmaster absolvieren. Abbildung 4 zeigt die verschiedenen Varianten, in denen der Master AIM durchlaufen werden kann. Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny Master AIM nach einem Bachelorabschluss = Kenntnisprüfung M1 Mn Zertifikat 3 M3 Berufsbegleitendes Studium = Modul 1 des Master AIM (Gleiche Qualität bei jeder Variante) MB = Maschinenbau WiIng = Wirtschaftsingenieurwesen Master (z.B. Aerospace) Universität M1 Master (z.B. Aerospace) M2 Bachelor WiIng Universität Bachelor MB Fachhochschule Zertifikat 1 Industrietätigkeit M1 Variante V Master AIM Variante IV Zertifikat n + = + Zertifikat 2 + Fachhochschule Universität Bachelor WiIng Universität Fachhochschule Bachelor WiIng Fachhochschule Bachelor MB Bachelor AIM Konsekutiver AIM Studiengang Bachelor MB Master AIM Variante III Master AIM Master AIM Variante II Bachelor WiIng Variante I Bachelor MB 298 Einzelne „Technischer Zertifikate als MBA“ Zusatzqualifikation = Bachelor Level = Master Level Abbildung 4: Flexibilität durch Modularität Im Master AIM werden die neuen Möglichkeiten der Bologna-Reform voll genutzt. Grundsätzlich kann der Master AIM als konventioneller, konsekutiver Master absolviert werden (Variante I). Darüber hinaus ist er aber auch als Weiterführung nach anderen Studiengängen, wie Bachelor im Maschinenbau oder Wirtschaftsingenieurwesen, möglich (Variante II). Der modulare Aufbau ermöglicht es, in Variante III den Master AIM neben dem Beruf zu studieren. Hierfür werden die einzelnen Module entweder im Abendstudium oder in Blockveranstaltungen abgelegt. Für jedes Modul erhalten die Studierenden ein Zertifikat, das als Beleg für das Modul gilt oder als einzelne Zusatzqualifikation genutzt werden kann. Wird der Master AIM nicht abgeschlossen oder werden nur einzelne Module benötigt, ist Variante IV möglich. Hier können einzelne Module als gezielte Zusatzqualifikation auf Universitätsniveau abgelegt werden. Bei Bedarf kann auch von Variante IV zu III gewechselt werden, wenn aus einzelnen Zusatzqualifikationen doch ein Masterabschluss resultieren soll. In Variante V wird der Master AIM als „Technischer MBA“ abgelegt. Dies kommt für Studierende in Frage, die bereits ein Hochschulstudium in einem anderen Fach abgeschlossen haben und sich auf zukünftige Führungsaufgaben vorbereiten wollen. Durch den modularen Aufbau bietet der Master AIM maximale Flexibilität für alle Zielgruppen. Der Master AIM geht nicht nur mit seinen verschiedenen Varianten neue Wege, sondern setzt die Forderungen des Bologna-Prozesses nach euro- Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 299 paweit einheitlichen Qualitätsstandards und einem europäischen Hochschulraum um. Das Curriculum des Master AIM entstand einerseits in enger Abstimmung mit zahlreichen Unternehmen und Verbänden und andererseits in Kooperation mit der europäischen Hochschullehrervereinigung Academy for Industrial Engineering and Management. In dieser Vereinigung sind Professoren aus 19 Ländern organisiert, die auf dem Gebiet des Industrial Management forschen und lehren. Ziel ist es, einzelne Module oder das komplette Curriculum des Masters AIM in jedem der 47 Staaten der European Higher Education Area belegen zu können. Die Module sind in einem Kern-Curriculum verankert, das ca. 80 % aller Credit Points abdeckt. Die restlichen Credit Points können durch weitere, individuelle Kurse der jeweiligen Universität erreicht werden. Durch das einheitliche KernCurriculum kann ein konstantes Qualitätsniveau an allen Standorten sichergestellt werden. Somit wird nicht nur die Flexibilität der Studierenden verbessert, sondern es werden auch neue Möglichkeiten für Unternehmen geschaffen. Durch die restlichen 20 % ist es den verschiedenen Universitäten möglich, spezielle Schwerpunkte oder Differenzierungsmerkmale in den Studiengang einzubringen und sich somit aus StudierendenPerspektive attraktiver zu positionieren. Übergeordnete Ziele sind einerseits, die deutsche Ingenieurlücke mit Ingenieuren aus anderen Ländern zu verringern. Andererseits könnten beispielsweise Unternehmen mit weiteren, europäischen Standorten regionale Fachkräfte mit dem gleichem Qualifikations- und Kompetenzniveau einsetzen. Im Master-Studiengang soll ein dreistufiges Konzept zur Vermittlung von Kompetenzen genutzt werden. Im ersten Schritt werden den Studierenden die theoretischen und methodischen Grundlagen mittels klassischen Vorlesungen näher gebracht. Hierbei soll allerdings auf Fachbeiträge aus der industriellen Praxis zurückgegriffen werden, sodass bereits in der Theorievermittlung auf praktische Problemstellungen verwiesen wird. Dieses Wissen wird in einem zweiten Schritt durch praktische Inhalte vertieft, beispielsweise mittels des AIM-Labs am IFU (siehe Abschnitt 4.3). Hier werden konkrete, realistische und praxisnahe Anwendungsfälle kreiert, durch die erste Erfahrungen mit methodischem Wissen sowie dessen Anwendung und Einsatz gesammelt werden. Auf diese Weise ist es möglich, Theorie und Praxis systematisch und aufeinander abgestimmt zu kombinieren sowie die notwendigen Kompetenzen der Studierenden zu fördern. Eine nachhaltige Verankerung der Kompetenzen und des methodischen Wissens im Bewusstsein der Studierenden wird in einem dritten Schritt durch Praxiseinsätze in der Produktion und Fertigung gefestigt. Hierbei sollen Studierende in der Praxis im Einsatz an der Fertigungs- oder Montagelinie unter Anleitung, Coaching und 300 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny Beaufsichtigung von erfahrenen Mitarbeitern praxisnah Erfahrungen sammeln und beispielsweise Prinzipien Ganzheitlicher Produktionssysteme anwenden. Durch ausführliches Feedback der Unternehmensvertreter wird den Studierenden aktiv Stärken und Schwächen aufgezeigt. Des Weiteren können Studierende hier ebenfalls erste Führungserfahrungen sammeln, wodurch sich auch erkennen lässt, ob für die jeweiligen Studierenden eher eine Fach- oder Führungskarriere infrage kommt. 1 2 3 Vorlesungen AIM-Lab • • • Theoretische Wissensvermittlung Praxisnähe durch Industrievorträge • • Praktische Anwendung in spielerischem Umfeld Vertiefung und Anwendung des Methodenwissens Teamarbeit / Führungserfahrung Unternehmen • • • Evaluierung der Fähigkeit bei Unternehmen („on the jobtraining“) Verantwortungsübernahme (bspw. Teamleiter am Band) Coaching durch Führungskräfte Abbildung 5: Dreistufiges Konzept zur Kompetenzvermittlung Auf diese Weise ist es möglich, dass Studierende nach der universitären Ausbildung bereits erste Berufserfahrung haben und nicht unsicher in ein neues Arbeitsumfeld einsteigen müssen. Darüber hinaus haben Absolventen des Masters AIM bereits ein hohes Niveau an Methodenwissen und können folglich direkt, ohne lange Einarbeitungsphase in einem Unternehmen das Berufsleben starten. Schritt 1 „Vorlesungen“: Studierende sollen im Rahmen eines Advanced Industrial Engineering and Management-Studiengangs Erfahrungen in der industriellen Praxis sammeln. Daher werden in Kooperation mit renommierten europäischen Universitäten sowie industriellen Partnern Schwerpunkte und Inhalte der zukünftigen universitären Ausbildung identifiziert und definiert. Ziel hierbei ist es, einen internationalen Studiengang zu implementieren, deren Inhalt sich klar an den Belangen, Problemstellungen und Bedürfnissen der Industrie ausrichtet. Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 301 Schritt 2 „AIM-Lab“: Das AIM-Lab des IFU stellt im Rahmen des Studiengangs eine wichtige Säule für das Sammeln von ersten praktischen Erfahrungen, welche auf der theoretischen Wissensvermittlung durch die Vorlesungen basieren. Das AIM-Lab ist eine Modellfabrik, die im Bereich der Ausbildung und Lehre eingesetzt wird und die Produktion realitätsnah, in vereinfachter Darstellung abbildet. So werden im AIM-Lab die praktischen Grundlagen für das methodische Arbeiten und das sinnvolle Anwenden von Methoden gelegt. Darüber hinaus werden die immer wichtiger werdenden sozialen Kompetenzen gefördert, welche als Grundstein für die Führungskompetenzen zukünftiger Ingenieure und Führungskräfte dienen. Auf diese Weise wird der klassische, theoretische Aufbau des Studiums, der Lehrstoff vornehmlich durch Vorlesungen vermittelt, durch eine praktische, anwendungsorientierte Komponente erweitert. Schritt 3 „Unternehmen“: Durch Kooperationen mit Unternehmen sowie Industrieeinsätze können Studierende bereits im Studium Kompetenzen vertiefen, die in der Industrie relevant sind. Dies könnte beispielsweise dadurch realisiert werden, dass Studierende an Schulungen von Unternehmen teilnehmen, wie dem Lean Center des Volkswagen Konzerns. Darüber hinaus ist bereits angedacht, dass Studierende, die am Ende ihrer Ausbildung an der Universität stehen, die Möglichkeit bekommen sollen, in der Praxis Verantwortung zu übernehmen. Ein Beispiel für diese Verantwortungsübernahme sind Assistenztätigkeiten von Teamleitern in Unternehmen. In diesen Praxiseinsätzen können einerseits Methoden- und Führungskompetenzen praktisch angewendet werden, andererseits wird die Ausbildungsqualität durch Coaching durch die jeweilige industrielle Führungskraft erhöht. Durch eine zielgerichtete Ausbildung mittels Advanced Industrial Engineering and Managementinhalten werden Studierende in Zukunft befähigt, schneller Verantwortung und somit Führungspositionen einnehmen zu können. 4.2 Vermittlung von Kompetenzen Der Masterstudiengang AIM ist in der Lage, den sich verändernden Arbeitsbedingungen (vergleiche Kapitel 2.1) zu begegnen. So kann den Anforderungen an die zunehmende Komplexität durch neue, komplexere Fertigungsprozesse dadurch begegnet werden, dass Studierende bereits im Studium ein fundiertes Methodenwissen und die Bedeutung der Prozessorientierung im Rahmen der Vollständigkeit erlernen. Auch soll ihnen 302 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny die Bedeutung der zunehmenden Digitalisierung und deren Potenziale für die Mitarbeiter verdeutlicht werden. Auf diese Weise kann die Variabilität ebenfalls mittels geeigneter Führungsmethoden sowie einem ausgeprägten KVP-Verständnis unterstützt werden, sodass zukünftige Führungskräfte stets dazu beitragen, dass Entwicklungen und Verbesserungen im Unternehmen implementiert werden können. Hierzu gehört ferner, dass Studierende und zukünftige Ingenieure die Prinzipien der Wandlungsfähigkeit kennen, verstehen und einsetzen können. Auf diese Weise werden Studierende bereits frühzeitig dafür sensibilisiert, dass Prozesse und Strukturen schnell an sich ändernde Rahmenbedingungen ohne hohe Investitionen, mit bestehenden Ressourcen angepasst werden müssen. Hier unterstützt der Masterstudiengang durch die hohe Praxisnähe sowie den Fokus auf Methodenwissen. Im Bereich der Ressourcen wird der Handlungs- und Zeitspielraum zunehmen, sodass Mitarbeiter vermehrt selbstbestimmend arbeiten oder technologische Innovationen im Unternehmen oder in den Prozessen Einzug halten. Auch hier unterstützt die Ausbildung im Rahmen des AIMStudiengangs, da Absolventen bereits im Studium durch die praxisnahe und anwendungsorientierte Ausbildung lernen, Chancen und Potenziale der Digitalisierung zu erkennen und diese gewinnbringend einzusetzen. Der dritte Teil der Arbeitsbedingungen, die Belastungen, die sich zukünftig grundlegend ändern werden, werden ebenfalls durch den AIM-Master positiv beeinflusst. So kann die Arbeitsumgebung für Mitarbeiter sich durch eine stärke Digitalisierung beziehungsweise Mensch-MaschineKooperationen verändern. Hier ist es wichtig, dass Mitarbeiter die Veränderungen nicht als Bedrohung sondern als Chancen ansehen, sodass unter anderem die im AIM-Master vermittelte Führungskompetenz eine besondere Bedeutung bekommt. Aber auch auf die sich stetig verändernde Arbeitsbedingungen (beispielsweise durch Arbeitsinhalt- oder Arbeitsortwechsel) sind Studierende des Masters AIM vorbereitet. Durch Methodenkompetenz und zielführende Integration von neuen Technologien kann es geschafft werden, dass Mitarbeiter Belastungen nicht mehr als Hindernis ansehen, sondern Veränderungen der Belastungen viel mehr als Verbesserung der Produktionsbedingungen ansehen. Selbiges gilt für die Arbeitsaufgaben, welche in Zukunft aufgrund von verstärkten Teamarbeiten und kleinen Arbeitsgruppen zunehmen werden. Hier ist einerseits Teamfähigkeit von den Studierenden und zukünftigen Ingenieuren gefordert, sodass diese Fähigkeiten bereits im Studium gefördert werden müssen. Andererseits müssen Studierende schon für Führungsaufgaben aus- Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 303 gebildet und für damit einhergehende Probleme sensibilisiert werden. Diese Probleme können zum Beispiel in Hemmnissen gegenüber Veränderungen oder in der Lösung von Konflikten liegen. Wie aus dem vorangegangenen Abschnitt hervorgeht, ist der Masterstudiengang AIM, ein geeignetes Mittel, um den sich in Zukunft verändernden Arbeitsbedingungen (siehe Abschnitt 2.1) in produzierenden Unternehmen zu begegnen. Die bereits erwähnte Praxisnähe des Studiengangs soll exemplarisch im nächsten Abschnitt am Beispiel des AIM-Labs des Instituts für Fabrikbetriebslehre und Unternehmensforschung (IFU) erläutert werden. 4.3 AIM-Lab am IFU Derzeit arbeitet das Institut für Fabrikbetriebslehre und Unternehmensforschung daran, das AIM-Lab konzeptionell und durch Sachmittel so zu erweitern, um das erfahrbare Lernsystem durch neue, technische Elemente zur Interaktion (Wearable, Ipads, etc.) zu verbessern. Die praxisnahe Lehre im AIM-Lab soll neue Akzente in der Lehre der TU Braunschweig setzen. Besonders die Inhalte des Advanced Industrial Engineering and Managements sind für Studierende oft abstrakt und mangels Praxiserfahrung nur schwer nachzuvollziehen. Ziel des AIM-Labs am IFU ist es, die Handlungsfelder des Advanced Industrial Engineering and Managements zu bündeln, sodass diese sowohl für Studierende als auch für Angehörige von Industrieunternehmen erleb- und erlernbar werden. Auf diese Weise können durch ein spielerisches und interaktives Umfeld realitätsnah Produktionsumgebungen nachgestellt werden. Das AIM-Lab (siehe Abbildung 6) ist daher als ein kleiner Produktionsbereich anzusehen, welcher nicht allein zur Herstellung von Waren, sondern zur Vermittlung von Wissen dient. Auf diese Weise wird die Lehre praxisnäher gestaltet und Studierenden Inhalte von Vorlesungen anschaulich vermittelt. Durch praxisnahe Problemlösungen im Rahmen des AIM-Labs wird Studierenden der Berufseinstieg erleichtert werden. 304 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny Abbildung 6: Beispielhaftes Layout des AIM-Labs am IFU Am Beispiel eines manuellen Montagesystems lernen die Studierenden die Grundlagen der Montageplanung kennen. Das Montagesystem des AIM-Labs soll unter Anwendung der Methoden Ganzheitlicher Produktionssysteme verbessert werden. Mit der praktischen Anwendung entwickeln die Studierenden ein fundiertes Wissen bezüglich Produktionsgestaltung und Ganzheitlichen Produktionssystemen. Am Beispiel eines konventionellen Montagesystems führen die Studierenden eine Ist-Analyse durch und leiten anschließend Verbesserungspotenziale ab. Hierbei werden verschiedene GPS-Methoden angewendet. Das erarbeitete SollKonzept kann im vorhandenen flexiblen Montagesystem praktisch umgesetzt werden. Die erreichten Verbesserungen sind mit Hilfe von Kennzahlen verifizierbar, wodurch ein erfahrbares Lernen mit direkter Rückmeldung der erzielten Ergebnisse möglich ist. Dieses Konzept ermöglicht damit den Studierenden den Kompetenzerwerb auf spielerische und erfahrbare Art und Weise. In den folgenden drei Beispielen wird der Fokus auf Logistikprozesse, Montagesysteme und Prozessstandardisierung im Rahmen der Veranstaltungen im AIM-Lab gelegt. Hierbei sollen Studierende Gestaltungsprinzipien Ganzheitlicher Produktionssysteme nutzen, um die Produktion innerhalb des AIM-Labs zu optimieren, sodass sowohl Vorfertigung als auch der Materialfluss kontinuierlich verbessert werden. Darüber hinaus sollen Studierende Standards in der Fertigung und Logistik einführen und kontinuierlich hinterfragen. Auf diese Weise sollen die Studierenden die Wichtigkeit von GPS-Prinzipien erkennen. Durch die Einbindung von Methoden Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 305 der Industrie 4.0 und neuen Technologien werden den Studierenden in einem spielerischen Umfeld das Potenzial sowie mögliche Einsatzgebiete der technologischen Unterstützung aufgezeigt. Somit wird die Kompetenz und das Wissen der Studierenden aktiv erweitert, um auf neue Herausforderungen im Umfeld der Produktion reagieren sowie Chancen und Potenziale durch Neuerungen realisieren zu können. 1. Gestaltung effizienter Logistikprozesse: Ein Aspekt des AIM-Labs zielt auf Einsatz und Anwendung der Industrie 4.0 im Bereich der Materialbereitstellung und Kommissionierung ab. Hierzu sollen durch die Anschaffung von Pick-by-Light- und Pick-by-PointSystemen verschiedene Möglichkeiten zur Gestaltung effizienter, robuster Logistikprozesse simuliert werden. Somit können die Studierenden die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Kommissioniertechniken verinnerlichen, aber auch gleichzeitig Gestaltungsprinzipien wie Standardisierung oder Null-Fehler-Prinzip in der Logistik erlernen. 2. Gestaltung flexibler Montageprozesse (anwendungsorientiertes Beispiel) Als mögliches Umsetzungsfeld im AIM-Lab wird ein Konzept zum digitalen Arbeitsplan vorgestellt. Der Prozessablauf sowie die einzelnen Arbeitsschritte werden aus Sicht des Studierenden aufgezeigt: Im ersten Schritt meldet sich der Studierende mit seinem RFID-Ausweis innerhalb des Reader-Felds an. Daraufhin erscheint ein AppStartbildschirm mit dem Button „Arbeitsplan“. Nachdem der Studierende angemeldet ist und den Arbeitsplan gestartet hat, geschieht solange nichts, bis das erste Arbeitsobjekt das Reader-Feld erreicht. Im nächsten Schritt, wenn ein Arbeitsobjekt das Reader-Feld erreicht, wird dieses identifiziert und die eingelesene ID mit einer Datenbank verglichen. Hierzu lädt ein Programm das entsprechende Datenblatt mit den Produktspezifikationen. Je nach Ausprägungsmerkmal des Produktes und des Arbeitsplatzes wird der entsprechende Arbeitsplan geladen. Hierbei werden die verschiedenen Produktausprägungen bei Arbeitsanweisung und Animation berücksichtigt (im AIM-Lab werden Spieluhren gefertigt, es wird daher nach Form, Farbe und Melodie unterschieden). Die Animationen zeigen dem Studierenden bspw. die Montage des Grundkörpers auf den Sockel mit Hilfe von Schrauben. Hierzu müssen alle Bauteile und Werkzeuge geprüft und identifiziert werden. Schrauben sowie Kurbelhülsen der Spieluhr sind 306 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny aufgrund ihrer Größe und ihres Wertes nicht mit einem Smart Label versehen. Das Programm zum digitalen Arbeitsplan kann somit überprüfen, ob die identifizierten ID’s mit denen im Datenblatt für den jeweiligen Auftrag übereinstimmen. Ist dies der Fall, erfolgt die Mittelung „identifiziert“, anderenfalls „falsches Bauteil“ bzw. „falsches Werkzeug“. Abschließend muss der Studierende nach erfolgreicher Montage diese quittieren. Zudem ist es möglich die Qualität vom selben Mitarbeiter prüfen zu lassen, indem er die geforderte Qualität bestätigt. Nach erfolgreicher Durchführung der Montageschritte werden die Datenblätter in der Datenbank aktualisiert und an den Prozessfortschritt angepasst. Durch die Implementierung und Nutzung einer App werden die Wichtigkeit von Prozessstandardisierung, Visualisierung und Werkerselbstkontrolle im Rahmen Ganzheitlicher Produktionssysteme verdeutlicht. Durch die Reduktion auf notwendige Tätigkeiten im Montageprozess wird darüber hinaus das Gestaltungsprinzip „Vermeidung von Verschwendung“ unterstützt. Abbildung 7: Konzept – Digitale, schrittweise Darstellung des Arbeitsplans Als nächste Ausbaustufe soll die Anwendung einer Augmented Reality zur Flexibilisierung von Montageprozessen herangezogen werden. Durch die Nutzung von Head-up-Displays können virtuelle Informationen in das Sichtfeld der Montagemitarbeiter eingeblendet werden, um bspw. komplexe Montageinhalte zu verdeutlichen. Somit können auch ungelernte Mitar- Erfahrbares Lernen von Kompetenzen für die Produktion von morgen 307 beiter komplizierte Montagetätigkeiten ausführen, was zu einer erheblichen Flexibilisierung der Montageprozesse beiträgt. 3. Automatisierte Prozessstandardisierung Durch die Nutzung eines optischen Trackingsystems, wie bspw. einer Microsoft Kinect, soll den Studierenden aufgezeigt werden, wie neuartige, automatisierte Prozessanalysen in Ganzheitlichen Produktionssystemen umgesetzt werden können. Dadurch wird gezeigt, dass mit Hilfe einer automatisierten Prozessaufnahme eine Standardisierung der Arbeitsprozesse erreicht werden kann, die wiederum zur Erhöhung der Prozesseffizienz und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im industriellen Umfeld führt. Durch eine stetige Verbesserung der Prozessstandards und Analyse neuer Einsatzmöglichkeiten innovativer Technologien wird den Studierenden der Kontinuierliche Verbesserungsprozess näher gebracht. 5 Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurde dargelegt, dass das industrielle Umfeld sich stetig verändert, beispielsweise durch neue Technologien oder Produkte. Daher ist es notwendig, dass Studierende notwendige Kompetenzen bereits in der Hochschulausbildung vermittelt bekommen. Somit wird im Rahmen des AIM-Studiengangs der Fokus auf die Vermittlung von Führungskompetenzen, Methodenwissen und eine industrielle Nähe der Lehrinhalte gelegt, um die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln, welche in Zukunft von Studienabsolventen gefordert werden. Dies ist beispielsweise durch die Vermittlung von Grundlagen zu GPS im Rahmen des Studiums möglich. Durch den Einsatz von Gestaltungsprinzipien, Methoden und Werkzeugen ist es möglich, dass flexibel auf neue Anforderungen im industriellen Umfeld reagiert werden kann. Jedoch muss der Fokus zukünftig auf die Kombination der Methoden der Industrie 4.0 bzw. Digitalisierung mit Ganzheitlichen Produktionssystemen gelegt werden, sodass die jeweiligen Stärken aktiv zur Verbesserung des industriellen Umfelds genutzt werden können. Durch zukünftige Erweiterungen des AIM-Labs am IFU sollen neue, unterschiedliche Anwendungsfelder der Industrie 4.0 den Studierenden im AIMLab vermittelt werden: Zum einen soll der Umgang mit Elementen der Industrie 4.0 verdeutlicht werden. Zum anderen sollen Elemente der Industrie 4.0 zum verbesserten Kompetenzerwerb bzw. zur verbesserten Lernerfahrung beitragen. Hierbei ermöglichen Sachmittel, das Lehrange- 308 Uwe Dombrowski, Philipp Krenkel, Constantin Malorny bot auf den neusten Stand der Forschung und Entwicklung zu bringen und die Studierenden innovative und neuartige Technologien erproben zu lassen. Hierbei soll der Fokus neben der theoretischen Grundlagenvermittlung auch auf die Anwendungsmöglichkeiten dieser Technologien sowie Kombination mit Prinzipien Ganzheitlicher Produktionssysteme gelegt werden. Die Studierenden lernen somit bereits im Studium mit den neuesten technologischen Entwicklungen umzugehen und diese zielgerichtet anzuwenden. Neben der Integration des Themenfelds der Industrie 4.0 in das AIM-Lab sollen zudem ausgewählte Teilaspekte in das bestehende Vorlesungsangebot des IFU integriert werden, um die Reichweite der Maßnahme zu erhöhen. Ziel der Aktivitäten ist es, die von der Bundesregierung ausgeschriebene Hightech-Strategie der Industrie 4.0 den Studierenden praxisnah vorzustellen und Industrie 4.0 in das bestehende Lehrangebot als Teilaspekt aufzunehmen. Literatur Bahmann, W. (2013). : Werkzeugmaschinen kompakt: Baugruppen, Einsatz und Trends. 21. Auflage. Wiesbaden: Springer Vieweg. Bamberg, E., Mohr, G., Busch, C. (2012). : Arbeitspsychologie. Göttingen: Hogrefe Verlag. Brall, S. (2010). : Arbeitsbegleitende Kompetenzentwicklung als universitäres Strategieelement. Norderstedt: Books on Demand. Conrad, K.-J. (. (2006). : Taschenbuch der Werkzeugmaschinen. 2. Auflage. München: Carl Hanser. Dombrowski, U., Mielke, T. (2012). : Entwicklungspfade zur Lösung des Demografieproblems in Deutschland . In E. (. 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Weinrauch, M. (2005). : Wissensmanagement im technischen Service. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Ergänzungsbeitrag – Übersicht Ergänzungsbeitrag Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding 311 Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 313 Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Die Personalkosten produzierender Unternehmen haben großen Einfluss auf die Fertigungskosten, wenn die Produktion durch einen hohen Anteil an manuellen Tätigkeiten und hohe Lohnkosten gekennzeichnet ist. Die operative Zielgröße zur Steuerung dieser Kosten ist die Arbeitsproduktivität. Die Analyse der Arbeitsproduktivität identifiziert Potenziale und schafft so die Möglichkeit, gezielt Verbesserungsmaßnahmen durchzuführen. Dieser Artikel stellt einen kostengünstigen und aufwandsarmen Ansatz der Arbeitsproduktivitätsanalyse vor, bei dem 3D-Kameras die Bewegungsabläufe von Mitarbeitern bei Montageaufgaben erfassen. Die aufgenommenen Daten werden automatisiert für eine Produktivitätsanalyse aufbereitet. Die anschließend durchgeführten Analysen basieren auf der Primär-Sekundär-Analyse von Lotter sowie der MTM-Systematik. 1 Einleitung Die Personalkosten eines produzierenden Unternehmens haben großen Einfluss auf die Fertigungskosten, wenn die Produktion durch einen hohen Anteil an manuellen Tätigkeiten und hohe Lohnkosten gekennzeichnet ist. In Deutschland sind die Lohnkosten nach wie vor hoch (Schröder 2014) und so stehen insbesondere montageintensive Fertigungen vor der Herausforderung, die Personalkosten zu senken. Die operative Zielgröße zur Steuerung der Personalkosten ist die Arbeitsproduktivität. Durch die Analyse der Arbeitsproduktivität werden Potenziale identifiziert und so die Möglichkeit geschaffen, gezielt Verbesserungsmaßnahmen durchzuführen. Bekannte Analysemethoden sind zum Beispiel die MTM- oder REFA-Systematik (Bokranz und Landau 2006; REFA 1997). Die Durchführung dieser Methoden ist zum einen mit relativ hohem zeitlichem Aufwand verbunden und erfordert zum anderen Expertenwissen über die Methoden. Kleine und mittlere Unternehmen haben in der Regel weder die Mitarbeiterkapazität zur Durchführung der Methoden noch verfügen sie über das dafür nötige Expertenwissen. Daher werden oft externe Experten genutzt, deren Einsatz mit relativ hohen Kosten verbunden ist. 314 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Mit der Diskussion um Industrie 4.0 steht die Nutzung moderner Informationstechnologien für das Produktionsmanagement im Fokus. Dieser Artikel stellt einen kostengünstigen und aufwandsarmen Ansatz der Arbeitsproduktivitätsanalyse vor, bei dem 3D-Kameras die Bewegungsabläufe von Mitarbeitern bei Montageaufgaben erfassen. Die aufgenommenen Daten werden dann automatisiert für eine Produktivitätsanalyse aufbereitet. Die durchgeführten Analysen basieren auf der Primär-Sekundär-Analyse (Lotter et al. 2002) sowie der MTMSystematik. 2 Produktivitätsanalysen Dieses Kapitel beschreibt den Begriff Arbeitsproduktivität (Abschnitt 2.1) und stellt eine Übersicht über existierende Verfahren zur Arbeitszeitermittlung (Abschnitt 2.2) zur Verfügung. Sehr detailliert kann die Produktivität von Arbeitsabläufen mit der Primär-Sekundär-Analyse von Lotter (Abschnitt 2.3) untersucht werden. 2.1 Arbeitsproduktivität Produktivität ist allgemein definiert als das Verhältnis zwischen Output und Input eines Systems (Sumanth 1984; Weber 1998). In Fertigungsbereichen ist der Output in der Regel das zu produzierende Gut und wird zum Beispiel in Stück gemessen. Der Input hingegen besteht aus dem Einsatz an Ressourcen, der zur Erstellung des Outputs notwendig ist. Wichtige Ressourcen sind beispielsweise maschinelle und menschliche Arbeit sowie das verbrauchte Material oder die eingesetzte Energie. Das Verhältnis zwischen dem erbrachten Output und dem jeweiligem Input stellt damit eine Teilproduktivität dar (Sumanth 1984; Weber 1998). Die Arbeitsproduktivität ist somit die Relation zwischen produziertem Gut und der eingesetzten Arbeiterzeit. Um die Arbeitsproduktivität zu untersuchen, wird in der Regel der Input – die bezahlte Arbeiterzeit – untersucht, da der Output einer Fertigung durch den Markt bestimmt wird. Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 2.2 315 Methoden der Arbeitszeitermittlung Ermittlung von Ist-Zeiten Die Ermittlung von Ist-Zeiten kann durch Erfassung der Zeiten für die einzelnen Arbeitsschritte extern oder durch eine Selbstaufschreibung durchgeführt werden. Bei der externen Variante beobachtet beispielsweise ein Mitarbeiter die anderen Mitarbeiter bei der Durchführung ihrer Arbeit und notiert die Ergebnisse. Bei der Selbstaufschreibung erfasst der Mitarbeiter selbst die Zeiten. Ein Sonderfall der Selbstaufschreibung ist die Befragung der Mitarbeiter, bei der die Zeiten geschätzt werden (REFA 1997). Die Durchführung der Ermittlung erfolgt dabei durch die kontinuierliche Aufnahme der Zeit von Arbeitsschritten oder durch stichprobenartige Aufnahmen. Eine Zeitaufnahme mit einer Stoppuhr ist ein Beispiel für kontinuierliche Aufnahmen. Ein bekannter Vertreter für die Stichprobenaufnahme ist das Multimomentverfahren (REFA 1997). Bestimmung von Soll-Zeiten Alternativ zur Ermittlung von Arbeitszeitanteilen durch die Aufnahme von Ist-Zeiten können Verfahren zur Bestimmung von Soll-Zeiten herangezogen werden. Dies erfolgt in der Regel durch die Verwendung von Ist-Zeiten bekannter Arbeitsschritte. So kann zum Beispiel die Arbeitszeit anhand von ähnlichen Arbeitsabläufen geschätzt werden (REFA 1997). Die Modelle vorbestimmter Zeiten bauen auf dieser Tatsache auf. Grundgedanke ist es, Arbeitsabläufe in Arbeitselemente zu unterteilen, denen anhand von Einflussgrößen Zeitdauern zugeordnet werden. Bekannte Vertreter sind die MTM-Systematik (Bokranz und Landau 2006) oder die Work-Factor-Methode (Quick 1960). Die MTM-Systematik stellt einen Elementarzyklus für Montagebewegungen bereit, der aus den Schritten Hinlangen, Greifen, Bringen, Fügen und Loslassen besteht sowie weitere Bewegungsarten, die über den Grundzyklus hinausgehen. Den einzelnen Bewegungen wird dann anhand der Einflussgrößen eine Soll-Zeit zugeordnet, die ein geübter Werker im Durchschnitt erreicht, wenn keine Probleme auftreten (Bokranz und Landau 2006). 316 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding 2.3 Primär-Sekundär-Analyse Die Primär-Sekundär-Analyse (PSA) ist eine von Lotter (Lotter et al. 2002) entwickelte Methode zur Analyse der Arbeitsproduktivität von Arbeitsprozessen. Grundlage der PSA ist die Unterteilung der Abläufe eines Mitarbeiters in Primärvorgänge (PV) und Sekundärvorgänge (SV). Nach Lotter sind alle Aufwendungen, die zur Wertschöpfung im Arbeitsprozess beitragen, Primärvorgänge. Wichtigstes Beispiel dafür sind Fügevorgänge. Aufwendungen, die keine direkte Wertschöpfung hervorrufen, wie zum Beispiel der Transport von Maschinenteilen, sind hingegen Sekundärvorgänge. Die Höhe der Aufwendungen wird dabei mit Hilfe des MTMSystems oder mit REFA-Planzeiten für den Arbeitsablauf ermittelt. Diese Unterteilung orientiert sich an der Unterteilung der Zeit nach dem Lean Management-Gedanken. Basierend darauf definiert Lotter den wirtschaftlichen Wirkungsgrad (WPS), der aus dem Verhältnis zwischen der Dauer aller Primärvorgänge und der Gesamtdauer besteht (vgl. Formel 1). WPS: wirtschaftlicher Wirkungsgrad nach Lotter PV: Dauer der Primärvorgänge SV: Dauer der Sekundärvorgänge Der Wirkungsgrad ist 1, wenn die Arbeitsaufgabe nur aus Primärvorgängen besteht und wird umso kleiner, je mehr Sekundärvorgänge notwendig sind. Abbildung 1 zeigt, wie das Verhältnis von Primär- und Sekundärvorgängen grafisch dargestellt werden kann. Sekundäraufwand [s] Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras Aufwandsvektor 317 Teilvorgang 4 Teilvorgang 3 Teilvorgang 2 Teilvorgang 1 Primäraufwand [s] 12812 Abbildung 1: Vektorielle Darstellung von Primär- und Sekundäraufwänden (Lotter et al. 2002) Die Abszisse zeigt den primären Anteil und die Ordinate den sekundären Anteil der Vorgänge in Sekunden. Besteht ein Vorgang nur aus primären Teilen, wird er horizontal gezeigt (vgl. Teilvorgang 2). Vorgänge, die keinen Kundennutzen bringen, sind vertikal (vgl. Teilvorgang 3). Die grafische Addition der Vorgänge ergibt den gesamten Aufwandsvektor mit der Steigung ϕ. Die Senkung des Steigungswinkels reduziert den Aufwand und erhöht so den Wirkungsgrad. Die Analysestufen der Primär-Sekundär-Analyse Die PSA kann für unterschiedliche Bereiche eines Produktionsunternehmens durchgeführt werden. Lotter gibt dafür fünf Detaillierungsstufen vor, von denen die ersten beiden sich mit den Vorgängen an Montage- oder Fertigungslinien auseinandersetzen und die letzten drei zusätzlich die indirekten Bereiche analysieren (Lotter und Wiendahl 2012). Bei der ersten Stufe, der Grundanalyse, werden die Vorgänge in einer Montage- oder Fertigungslinie untersucht. Dabei können je nach Bedarf die Ergebnisse der Feinanalyse hinzugefügt werden. Die Feinanalyse (Stufe 2) untersucht detailliert die Arbeitsvorgänge an einer einzelnen Arbeitsstation. Als Grundlage dafür werden die Grundbewegungen der MTM-Analyse verwendet, die einen hohen Anteil der Arbeitstätigkeiten darstellen (Lotter et al. 2002). 318 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Wenn dabei die Definition der Primärvorgänge streng betrachtet wird, sind nur Fügebewegungen Primärvorgänge, alle anderen Bewegungen sind sekundär. Diese Definition würde jedoch dazu führen, dass der Anteil der Primärvorgänge verschwindend gering wäre und die Aussagekraft des Wirkungsgrades sinken würde. Zudem ist ein gewisser Anteil sekundärer Bewegungen notwendig, um fügen zu können. Deshalb wird ein Mindestmaß an Bewegungen als Primärvorgang definiert. Die PSA schlägt für dieses Mindestmaß die Bewegung zu dem Teil vor, das am nächsten zum Fügepunkt ist. Alles, was darüber hinausgeht, entspricht dann einem Sekundärvorgang. Die PSA verwendet für diese Analysen Plan-Zeiten aus den SollArbeitsabläufen. Die tatsächlichen Zeiten am Arbeitsplatz sowie Abläufe, die neben dem Soll-Ablauf stattfinden, werden von ihr nicht betrachtet. 3 Bewegungserfassung mit 3D-Kameras Dieses Kapitel geht zunächst auf den Begriff des Motion Capturing ein (Abschnitt 3.1) und stellt dann die Microsoft Kinect als einen Vertreter der 3D-Kameras vor (Abschnitt 3.2), die für das Motion Capturing verwendet werden können. Abschnitt 3.3 zeigt auf, warum die PrimärSekundär-Analyse noch nicht ohne weiteres mit der Microsoft Kinect durchführbar ist. 3.1 Verfahren der Bewegungserfassung (Motion Capturing) Als Motion Capturing oder Motion Tracking werden Verfahren bezeichnet, die menschliche Bewegungen erkennen und nachverfolgen und so digital für die Weiterverarbeitung bereitstellen (Kitagawa und Windsor 2008). Die Tracking-Verfahren lassen sich dabei nach der Art der verwendeten Sensoren unterscheiden: Nicht-optische Verfahren Zu den nicht-optischen Verfahren gehören (Stanney 2002): Elektromagnetisches Tracking, bei dem Position und Orientierung im Raum durch die Messung des magnetischen Flusses ermittelt werden. Ein Sender erzeugt dabei ein magnetisches Feld, das durch den Empfänger am Objekt gemessen wird. Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 319 Akustisches Tracking, bei dem ein akustisches Signal im Ultraschallbereich von Lautsprechern am Objekt emittiert und durch Mikrofone im Raum aufgenommen wird. Beim Accelerometrie-Tracking werden zur Messung an ausgewählten Körperteilen des Objekts Gyroskope und Beschleunigungssensoren angebracht, durch die Geschwindigkeiten und Beschleunigungen ermittelt werden. Optische Verfahren Die optischen Verfahren benötigen wie elektromagnetisches und akustisches Tracking einen Sender und einen Empfänger. Der Sender emittiert hierbei in der Regel Infrarot-Strahlen und der Empfänger nimmt diese auf. Je nach Funktionsweise werden zudem sogenannte Marker als Reflektoren eingesetzt (Kitagawa und Windsor 2008). Bei den markerbasierten optischen Systemen werden vom Nutzer reflektierende Marker getragen. Die Empfänger können dabei durch die Reflektion die Markerpositionen berechnen. Die Marker sind in der Regel an Stellen nahe der Gelenke angebracht, um die Position der Gliedmaßen relativ zueinander bestimmen zu können. Während des Tracking wird für jeden Marker zunächst die Position im Raum bestimmt und daraus die aktuelle Körperhaltung abgeleitet. Das Trackingverfahren der Microsoft Kinect gehört zu den nichtmarkerbasierten Systemen (Microsoft 2015). Es gibt auch hier Sender und Empfänger, jedoch wird hier ausgenutzt, dass alle Körper einen Teil des Lichts reflektieren (natürliche Reflektion). Dadurch ergibt sich der Vorteil, dass der Nutzer keine Geräte am Körper tragen muss und so ungestört seine Arbeit verrichten kann. 3.2 Funktionsweise der Kinect Die Microsoft Kinect wurde als Bewegungssteuerung (Marshall 2013) für die Spielekonsole „Xbox“ entwickelt, durch die eine physische Verbindung zwischen Nutzer und der Konsole überflüssig wurde. 2014 erschien die zweite, aktuelle Version der Kinect (Microsoft 2015). Microsoft stellt zudem ein Software Development Kit (SDK), eine Sammlung von Werkzeugen zur Programmierung, für die Kinect zur Verfügung. 320 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Bauteile Die Microsoft Kinect nutzt zum Motion Tracking den eingebauten Infrarot-Projektor und die Infrarot-Kamera. Zusätzlich beinhaltet die Kinect noch eine RGB-Kamera und Mikrofone (Microsoft 2015). Bei der Kinect 1 sendet der Infrarot-Projektor ein unregelmäßiges Muster in den Raum aus. Die Infrarotlicht-Kamera fängt die von Personen oder Objekten reflektierenden Strahlen dieses Musters ein. Aus der geometrischen Anordnung des Infrarot-Projektors und der InfrarotKamera sowie dem aufgefangenen Muster werden die Koordinaten des Punktes bestimmt, an dem die Infrarot-Strahlen reflektiert wurden. Bei der Kinect 2 werden ebenfalls Infrarot-Strahlen ausgesendet und von Objekten reflektiert. Allerdings wird hierbei nicht durch die Änderung des Musters die Position des Objektes bestimmt, sondern durch die Laufzeitunterschiede der Infrarotwelle. Skelett-Tracking Das Microsoft SDK beinhaltet die Möglichkeit, aus den Raumkoordinaten der durch die Infrarot-Kamera erfassten Punkte die Positionen von Menschen und deren Gelenkpunkte (Joints) zu erkennen. Ist ein dreidimensionales Abbild des Akteurs erfasst, können die Positionen dieser Joints am Körper des Akteurs definiert werden. Joints sind Punkte an signifikanten Stellen des Körpers wie z. B. den Gelenken. Das aktuelle SDK für die Kinect erkennt 25 Gelenkpunkte (Microsoft 2015). Wenn nun die Joints eines Körpers und ihre Verbindungen dargestellt werden, entsteht ein Hilfsskelett, das das Motion Capturing unterstützt. 3.3 Anwendung der Kinect zur Produktivitätsanalyse Grundsätzlich ist die Kinect in der Lage, die Joints des Körpers räumlich zu identifizieren. Das bedeutet, dass die Koordinaten zum Zeitpunkt der Aufnahme bekannt sind. Die Geschwindigkeit lässt sich erst durch die Distanzen der Koordinaten zwischen den einzelnen Momenten berechnen. Ein Defizit bei der Anwendung für Produktivitätsanalysen ist die Tatsache, dass sich nicht ohne weiteres Haltepunkte bestimmen lassen, also die Zeitpunkte und Orte, an denen ein Gelenkpunkt zwischen zwei Bewegungen eine Ruheposition einnimmt. Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 321 Weiterhin wäre es notwendig, die Haltepunkte zu Haltebereichen zusammenzufassen, zum Beispiel um festzustellen, in welche Kisten bei einer Montage gegriffen wird. Denn auch wenn in dieselbe Kiste gegriffen wird, können sich die genauen Positionen der Handgelenke dabei unterscheiden. Eine weitere Schwierigkeit bei der Durchführung einer PSA resultiert aus der Tatsache, dass primäre von sekundären Vorgänge zu unterscheiden sind. Die Kinect ist ohne Anpassung nicht in der Lage, diese Unterscheidung zu treffen. Diese Punkte führen dazu, dass die Durchführung einer Produktivitätsanalyse wie der PSA auch mit der Kinect ohne eine Anpassung noch sehr aufwändig wäre und nur von Experten durchgeführt werden könnte. Die notwendigen Anpassungen werden in den folgenden Kapiteln beschrieben. Zudem werden mögliche Erweiterungen der PSA vorgestellt, die die Verwendung der Kinect ermöglicht. 4 Datenerfassung In diesem Kapitel wird beschrieben, wie die von der Kinect aufgenommenen Daten für die Produktivitätsanalyse aufbereitet werden. Zunächst werden in Abschnitt 4.1 die aufgenommen Rohdaten erläutert und aufgezeigt, welche Daten sich daraus direkt ableiten lassen. Mit diesen Daten kann dann bestimmt werden, zu welchem Zeitpunkt die Gelenkpunkte einen Stopp zwischen den Bewegungen machen (Abschnitt 4.2). Abschließend können aus den Haltepunkten durch eine Clusteranalyse Haltebereiche ermittelt werden (Abschnitt 4.3). 4.1 Koordinatenerfassung Die von der Kinect ermittelten Koordinaten für die einzelnen Joints werden mit einer Aufnahmerate von 30 Aufnahmen pro Sekunde ausgelesen und verwertet. Damit entspricht die Datenerfassung einer Stichprobenaufnahme mit einer sehr hohen Häufigkeit. Für jeden Joint werden dabei folgende Daten ausgelesen: X-, Y- und Z-Koordinate Tracking Status des Joints, also ob das Gelenk im Tiefenbild identifiziert werden konnte. 322 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Wenn das Gelenk im Tiefenbild identifiziert werden konnte, werden die ausgelesenen Koordinaten weiterverwendet. Abbildung 2 zeigt die aufgenommenen Koordinaten der rechten Hand für ein Montagebeispiel. y-Koordinate [m] 0,6 0,4 0,2 0 0 0,2 0,4 0,6 x-Koordinate [m] 0,8 12813 Abbildung 2: Aufgenommene Koordinaten der Kinect Wichtig für die weiteren Untersuchungen sind insbesondere die Geschwindigkeit und die Beschleunigung. Zur Berechnung werden die folgenden Gleichungen verwendet (Benter 2015): xn: x-Koordinate bei Aufnahme n tn : Zeitpunkt der Aufnahme n vx,n: Geschwindigkeit bei Aufnahme n ax,n: Beschleunigung bei Aufnahme n Analog können die Geschwindigkeiten und Beschleunigungen für die anderen Koordinatenrichtungen ermittelt werden. Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 4.2 323 Bestimmung von Haltepunkten Die Koordinaten und die Daten über Geschwindigkeit und Beschleunigung werden nun genutzt, um Haltepunkte zu bestimmen. Haltepunkte sind hierbei Zeitpunkte, zu denen ein Gelenkpunkt zwischen zwei Bewegungen anhält. Da die Kinect diese nicht selbstständig ermittelt, wurden Optionen von Algorithmen entworfen, um die Haltepunkte zu bestimmen (Benter 2015) : 1. Unterschreitung einer Grenzgeschwindigkeit Diese Option prüft, ob ein Joint für eine gewisse Zeitspanne einen definierten Geschwindigkeitswert unterschreitet. Sie eignet sich besonders für Vorgänge, bei denen ruhigere Bewegungen durchgeführt werden oder längere Haltepausen stattfinden. Bei schnellen Bewegungen und Richtungswechseln wird jedoch nicht jeder Halt erkannt. 2. Vorzeichenwechsel der Beschleunigung Bei dieser Option wird geprüft, ob sich das Vorzeichen der Beschleunigung über eine gewisse Zeitspanne von negativ zu positiv ändert. Diese Option eignet sich für stetige Bewegungen, bei denen nur kurze Stopps eingelegt werden, beispielsweise beim Drücken von Knöpfen. Probleme gibt es bei dieser Option, wenn der Monteur langsamer in der Bewegung wird, jedoch nicht stoppt und danach wieder beschleunigt. Dann kann ein falscher Halt erkannt werden. Dieses Problem kann durch die Kombination mit der ersten Option (Hinzufügen einer Grenzgeschwindigkeit) entschärft werden. 3. Richtungswechsel der Bewegung Bei dieser Option wird geprüft, ob sich der Bewegungsvektor eines Joints über eine gewisse Zeitspanne um einen definierten Winkel ändert. Diese Option eignet sich besonders dann gut, wenn die meisten Bewegungen ohne Zwischenhalt erfolgen. Sie eignet sich weniger, wenn Stopps durchgeführt werden, ohne dass sich die Richtung der Bewegung ändert. Die abgestimmte Nutzung dieser drei Optionen führt zu einer guten Erfassung der Haltepunkte während einer Aufnahme. Abbildung 3 zeigt beispielhaft die ermittelten Haltepunkte einer Aufnahme. 324 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding y-Koordinate [m] 0,6 0,4 0,2 0 0 0,2 0,4 0,6 x-Koordinate [m] 0,8 12814 Abbildung 3: Ermittelte Haltepunkte 4.3 Clusteranalyse zur Bestimmung von Haltebereichen Bei manuellen Tätigkeiten wie an einem Montagearbeitsplatz treten sehr viele Haltepunkte, insbesondere von den Handgelenkpunkten, auf. Damit die Daten im Anschluss sinnvoll interpretiert werden können, müssen die Haltepunkte zu Haltebereichen zusammengefasst werden. Damit diese Zusammenführung von Punkten zu Bereichen teilautomatisiert und systematisch erfolgen kann, wird im nächsten Schritt eine Clusteranalyse durchgeführt. Die zwei wichtigsten Typen von Verfahren zur Clusteranalyse sind die partitionierenden und die hierarchischen Verfahren. Die in der Praxis häufiger verwendeten hierarchischen Verfahren folgen dabei folgendem Grundablauf (Backhaus et al. 2011): 1. 2. 3. Bestimmung der Ähnlichkeiten Auswahl des Fusionierungsalgorithmus Bestimmung der Clusteranzahl Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 325 Bestimmung der Ähnlichkeiten Die Ähnlichkeit zwischen zwei Objekten gibt die Übereinstimmung zwischen den Eigenschaften zweier Objekten an. Die Messung der Ähnlichkeit erfolgt normalerweise durch die Unähnlichkeit, angegeben als Distanzmaß. Für die Clusteranalysen existiert eine Vielzahl an Distanzmaßen für binäre, nominale und metrische Eigenschaften. Bei metrischen Eigenschaften wie den x-, y- und z-Koordinaten der Gelenkpunkte ist das euklidische Distanzmaß eines der häufigsten verwendeten (Backhaus et al. 2011). Bei Koordinaten entspricht es dem räumlichen Abstand der Punkte. Auswahl des Fusionierungsalgorithmus Basierend auf den Distanzen zwischen den Objekten werden in diesem Schritt die Objekte zu Gruppen zusammengefasst, in denen die Distanzen möglichst gering, also die Ähnlichkeit sehr hoch ist. Bei den hierarchischen Fusionierungsprozessen gibt es zwei unterschiedliche, die agglomerativen und die divisiven Verfahren (Bock 1974). Bei den divisiven Verfahren startet man mit einem großen Cluster, in dem alle Objekte enthalten sind und teilt in immer kleinere Cluster auf. Bei den agglomerativen Verfahren stellt jedes Objekt zu Anfang einen einzelnen Cluster dar und diese werden dann Schritt für Schritt zusammengefasst. Bei den agglomerativen Verfahren wird immer wieder der gleiche Ablauf wiederholt. Zunächst werden die zwei Cluster mit der geringsten Distanz ausgewählt und dann zu einem Cluster zusammengefügt. Dies wird wiederholt, bis alle Objekte in einem Cluster sind. Wie die Fusionierung abläuft und welche Distanzen verwendet werden können, hängt vom Verfahren ab. Ein Verfahren, das das euklidische Distanzmaß verwendet, ist das Single Linkage-Verfahren. Dieses Verfahren beruht auf dem Prinzip, dass die Distanz zwischen zwei Clustern gleich der kürzesten Distanz zwischen zwei Objekten beider Cluster ist. Dieses Verfahren wird im Folgenden für das Clustern der Gelenkpunkte genutzt (Bock 1974). 326 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Bestimmung der Clusteranzahl Für die Bestimmung der optimalen Clusteranzahl existiert ein Zielkonflikt zwischen der Anforderung, dass die Cluster möglichst homogen sind und dass die Anzahl der Cluster handhabbar ist. Dafür gibt es unterschiedliche statistische Ansätze, die die optimale Anzahl der Cluster bestimmen. Für die Anwendung bei den Haltepunkten wird eine maximale Distanz bestimmt, bei der zwei Cluster noch zusammengeführt werden. Das bedeutet, dass der Mindestabstand zwischen zwei Clustern dieser Distanz entspricht (Backhaus et al. 2011). Anwendung an den Haltepunkten Ergebnis der durchgeführten Clusteranalyse sind Haltebereiche wie sie in Abbildung 4 für die rechte Hand zu sehen sind. Die Haltebereiche stellen dabei Bereiche dar, an denen Bewegungen beendet beziehungsweise begonnen wurden (Benter 2015). A F y-Koordinate [m] 0,6 D 0,4 B G C E 0,2 H 0 0 0,2 0,4 0,6 x-Koordinate [m] 0,8 12815 Abbildung 4: Cluster von Haltepunkten Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 5 327 Datenauswertung Dieses Kapitel zeigt mögliche Auswertungen mit den bisher aufgenommenen Informationen. Die Grundlage für die weiteren Untersuchungen ist die Auswertung der Greifbereiche im Abschnitt 5.1. Diese wird in Abschnitt 5.2 zur Primär-Sekundär-Analyse ausgebaut. Als Abschluss wird eine Analyse der Greifdauer und -häufigkeiten vorgestellt, die die PSA weiter detailliert (Abschnitt 5.3). 5.1 Auswertung der Greifbereiche Die einfachste Form der Auswertung, die als Grundlage für die weiteren Untersuchungen mit der Kinect dienen soll, ist die Entfernung der Handgelenke zur untersuchten Person. Dieser Ansatz folgt ergonomischen Überlegungen und soll aufzeigen, welche Punkte einfach beziehungsweise schwer für die Person zu erreichen sind. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Ansätze: die Bestimmung der Bereiche durch den Anwender und die Erstellung der Bereiche aus ergonomischen Gesichtspunkten. Bestimmung durch den Anwender Bei diesem Ansatz legt der Anwender die Bereiche fest, die untersucht werden sollen. Dies ist insbesondere für die gezielte Analyse eines besonders interessierenden Bereichs eines Arbeitsplatzes sinnvoll. Ein Beispiel wäre die Prüfung, wie oft in eine bestimmte Kiste gegriffen wird oder wie viel Zeit die Handgelenkpunkte an vordefinierten Orten verbringen. Ergonomische Gesichtspunkte Der zweite Ansatz benötigt vor der Analyse keine Informationen vom Anwender und untersucht beispielsweise, welchen Anteil der Zeit sich die Handgelenke des Monteurs in einem ergonomisch günstigen oder auch besonders ungünstigen Bereich befinden. Abbildung 5 zeigt beispielhaft eine Auswertung der Greifbereiche. Dabei ist der Ausgangspunkt der Untersuchung die rechte Schulter. Der eingezeichnete Ring stellt die Punkte auf der Arbeitsfläche dar, die sich in einer definierten Entfernung zur rechten Schulter befinden. In diesem Beispiel ist diese Entfernung der Einfachheit halber die Reichweite der untersuchten Person, also die Entfernung zwischen Schultergelenk und Handgelenk bei ausgestrecktem Arm. In dem untersuch- 328 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding ten Beispiel war die rechte Hand 89% der Zeit innerhalb des entstandenen günstigen Bereiches und 11% außerhalb. günstig : 89% ungünstig : 11% y-Koordinate [m] 0,6 Grenze des ergonomisch günstigen Griffbereichs 0,4 0,2 rechte Schulter 0 0 0,2 0,4 0,6 x-Koordinate [m] 0,8 12816 Abbildung 5: Auswertung der Greifbereiche Die Anpassung des Arbeitsplatzlayouts im Anschluss an die Untersuchung verbessert die ergonomischen Arbeitsbedingungen für die Monteure. 5.2 Primär-Sekundär-Analyse Die PSA geht über eine einfache Auswertung der Greifbereiche hinaus und stellt eine Produktivitätsanalyse dar, bei der geprüft wird, welche Tätigkeiten wertschöpfend sind und welche nicht. Der beschriebene Ansatz geht dabei in mehreren Schritten vor. Zunächst wird aus den in Abschnitt 4.3 beschriebenen Haltebereichen der für die PSA zentrale Fügepunkt bestimmt. Anschließend werden aus den Haltebereichen Bewegungen abgeleitet und in sinnvolle und in nicht sinnvolle (tertiäre) Bewegungen unterteilt. Die sinnvollen Bewegungen werden dann im letzten Schritt in primäre und sekundäre Bewegung unterteilt. Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 329 Ermittlung des Fügepunktes beziehungsweise Fügebereichs Bei der PSA nach Lotter wird der Fügepunkt durch den Anwender vorgegeben und basierend darauf wird die Primärreichweite festgelegt (Lotter et al. 2002). Bei der Durchführung der Analyse mit der Kinect eignet sich eine Aufnahme, wie sie Abbildung 4 zeigt. Dies ermöglicht die teilautomatisierte Bestimmung des Fügebereiches. Dem Anwender wird dabei der Haltebereich mit den meisten Haltepunkten als Fügebereich vorgeschlagen, da hier im Idealfall die meisten Bewegungen starten oder enden. Im nicht idealen Fall könnte es sein, dass ein zweiter Haltebereich über mehr Haltepunkte verfügt. In diesem Fall kann der Anwender die Festlegung des Fügebereichs ändern (Benter 2015). In Abbildung 4 würde Haltebereich C als Fügebereich vorgeschlagen, was auch dem tatsächlichen Fügebereich entspricht. Für die weiteren Betrachtungen wird dann der Mittelpunkt dieses Fügebereichs als Fügepunkt verwendet. Diese Option hat den Vorteil, dass im Gegensatz zur Variante von Lotter die Bestimmung des Punktes auf den aufgenommenen Daten basiert. Zudem können, im Gegensatz zur klassischen Methode, für beide Hände unterschiedliche Fügepunkte definiert werden. Identifizierung von nicht sinnvollen Bewegungen Aus den ermittelten Haltebereichen und den aufgenommenen Bewegungen des Monteurs lässt sich eine Übersicht der Bewegungen erstellen, die tatsächlich stattgefunden haben. Abbildung 6 zeigt beispielhaft eine solche Darstellung. 330 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding A F y-Koordinate [m] 0,6 4 1 D 0,4 3 B 2 5 C G 6 E 0,2 H 7 0 0 0,2 0,4 0,6 x-Koordinate [m] 0,8 12817 Abbildung 6: Identifizierte Bewegungen Die Bewegungen zwischen den Haltebereichen werden nun vom Anwender daraufhin geprüft, ob sie der Montageaufgabe des Arbeitsplatzes entsprechen (sinnvolle Bewegung) oder ob sie dieser nicht zugeordnet werden können (nicht sinnvolle Bewegung). Die letzteren Bewegungen werden im Folgenden als tertiäre Bewegungen bezeichnet und enthalten zum Beispiel Bewegungen, die durch ablaufbedingte Unterbrechungen, durch Suchtätigkeiten oder durch unregelmäßige Störungen entstehen (Benter 2015). Zur Identifizierung der tertiären Bewegungen besteht die Möglichkeit, zusätzlich zu den Gelenkkoordinaten das Farbvideo aufzuzeichnen. In Abbildung 6 sind die Bewegungen 2, 3, 6 und 7 als tertiär identifiziert worden und die Bewegungen 1, 4 und 5 stellen primäre und sekundäre Bewegungen dar. Die tertiären Bewegungen waren bei dieser Aufnahme die Bewegung zum Ruhepunkt der rechten Hand (6), die Bewegungen zur Aufnahme von fallengelassenen Teilen (2, 3) und die Bewegung zum Deaktivieren der Kinect (7). Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 331 Unterteilung der sinnvollen Bewegungen in primäre und sekundäre Anteile Bei der PSA nach Lotter ist ein wichtiges Element für die Unterteilung in primäre und sekundäre Bewegungen das Mindestmaß an Bewegung, das durch den Abstand zwischen dem definierten Fügepunkt und dem nächsten Haltepunkt entsteht (Lotter et al. 2002). Zusätzlich zu dieser durch den Anwender bestimmten Variante kann dieses Maß aber auch aus den Messungen bestimmt werden. Es ergeben sich insgesamt drei Optionen (Benter 2015): 1. 2. 3. Vorgabe des Mindestmaßes durch den Anwender Berechnung des Mindestmaßes aus den Haltebereichen Bestimmung des Mindestmaßes nach ergonomischen Gesichtspunkten Die zweite Option verwendet den Abstand zwischen dem Mittelpunkt des Fügebereiches und dem Mittelpunkt des nächsten Haltebereiches. In Abbildung 6 ist Haltebereich F der nächste Haltebereich, der mit dem Fügepunkt über eine sinnvolle Bewegung verbunden ist. Das bedeutet, dass Haltebereiche, in denen beispielsweise die Hand bei Pausen abgelegt wurde, durch die Identifizierung der tertiären Bewegungen ausgeschlossen sind. Die dritte Option beruht auf ergonomischen Gesichtspunkten, das heißt das Mindestmaß wird aus den biologischen Merkmalen des Monteurs, wie z. B. der Armlänge, abgeleitet. Ein Beispiel hierfür wäre die Distanz, die das Handgelenk zurücklegen kann, ohne dass der Oberarm bewegt werden muss. Ein Vorteil dieser Option ist, dass sie keine Standardwerte für Körpermaße benötigt sondern durch die Kinectdaten individuell an die Monteure angepasst wird. Für die Analyse der Produktivität wurde der Einfachheit halber die zweite Option gewählt, da diese eine automatisierte Ermittlung der Mindestbewegungslänge ermöglicht. Nach der Ermittlung dieser Länge werden die realen Bewegungen nach der Logik der PSA in primäre und sekundäre Anteile aufgeteilt. Das heißt, von jeder Bewegung bildet die Differenz zwischen der Bewegungslänge und der zuvor ermittelten Mindestlänge den Sekundäranteil. Um die Ergebnisse zu visualisieren, werden Bewegungen und ihre Primär- und Sekundäranteile wie in Abbildung 7 dargestellt. 332 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding A y-Koordinate [m] 0,6 F 1 4 D 0,4 5 B G C E 0,2 PrimärBewegung SekundärBewegung H 0 0 0,2 0,4 0,6 0,8 x-Koordinate [m] 12818 Abbildung 7: Identifizierte primäre und sekundäre Bewegungen Sekundärbewegungen [m] Zusätzlich lassen sich die Ergebnisse, wie von Lotter vorgeschlagen, durch eine vektorielle Abbildung darstellen (siehe Abbildung 8). Hierbei werden nur primäre und sekundäre Bewegungen angezeigt, also Bewegungen, die direkt der Montageaufgabe zuzuordnen sind. Alternativ könnte man auch die tertiären Anteile auf einer weiteren Achse darstellen oder Primärbewegungen Sekundär- und Tertiärbewegungen gegenüberstellen. 0,18 4 5 1 Primärbewegungen [m] 0,93 12819 Abbildung 8: Vektorielle Darstellung der Primär- und Sekundärbewegungen Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 333 Bisher sind die Bewegungen mit einer Längeneinheit dargestellt. Lotter schlägt für die PSA jedoch Zeiteinheiten vor. Die mit der Kinect aufgenommenen Daten enthalten neben den Koordinaten auch die Zeitpunkte aller Aufnahmen, wodurch sich die Zeitdauern aller Bewegungen auch in Sekunden messen lassen. Abbildung 9 zeigt die primären, sekundären und tertiären Zeitanteile für den Aufnahmezeitraum. Der tertiäre Anteil ergibt sich dabei aus der Summe der Zeitdauern der nicht sinnvollen Bewegungen. Der sekundäre Anteil umfasst den Anteil der sinnvollen Bewegungen, der die Mindestdauer, die sich aus der Mindestlänge ergibt, überschreitet. Entsprechend besteht der primäre Anteil aus den Zeitdauern der sinnvollen Bewegungen unterhalb der Mindestdauer. Tertiäranteil Sekundäranteil Primäranteil 12820 Abbildung 9: Darstellung der Zeitanteile aller Bewegungen Dadurch lässt sich zum einen der von Lotter definierte wirtschaftliche Wirkungsgrad (W PS) berechnen. Nach Formel 1 ergibt sich ein Wirkungsgrad von 77% (1.116s/1.386s). Die Erweiterung der PSA um die tertiären Bewegungen und damit die Analyse der tatsächlichen Abläufe erlaubt es zum anderen, neben dem klassischen Wirkungsgrad einen erweiterten wirtschaftlichen Wirkungsgrad (W PST) zu definieren, der den Anteil der primären Aufwände an der gesamten Bewegungszeit bestimmt (vgl. Formel 5). Für das Anwendungsbeispiel ergibt sich ein erweiterter Wirkungsgrad von 62% (1.116s/1.790s). Dieser erlaubt es, weitere Potenziale neben den sekundären Verschwendungen zu identifizieren. 334 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding WPST: erweiterter wirtschaftlicher Wirkungsgrad PV: Dauer der Primärvorgänge TV: Dauer der Tertiärvorgänge SV: Dauer der Sekundärvorgänge Die mit der erweiterten PSA festgestellten Untersuchungsergebnisse können nun genutzt werden, um zum Beispiel die Materialanordnung am Arbeitsplatz zu optimieren oder um die Arbeitsabläufe besser aufeinander abzustimmen. 5.3 Auswertung der Bewegungsdauern und -häufigkeiten Die erweiterte PSA erlaubt es damit, Verschwendungen in sekundären und tertiären Bewegungen zu identifizieren. Sie zeigt zudem für die Bewegungen, über welchen primären beziehungsweise sekundären Anteil sie verfügen. Sie geht bisher noch nicht darauf ein, wie oft welche Bewegungen tatsächlich durchgeführt werden. Zudem stellt sie nur die mittlere Länge oder Dauer der Bewegungen dar und geht nicht darauf ein, wie diese Werte für die einzelnen Bewegungen verteilt sind. Dieser Abschnitt zielt darauf ab, diese Probleme zu lösen. Untersuchung der Bewegungshäufigkeiten Die Aufnahme der realen Abläufe mit der Kinect erlaubt es, auch über längere Zeiträume eine große Anzahl von Bewegungen zu erfassen, was gerade bei kurzen Bewegungen nur durch eine Videoaufnahme möglich wäre. Die nötige anschließende manuelle Auswertung wäre recht zeitintensiv. Abbildung 10 zeigt eine Darstellung, in der die Bewegungshäufigkeiten mit den durchschnittlichen Bewegungsdauern für die Bewegungen mit logarithmischen Skalen dargestellt sind. Zusätzlich sind Aufwandslinien eingetragen, die einem Gesamtaufwand in dem Aufnahmezeitraum entsprechen. Man erkennt in der Abbildung beispielsweise, dass der Gesamtaufwand für Bewegung 5 fast 100 Sekunden erreicht, während die Bewegungen 2, 3 und 7 nicht einmal einen Gesamtaufwand von 10 Sekunden haben. Mit dieser Darstellung lässt sich also schnell ermitteln, welche Bewegungen den größten Zeitanteil der Arbeitszeit einnehmen. Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras durchschnittliche Bewegungsdauer [s] Gesamtaufwand (GA) = 10s 335 GA = 50s GA = 100s 1 4 1 5 7 2 6 3 0,1 1 10 100 Bewegungshäufigkeit 12821 Abbildung 10: Bewegungshäufigkeiten und –dauern Untersuchung der Verteilung von Bewegungslänge und -dauer Während sowohl bei MTM als auch bisher bei der PSA von einem idealen Ablauf ausgegangen wird, sind reale Bewegungen selten identisch und die Untersuchung dieser Abweichung vom Idealfall kann weitere Potenziale aufzeigen, da Schwankungen instabile Prozesse kennzeichnen. Abbildung 11 zeigt eine Auswertung der Bewegungslängen und -dauern für Bewegung 1. Zum Vergleich ist die MTM-Normzeit für den Prozess Hinlangen in Abhängigkeit von der Bewegungslänge dargestellt (einfachster Bewegungsfall, normale Beschleunigungsverläufe). So wird ersichtlich, ob die Bewegungslänge variiert, wie stark die Bewegungsdauer bei identischer Bewegungslänge schwankt und ob der Mittelwert über der MTM-Zeit liegt. Mögliche Ergebnisse einer solchen Untersuchung sind zum Beispiel: Die hohen Schwankungen in der Länge von Bewegung 1 deuten darauf hin, dass das Material nicht stets am gleichen Platz lag oder dass sich der Fügeort geändert hat. 336 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Die hohen Schwankungen in der Bewegungsdauer sind ein Anzeichen dafür, dass die Bedingungen bei der manuellen Arbeit nicht konstant waren. Die deutlichen Überschreitungen der MTM-Normzeit sind ein Indiz für nicht ausreichend geschulte Mitarbeiter. 2 1,8 Bewegungsdauer [s] 1,6 1,4 Mittelwert Spanne der Bewegungslänge 1,2 1 Spanne der Bewegungsdauer 0,8 0,6 0,4 MTM-Normzeit für Bewegungsfall A und Bewegungsverlauf Typ 1 0,2 0 20 25 30 35 40 45 Bewegungslänge [cm] 50 55 60 12822 Abbildung 11: Bewegungslänge und -dauer einer Bewegung Basierend auf den Untersuchungsergebnissen können anschließend gezielt Verbesserungen durchgeführt werden, indem beispielsweise die Arbeitsbedingungen an die Arbeitsaufgabe angepasst werden oder die Mitarbeiter besser geschult werden und so durch Lerneffekte die Arbeitsgeschwindigkeit steigt. 6 Zusammenfassung und Ausblick Dieser Artikel stellt einen Ansatz zur Analyse der Arbeitsproduktivität mit 3D-Kameras am Beispiel der Microsoft Kinect vor. Die entwickelten Auswertungen decken dabei drei verschiedene Arten von Potenzialen zur Verbesserung auf: Analyse von Arbeitsabläufen mit 3D-Kameras 337 Nicht sinnvolle (tertiäre) Bewegungen, die den Arbeitsablauf unterbrechen und somit eliminiert werden sollten. Sinnvolle Bewegungen (sekundäre oder ergonomisch ungünstige), die ungünstig für den Werker beziehungsweise für die Arbeitsaufgabe sind und zum Beispiel durch ein besseres Layout optimiert werden können. Abweichungen von der Normzeit bei den sinnvollen Bewegungen, die beispielsweise durch Schulungen oder die Verbesserung der Arbeitsbedingungen reduziert werden sollten. Im Gegensatz zur klassischen PSA bietet der vorgestellte Ansatz folgende Vorteile: Aufnahme realer Daten: Die vorgestellte Methode nimmt nicht den idealen Montageprozess auf, sondern die realen Prozesse und zeigt so neben den Verschwendungen durch sekundäre Anteile auch Verschwendungen durch tertiäre Anteile auf. Teilautomatisiert: Durch die Aufnahmen mit der Microsoft Kinect wird der Aufwand für die Aufnahme der Prozesse deutlich reduziert. Höhere Genauigkeit: Die Ermittlung des Fügepunktes aus den Haltebereichen basiert auf realen Daten und kann für beide Hände getrennt ermittelt werden. Visualisierung: Durch die grafische Darstellung der Haltebereiche und Bewegungen lassen sich direkt Potenziale wie falsch platzierte Bauteile ermitteln. Die Methode bietet die Möglichkeit zur Weiterentwicklung in mehreren Punkten. Es können je nach Anwendungsgebiet neben den Handgelenken weitere Gelenkpunkte ausgewertet werden. Zudem kann untersucht werden, ob die primären Bewegungen immer wertschöpfend sind oder ob weitere Unterteilungen nötig sind. Des Weiteren kann die Zeit zwischen den Bewegungen noch detaillierter untersucht werden. 338 Martin Benter, Regina Cheung, Hermann Lödding Literatur Backhaus, Klaus; Erichson; Plinke; Weiber (2011): Multivariate Analysemethoden. 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(HAB) Die industrielle Produktion unterliegt aufgrund innovativer Produktionstechnologien, vernetzter Produktionssysteme, neuer Organisationsformen und insbesondere durch die zunehmende Durchdringung der Produktionsprozesse durch Informations- und Kommunikationstechnologien einem stetigen Wandel. Für die Wandlungsfähigkeit eines Produktionssystems sind die Kompetenzen der Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung. In der modernen Arbeitswelt werden von ihnen Innovationfähigkeit, Komplexitätsbeherrschung und die ganzheitliche Betrachtung von Produktionsprozessen erwartet. Hierzu wurden neue Lehr- und Lernkonzepte für die studentische Ausbildung und für die industrielle Weiterbildung entwickelt. Lehren und Lernen für die moderne Arbeitswelt Horst Meier (Hrsg.)
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